2. Das (traditionelle) Denken in der Moderne

Traditionell existiert eine objektive Realität, und diese bildet die Wirklichkeit, an die sich unser Wissen immer besser oder weiter annähern soll. Die Bestandteile der Realität werden in der Philosophie als „Seiende“ bezeichnet. Vor diesem Wort muß man nicht erschrecken; es klingt sehr hochtrabend, ist aber völlig normal:

Was – beim Bäcker –  gebacken wird, bildet Gebäck; was – von Archäologen – gefunden wird, ist ein Fundstück; und was – für traditionell Denkende – ist, stellt ein Seiendes dar. Sie können also problemlos Tausende von Seienden aufzählen und müßten dazu lediglich die Bestandteile der objektiven Realität nennen; Gebäck, Fundstücke, Ihr Körper, Sonne, Mond und Sterne . . .

 

Die Tradition geht wie selbstverständlich davon aus, daß wir diese Realität nicht nur wissen können, sondern sogar müssen, um unser Leben daran zu orientieren. Die Seienden sind also – vielleicht von ganz wenigen Ausnahmen wie Gott abgesehen – wißbar oder bilden das potentiell Gewußte.

Zur Orientierung dienen uns die Wahrnehmungen in der eigenen Psyche. Sind sie adäquat, das heißt, entsprechen unsere Wahrnhmungen den Seienden, so sprechen wir von Ab- und im gegenteiligen Fall von Trugbildern. Diese sind falsch und jene richtig; aber um Wahrnehmungen handelt es sich in beiden Fällen; die falschen stellen Irrtümer oder Täuschungen dar, die richtigen geben die Seienden als die Gewußten oder Urbilder in hinreichender Näherung wieder.

Natürlich existieren auch „Zwischenbereiche“, denn unsere Wahrnehmungen müssen sich nicht auf Seiende beziehen und dadurch entweder richtig oder falsch sein. Wir hören beispielsweise Geräusche, haben Schmerzen oder verspüren Fernweh. Die wenigsten Menschen werden Lichtreflexe, Regenbogen oder Schatten als Abbilder verstehen und hinter ihnen Seiende vermuten – aber behaupten läßt sich deren Existenz natürlich immer.

Diesen letzten Gedanken nehmen wir in unserem Ansatz konstruktiv auf:

Die Existenz von Seienden hinter unseren Wahrnehmungen

läßt sich nicht nur stets behaupten – auch wenn sie nicht besteht –, sondern

ist immer lediglich behauptet – und besteht nie.

Es gibt keinerlei Seiende; Bäume ebensowenig wie deren Schatten.

 

Unser Ziel besteht in einnem konstruktiven Verständnis des Lebens; betrachten wir deshalb vorerst, was die (traditionelle) Moderne dazu meint.

Ihr zufolge setzt es sich aus dem Innen- sowie Außen-Leben zusammen.

Letzteres gehört der objektiven Realität an und besteht in den Handlungen unseres Körpers; wir graben den Garten um, hören Musik, sprechen miteinander, beten zu Gott oder schreiben Bücher.

Das Innen-Leben spielt nicht nur vollständig in der eigenen Psyche, sondern fällt auch mit ihr zusammen. Ich glaube nicht, daß es sich einigermaßen sauber darstellen läßt, aber wir wissen alle aus unserer Selbsterfahrung als Lebende, was außer den eigenen Handlungen zu unserem Leben gehört:

Wir hoffen und bangen, sind freudig oder traurig, wollen dieses und fürchten jenes, denken oder vielleicht auch nicht. „Fühlen und Entscheiden“ wäre möglicherweise eine ganz treffende Charakterisierung für das Innen-Leben. 

 

Vorerst genügt es uns zu wissen, daß auch sämtliche Wahrnehmungen und Wissungen dazugehören, so daß wir zusammenfassen können:

Leben in der (traditionellen) Moderne

– Außenleben

  Handlungen des eigenen Körpers

– Innenleben

  „Fühlen und Entscheiden“

  ∋

  — Wahrnehmungen

  — Wissungen

 

Babys und Tiere beweisen, daß ein Leben auch ohne Wahrnehmungen sowie Wissungen möglich ist. Wir erleben das jedoch ebenfalls, nämlich bei sämtlichen Formen von „Geistesabwesenheit“ wie beispielsweise dem Meditieren und Dösen, der Ohmacht bzw. dem traumlosen Schlaf oder wenn wir einfach versonnen bzw. „ganz woanders sind“. Wir gehen gedankenversunken den täglichen Arbeitsweg und wundern uns plötzlich, schon angekommen zu sein.

 

Das Wort „Wissungen“ brauche ich erstens aus grammatischen Gründen; zum einen um gegebenenfalls den substantivischen oder nicht-verbalen Charakter des Wissens anzuzeigen, und zum anderen auch als Plural von „das Wissen“.

Ein zweiter, inhaltlicher Grund für diese gekünselt wirkende Wortbildung besteht darin, daß Paare der Form „Wahrnehmungen – Wahrgenommene“ oder „Vorstellungen – Vorgestellte“ bei uns eine sehr exakte Bedeutung besitzen und ich diese, um eine möglichst konsistente Systematik entwickeln zu können, auf „Wissungen – Gewußte“ ausweiten möchte.

 

Das (traditionelle) Denken der Moderne ist streng dualistisch; Descartes‘ Philosophie bildet lediglich ein charakteristisches Aushängeschild dafür.

Der objektiv-wirklichen Realität mit ihren Seienden im Außen stehen die subjektiv-unwirklichen Psychen mit dem Innen-Leben gegenüber. Nahezu alles in den Psychen ist, wenn wir hinreichend pingelig sind, rein subjektiv; lediglich die richtigen Wahrnehmungen müssen – als adäquate Abbilder der objektiven Seienden – natürlich intersubjektiv sein.

Die nachstehende Abbildung soll ihnen helfen, die traditionellen Grundbegriffe leichter zu überschauen. Das ist wichtig, denn sie bilden das verständliche, weil altbekannte Gerüst, anhand dessen wir im weiteren unsere eigene Begrifflichkeit entwickeln werden.

 

 

Traditioneller Dualismus
     
objektive Realität – Innen-Leben
  Psyche
  „Fühlen und Entscheiden“
– Immanenz oder Welt    
– Transzendenz oder Gott    
     
außen innen
wirklich unwirklich
objektiv subjektiv – rein subjektiv oder partiell intersubjektiv
     
Leben
     
– Außen-Leben   — Leibliches
Körperhandlungen   — Seelisches
(∋) (– Geistiges)
Seiende – Wahrnehmungen — Sinnliches
Urbilder Ab- oder Trugbilder  
  – Wissungen  
  (∋)  
  Totalbild  
  Einheit von Welt- und Gottesbild  

Abbildung 2.

 

 

Wir stellen das traditionelle Denken dem postmodernen gegenüber und verstehen den gegenwärtigen Bewußtseinswandel damit als Übergang von der – Moderne der – Tradition zur Postmoderne.

Letztere ist ein schillernder Begriff mit 1000 verschiedenen Bedeutungen. Ich spreche aber dennoch zumeist einfach von der Postmoderne und meine damit, soweit nichts Gegenteiliges vermerkt ist, stets meine spezielle Interpretation, die wir als „Metaphysischen Explikationismus“ bezeichnet hatten.

Andere Varianten der Postmoderne spielen in unseren Überlegungen praktisch keine Rolle. Sie stehen zumeist dem Poststrukturalismus nahe, von dem mir Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Michel Foucault und Bruno  Latour die wichtigsten Autoren sind.  

 

Ein starkes Argument für unseren grund-legenden Wechsel kommt in der obigen Abbildung sehr schön zum Ausdruck:

Ich wehre mich gegen die traditionelle „Selbstverständlichkeit“, daß unser Innen-Leben als unwirklich betrachtet wird und damit die gesamte, als wirklich verstandene Realität wichtiger sein soll. Für mich sind meine Wünsche, Sorgen oder Freuden wesentlich entscheidender als alle Schwarzen Löcher, Roten Riesen und Weißen Zwerge zusammen.    

Wir kehren dieses Verhältnis jedoch nicht nur um, sondern bestreiten die Existenz der objektiven Realität vollkommen.

 

In der Moderne wird das traditionelle Denken nicht überwunden, aber sehr stark simplifiziert und damit zum naiven Realismus. Im vorliegenden zweiten Teil soll unter anderem deutlich werden, daß sich dieses „naiv“ sehr sachlich verstehen läßt und nicht beleidigend sein soll.

Die moderne Vereinfachung beginnt mit einer massiven Beschränkung:

 

Aus der antik-mittelalterlichen Wirklichkeit wird die moderne Realität; als objektiv gelten beide. 

In der Immanenz sind das primär die körperlichen Seienden, die den physikalischen Kosmos bilden. Zu ihnen gehören also nicht nur Sonne Mond und Sterne, sondern sämtliche künstlichen und natürlichen – leblosen, pflanzlichen, tierischen und menschlichen – Körper im weitesten Sinne.

Traditionell denkende Gläubige dehnen diese objektive Realität auf die Transzendenz aus, indem sie Gott zwar zumeist als reinen Geist behaupten, sich ihn aber dennoch nach dem Modell des Kosmos vorstellen. Dieser Gott gehört dann zwar offiziell dem Jenseits an, aber es wird häufig kaum deutlich, worin letzteres sich eigentlich vom Diesseits unterscheidet:

Es gibt das eine wie das andere; der transzendente Gott existiert neben der immanenten Materie, weil beide vorhanden sind.

Wir können diese Unsauberkeit ignorieren, da für uns die gesamte objektive Realität entfällt. Das heißt nicht, daß ich die Transzendenz bestreite, sehr wohl aber die Immanenz und Transzendenz in ihrer traditionellen Denkform.

 

Eine Beschränkung stellt der Übergang zur objektiven Realität dar, weil die antik-mittelalterliche Wirklichkeit durchweg erheblich über jene hinausging. Dieses Surplus bestand in den – nicht materiellen, sondern – rein geistigen Seienden, die uns am ehesten in Form der Platonischen Ideen zum Beispiel des Guten, der Gerechtigkeit oder Wahrheit bekannt sind.

Platon meinte damit:

Menschen können gerecht sein; Sokrates bildet diesbezüglich sein Paradebeispiel. Aber das ist nur möglich, weil es die – Idee der – Gerechtigkeit gibt, die in jedem gerechten Menschen Gestalt annimmt oder sich in ihm verleiblicht; Sokrates war für Platon die personifizierte Gerechtigkeit.

Unsere Sonne verfügt über Planeten; aber das ist nur möglich, weil es die – Idee des – Planeten gibt, die in Merkur, Venus, Erde, . . . Gestalt annimmt oder sich in ihnen verkörpert.

Platon war diesbezüglich so konsequent, daß er auch eine Idee des Schmutzes, Kots oder Bettgestells annahm; andernfalls könnte es sie ja nicht geben. 

Der moderne Kosmos benötigt die Idee des Planeten ebensowenig wie wir diejenige der Gerechtigkeit. Aus den Platonischen Ideen sind in der Moderne, wie noch deutlich werden soll, unsere Begriffe geworden.

 

Mein entscheidender Grund, nicht die antik-mittelalterliche Wirklichkeit, sondern nur die objektive Realität zu berücksichtigen, besteht darin, daß an der Existenz ihrer immanenten Seite – dem physikalischen Kosmos – heute außerhalb der Philosophie praktisch niemand zweifelt.

Ich tue es und will Ihnen in diesem zweiten Teil zeigen, weshalb meines Erachtens keinerlei objektive Realität existiert; die immanente ebensowenig wie die transzendente.

Damit, daß Gott nicht irgendwo vorhanden ist, haben die wenigsten unserer Zeitgenossen Schwierigkeiten; aber ich behaupte exakt das Gleiche zusätzlich vom gesamten Kosmos mit all seinen physikalischen Bestandteilen; auch wer nur daran glaubt, ist ein naiver Realist.

Es wäre also kontraproduktiv gewesen, hätte ich Ihnen die mögliche Existenz von solchen Seienden wie den Platonischen Ideen – die Sie bisher vielleicht gar nicht auf dem Schirm hatten – erst plausibel machen wollen, um dann zu zeigen, weshalb wir sämtliche traditionellen Seienden ablehnen (müssen); die objektiv-realen – immanenten und transzendenten – ebenso wie die rein geistigen.

 

Sie haben im Moment Laptop-Wahrnehmungen. Ich zweifle weder diese noch Ihren gesunden Menschenverstand an, sondern lediglich die traditionelle Theorie, die allen Wahrnehmungen zugrunde liegt. Ihr zufolge handelt es sich bei diesen Wahrnehmungen um die Abbilder eines in der objektiven Realität befindlichen Laptops.

Allein um dessen Existenz geht es mir; Ihre unbestreitbare Laptop-Wahrnehmung ist keine Abbidung eines solchen Laptops.

Der einzige Laptop, der tatsächlich irgendwie oder irgendwo vorkommt, befindet sich – als Wahrnehmung – in Ihrer Psyche. Pardon; das war nicht ganz richtig; natürlich – als Vorstellung – auch in der meinigen; aber es gibt – exakt formuliert – keinen einzigen Laptop außerhalb aller Psychen oder in der objektiven Realität; das ist ausgeschlossen, weil letztere gar nicht existiert.

 

Natürlich ist dieses „in Ihrer“ bzw. „in meiner Psyche“ ein bißchen unglücklich. Die Psyche bildet kein Gefäß sondern besteht in unserem Innen-Leben. „Gefäß“ und „Inhalt“ fallen damit zusammen, so wie auch jede einzelne Zahl – als „Inhalt“ – der Menge der Zahlen – als „Gefäß“ – angehört.

Wir Menschen bilden mit unseren Körpern einen Bestandteil der objektiven Realität, besitzen eine Psyche und bestehen somit traditionell in der Einheit von Körper und Psyche. Dafür schreibe ich auch abkürzend { Körper + Psyche }; die geschwungenen Klammern bedeuten immer die Einheit dessen, was zwischen ihnen steht. Und ein „∋“ in runden Klammern – (∋) – meint, daß die betreffenden Elemente zu der Menge dazugehören können, aber nicht müssen.