1.4. Religiöser Hintergrund

Ich bin zufällig katholisch, aber das ist völlig belanglos für dieses Buch. Letzteres scheint mir dagegen sehr wichtig zu sein: Wir müssen verstehen, wieso der religiöse Glaube für das Philosophieren irrelevant zu sein hat.

Es gibt ebensowenig ein christliches oder gar katholisches Philosophieren wie ein islamisches, kapitalistisches oder nationalistisches; wir haben nur die Alternative zwischen einem stets ergebnisoffenen Selbst-Denken – sprich: Streben nach Wahrheitoder dem Vertreten einer Ideologie, das heißt, dem angeblichen Besitz der Wahrheit. Jeder, der – völlig unabhängig von der Farbe – zu Beginn schon sagen kann, wohin sein „Denken“ führt bzw. was „wahr“ ist, weiß nicht, was Denken bedeutet, und ist Ideologe.

 

Mich interessiert demzufolge auch absolut nicht, wer irgendwas sagt, sondern lediglich, was irgendwer vernünftig begründet. Würde die Relativitätstheorie von Adolf Hitler stammen, wäre sie keinen Deut weniger genial als die Einsteinsche.

Ich lese also keine Bücher katholischer Autoren, nur weil sie katholisch sind, sondern solche jeglicher couleur, sofern ich hoffen kann, daß sie mir helfen, selbst zu denken und damit meiner eigenen Wahrheit näher zu kommen. Das ist diejenige meines Lebens, und die kann natürlich in keinem Buch stehen; dort gibt es bestenfalls richtige oder hilfreiche Sätze.

Auch bei meinem eigenen Schreiben versuche ich stets, mir dessen bewußt zu sein. Weder will ich Ihnen etwas mitteilen, noch sollen Sie mir glauben; vielmehr möchte ich Sie anregen zum eigenen Sich-Orientieren.

 

Hochkomplexe bzw. abstrakte Objekte – wie Liebe, Demokratie, Freiheit oder Recht – können wir als solche nicht erfahren; das ist nur möglich, wenn sie eine konkrete Gestalt annehmen, sich verleiblichen, ausdrücken oder darstellen.

Sage ich beispielsweise zu einem Menschen „Ich liebe Dich; das haben wir damit für ein und allemal geklärt“, und er erfährt dann diesbezüglich tatsächlich nichts mehr, war es gelogen. Eine „Liebe“, die sich nicht ausdrückt oder verleiblicht, ist keine Liebe; sie bedarf notwendigerweise irgendwelcher Darstellungsformen; Zärtlichkeit, Schutz, Einsatz, Verständnis, Verantwortungsgefühl, Hilfsbereitschaft, Sexualität, Geborgenheit usw.

Kein Ausdruck ist die Liebe, aber ohne Ausdruck ist auch keine Liebe.

 

Das können wir nahezu wörtlich auf den Glauben übertragen. Auch er kann nicht als solcher oder rein erfahren werden, sondern nur in seinen Ausdrucksformen bzw. durch diese. Sie können zum Beispiel in der Kunst oder Lebensführung bestehen, in Gebet, Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Verkündigung, gesellschaftlichem Engagement und Meditation, in Geschichten oder Theologie. Ein „Glaube“ ohne alle Verleiblichungen, ist kein Glaube; er ist auch nicht rein, sondern gar nichts.

Auf der einen Seite darf keine einzelne Darstellungsform mit dem Glauben identifiziert werden; Sex allein ist auch keine Liebe. Der Glaube kann also beispielsweise nicht mit dem Für-wahr-Halten irgendwelcher Geschichten gleichgesetzt werden – welcher auch immer –, obwohl er sich natürlich auch in ihnen ausdrücken kann; bei einem Kind beispielsweise in der Schöpfungs-, Weihnachts- oder Ostergeschichte. 

Auf der anderen Seite ist natürlich auch niemand gezwungen, seinen Glauben auf eine ganz bestimmte Art zu leben.

 

Wer dies jedoch in Form der Theologie tun möchte, muß sich notwendigerweise den Maßstäben unterordnen, die auch sonst mit Recht an eine Wissenschaft gestellt werden. Das bedeutet insbesondere, daß er sich möglichst exakt ausdrücken sowie logisch sauber denken sollte und in seiner Argumentation nicht auf Zitate als Beweise, Prämissen oder gar Letztbegründungen zurückgreifen kann.

„Heilige“ Schriften sind dabei nicht bessergestellt als profane, weil ihre angebliche Heiligkeit – vielleicht nicht für den Glauben, gewiß aber – theologisch ebenfalls auf dem Prüfstand steht. So wenig sich ein guter Physiker auf Werner Heisenberg oder Nils Bohr berufen wird, darf dies ein passabler Theologe mit Jesus oder Paulus tun – völlig abgesehen von allen damit verbundenen exegetischen, hermeneutischen und sprachlichen Problemen.

Im Zen-Buddhismus „sind die Heiligen Schriften nichts anderes als schmutzige Papierabfälle“ (Shizuteru Ueda), in denen zum Beispiel bezogen auf das Meditieren steht: „Wenn Du den Buddha siehst, töte ihn.“

 

Theologisch sind die Aussagen des Lehramts für mich ebenfalls nur Meinungen; einen Mehrwert würden auch sie erst durch eine originelle Sichtweise, ihre integrierende Kraft oder Fruchtbarkeit, saubere Begründung, Kreativität, Zeitgemäßheit und ähnliches erhalten. Daß sich dies beim Lehramt anders verhalten soll, scheint mir nicht gerade aus dem Evangelium hervorzugehen; denken wir nur an den Streit zwischen Petrus und Paulus.

Wenn Johannes Paul II beispielsweise höchst offiziell die Meinung vertritt, Frauen könnten nicht zu Priestern geweiht werden – „Basta!“ –, dann bereitet er vielleicht einigen gutgläubig-naiven Christen größere Probleme, aber nicht einer denkenden, das heißt, freien Theologie, denn der haben meines Erachtens sämtliche bloßen, das heißt, schlecht oder gar nicht argumentierenden Meinungen gleichgültig zu sein.

Um sie ernstnehmen zu können, müßten Stellungnahmen so begründet werden, daß ich ihre Rechtfertigung verstehen und dieser guten Gewissens zustimmen kann. Eine „Begründung“, die mir nicht einleuchtet, ist für mich keine Begründung, denn im Verstanden-Werden und Nachvollziehen-Können besteht der Sinn aller Erklärungen oder Rechtfertigungen – nicht im bloßen Beteuern ihrer angeblichen Richtigkeit oder gar Wahrheit.

Bleibt es bei einem solchen Beteuern, interessiert mich die Meinung nicht.

 

Wie anders wollen wir den Glauben von jeglichem Aberglauben unterscheiden?

AD: „Bewirkt das nicht der Heilige Geist?“

Wenn Ihnen dieses Sprachspiel recht ist, versuche ich, Ihnen zu beschreiben, wie er das macht:

Der Glaube läßt sich nicht mittels des Verstandes oder seiner Logik und nicht einmal aus der Vernunft herleiten, sondern verdankt sich der Offenbarung als Selbstmitteilung Gottes. In dem Maße, wie sie durch das Wirken des Heiligen Geistes bei uns ankommt, sprechen wir vom Glauben.

Er folgt zwar nicht aus dem Verstand oder der Vernunft, widerspricht ihnen aber auch nicht. Jeden „Glauben“, der letzteres tut, weist der Heilige Geist dadurch als Aberglauben aus.

 

Die Ergebnisse, zu denen die Theologen gelangen, sollten ihnen helfen, ihren Glauben besser zu verstehen. Das Verstehen kommt – sofern wir uns für die Theologie als Ausdrucksweise entscheiden – natürlich stets vor dem Glauben bzw. Nicht-Glauben, denn diese bestehen darin, verstandene – und damit insbsesondere auf ihre Widerspruchsfreiheit geprüfte – Inhalte anzunehmen und zu leben resp. abzulehnen und zu ignorieren. 

Was wir nicht verstanden haben, können wir theologisch weder glauben noch nicht-glauben; wir wissen doch gar nicht, worum es geht. Wer „glaubt“, ohne zu verstehen, glaubt nicht, sondern wiederholt lediglich leere Worte; entsprechend lehnt natürlich auch nur leere Worte ab, wer ohne zu verstehen „nicht-glaubt“.

Deswegen gibt es heute theologisch relativ selten nicht nur Gläubige, sondern auch Nicht-Gläubige; es wird wenig gedacht, aber viel geredet, geeifert und vor allem gefühlt. Der weltweite Aufschwung der Evangelikalen oder Pfingstkirchen bestätigt letzteres meines Erachtens.

Damit sage ich nichts gegen deren Gläubige, sondern lediglich wertfrei, daß ihre Ausdrucksform des Glaubens nicht die theologische ist – aber natürlich auch nicht sein muß.

 

Nur wer selbst denkt, kann sich irren; das ist also eine Auszeichnung. Wer nicht denkt, irrt zwar nicht, besitzt aber auch keine Überzeugung – sondern höchstens eine „Autorität“, der er blind und kindisch folgt. Das Irren macht den Denkenden auch niemals zum Häretiker oder Ketzer, denn dazu wird man nicht durch Denken, sondern allein durch das Häretiker- bzw. Ketzer-Sein-Wollen, was mir fernliegt.

AD: „Das kann nicht stimmen; wozu gäbe es dann überhaupt Religionen, wenn sich jeder selbst überlegen könnte, was er glauben will?“   

Zunächst einmal erscheint es mir als selbstverständlich, nur allein entscheiden zu können, was ich glaube, und mir diesbezüglich von niemandem Vorschriften machen zu lassen. Das gilt sogar um so mehr, je existenzieller die jeweiligen Fragen sind.

Nur ein tiefer Glaube, der wirklich Herzenssache ist, kann als religiöser Glaube ernstgenommen werden. Dann überlegen Sie sich bitte einmal, wie unsinnig die Aufforderung ist: „Jetzt sage ich Dir, was Du aus tiefstem Herzen zu glauben hast.“

Glauben läßt sich ebensowenig anordnen wie Lieben, Glücklich-, Frei- oder Dankbar-Sein.

 

Traditionell denkende Christen würden Ihnen wahrscheinlich beipflichten und als Argument für ihre Position vielleicht das Zitat „Der Glaube kommt vom Hören“ aus dem Brief des Paulus an die Gemeinde in Rom bemühen. 

Ich stimme Paulus 100%-ig zu und ergänze lediglich, daß es in unserem Leben sehr viel zu hören gibt und wir deshalb bereits denken müssen, um vernünftig auswählen zu können, worauf wir hören wollen, das heißt, was wir möglicherweise glauben könnten.

 

Es wäre die eminent wichtige Aufgabe eines postmodernen Lehramts, durch sauberes Argumentieren – und nicht durch leeres Machtgehabe – auf eventuelle Denkfehler hinzuweisen, damit sie gegebenenfalls korrigiert werden können. Ein so verstandenes Lehramt wäre nicht nur kein unnötiger Stein des Anstoßes und damit kein Handicap der katholischen Kirche (mehr), sondern eine höchst willkommene, weil wirkliche Lebenshilfe für alle Menschen; und als eine solche verstehe ich den Glauben ganz allgemein:

Er ist weder eine Theorie noch ein Ge- oder Verbotssystem, sondern Unterstützung und Ansporn, um die Fülle eines wahren freiheitlichen Lebens zu erreichen.

Ohne eine objektive Realität kann niemand sagen, was an sich richtig ist; aber um Denkfehler zu erkennen, benötigen wir auch keine objektive Realität – „zum Vergleichen“.

 

Mit den nachfolgenden drei Zitaten von Hans-Joachim Höhn kann ich mich voll identifizieren:

„Wer Theologie studiert, muß lernen, daß Frömmigkeit nicht vor Leichtgläubigkeit schützt. Wer nur etwas bezeugt, ohne davon auch überzeugen zu können, hat ein Glaubwürdigkeitsdefizit. Den Glauben zu festigen, vermag keine Theologie, der die Frömmigkeit ihres Anstrichs wichtiger ist als ihre wissenschaftliche Redlichkeit.“

„Wie man durch das Medizinstudium nicht gesünder wird, sondern am Ende weiß, was Gesundheit und Krankheit sind – wie man durch ein Jurastudium nicht gerechter wird, sondern am Ende Recht und Unrecht zu unterscheiden weiß, so wird man durch ein Theologiestudium nicht gottesfürchtiger, sondern lernt zu unterscheiden, wer oder was es in Wahrheit nicht verdient, ‚Gott‘ genannt zu werden, und auf wen man sich stattdessen im Leben und Sterben verlassen sollte.“

„Die Theologie ist nicht dazu da, ihre Adressaten gläubiger zu machen. Sie hat vielmehr jenes Wissen über und vom christlichen Glauben zu vermitteln, das zugleich nachdenklich und hoffnungsvoll macht. Sie hat zu zeigen, daß man nicht an Gott glauben kann, ohne dabei auf neue Weise ins Nachdenken zu kommen, und daß man beim Nachdenken über erste und letzte Fragen mit guten Gründen auf den Gedanken kommen kann, dabei an Gott zu denken.“ 

 

Was Höhn nach meinem Dafürhalten damit meint, „an Gott zu denken“, können wir uns am Beispiel der Dreifaltigkeit Gottes gut verdeutlichen.

Ich bestreite sie in keiner Weise, sondern ergänze nur, was an dieser Stelle zumeist vergessen wird; nämlich, daß ein solcher Glaube unter anderem die Behauptung impliziert, Gott sei weder zwei- noch vierfaltig.

Das sind drei verschiedene Möglichkeiten, von denen nur die „mittlere“ stimmen soll.

Wem dies wichtig ist, der müßte also erklären können, was bei einem zwei- bzw. vierfaltigen Gott an unserem Leben anders wäre. Übergehen wir das nonchalant oder finden wir keine vernünftige Antwort auf diese Frage, dann ist die Aussage, Gott sei dreifaltig, gegenstandslos, denn sie bezieht sich nur auf das Außerhalb unserer Psyche – und da kann man alles sagen.

Gregory Bateson sprach diesbezüglich von „einem ‚Unterschied‘, der keinen Unterschied macht“. Können wir nicht angeben, zu welchem abweichenden Ergebnissen in unserem Leben bzw. unserer Psyche ein zwei- oder vierfaltiger Gott führen würde, macht der Glaube an den dreifaltigen keinen Unterschied, und wir reden nur, ohne etwas zu sagen.

 

Die philosophisch denkenden Theologen, denen ich am meisten zu verdanken habe, sind vielleicht Kurt Appel, Eugen Biser, Dietrich Bonhoeffer, Georg Essen, Klaus Hemmerle, Hans-Joachim Höhn, Gregor Maria Hoff, Klaas Huizing, Hans Joas, Gordon D. Kaufman, Markus Knapp, Peter Knauer, Jörg Lauster, Meister Eckhart, Eduard Prenga, Willibald Sandler, Hartmut von Sass, Magnus Striet, Miroslav Volf und Jürgen Werbick.

Würden Sie mir die Pistole auf die Brust setzen „Nur einer!“, wäre dies wohl Hartmut von Sass mit seiner „Hermeneutischen Theologie“.

 

Auf die Frage, ob Menschen, denen mein Verständnis des Glaubens, zu komplex ist, auf „die liebe alte Art weiterglauben“ dürften, antworte ich mit Stefan Schütze:

„Sehr gerne; ich habe doch nicht die Absicht, jemandem seinen Glauben wegzunehmen“, mit dem er glücklich und in Frieden leben kann. „Das wäre furchtbar überheblich und absolutistisch. Nur erwarte ich von diesen Gläubigen, daß sie ebenfalls andere Einstellungen akzeptieren und auch ihre Glaubensweise nicht fanatisch, unhinterfragbar oder gar gewalttätig vertreten.“     

 

Ich schreibe dieses Buch nicht für die fraglos Glücklichen, um ihnen völlig unnötige Probleme einzureden, sondern für diejenigen, die Schwierigkeiten mit ihrem Glauben haben und nach intellektuell redlichen Antworten suchen.

Vielleicht ist es hoffnungslos naiv von mir anzunehmen, das gegenwärtige Verdunsten des christlichen Glaubens in Mitteleuropa hätte etwas mit der Form unserer Verkündigung zu tun. Noch gehe ich aber davon aus und suche folglich nach einer Sprache, die Außenstehende bei ihren Problemen  voller Spannung und Neugierde fragen lassen könnte:

„Welche konstruktiven Gedanken würden wohl gläubigen Christen hierzu einfallen?

Uns fallen aber leider keine ein, so daß wir unseren Mitmenschen nichts mehr zu sagen haben, was sie als Lebenshilfe verstehen könnten. Deshalb stellt die obige Frage schon lange kaum noch jemand, und so werden natürlich – mit Recht – auch die Kirchen leer. 

 

Der Gott des Lebens muß Freiheit wollen, weil nur mit ihr ein erfülltes Leben möglich ist. Dann existieren jedoch notwendigerweise so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt, und wir sollten einander helfen, daß möglichst jeder von uns den seinigen findet.

AD: „Besteht hier nicht ein Widerspruch? Können Sie sich zum Christentum bekennen und gleichzeitig zugestehen es gäbe so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt?“

Ich bin überzeugt, daß sich diese beiden Seiten ergänzen.

Christ-Sein ist eine intersubjektive Lebensform und zwar meines Erachtens eine solche, in der

der Sinn, das Ziel, Wozu oder Warum des Lebens – wie bereits ausgeführt – in dessen Fülle bzw. Tiefe gesucht und dabei

Jesus Christus als unüberbietbarer Fixpunkt betrachtet wird.

Innerhalb dieses vorgegebenen Rahmens – der natürlich auch problemlos überstiegen werden kann und keinem Gefängnis entspricht – bleibt unendlich viel Raum für die persönliche Lebensgestaltung als Christ.

 

Ich veranschauliche mir dieses Zusammenspiel von intersubjektiver Vorgabe und subjektiver Freiheit, Miroslav Volf folgend, an der musikalischen Improvisation; insbesondere etwa beim Jazz:

Jeder Musiker spielt zwar frei seine persönliche Musik, aber letztlich macht keiner hemmungslos, was er will, sondern die Einzelinstrumente fügen sich wie von selbst zu einer Harmonie.

Jeder spielt bzw. glaubt anders – vor dem gleichen Hintergrund oder im Bemühen um das gleiche Ziel, das wahre Leben im wahren.