1.5. Philosophischer Hintergrund

Mir liegt sehr daran, daß dieses Buch allen Lesern zugänglich ist, die meine Intention annähernd teilen und bereit sind, gegen jeden Strich zu denken. Deshalb setze ich keinerlei explizites Wissen der Philosophie voraus und mache einen möglichst großen Bogen um ihre Geschichte.

Gilles Deleuze schreibt ganz in meinem Sinne: „Ich gehöre zu einer Generation, einer der letzten Generationen, die man mehr oder weniger mit der Philosophiegeschichte umgebracht hat. Die Philosophiegeschichte übt in der Philosophie eine ganz offenkundig repressive Funktion aus.“

Das entspricht zudem meiner festen Überzeugung, daß es Philosophie als Lehrfach (wie Mathematik oder Ökonomie beispielsweise) ohnehin nicht gibt, sondern nur (eigenständiges) Philosophieren im Sinne von Selbst-Denken.

Gelegentliche Angaben von Namen setzen also kein anderweitig erworbenes Wissen voraus, sondern sollen auf eventuell bekannte hilfreiche Zusammenhänge oder Möglichkeiten zu einer gründlicheren Auseinandersetzung hinweisen bzw. auch einfach nur andeuten, daß wir beide nicht allein sind, wenn Sie inhaltlich mitgehen.

Bemerkungen der Form „wie man weiß . . .“, „es ist allgemein bekannt, daß . . .“ oder „. . . im Sinne von X. Y.“ sind nach meinen Erfahrungen ebenso leserunfreundlich wie mathematische Zusammenhänge. Derartige „Hinweise“ deuten einen Unterschied zwischen uns an, auf den ich gerne verzichten möchte.

 

„Jede philosophische Abhandlung muß in gewissem Sinne eine ‚Einführung in die Philosophie‘ sein, denn dadurch bewahrt sie sich vor der Gefahr, bloße Lehrmeinungen, die doch zumeist nur Leermeinungen sind, zu reproduzieren“ (Leo Dümpelmann und Rafael Hüntelmann). (Ich will Sie nicht auf den Arm nehmen; die beiden Autoren heißen wirklich so.)

Das versuche ich zu beherzigen und schreibe das Buch für Nachdenkliche oder Suchende; weder für Ignoranten noch für Alles- oder Besserwisser. Als sein Motto wäre auch dasjenige Michel Foucaults möglich: „Ich denke gern!“ Wer das von sich ebenfalls sagt, ist herzlich zum Dialog eingeladen.

Meine wichtigsten Gewährsleute bei den Philosophen sind Isolde Charim, Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Paul Feyerabend, Michel Foucault, Michael Hampe, Michel Henry, François Jullien, Julia Kristeva, Bruno Latour, Emmanuel Levinas, Josef Mitterer, A. M. Klaus Müller, Friedrich Nietzsche, Corine Pelluchon, Georg Picht, Paul Ricœur, Heinrich Rombach, Richard Rorty, Josef Simon, George Spencer-Brown, Gianni Vattimo, Beatrix Vogel, Carl Friedrich von Weizsäcker und Ludwig Wittgenstein.

Letzterer wäre es wohl, müßte ich mich wieder auf einen einzigen Autor beschränken.

 

Ich entschuldige mich nicht, daß sich unter all meinen „Kronzeugen“ mit Isolde Charim, Julia Kristeva, Corine Pelluchon sowie Beatrix Vogel nur vier Frauen befinden; es hat sich ganz einfach so ergeben. Hanna Arendt, Judith Butler oder Natalie Depraz beispielsweise sind für mich phantastische Denker, die ich auch sehr gerne lese, es aber eben nicht in meine Top-40 geschafft haben.

Ich gendere nie und tangiere dieses Thema auch nicht nochmals – weil wir meines Erachtes vor wesentlich gravierenderen Problemen stehen –, sondern versichere hiermit allen Frauen, keinerlei Schwierigkeiten mit ihrem Geschlecht zu haben; im Zweifelsfalle fragen Sie bitte meine Gattin.

 

Vor gut zehn Jahren habe ich mit dem Buch „Ursprüngliche Wirklichkeit“ die Hinführung zu einem etwas avantgardistischen, das traditionelle Denken sprengenden Ansatz vorgelegt, die insbesondere wissenschaftsgläubigen Lesern helfen sollte, Michel Henrys „Philosophie des Johannesevangeliums“ ernstnehmen zu können.

Die ersten 100 Seiten davon würde ich Ihnen heute noch guten Gewissens empfehlen, den Rest nicht mehr; an seine Stelle tritt das vorliegende Buch.

 

Das Philosophieren oder Theologisieren darf bei keinerlei unhinterfragbaren Zitaten beginnen, hatte ich oben geschrieben.

Das ist aber nur die eine Seite, von der ich auch nichts zurücknehme.

Auf der anderen Seite können wir jedoch nur hoffen, daß die Ergebnisse, die wir durch unser eigenes Nachdenken erzielen, einer möglichst großen Tradition entsprechen. Sie sollen diese freilich nicht einfach wiederholen – für bloßes Nachplappern ist kein Denken erforderlich –, sich jedoch als ihre zeitgemäße Interpretation verstehen lassen.

Denn wäre dies nicht der Fall und wir würden ohne alle Berührungspunkte etwas völlig Neues finden, blieben dafür wohl nur zwei Erklärungsvarianten:  

Theoretisch könnten wir Genies sein; praktisch liegt aber die Vermutung wesentlich näher, daß unsere in der Geschichte erstmaligen „Denkergebnisse“ nur Unsinn darstellen, der so absurd ist, daß kein Mensch vor uns jemals auf dergleichen kommen konnte

Ich nenne bereitwillig Namen, um mich nicht mit fremden Federn zu schmücken, „erhebe aber überhaupt nicht den Anspruch auf Neuheit; und darum gebe ich auch keine Quellen an, weil es mir gleichgültig ist, ob das, was ich gedacht habe, vor mir schon ein anderer gedacht hat“ (Wittgenstein). 

 

Damit läßt sich ein wichtiger Bogen zum Beginn des vorigen Kapitels schlagen:

Erst im Nachhinein ist feststellbar, in welcher Tradition wir philosophisch oder theologisch wirklich stehen, das heißt, welche wir – weiter – interpretieren. Und so kann ich auch als offizieller Katholik erkennen, daß mein Denken beispielsweise (zen-)buddhistischen, jüdischen oder atheistischen Ansätzen teilweise sehr nahesteht.

Bei letzteren habe ich freilich einen „anderen, das heißt, durchdachten Atheismus“ (Gregor Maria Hoff) vor mir, wie wir ihn etwa von Albert Camus, Gilles Deleuze, Martin Heidegger, François Jullien, Bruno Latour, Richard Rorty, Jean-Paul Sartre, Peter Sloterdijk, Martin Walser oder Slavoj Zizek kennen.

Aber das wird natürlich erst deutlich, indem wir selbst denken, und steht nicht auf unserer Taufurkunde, die zumeist vor allem eigenen Denken ausgestellt wird, dieses aber zum Glück nicht festlegt.

 

Daß wir inmitten eines fundamentalen Bewußtseinswandels leben, dürften wohl die Wenigsten von uns bestreiten; weder seine Protagonisten noch die Skeptiker. Ich hatte versprochen, daß die Philosophiegeschichte für unsere Überlegungen nicht relevant wird, aber wir sollten diese wenigstens in jene einordnen können:

Meines Erachtens geht das traditionelle Denken im Zuge des gegenwärtigen Bewußtseinswandels in das postmoderne über.

Ersteres unterteilen wir in das antike, mittelalterliche und moderne Denken, so daß sich auch vom Übergang des letzteren in das postmoderne Denken sprechen läßt.

Der spezielle Ansatz, den ich Ihnen hiermit anbiete, könnte sinnvoll als „metaphysischer Explikationismus“ bezeichnet werden und bildet natürlich nur eine – eben meine persönliche – Variante der postmodernen Philosophie. Ich betone das nicht immer wieder, denn andere postmoderne Ansätze – mit einer sehr breiten Palette – spielen praktisch keine Rolle.

 

Explikationismus bedeutet hierbei, wie sich noch ausführlich zeigen wird, daß unsere Wahrnehmungen – nicht von einer angeblichen objektiven Realität abgebildet, sondern – aus dem subjektiven Leben expliziert werden.

„Explikationismus“ allein würde als Kennzeichnung aber nicht genügen, weil wesentliche Teile von Hegels recht anderer Philosophie unter der Überschrift „Erkenntnistheoretischer Explikationismus“ kursieren.

Da die Ontologie eine Lehre von den Seienden der objektiven Realität darstellt und ich die Existenz der letzteren bestreite, kam „ontologisch“ als ergänzendes Prädikat nicht infrage, so daß sich die gewählte Bezeichnung als „metaphysischer Explikationismus“ recht geradlinig ergab.

 

Metaphysik ist keine Physik der Hinterwelt, sondern der Versuch, die unbestreitbaren Grenzen des eigenen Denkens, so weit wie möglich auszudehnen, um – ohne hinterwäldlerisch zu werden – mehr als Physik betreiben zu können

„Philosophie der Orientierung“ hätte ebenfalls sehr gut gepaßt, aber den Namen nutzt (leider) bereits Werner Stegmaier für seinen eigenen, dem unsrigen teilweise recht nahestehenden Entwurf.

 

Diese groben Umrisse dürften den Aufbau des Buches bereits ein wenig verständlich werden lassen. Der Einleitung folgen (vorerst) drei Hauptteile:

Im ersten von ihnen – „Das traditionelle Denken in der Moderne“ – steht die Kritik des alten, aber außerhalb der Philosophie immer noch quasi allgegenwärtigen Abbild-Modells im Vordergrund, das wir versuchen, mittels recht starker Argumente zu destruieren. Meines Erachtens ist das gesamte traditionelle „Denken“ sowohl unverständlich als auch widersprüchlich und hat folglich wenig mit Denken zu tun.

Beim zweiten Hauptteil – „Der Ausgangspunkt unseres Nachdenkens“ – fragen wir, womit eine Philosophie, die so stringent wie möglich vorgehen und auf alle unnötigen Voraussetzungen verzichten möchte, am sichersten beginnen könnte. Die  Antwort wird uns bereits tief in unsere eigentliche Problematik hineinführen.

Das hierdurch entstandene Gerippe füllen wir im dritten Hauptteil mit dem Fleisch von Ludwig Wittgensteins „solipsistischer“ Sprachphilosophie, Jacques Derridas‘ différance-Denken sowie der Radikalen Lebensphänomenologie von Michel Henry und der Theologie von Eduard Prenga.