2.4. Kosmos – Welt – Leben

Möglicherweise wundern Sie sich die ganze Zeit schon, weshalb ich zumeist zwischen der objektiven Welt – der gesamten Tradition – und dem physikalischen Kosmos als ihrem Spezialfall – in der Moderne – unterscheide. An Ihrem Erstaunen zeigt sich gegebenenfalls, wie massiv wir uns im Verlauf der letzten drei Jahrhunderte an das Denken der exakten Wissenschaften angepaßt haben.

In vielen Büchern und Artikeln wird gegenwärtig spekuliert, daß wir Menschen möglicherweise gar nicht nur in unserem physikalischen Kosmos als einem Universum leben, sondern in einem Multiversum – in Kosmen gewissermaßen. Das geschieht teilweise auf einem sehr hohen intellektuellen Niveau, etwa im Zusammenhang mit Hugh Everetts „Quantentheorie der vielen Welten“.

Ich meine jedoch etwas völlig anderes und in gewissem Sinne sogar das glatte Gegenteil.

 

Der physikalische Kosmos stellt nur einen winzigen Teil der Welt dar.

Überlegen Sie bitte einmal, was Ihnen in Ihrem Leben besonders wichtig ist. Befindet sich darunter – bei Nicht-Physikern – etwas Physikalisches? Vielleicht denken Sie an Liebe und Freundschaft, bestimmte Menschen, Lebensziele und Selbstverwirklichung, Hobbys, Handwerk, Bücher, Kunst, Bildung oder einfach nur gutes Essen und Trinken.

All das sind keine Gegenstände der Physik – und sie können somit in deren Welt, dem Kosmos, auch nicht vorkommen. Darin gibt es keine Sprachen oder Gedichte, keine Gemälde oder Bierdeckel, weder Schön- noch Gemeinheit, weder Geld noch Armut, keine Verbrechen oder Fußballspiele, keine Staaten mit Flaggen und Hymnen, keine Bedürfnisse und kein Begehren.

Im physikalischen Kosmos existiert fast nichts; zu ihm kann nur das Wenige gehören, das sich vollständig mittels der Physik beschreiben läßt. Das ist bereits bei Reißzwecken, Sicherheitsnadeln und Büroklammern nicht mehr möglich, weil sie einen Zweck besitzen, dieser aber keine physikalische Kategorie darstellt, das heißt, daß der Physiker als Physiker nicht verstehen kann, was ein Zweck – und damit auch eine Reißzwecke – sein soll.

Es verbleiben somit nur die traditionellen primären Qualitäten Anzahl, Größe, Masse, Form, Ort, Geschwindigkeit usw.

 

AD: „Wieso sollen Reißzwecken, Sicherheitsnadeln und Büroklammern keine physikalischen Gegenstände und somit auch nicht im Kosmos enthalten sein?“

Entschuldigung; mein „nicht“ war falsch; sie befinden sich auch, aber nicht nur im Kosmos.

Reißzwecken, Sicherheitsnadeln und Büroklammern haben eine bestimmte Größe, Form, Masse, Festigkeit sowie weitere Eigenschaften, für die die Physik zuständig zeichnet, und hierdurch gehören diese Gegenstände natürlich dem Kosmos an – pardon.

Das wollte ich keineswegs bestreiten; aber damit handelt es sich noch nicht um Reißzwecken, Sicherheitsnadeln bzw. Büroklammern, denn das sind sie erst durch ihren jeweils noch hinzukommenden Zweck. Und mit ihm transzendieren sie den Kosmos und reichen in andere Dimensionen der Welt hinein.

Ich korrigiere mich also; sämtliche Dinge, die physikalische Aspekte besitzen, gehören auch dem Kosmos an, gehen aber zumeist weit über ihn hinaus; er ist – anschaulich gesprochen – zu eng für sie.

Unbestreitbar bedeutet unser Rendezvous auch eine Ortsveränderung, aber daß es nur das ist, können hoffentlich auch die dreistesten Physikalisten selbst nicht glauben.

 

Viele Menschen finden in ihrem Leben keinen Sinn und haben damit auch vollkommen Recht, wenn sie ihre Welt auf die physikalischen Komponenten reduziert haben. Darin kann es natürlich keinen Sinn geben, weil er ebenfalls keine physikalische Kategorie darstellt. Auch Physiker finden keinen Sinn im Kosmos; hoffentlich bei ihrer Arbeit, aber die erfolgt nicht im Kosmos, sondern handelt nur von ihm.

Wir können nicht unsere Wohnung schwarz überstreichen und dann klagen, daß die Farben fehlen. Doch; natürlich können wir es; wir tun es ja weitestgehend, indem wir die wirkliche (moralisch-)praktische Wahrheit unseres Lebens durch eine angeblich (erkenntnis-)theoretische Richtigkeit des Weltbilds ersetzen – und dann vielleicht unglücklich sind:

„Was sollen wir mit der?“

 

AD: „Die nicht-physikalischen Partial-Welten, die Sie andeuten, spielen aber doch wirklich nur eine untergeordnete Rolle . . .“

Das ist richtig; aber nicht weil es sich in der objektiven Welt so verhält, sondern weil wir unsere subjektiven Welten in der Moderne so einseitig entwickelt haben. Überlegen Sie bitte einmal, was wir alles über unseren Kosmos erzählen könnten, und wie rudimentär sich daran gemessen – bei den meisten von uns – unter anderem das musische oder poetische Vokabular ausnimmt, wie beschränkt unsere Partial-Welten beispielsweise des Schönen, Guten, Religiösen und der Gabe oder Stille entwickelt sind.

Bei dem Wort „Krieg“ beispielsweise assoziieren die meisten Menschen heute physikalisch-elektronische Waffen(-Systeme) und deren Abwehr. Aber müßte uns nicht als erstes das Leid der Betroffenen – Menschen, Tiere und vielleicht sogar Pflanzen – in den Sinn kommen?

 

Nun sollte verständlich sein:

Die Welt besitzt nicht nur die vier Dimensionen der physikalischen Raum-Zeit, sondern potentiell unendlich viele und ist unabsehbar reichhaltig oder vielfältig. Der Kosmos mit seinen armseligen Inhalten nimmt sich daran gemessen entsetzlich provinziell aus. Auch wenn er innerhalb der Raum-Zeit praktisch grenzenlos ist, bleibt der Kosmos gegenüber dem Reichtum, der Vielfalt und Faszination der Welt nahezu vernachlässigbar. Letztere enthält den Kosmos, geht aber in potentiell unendlich vielen Dimensionen darüber hinaus.  

Allein das traditionelle Denken im modernen Abendland glaubt, mit der Physik den Nabel oder die Einheit der Welt gefunden zu haben, so daß die physikalische Weltformel als das angeblich letzte noch zu lüftende Rätsel gehandelt und als Endlösung verkauft wird.

 

Wir setzen diese Horizonterweiterung vom Kosmos zur Welt fort und gehen mit der Postmoderne zum eigenen Leben über:

objektiver Kosmos   →   objektive Welt   →  subjektives Leben mit der eigenen Welt

 

AD: „Wir können unmöglich in einer Sphäre leben, die es ohne uns gar nicht gäbe, also insbesondere nicht in der eigenen subjektiven Welt; das scheint Ihnen Ihrer Formulierung zufolge auch klar zu sein.

Aber damit drängt sich natürlich massiv die Frage auf, wo wir dann leben.“

Die traditionelle Antwort „in der objektiven Welt“ scheint definitiv, weil selbstverständlich und unproblematisch zu sein. Mit ihr wird letztlich gesagt, daß wir als Subjekte im wesentlichen unser Körper sind, der sich zwischen all den anderen Körpern befindet.

Wir wissen noch nicht, worin die Subjekte postmodern bestehen, aber die Vermutung, daß wir uns als Subjekte zwischen all den anderen Subjekten befinden, dürfte plausibel und nicht zu weit hergeholt sein.

 

Damit hätten wir eine Lösung Ihres Problems:

Ich lebe als Subjekt dort, wo sich auch alle anderen Subjekte befinden.

AD: „Das ist aber keine befriedigende Antwort, sondern eine ungeschickte Ausrede und nahezu eine Tautologie.“

Sie haben Recht, und ich hatte meinen Vorschlag auch nicht ernstgemeint, sondern wollte Ihnen nur zu der Erkenntnis verhelfen, daß die traditionelle Antwort dann aber ebenfalls nur „eine ungeschickte Ausrede und nahezu eine Tautologie“ darstellt:

In der Welt zu leben, besagt ebenfalls nur, daß wir dort sind, wo sich auch alle anderen (menschlichen und sonstigen) Körper befinden, denn die Welt ist nichts anderes als deren Gesamtheit.

Fragt uns jemand, wo wir leben, und unsere Antwort lautet „in einem Haus“, stimmt das zwar vordergründig ebenfalls, sagt aber nichts; und „in der Welt“ ist kaum besser.

 

Traditionell-modern läuft die Frage, wo wir leben, also auf die nur scheinbar ganz andere hinaus, wo sich die Welt als die Gesamtheit aller physikalischen Körper befindet. Postmodern wird daraus die Frage, wo wir als die Gesamtheit aller Subjekte leben.

AD: „Und beide sind prinzipiell unbeantworbar, weil der Begriff des Ortes nur innerhalb einer – objektiven oder subjektiven – Welt verständlich ist.“

Das ging vielleicht ein wenig zu schnell:

Die zwei Fragen lassen sich mit unserer Vernunft tatsächlich nicht beantworten; soweit sind wir uns einig. Das bedeutet aber keineswegs, daß sie offen bleiben müssen, denn der Glaube bietet uns eine Antwort an:

Traditionell befindet sich die objektive Welt in Gott; postmodern leben wir Subjekte in ihm.

Wir hatten die Realität als Einheit von Transzendenz und Immanenz eingeführt und können nun sagen, daß erstere stets mit Gott zusammenfällt, wärend die Immanenz traditionell in der objektiven Welt und postmodern im Leben von uns Subjekten besteht.

 

Unser gesuchter Ort wäre demzufolge in beiden Fällen die Transzendenz bzw. Gott.

Das muß nicht stimmen, nur weil es der christliche Glaube sagt; es ist ein Vorschlag, der uns in unserem Leben helfen könnte. Ob er das tut, wissen wir freilich bestenfalls, nachdem wir uns auf das Angebot eingelassen haben. Aber darin besteht keine verdächtige Besonderheit des Glaubens, sondern das gilt für nahezu alle Facetten unseres Lebens; bei jedem Medikament, Vorstellungsgespräch, Ausflug, Glücksspiel oder Vertrauensvorschuß wird sich erst nach dem Daran-Geglaubt-Haben zeigen, ob letzteres gerechtfertigt war. 

 

Die Antwort des Glaubens resultiert nicht aus der Vernunft – andernfalls wäre es keine Antwort des Glaubens –, widerspricht ihr aber auch nichtdann wäre sie unsinnig. Mangels einer vernünftigen Alternative lassen wir uns also auf den Gedanken ein, sowohl traditionell als auch postmodern in Gott  zu leben.

Unser Ansatz hatte sich oben als der allgemeinere herausgestellt. Welche Spezifikation ist es, die von ihm zum eingeschränkten traditionellen Denken führt?

 

Ohne objektive Realität besteht kein Grund für Intersubjektivität; weshalb sollten verschiedene Subjekte in ihren Wissungen übereinstimmen?

Wenn sie es tun, wäre das zufällig, und niemand könnte es feststellen, weil uns sämtliche fremden Psychen prinzipiell unzugänglich sind.

Trotzdem sagen sehr viele Subjekte das Gleiche, und ihre Bekenntnisse weisen eine überraschend hohe Intersubjektivität auf.

Mit meiner Wortwahl habe ich die Lösung dieses offensichtlichen Widerspruchs bereits angedeutet. Sie besteht darin, daß wir manipuliert werden; insbesondere für Ludwig Wittgenstein sowie Michel Foucault ist das Erziehen und Erklären ein „Abrichten“.

Das klingt wahrscheinlich sehr negativ, stellt aber eine notwendige Manipulation dar, weil wir die Intersubjektivität als gesellschaftlichen Kitt benötigen. Keine Kultur kann ohne eine hinreichende Übereinstimmung ihrer Mitglieder leben.

 

Das ist die konstruktive Seite, gegen die sich meines Erachtens nicht viel einwenden läßt. „So sehen wir das als Deutegemeinschaft und bitten alle, die dazugehören (möchten), um ein entsprechendes Verständnis, die notwendige Toleranz und ausreichende Empathie.“

Solange sich die Intersubjektivität nicht begründen läßt, bleibt allein ein solcher Appell, der jedoch vielen Mitgliedern als wenig effizient erscheinen mag. Eine Rechtfertigung wird – vielleicht nur – möglich, wenn man

– eine objektive Realität behauptet und

– die gewünschte Intersubjektivität  als deren adäquate Abbildung ausgibt.

„So ist es; wir haben die Wahrheit gefunden.“

Natürlich kann und wird das mitunter gelogen sein; aber bei den allermeisten Mitgliedern der Deutegemeinschaft wird es sich viel eher um Gutgläubigkeit im positiven oder Denkfaulheit im negativen Falle handeln.