1.3. Igel und Fuchs

Von Archilolos ist das Fragment „Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel kennt eine große Sache“ überliefert.

Ich behaupte keineswegs, ein Igel zu sein, aber es ist letztlich eine einzige Idee, die mich seit fast 50 Jahren umtreibt. Provoziert wurde sie nicht zuletzt durch meine berufliche Arbeit an Grundfragen der Quantentheorie, und das vor Ihnen liegende Buch stellt im Kern den Status quo dar, den die (nicht-physikalische) Entfaltung dieser Idee bisher angenommen hat.

 

Wer sich intensiv mit der Quantentheorie beschäftigt, wird meines Erachtens vor die Alternative gestellt, ob er weiterhin an die objektive Realität der traditionellen Welt glaubt oder die phantastischen experimentellen Bestätigungen der Quantentheorie ernstnimmt. Beides zusammen scheint nicht möglich zu sein; entweder objektive Welt oder Quantentheorie.

(Wenn Sie sich selbst ein Bild davon machen wollen, ob ich das richtig sehe, wären vielleicht die Bücher von Anton Zeilinger sehr empfehlenswert. Insbesondere „Einsteins Spuk“ und „Einsteins Schleier“ schrieb Zeilinger, der 2022 den Physik-Nobelpreis erhielt, für Laien.)    

 

Albert Einstein hatte sich bekanntlich dafür entschieden, den traditionellen Glauben an die objektive Realität beizubehalten, und leider bis zu seinem Lebensende versucht, Fehler oder widersprüchliche Konsequenzen der Quantentheorie aufzuspüren.

Ich habe mich auf die Gegenseite geschlagen und gedacht:

Unsere Physik ist die grundlegende Naturwissenschaft, die in der Moderne mit dem Ziel antrat, die objektive Realität der Welt zu erkennen. Wenn selbst sie zu dem Ergebnis kommt, daß keinerlei Objektivität existiert, dann gibt es in den anderen wissenschaftlichen Disziplinen oder sonstigen Sphären unseres Lebens erst recht keine.

(Ich wechsle – wie soeben – mitunter zur ersten Person Singular, ohne im weiteren nochmals darauf hinzuweisen. Darin kommt keine Egomanie zum Ausdruck, sondern mein Bemühen, mich möglichst verständlich und eindeutig auszudrücken; das gelingt mitunter in der Ich-Form besser.)

 

Wieso sind sich die meisten von uns mit Einstein der objektiven Welt so sicher?

Weil wir überzeugt sind, problemlos über das Außerhalb unserer Psyche – wo sich die objektive Welt ja befinden müßte – nachdenken und sprechen zu können.

 

Damit sind wir bereits bei meiner Grundidee; sie ist nicht sonderlich schlau, spitzfindig oder ausgefallen, sondern ich empfinde sie eher als selbstverständlich:

„Außerhalb meiner Psyche“ bedeutet, daß mir dieser Bereich nicht zugänglich oder gegeben ist.

Dann vermag ich jedoch absolut nicht(s) davon zu wissen und kann folglich auch keinen einzigen sinnvollen Gedanken darüber denken oder Satz dazu sagen. Sämtliche diesbezüglichen Annahmen sind willkürlich oder beliebig – weil nicht kontrollierbar –, könnten ebenso völlig widerspruchsfrei durch ihr Gegenteil ersetzt werden und entsprechen somit einem bloßen, sinnleeren Blablabla.

 

Positiv formuliert lautet meine Grundidee also:

Alles sinnvoll Gedachte, Vorgestellte, Erlebte oder Gesagte gehört notwendigerweise der eigenen Psyche an. Wer von ihrem Außerhalb zu handeln meint, gibt lediglich seine diesbezüglichen Überzeugungen wieder, und die müssen sich natürlich ebenfalls innerhalb der Psyche befinden.

„Außen ist die Materie“ stellt also lediglich die Vorstellung eines naiven Physik-Gläubigen dar, daß außerhalb seiner Psyche die Materie sei, was natürlich keiner wissen kann – selbst wenn es so wäre.

 

Moritz behauptet zum Beispiel, außerhalb seiner Psyche lebe der grasgrüne Steinbeißer. Das läßt sich natürlich weder beweisen noch widerlegen, denn dazu benötigten wir einen Zugang zu diesem Außen, den es jedoch prinzipiell nicht geben kanndenn genau das meint „Außerhalb der Psyche“.

Natürlich kann sich der „Inhalt“ unserer Psyche vergrößern; dann sprechen wir von einer umfangreicheren Psyche. Aber die Annahme, daß sich dieser Zuwachs zuvor Außerhalb von ihr befunden haben muß,

– gehört selbst zum prinzipiell Unwißbaren und

– ist auch keineswegs logisch zwingend.

 

AD: „Doch; das ist sie! Wenn ich jetzt etwas weiß, was mir gestern noch unbekannt war, muß es notwendigerweise in den letzten 24 Stunden von Außen in meine Psyche hineingekommen sein.“ 

Nein; Beethoven hatte irgendwann die großartige Intuition, die zu seiner „Ode an die Freude“ führte. Ist sie in den Tagen zuvor von außen in seine Psyche eingedrungen? Wenn „ja“ – was bedeutet dann „außen“? Wo befand sich die Ode zuvor? Im Musik-Himmel?

Newton griff eines Tages den Gedanken auf, Massen würden sich gegenseitig anziehen. Das war und bleibt eine geniale Idee, auch wenn sich heute praktisch alle Physiker einig sind, daß es keine Gravitationskraft gibt, so daß Newton seinen Gedanken nicht der Natur abgelauscht haben kann – wie  er wohl selbst glaubte. Die Massenanziehung existierte also nicht bereits außen, so daß Newton sie nur noch erkennen mußte.

 

Das wäre meine erste Entgegnung auf Ihren Einwand; eine zweite dürfte für unsere Überlegungen jedoch noch wichtiger, weil grund-legend sein: 

Sie stellen sich die Psyche ganz traditionell als in Ihrem Körper befindlich vor. Er ist außen  oder im Raum; deswegen können wir ihn zum Beispiel sehen; die zugehörige Psyche jedoch nicht, weil sie per definitionem innen bzw. nicht im Raum ist.

Aber das ist falsch, denn nur von räumlichen oder ausgedehnten Dingen können wir sinnvoll sagen, sie befänden sich innen; der Kern in der Kirsche, der Käfer in der Schachtel oder das Gehirn im Kopf. Beide Bestandteile eines solchen Ineinanders müssen räumlich sein; das Innere ist natürlich kleiner – aber nicht unräumlich.

Die Psyche befindet sich dagegen nicht im Raum; dann kann sie aber auch nicht innen und der Körper nicht relativ dazu außen sein; ein „unräumliches Innen im räumlichen Außen“ ist widersprüchlich.

 

Obwohl mir das alles sehr zwingend zu sein scheint, sehen es viele Menschen offensichtlich ganz anders. Sie

– haben sehr bestimmte Vorstellungen vom Außerhalb ihrer Psyche,

– sind von deren Richtigkeit felsenfest überzeugt und

– möglicherweise sogar bereit, Andersdenkende für deren widersprechende Annahmen zu töten; Inquisition, real existierender Sozialismus, Islamischer Staat . . . 

Die abstrusesten Bekenntnisse können also, wenn sie fanatisch als „wahr“ geglaubt werden, sowohl bei den „Gläubigen“ als auch bei den „Ungläubigen“ (über) das Leben entscheiden. Viele Menschen sind leider überzeugt, das eine richtige Blablaba von jedem falschen unterscheiden zu können. Hierbei ist es natürlich völlig belanglos, ob es sich dabei um religiöse, wissenschaftliche, politische, esoterische, verschwörungstheoretische oder sonstige Willkürlichkeiten handelt.

 

Das muß man sich einmal ernsthaft durch den Kopf gehen lassen – 300 Jahre nach der „Aufklärung“:

Eine willkürlich-leere Annahme, die bzw. deren Richtigkeit durch absolut nichts zu rechtfertigen ist und völlig widerspruchsfrei durch ihr glattes Gegenteil ersetzt werden könnte, kann weitreichende bis verheerende Folgen nach sich ziehen, wenn sie fanatisch geglaubt wird!

Was wir vom Außerhalb unserer Psyche denken, kann zwar keinen nachweisbaren Anspruch auf seine Richtigkeit erheben, sich aber nichtsdestotrotz ganz massiv auf ihr Innerhalb, das heißt, auf unser Leben auswirken.

Wer annimmt, außerhalb seiner Psyche befinde sich ein Schwarzes Loch, daß uns am 29. Februar 2028 alle verschlingen wird, lebt höchstwahrscheinlich anders als „Ungläubige“.

 

AD: „Natürlich; aus tiefster Überzeugung tut er das – und ihr zufolge auch vollkommen zu Recht. Damit habe ich auch keinerlei Schwierigkeiten, denn das ist unser aller Situation, in der wir uns ständig befinden. Problematisch wird dieses selbstverständliche Verhalten doch erst, wenn der Gläubige seine subjektive Überzeugung für allgemeinverbindlich erklärt, so daß ich in seinen Augen dumm, böse oder stur sein muß, wenn ich ihm nicht nachfolge.  

Diese Schwierigkeit lösen Sie mit einem Handstreich, indem jegliches Außerhalb der Psyche und damit sämtliche Objektivität entfällt. Mit der fehlenden Natur würden unter anderem auch gleich noch alle ökologischen Probleme hinfällig. Das klingt genial, setzt aber entweder bei mir den Glauben an Zauberei oder bei Ihnen einen Denkfehler voraus, denn daß alles so einfach gehen soll, glauben Sie ja selbst nicht.“

 

Ich nehme den Denkfehler, suche ihn jedoch nicht bei mir, sondern bei der traditionellen Darstellung unseres ökologischen Fehlverhaltens als Vergehen an der „Natur“. Letztere müßte sich außerhalb unserer Psyche befinden, und deshalb weiß ich nicht, worin diese „Natur“ bestehen soll, so daß sie tatschlich ganz ohne Zauberei oder Denkfehler unbemerkt gestrichen werden kann.

Wir handeln nicht an der „Natur“ sträflich, sondern an den Natur-Wahrnehmungen anderer, insbesondere zukünftiger Subjekte; und da es andere sind, tut es uns letztlich nicht weh – wodurch auch die offensichtlichsten Erkenntnisse sowie besten Einsichten unsererseits nichts nützen.  

 

AD: „Einverstanden; aber ich habe noch eine zweite kritische Anfrage:

Solange wir ernstlich miteinander diskutieren, treffen Argumente – Konsequenzen, Begründungen oder Widerlegungen – aufeinander. Hierfür kann es keine Rolle spielen, ob im Außerhalb angeblich eine objektive Realität existiert oder nicht, denn argumentativ ist sie nicht erreichbar.

Tangiert diese Welt unsere Gespräche dann überhaupt?

Wie soll die willkürliche Antwort auf eine prinzipiell unentscheidbare Frage jemals in einem vernünftigen Diskurs virulent werden können?“

In vernünftigen Diskursen ist das in der Tat unmöglich; aber sie enden ganz schnell, wenn sich (auch nur) ein Teilnehmer auf eine objektive Welt beruft.

Damit verläßt er die vernünftige Auseinandersetzung, denn seine Behauptung ermöglicht ihm das Totschlag-Argument den Totschlag-Satz „So ist es – basta!“, der jedes fruchtbare Gespräch zum Erliegen bringt.

 

Daß meine an Holzschnitt- oder eher noch Kettensägekunst erinnernde Darstellungsweise sinnvoll sein kann, versucht Heinzpeter Hempelmann – in einem anderen Zusammenhang, aber ganz in meinem Sinne – zu verdeutlichen:

„Ich rechne damit, daß dieser Text auf ebenso energischen, teilweise empörten Widerspruch stoßen wird wie auf dankbare Zustimmung. Möglicher Hauptangriffspunkt ist die notwendige flächige, weit ausgreifende und nicht um tausend Differenzierungen bemühte Darstellung, die auch als gewalttätig, unfair und ungerecht empfunden werden kann.

Der moderne Diskurs ist gekennzeichnet durch das Bemühen um Differenzierungen. So notwendig diese an ihrem Ort sind, so sehr kann der Diskurs eine im Endeffekt lähmende Wirkung entfalten. Schlicht formuliert: Man sieht vor lauter Bäumen, Ästen und Zweigen den Wald nicht mehr.

Es fehlt zumeist das Gesamtbild, das letztlich handlungsleitend und zielgebend sein muß.

Mein Resultat ist ein Wucht-, aber kein Wut-Text; apodiktisch im Ton, ohne Ausreden und Schminke, sicherlich korrektur- und ergänzungsbedürftig, mindestens aber ein Versuch, verschiedene Gründe zu benennen, warum . . .“

. . . wir uns vom traditionellen Denken mit seiner objektiven Realität verabschieden sollten.

 

Das tun auch die verschiedenen Spielarten des Radikalen Konstruktivismus. Mit ihnen hat unser Ansatz aber auch gar nichts zu tun, und es hilft vielleicht manchem Leser, von vornherein deutlich zu sehen, weshalb wir einen anderen – wenn auch noch nicht erkennbaren – Weg einschlagen.

Die einzige Übereinstimmung zwischen unserem Ansatz und dem Radikalen Konstruktivismus besteht im Verzicht auf die objektive Realität. Aber daraus resultieren bei letzterem zwei Probleme, die er meines Erachtens nicht lösen kann.

 

Das erste betrifft die Stellung oder Rolle des Gehirns.

Wenn die gesamte Realität nur eine Konstruktion darstellen würde, hätten wir keinen Konstrukteur, denn dieser kann nicht seiner eigenen Konstruktion angehören; das wäre widersprüchlich. 

Der Radikale Konstruktivismus „löst“ dieses Problem mit sehr viel unsauberem Gerede, indem er das Gehirn zum Konstrukteur erklärt. Als Rechtfertigung dient ihm hierbei zumeist die angebliche  „neurophilosophische Erkenntnis“, unser Ich sei das Gehirn.

Das ist natürlich ganz großer Humbug; die unbestreitbare Aktivität bestimmter Gehirnareale beim Sehen beispielsweise lehrt uns – so gut wie gar nichts über das Sehen, sondern lediglich –, daß es höchstwahrscheinlich nicht funktioniert, wenn die entsprechenden Regionen ausfallen.

Viele „Neurophilosophen“ kennen die Geistesgeschichte kaum, argumentieren treuherzig-naiv und legen zumeist nur Glaubenbekenntnisse ab, so daß ihre „schlechte Wissenschaft zu einer schlechten Religion“ (Guido Rappe) wird.

 

Abgesehen von der grundlegenden Frage, woher die Vertreter des Radikalen Konstruktivismus von dem prinzipiellen Unterschied zwichen dem Gehirn als Konstrukteur und der gesamten „restlichen“ Welt als dessen Konstruktion wissen (wollen), entstehen natürlich zahllose weitere Probleme.

Eines davon resultiert ganz simpel daraus, daß es zwar sehr viele Gehirne gibt, aber jeder von uns nur sein eigenes als Konstrukteur – für alles andere – benötigt. Das bedeutet beispielsweise, daß Ihr Konstrukteur den Konstruktionen meines Konstrukteurs angehören müßte; ich bezweifle sehr stark, daß sich dies sauber denken läßt.

Der Radikale Konstruktivismus ist, mit anderen Worten, nicht radikal genug, weil er das eigene Gehirn ganz traditionell als Seiendes denkt und wohl auch denken muß, um einen Konstrukteur für alles andere, das heißt, für die subjektive Differenz „Welt minus Gehirn“ bei jedem Subjekt zu gewinnen.

 

Wir denken zum einen radikaler; bei uns spielt das Gehirn keine Sonderrolle, sondern stellt lediglich eine unserer ganz normalen Wissungen dar. Zumeist handelt es sich nur um eine Vorstellung; insbesondere beim Chirurgen kann das Gehirn jedoch auch eine Wahrnehmung sein.

Zum anderen distanzieren wir uns ganz massiv von der „Neurophilosophie“. Ich bin ein freies Selbst – oder kann es zumindest sein –, und das Gehirn ist lediglich eine Wissung, die von mir abhängt, denn sie existiert nur, sofern ich sie habe; ohne mich kein Gehirn.

 

Meine zweite Schwierigkeit mit dem Radikalen Konstruktivismus besteht darin, daß der Übergang von einer angeblichen objektiven Realität zu bloßen Konstruktionen den gewaltigen Unterschied zwischen Wahrnehmungen und Vorstellungen nicht einfach ignorieren kann. Vor der Wahrnehmung „Krokodil im Swimmingpool“ erschrecken wir – mit Recht –, während die entsprechende Vorstellung bestenfalls ein wohliges Gruseln hervorruft.

Im Radikalen Konstruktivismus habe ich – sehr interessiert, aber – leider vergebens nach einer befriedigenden Aufarbeitung dieses Problems gesucht:

Was unterscheidet die Krokodil-Wahrnehmung von der Krokodil-Vorstellung, wenn beide – und hierin stimmen wir überein – konstruiert sind?