2.13. Markus Gabriel als Naiver Realist

Dieses Kapitel enthält einen (leicht abgeänderten) Artikel, den ich spontan-verärgert für die „Neue Züricher Zeitung“ geschrieben hatte, um damit einer meines Erachtens grotesken Fehleinschätzung von Bruno Latours Denken durch Markus Gabriel entgegenzutreten. Sollte ich mich darin möglicherweise beleidigend ausdrücken, bitte ich um Entschuldigung; auch Gabriels Mißgriff rechtfertigt dies nicht.

Ich drucke die Rezension hier ab; zum einen in der Hoffnung, daß sie Ihrem Verständnis dient, und zum anderen um diesen zweiten Teil mit einem gegenwärtig vielzitierten Naiven Realisten abzurunden.

 

Gabriel schrieb in der NZZ vom 26. 3. 2020 unter anderem:

„. . . Doch auch progressive Intellektuelle, die sich Wissenschaftlichkeit auf die Fahnen schreiben, haben sich in den letzten Jahren einem heillosen Relativismus verschrieben. Zu ihren prominentesten Vertretern zählt der französische Soziologe Bruno Latour. Er hat sich sogar zu der absurden These verstiegen, Ramses II. könne nicht an der Tuberkulose verstorben sein, weil der Erreger erst im 19. Jahrhundert entdeckt worden sei. Das ist metaphysische Absurdität, wie der analoge Fall der Corona-Krise zeigt:

Hätten wir keine Virologen eingeschaltet, um Covid-19 zu studieren, hätte die Krankheit sich gemäß Latour nicht verbreitet, weil sie nicht einmal existiert hätte. . .“

 

An dieser Argumentation stimmt absolut nichts; Latour hat völlig Recht, und die „metaphysische Absurdität“ liegt allein bei Gabriel, weil er scheinbar keinerlei Verständnis für eine ihm fremde Sichtweise aufbringt!

Sein „Neuer Realismus“ ist so neu nicht; er kam um 1912 in den USA auf, wurde aber danach – mit Recht – schnell wieder vergessen, weil der Glaube an eine objektive Realität mindestens seit Kant philosophisch unhaltbar geworden ist und unter ernstzunehmenden Fachleuten bereits im 20. Jahrhundert kaum noch ein Rolle spielte.

Wir haben Überzeugungen, denn wir glauben, was zu glauben wir für richtig halten. Mehr kann niemand leisten – sehr wohl aber weniger, nämlich Denkfehler begehen und völlig unsinnige Behauptungen aufstellen.

 

Um zu verdeutlichen, daß dies bei Gabriel der Fall ist, betrachten wir einen Patienten aus dem Jahre 2018, der sich miserabel fühlt, zum Arzt geht und von diesem untersucht wird.

Noch kommt in keinem Weltbild Covid vor, so daß eine entsprechende Diagnose absolut ausgeschlossen ist.

AD: „Es kann sich aber trotzdem ausbreiten und den Patienten infizieren.“

Diesen Satz verstehe ich nicht, weil mir das „es“ unbekannt ist.

AD: „Covid, natürlich!“

„Covid“ hat den Menschen 2018 ebensoviel gesagt wie „es“ – nämlich  nichts. Was infiziert, wenn „Covid infiziert“, aber keiner weiß, was Covid ist?

 

Gabriel spricht über sein Totalbild; insoweit sind wir uns natürlich einig.

Des weiteren geht er aber – entgegen meiner Überzeugung – hinterwäldlerisch davon aus, daß sein Totalbild – zumindest in dem uns interessierenden Zusammenhang – ein adäquates Bild der objektiven Realität darstellt und Covid somit auch unabhängig von unserem Wissen bereits 2018 existiert hätte.

Damit werden die wirklichen Verhältnisse auf den Kopf gestellt:

1. Es gibt Covid postmodern allein für und durch unser Wissen oder innerhalb des eigenen Totalbilds.

2. Letzteres wird jedoch von Gabriel hinterwäldlerisch – das heißt, prinzipiell ohne jede Möglichkeit einer Begründung oder Widerlegung – als adäquates Bild der objektiven Realität behauptet.

3. Durch diese Naivität gibt es Covid nun an sich, das heißt, auch ohne unser Wissen.

 

Wer nicht hinterwäldlerisch ist, muß den zweiten Punkt streichen, womit automatisch auch der dritte entfällt. Der erste Punkt besagt lediglich die Selbstverständlichkeit, daß sich für mich natürlich nichts ausbreiten kann, was in meinem Weltbild gar nicht vorkommt.

Eine „Erklärung“ ist keine Erklärung für mich – und damit gar keine Erklärung –, wenn ich sie nicht verstehe und anerkenne.

 

Latour behauptet doch keineswegs, daß es dem Patienten von 2018 – ohne die Covid-Diagnose – gut gegangen wäre, was Gabriel unausgesprochen vorauszusetzen scheint; natürlich nicht. Aber niemand kann haben, was keiner kennt. Der Patient würde sich miserabel fühlen; wir wüßten nicht warum, und es begänne möglicherweise ein fieberhaftes Suchen nach der Ursache.

Dieses Sich-miserabel-Fühlen hängt nicht vom Totalbild ab, und wird daher weder von Latour noch von anderen (mir bekannten) Postmodernen bestritten.

Aber sämtliche Erklärungen sind an spezielle Totalbilder gebunden. Und wenn eine „Erklärung“ – ich wiederhole mich bewußt – in einem bestimmten Totalbild unverständlich oder unmöglich ist, stellt sie für den jeweiligen Totalbild-Haber keine Erklärung dar.

Daß die Erde um die Sonne rotiert wäre für die (meisten) Menschen der Antike wohl keine Erklärung der Jahreszeiten gewesen. Aber die Existenz der letzteren hätte wahrscheinlich trotzdem ein antiker Latour nicht bestritten.

 

Covid-19 bildet eine Vorstellung in unserem Totalbild, die nur mittels der anderen Vorstellungen erklärt werden kann und mit ihnen in einem integralen Zusammenhang – eben unserem Totalbild – steht. Es ist hinreichend rund, stimmig und widerspruchsfrei; deswegen glauben wir – fast alle – die Corona-Theorie.     

Einige Verschwörungstheoretiker nicht.

Gabriel ist das Gegenteil von ihnen, denn er glaubt noch viel mehr als wir, nämlich die naive „metaphysische Absurdität“, daß es Tuberkulose-Erreger und Covid-Viren an sich oder objektiv-real geben und somit unser gegenwärtiges Wissen oder Totalbild diesbezüglich überhaupt keine Rolle spielen würde.

Damit mißbraucht Gabriel die Corona-Krise als Werbung für seinen metaphysischen Aberglauben an eine Hinterwelt, stellt ihn als Wissenschaft dar und bezichtigt kritische Denker wie Latour eines „heillosen Relativismus“, nur weil sie seine Naivität nicht teilen.

 

Im Mittelalter hätte ein Priester angesichts unseres sich miserabel fühlenden Patienten – im Rahmen seines Totalbilds – vielleicht von dämonischer Besessenheit gesprochen. Die meisten von uns sind sich mit Recht völlig sicher, daß diese Diagnose natürlich nichts mit einer objektiven Realität zu tun hat, denn in das heutige Weltbild passen weder Dämonen noch Besessene.

In das heutige Totalbild; das war im Mittelalter eben noch ein ganz anderes. Damals erwies sich die Erklärung des Priesters wahrscheinlich als hinreichend rund, stimmig und widerspruchsfrei; deswegen glaubten fast alle die dämonische Besessenheit.

Daraus wurden in der Zwischenzeit zumeist psychische Erkrankungen; was es wirklich ist – die Gabriel-Frage nach der objektiven Realität –, stellt ein Scheinproblem dar. Im Mittelalter befriedigten jene Antworten, und in der Moderne finden wir diese; um ewige Wahrheiten wissen zu können, müßten wir sein wie Gott.

Das sind wir nicht; wer trotzdem über ewige Wahrheiten zu verfügen glaubt, ist hinterwäldlerisch

 

Als Priester hätte ich damals sicherlich auch versucht, den Patienten durch eine Austreibung des Dämons zu heilen. Die meisten Zeitgenossen werden geglaubt haben, daß Patienten wirklich – im Sinne von objektiv-real – besessen sein und Dämonen in ihnen ihr Unwesen treiben können, obwohl das „nur“ ihrem Totalbild entsprach.

Das ist für uns kaum nachvollziehbar. Aber Gabriel müßte sich schon fragen lassen, ob er nicht auch im Mittelalter, das Denken, das damals – berechtigterweise – en vogue war, als Abbildung „seiner neuen Realität“ verstanden hätte.

Wenn nicht, warum tut er es heute?

 

Das  Argument, es gäbe doch offensichtlich einen Fortschritt vom Mittelalter zu uns, denn wir können die Viren unter dem Mikroskop sehen, sticht nicht, denn im Mittelalter hat man die dämonische Besessenheit bei geschultem Blick ebenfalls gesehen. Das gelingt uns heute nicht mehr – so wie im MIttelalter auch keiner Corona sah.

Und da hätten auch die tollsten Mikroskope nicht helfen können. Es gehört zum „Mythos des Gegebenen“ (Wilfrid Sellars), daß objektive Covid-Viren existieren würden, die von uns nur noch einen – und vielleicht sogar den „richtigen“ – Namen bekommen müßten; wie in der Schöpfungsgeschichte.

Aber Namen sind völlig inhaltsleer; was ein Covid-Virus ist, läßt sich weder zeigen noch benennen, sondern folgt einzig und allein aus dem jeweiligen Totalbild – sofern es ihn enthält. Tut es dies nicht – existieren keine Covid-Viren.

Wer Corona oder Tuberkolose für objekiv-real hält, soll uns bitte erklären, warum er dies bei der dämonischen Besessenheit nicht tut.