2.5. Wahr – wirklich – richtig – gewiß – nützlich

Unser Leben sollte wahr sein, hatte ich oben geschrieben; damit sind die beiden Prädikate „wahr“ sowie „unwahr“ vergeben, und wir können nichts anderes mit ihnen charakterisieren. Es gibt also insbesondere weder wahre logische, mathematische oder naturwissenschaftliche Gesetze noch wahre Dogmen; freilich auch keine unwahren.

Wie alle Propositionen können sie lediglich richtig oder falsch sein, wobei diesbezüglich natürlich häufig keine saubere Unterscheidung möglich ist.

 

Nun haben wir mit den Propositionen wieder einen neuen Begriff eingeführt, der „schlimm“ klingt, sich aber kaum vermeiden läßt.

Sätze können Wünsche, Fragen, Befehle, Erstaunen und alles Mögliche zum Ausdruck bringen; derartige Sätze sind weder richtig noch falsch. Uns geht es jedoch in erster Linie um Sätze, die etwas feststellen oder konstatieren und denen eben dadurch diese Prädikate zukommen; wir nennen sie „Aussagen“.

Damit können wir klären:

Eine Proposition ist der Inhalt einer Aussage; dabei geht es gar nicht um diese, sondern allein um jenen; der Satz spielt keine Rolle und müßte auch nicht formuliert werden.

„Zwei mal drei ist sechs“, „Bern die Hauptststadt der Schweiz“ und „die Erde eine Kugel“. Diese Sätze bringen Propositionen zum Ausdruck, die aber auch ohne ihre explizite Erwähnung richtig wären; dann wüßten wir lediglich nicht, was richtig ist.

 

Von den Propositionen führt ein kontinuierlicher Übergang zu den Begriffen, wie wir leicht an einfachen Beispielen erkennen:

„Die Erde ist eine Kugel“ oder „Das Papier dient zum Schreiben“ – Proposition.

„Erdkugel“ bzw. „Schreibpapier“ – Begriff.

Begriffe sollten nützlich, fruchtbar oder sinnvoll sein; Propositionen spielen dagegen zwischen richtig und falsch.

Aber diese differenten Eigenschaften der Begriffe bzw. Propositionen dürfen wir nicht als miteinander unvereinbar betrachten; sowohl Richtiges als auch Falsches kann nützlich, fruchtbar oder sinnvoll sein bzw. auch nicht.

Wegen ihrer kontinuierlichen Verbindung können wir die Begriffe und Propositionen zusammenfassen; sie alle bilden Denkwerkzeuge.

 

AD: „Dann sollten wir unsere Überlegungen zum Totalbild jedoch ein wenig korrigieren:

Sie haben letzteres als die subjektive ‚Einheit unserer Begriffe‘ eingeführt. Das wird jetzt nicht falsch; aber wenn sich die Propositionen kaum von den Begriffen trennen lassen, können wir das Totalbild besser als die subjektive ‚Einheit unserer Denkwerkzeuge‘ verstehen.“

Vollkommen einverstanden; je nach Fragestellung wird es das eine mal besser sein, die Begriffe hervorzuheben, und das andere mal, die Propositionen zu betonen.

 

Die Denkwerkzeuge stehen immer alle zur Verfügung, aber im jeweiligen Jetzt werden stets nur ganz wenige von ihnen benötigt und dazu explizi(er)t oder aktal(isiert); der größte Teil bleibt implizit, potentiell oder unbewußt im Hintergrund.

Jener kleine Teil der Denkwerkzeuge bildet die Wissungen, und bei ihnen unterscheiden wir zwischen Wahrnehmungen und Vorstellungen.

Erstere gehören stets dem Jetzt an, sind wirklich und gewiß.

Vorstellungen dagen können früher, jetzt oder später sein; sie erweisen sich stets als unwirklich und fehlbar.

 

 

Reflexion des Lebens
Denkwerkzeuge
Psyche
   
Wissungen    
Wahrnehmungen Vorstellungen    
       
jetzt früher, jetzt oder später näherungsweise konstant
rein subjektiv
partiell intersubjektiv
explizi(er)t implizit
aktual(isiert) potentiell
 
wirklich unwirklich Propositionen „Einheit der Begriffe“
gewiß fehlbar richtig oder falsch nützlich oder nutzlos

Abbildung 2.5.

 

Damit haben wir den fünf Begriffen unserer Kapitelüberschrift ihr jeweiliges „Ressort“ zugeordnet; werden sie in anderen Zusammenhängen genutzt, kann dies leicht zu Mißverständnissen führen.

 

AD: „Was unterscheidet ‚wirklich‘ von ‚gewiß‘? Brauchen wir tatsächlich beide Begriffe oder sind sie synonym?“

Zur Zeit sieht es tatsächlich so aus, als könnten wir einen der beiden Begriffe streichen. Das liegt aber daran, daß wir in unserer Abbildung bisher nur die Reflexion des Lebens erfaßt haben und seine Leibhaftigkeit noch fehlt; diese ist ebenfalls wirklich, aber nicht gewiß.

In Anlehnung ans Wittgenstein betrachten wir die Vorstellungen als fehlbar und die Wahrnehmungen als gewiß oder unbestreitbar; eine fehlbare Wahrnehmung wäre Wittgenstein zufolge widersprüchlich.

Ich versuche, Ihnen den Begriff der Gewißheit an einem Beispiel zu verdeutlichen, und wir betrachten dazu einen Dürstenden in der Wüste.

 

Er sieht Wasser; das ist eine Wahrnehmung, und als solche muß sie gewiß sein.

Der Ärmste will  trinken, aber es gelingt ihm nicht. Darin besteht eine neue Wahrnehmung, die ihn belehrt, daß es sich bei dem angeblichen Wasser um eine Fata Morgana handelt.

AD: „Dann war es aber auch zu Beginn schon eine Fata Morgana und somit doch keine eo ipso gewisse Wahrnehmung, sondern nur eine fehlbare Vorstellung.“

Nein; zu diesem Zeitpunkt wußte er das ja nicht; und ein „Irrtum“, der nicht als solcher gewußt wird, ist kein Irrtum. Wer das anders sieht, maßt sich die Perspektive Gottes an, denn er beansprucht etwas zu wissen, was er als Nur-Wahrnehmender unmöglich wissen kann.

Der Dürstende erkennt erst im Nachinein, daß er sich zuvor getäuscht haben muß; und darin besteht seine neue – freilich immer nur aktuale, aber gewisse – Wahrnehmung:

„Es muß eine Fata Morgana sein.“

Das Wahrnehmen ist also stets ein Gewiß-, aber kein Wahr- oder Richtig-Nehmen.

 

Irrtümer können bei Wahrnehmungen nur rückblickend oder im Nachhinein durch neue Wahrnehmungen erkannt werden.

Aber was heißt hier „Irrtümer“? Vielleicht stellt sich in einem erneuten Anlauf heraus, daß es doch Wasser ist und der Dürstende bei seinem ersten Versuch nur bereits zu schwach war, um noch trinken zu können. 

Wir befinden uns also stets in der Situation:

So sehe ich es aktual wirklich, bin mir dessen gewiß und müßte lügen, mich dumm stellen oder einfach irgendetwas plappern, sollte ich etwas anderes sagen.“

 

Gewißheit muß jedoch nicht Richtigkeit bedeuten.

Der Dürstende ist sich gewiß, Wasser zu sehen, und die Frage, ob das richtig oder falsch ist, stellt sich gar nicht. 

Kurz vor Weihnachten habe ich im Einkaufsgewimmel aus der Ferne einen alten Schulfreund gesehen, aber durch das Gedränge nicht erreicht. Und gestern sagte er mir am Telefon, daß er zu dieser Zeit in China gewesen sei. Ich war mir meiner Sache gewiß, es war jedoch trotzdem falsch.  

Wir sehen, wie der Zauberer die Frau durchsägt, aber es stimmt natürlich nicht.

 

Das Wahrnehmen kann auch mißlingen; es führt dann nicht zu Wahrnehmungen, sondern zu der Frage „Was ist das?“. Die erklärende Antwort beschreibt eine Proposition, wie dies zum Beispiel auch bei Zeichen, Begriffen oder Texten häufig der Fall ist.

Verstehen wir die Erklärung wiederum nicht, setzt sich dieses Spielchen fort, bis wir irgendwann verstanden haben – oder entnervt aufgeben.

Im Hintergrund dieser Überlegungen steht für mich die „Philosophie des Zeichens“ von Josef Simon. Ihr zufolge muß das erfolgreiche Ende jeder Erklärungskette subjektiv

– verstanden sowie

– als Erklärung akzeptiert werden.

Natürlich ist es – wie jede Proposition – richtig oder falsch; aber auch hier stellt sich diese Frage gar nicht.

 

Langer Rede kurzer Sinn:

Aus der Einhorn-Vorstellung folgt gar nichts, weil sie willkürlich oder beliebig ist.

Die Einhorn-Wahrnehmung läßt sich dagegen nicht bestreiten; selbst wenn alle lachen:

Wer eine Einhorn-Wahrnehmung hat, hat eine Einhorn-Wahrnehmung und ist sich dessen gewiß.