2.12.1. Wissenschaft und Hinterwelt

Warum ver(sch)wende ich so viel Zeit und Mühe darauf, Ihnen die objektive Realität oder Hinterwelt wegzunehmen, die Sie ohnehin niemals erfahren haben bzw. werden?

Weil dieser traditionelle Glaube zu weitreichenden Konsequenzen führt.

Das gilt nicht zuletzt für die empirischen Wissenschaften. Obwohl in ihnen nur Wahrnehmungen und Vorstellungen auftreten (können) und noch niemandem Seiende begegnet sind, glauben sehr viele ihrer Vertreter, von deren objektiver Realität zu sprechen.

Warum eigentlich?

 

Können Wissenschaftler plausibel machen, das Ziel ihrer Forschung bestehe in der neutralen Abbildung der objektiven Realität – unabhängig davon, ob sie das nun selbst glauben oder nicht –, läßt sich letztlich jede Forschung rechtfertigen, weil sie dann voraussetzungslos sowie wertfrei sein muß und Wissen stets besser ist als Nicht-Wissen. Allein Lügner, Verführer oder Scharlatane müssen Angst vor der Wirklichkeit haben; die Zunahme des Wissens ist purer Fortschritt und immer gut.

Und außerdem befinden wir uns als diejenigen, die lediglich die objektive Realität wiedergeben, in einer beneidenswerten Position: Wie entsetzlich auch immer unsere Ergebnisse sein mögen – wir sind nicht verantwortlich und finden sie auch einfach nur schrecklich. Beschwert Euch aber bitte an einer anderen Stelle, bei Gott, der Evolution oder wo auch immer, jedenfalls nicht bei uns; wir haben das nicht gemacht, sondern bilden es ganz neutral ab. Wir zeigen Euch nur, wie schlimm alles ist; seid uns bitte dankbar“.

Nun können wir wieder den ersten rot hervorgehobenen Absatz anschließen.  

 

Eine objektive Realität zu behaupten oder eine entsprechende Hinterwelt zu erfinden, ist letztlich die Lüge, es gäbe eine Kotrollinstanz für unsere Forschung:

„Würden wir die Seienden nicht adäquat abbilden oder wären wir nicht auf dem Wege zur Wahrheit, träten Widerstände und Widersprüche auf, hätten wir keine technischen Erfolge und es entstünde ein großes Tohuwabohu. All das geschieht nicht; wir befinden uns also auf einem guten Weg, und laßt uns bitte so weitermachen. Wenn wir etwas Unrechtes tun, wird sich die Natur – der Seienden – gewiß zu Wort melden.“

 

Deswegen sehe ich im traditionellen Denken einen gewichtigen Grund für unsere aktualen Menschheitsprobleme.

Die als Kontrollinstanz behauptete objektive Realität, die dem Forschen eine Richtung vorgeben und es begrenzen oder unseren Eingriffen einen Riegel vorschieben könnte, existiert nicht. Was auch immer geschieht, wir ecken kaum an – weil gar nichts existiert, das sich uns in den Weg zu stellen vermag – und nutzen dieses Gar-nicht-Anecken-Können weidlich aus; entweder naiv oder berechnend, aber gewiß verantwortungslos.

Wir mißbrauchen, mit anderen Worten, den weit verbreiteten Glauben an eine objektive Realität, um unseren bisherigen Weg rückblickend als richtig darstellen zu können – „es hat nicht geknallt“ – und in diesem Sinne weitermachen zu dürfen – „die Seienden werden sich melden, sollten wir tatsächlich einmal danebenliegen“.

 

So geht unser „Fortschritt“ immer weiter; aber ohne angebbares Ziel können wir nicht sinnvoll von Fortschritt sprechen, denn er wird zu einem bloßen Nur-schnell-weg von diesem Hier und Jetzt.

Natürlich bliebe es ein lohnenswertes praktisches Ziel, allen Menschen ein Leben in  Freiheit und Würde zu ermöglichen; aber ich bezweifle ernsthaft, daß diese Intention in der abendländischen Moderne sonderlich stark ausgeprägt war.

Ihr Ziel ist eher ein theoretisches und bestand ursprünglich darin, die Welt zu erkennen. Wenn sich in der Postmoderne der Gedanke durchsetzt, daß es diese Welt gar nicht gibt und wir Jahrhunderte ein Pseudoziel verfolgt haben, besteht vielleicht wieder die Chance, uns den wirklich brennenden Problemen zuzuwenden. 

 

AD: „Wenn die Realität nicht objektiv ist, können die Wissenschaften es auch nicht sein.“

Stimmt; der Glaube an eine erkenntnis-theoretische Objektivität ist hinterwäldlerisch; davon können wir uns schnell überzeugen:

Es gibt keine voraussetzungslose Wissenschaft – ganz einfach, weil aus nichts auch nichts folgt. Setzen wir keine – mehr oder weniger willkürlichen – Prämissen, fehlen also auch sämtliche Konklusionen; das voraussetzungsfreie Fachbuch bleibt völig leer. 

Mit anderen Worten heißt dies, daß die Wissenschaften als ihre Resultate auch nur die Konseqenzen ihrer eigenen Voraussetzungen enthalten können. Weder die Logik noch das Experiment sind kreativ; sie steuern nichts bei, sondern die Ergebnisse der Wissenschaften bestehen lediglich in ihren eigenen – freilich explizierten, ausgefalteten oder entwickelten und dadurch möglicherweise auch sehr überraschenden – Voraussetzungen.

 

AD: „Wenn Sie Recht hätten, müßten wir die naturwissenschaftlichen Experimente auch weglassen können. Das geht jedoch nachweislich nicht, denn sie sagen sehr häufig auch ’nein‘.“

Ganz richtig; aber ich sehe gar nicht, worauf Sie mit Ihrem Einwand zielen; „nein“ zu sagen, ist doch nichts Kreatives.  

Karl Popper hat einen entsprechenden erkenntnistheoretischen Ansatz, den „Kritischen Rationalismus“, sehr weit entwickelt. Ihm zufolge liegt natürlich alle Kreativität bei den Wissenschaftlern, und die Experimente „falsifizieren“ lediglich einen Großteil der neuen Ideen

 

Ist die Wissenschaft – durch die Notwendigkeit von Prämissen – jedoch nicht voraussetzungslos, kann sie auch nicht wertfrei sein, denn mit den unabdingbaren Voraussetzungen, ohne die es gar keine Wissenschaft gibt, setzen wir zugleich ganz spezielle Werte.

Das daraus resultierende Ergebnis besteht also nicht in der, sondern in einer Wissenschaft.

So wie es beliebig viele Mathematiken gibt, wären auch die verschiedensten Physiken möglich. Wir haben uns für eine entschieden, mit deren Hilfe sich „phantastisch(e)“ Waffen bauen lassen, und können uns eine andere Physik gar nicht vorstellen. Es bleibt also insbesondere offen, ob ihr die negativen Möglichkeiten der Wissenschaft zwangsläufig angehören.    

 

Es gibt natürlich auch eine ethisch-praktische Objektivität der Wissenschaften. Ihr zufolge sollen alle Ergebnisse ehrlich zustandekommen, unabhängig von den Wünschen der Forscher und somit nicht manipuliert sein. Subjektive Interessen dürften keine Rolle spielen; messen wir, was wir nicht wollten, dann messen wir eben, was wir nicht wollten; „schade“!

Eine solche Objektivität wird hoffentlich stets das Ziel der Forschung bleiben, hängt jedoch mit unseren Überlegungen bestenfalls am Rande zusammen.

 

AD: „Wenn die objektive Realität eine Hinterwelt darstellt, können unsere diesbezüglichen Vorstellungen weder richtig noch falsch sein. Warum – und worum – streiten wir dann im Alltag, vor Gericht, in der Industrie oder Wissenschaft eigentlich häufig so erbittert?“ 

Das ist ganz einfach: Weil Alltag, Gericht, Industrie und Wissenschaft absolut nichts mit einer objektiven Realität zu tun haben; immer und überall geht es nur um unsere Wissungen. Besonders häufig vergleichen wir diese mit intersubjektiven Konventionen oder alltäglichen bzw. experimentellen Wahrnehmungen.

Der Meteorologe sagt im Wetterbericht beispielsweise nicht voraus, daß die Ur-Sonne morgen Abend 20:16 Uhr untergeht, sondern welche Sonnen-Wahrnehmungen wir um diese Zeit erleben können.