1.2. „Methode“

Unsere „Methode“ ist so denkbar einfach, daß ich den Titel mit Anführungszeichen versehen mußte; eine (wirkliche) Methode ist etwas anderes, aber für unser Ziel (zum Glück) auch gar nicht erforderlich.

Wir versuchen einfach, Kants „sapere aude“ zu befolgen: „Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen“ und dabei auch gegen scheinbare Selbstverständlichkeiten der Zeit anzudenken, wenn Du sie vor Deiner Vernunft nicht rechtfertigen kannst. Plappere nicht einfach leere Begriffshülsen nach, nur weil man – in Deiner Kommunität – so redet, sondern „versuche zu verstehen, was Du selbst sagst“.

In diesem Bemühen sah Georg Picht den Sinn des Philosophierens.

 

Ich glaube nicht an die eine objektive (Welt-)Vernunft, die der Tradition zufolge für alle Menschen die gleiche – und womöglich auch noch „die bestverteilte Sache der Welt“ (René Descartes) – ist.

Es gibt jedoch unsere subjektive Vernunft, die auf den eigenen Lebenserfahrungen beruht. Ein objektiver – objektiverer oder „höherer“ – Maßstab ist uns nicht zugänglich, denn wir sind Menschen, die stets an ihr singuläres Hier und Jetzt gebunden bleiben – ohne Kontakt zu einem angeblichen „Weltgeist“ (Hegel) oder „transzendentalem Subjekt“ (Kant).

Dem widerspricht nicht, daß in allen Bereichen des Lebens „Wahrheitspraktiken“ (Michael Hampe) – ich würde gerne korrigieren: „Richtigkeitspraktiken“ – bestehen, die uns zumeist deutliche Kriterien dafür liefern, was wir in der betreffenden Sphäre als richtig anerkennen sollten. Das sind natürlich in der Pathologie ganz andere Praktiken als in der Ornithologie, der Physik und Religion, dem Sport, Alltagspragmatismus oder Sprachverständnis.

 

Bis zum Mittelalter galten weitgehend die jeweiligen Autoritäten als Garanten der Richtigkeit, so daß letztere (ihnen) in einem profanen Sinne geglaubt werden mußte. Die Aufklärung wandt sich mit Recht gegen ein solches Nicht-Denken und setzte auf die Vernunft. Ihr Traum von einer einheitlichen fundamentalen Wahrheitstheorie erwies sich jedoch als überzogen und wird von der Postmoderne nicht mehr geteilt.

Sowohl vor als auch in der Moderne ging man folglich davon aus, daß – veranschaulicht durch das obige Bild mit dem Blinden – der eine richtige Weg durch den Wald existiert. Ursprünglich kannte ihn nur die jeweilige Autorität, während die Aufklärung dafür eintrat, daß jeder gesunde Erwachsene sich aus dieser selbstverschuldet-naiven Unmündigkeit befreien und mittels seiner eigenen Vernunft selbst erkennen, verstehen sowie begründen sollte.

Postmodern gibt es 1000 mögliche Wege, Dietriche oder Richtigkeitspraktiken. Wer sie ausschlägt, stößt sich die Nase an den Bäumen wund und verfällt zwar nicht dem Phantasma der Aufklärung, fällt aber möglicherweise trotzdem hinter deren Niveau zurück.

 

Gesunde Erwachsene sind folglich nicht nur für das verantwortlich, was sie tun oder sagen, sondern auch für ihr Denken, Glauben und Wissen. Wer die Bestimmung hierüber anderen anvertraut, entmündigt sich an dieser Stelle selbst und scheidet damit als ernstzunehmender Gesprächspartner aus.

Reinhard Kreissl fragt in seinem Buchtitel spitz: „Wo lassen Sie denken?“

Ich wollte es vor der Wende nicht in Ost-Berlin oder Moskau, will es aber auch heute weder in Rom bzw. Riad noch im Silicon Valley.

 

Besonders bei weltanschaulich-religiösen Fragen, die schwerlich durch Erfahrungen beantwortet werden können, ist das eigene Denken überaus wichtig. Der Verzicht auf letzteres entspricht dem Freifahrtschein, alles Widerspruchsfreie – und natürlich auch das glatte Gegenteil davon – behaupten zu können, weil dann jede Möglichkeit einer Überprüfung entfällt.

Wegen eines solchen Fehlens der Falsifizierbarkeit wurden beispielsweise viele Schulen der Tiefenpsychologie von ihren Gegnern nicht als seriös oder gar wissenschaftlich anerkannt. Das gilt natürlich auch für jede „Theologie“, die sich auf blinden Glauben, bloße Textstellen oder andere unbegründete Äußerungen beruft.   

 

Das Denken bedingt unter anderem, sich im Streitgespräch „dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Jürgen Habermas) zu beugen. Das bringt beide Seiten weiter; unabhängig davon, welcher von ihnen es entstammt. Der damit einhergehende Verzicht auf willkürlich-beliebige Meinungen bringt zugleich einen Gewinn an Freiheit mit sich, denn letztere besteht nicht im Umfang der wählbaren Angebote, sondern in der Möglichkeit einer gerechtfertigten, weil wohlüberlegten Wahl. 

Freiheit bedeutet, begründet – nicht kausal verursacht – entscheiden zu können, und unsere Fähigkeit dazu ist die Vernunft. Sie führt zu einem „Müssen“; „ich ‚muß‘ das jetzt zugeben, sagen, tun oder überdenken.“

Friedrich Nietzsche konnte deswegen formulieren: „Ich habe nie eine Wahl gehabt“; stets lagen „zwingende“ Gründe für seine Freiheitsentscheidungen vor. „Zwingende“ Gründe und das Entscheiden bilden die beiden notwendigen Seiten der Freiheit, von denen es die eine niemals ohne die jeweils andere gibt, so daß jegliche Wahl entfällt.

Wählen können wir zwischen Lamm- und Rindfleisch; aber das tun auch die Katzen.

 

Da wir über keinen höheren Maßstab als unsere subjektive Vernunft verfügen, kann es mir auch nicht um eine angeblich aus uns selbst kommende Autonomie gehen. Wir stehen – nur optisch, aber – nicht wirklich auf eigenen Beinen; mit der gleichen Überzeugung wie oben setze ich Kants Zitat also fort:

Ignorare aude; habe ebenfalls den Mut, Deine Verwundbarkeit, Endlichkeit, Kontingenz, Grenzen usw. anzuerkennen. Du hast Dich nicht selbst hervorgebracht, bleibst damit abhängig, und die Wirklichkeit geht nicht nur über Dich hinaus, sondern bleibt letztlich auch unverfügbar; Selbstbestimmung bedeutet dann keine Autonomie, sondern geschenkte Freiheit.

 

Wir bestimmen uns selbst in Freiheit zu dem, der wir dann sein werden; nur so ist ein – mit sich selbst übereinstimmendes, das heißt – kongruentes Selbst möglich. Kein Gott kann das schaffen; das können wir nur selbst – aber eben nicht autonom, aus eigener Kraft oder uns selbst heraus, sondern allein, weil uns die Freiheit zur Selbstbestimmung ermöglicht wird.

Diese Ermöglichung der Freiheit entspricht meines Erachtens der Schöpfung, die traditionell zumeist als ein Machen oder Herstellen von Seienden – insbesondere von uns Subjekten – mißverstanden wird.

Wir können nur mit dem kongruent sein, wozu wir uns selbst bestimmt haben. Ein „von Gott geschaffenes Selbst“ wäre als ein fremdbestimmtes „Selbst“ kein Selbst; es müßte etwas sein, was es vielleicht gar nicht sein will und wozu es sich niemals bestimmt hätte; dann ist dieses „Selbst“ auch nicht mit sich kongruent.

 

Beide Aussagen zusammengenommen – Kants Zitat und seine Fortsetzung durch uns – bedeuten, daß uns eine Freiheit auszeichnet, die wir einem oder einer Ganz-Anderen verdanken.

Viele „Atheisten“ lehnen dieses Ganz-Andere mit Recht ab, weil sie eine hinterwäldlerische Vorstellung davon haben, zu der ich ebenfalls „nein“ sagen müßte.

Viele „Rechtgläubige“ wissen dagegen nicht nur genau, daß das Andere existiert, sondern kennen es auch sehr gut und können uns viel darüber erzählen; zum Beispiel, daß es „der Andere“ heißen muß. Völlig unabhängig von den konkreten Inhalten glaube ich das jedoch ebenfalls alles nicht.

Wir bemühen uns um einen Mittelweg zwischen Skylla und Charybdis, der aus dem Willen resultiert, das Ganz-Andere zugleich

– sowohl in seiner Notwendigkeit

– wie auch als Geheimnis

deutlich werden zu lassen.

 

Nichtsdestotrotz ist dieses Buch ein rein philosophisches – auch wenn Gott darin eine wesentliche Rolle zukommt. Er ist freilich nicht der traditionelle (Lückenbüßer-)Gott, mit dem wir aufgrund seiner Allmacht sämtliche „Probleme lösen“ und „Fragen beantworten“ können. Mit einem Allmächtigen dieser Art läßt sich denkerisch natürlich gar nichts anfangen:

„Kann Gott einen runden Würfel herstellen?“

„Natürlich; was fragst Du überhaupt? Er kann doch alles; daß wir nicht verstehen, wie er das macht, liegt an unserer Endlichkeit, in der wir die großartigen Handlungen Gottes niemals erfassen werden. Das betrifft insbesondere auch sein Dulden des Leids in der Welt, die Theodizee-Frage oder den ‚Fels des Atheismus‘ (Georg Büchner). Wir werden in der Ewigkeit (hoffentlich) einmal sehen, daß Gott alles herrlich für uns gefügt und wahrscheinlich sogar ‚die beste aller möglichen Welten‘ (Lebniz) geschaffen hat.“

Ein runder Würfel ist logisch widersprüchlich und bildet deshalb vielleicht ein unglückliches Beispiel für die Schwierigkeiten, die Gottes angebliche Allmacht uns bereitet. Aber kann ein Gott, der selbst die Liebe ist, auch hassen – oder muß er trotz seiner Allmacht lieben?

 

Für mich ergibt sich – ein völlig anderer, wenn Sie wollen: postmoderner – Gott allein aus dem Bemühen, stringent denken, das heißt, möglichst keine logischen Fehler begehen zu wollen; in diesem Sinne ist Gott für mich notwendigdenk-notwendig.

Um ein theologisches Buch handelt es sich aber trotzdem nicht, weil angebliche Offenbarungen nicht denk-notwendig sein und somit darin keine Rolle spielen können. Der Versuch, sie logisch herleiten zu wollen, ist selbstwidersprüchlich, denn wenn er gelänge, handelte es sich eben deswegen nicht um eine offenbarte, sondern um eine vernünftige Erkenntnis.

 

Natürlich kann uns die subjektive Vernunft nahelegen, bei speziellen Fragen bestimmte Autoritäten anzuerkennen, weil diese ihre Kompetenz auf dem betreffenden Gebiet – unseres Erachtens – deutlich nachgewiesen haben. Aber weder kann eine Autorität diesen Anspruch von sich aus erheben oder blindlings unser Vertrauen einfordern, noch delegieren wir damit unsere Verantwortung an sie; es war doch gegebenenfalls unsere Entscheidung, die jeweilige Autorität für uns denken, glauben oder wissen zu lassen.

Diese unübertragbare Verantwortung bildet gemeinsam mit der subjektiven Vernunft meines Erachtens den Kern der Menschenwürde; letztere entspricht einer Medaille mit jenen beiden als ihren zwei Seiten. Sprechen wir einem Menschen – durch Indoktrination – seine Verantwortung oder subjektive Vernunft ab, so berauben wir ihn seiner Würde und machen ihn zu einer Marionette an den Fäden unserer Macht.

 

„Niemand hat das Recht zu gehorchen“ (Hanna Arendt) und sich damit hinter anderen zu verstecken. Es gibt nach der Aufklärung – über die „Aufklärung“ – keine Ausrede mehr. Jean-Paul Sartre mag damit Unrecht haben, daß wir „zur Freiheit verdammt“ seien; aber richtig bleibt hieran, daß auch das „Nicht-Entscheiden-Wollen“ – demzufolge andere für uns denken, glauben oder wissen – ein freies Entscheiden darstellt, für das wir selbst verantwortlich sind.

Die meisten von uns würden bei größeren Geldgeschäften keinem Fremden blind vertrauen, sondern versuchen, sich möglichst selbst kundig zu machen. Ich schließe mich dem 100%-ig an – und ergänze lediglich, daß mir grundlegende existenzielle, religiöse oder weltanschauliche Fragen wichtiger sind als finanzielle.  

 

Schlußendlich nimmt meine „Methode“ die Selbstverständlichkeit ernst, daß wir über Dinge, die uns prinzipiell unzugänglich sind, auch weder sinnvoll nachdenken noch sprechen können. Natürlich läßt sich alles Mögliche vorstellen bzw. behaupten; aber Meinungen bezüglich eines Bereichs, der uns grundsätzlich verborgen bleibt, erweisen sich als unkontrollierbar und damit als willkürlich oder beliebig.

Das bedeutet freilich nicht, daß ein derartiges Gedöns belanglos sei oder keine Konsequenzen hätte. Wäre dem so, könnten wir es generös auf sich beruhen lassen; aber alle politischen, religiösen, wirtschaftlichen oder sonstigen Diktaturen zeigen, daß zwischen diesem und jenem Blablabla ein himmelweiter Unterschied bestehen kann

 

Mit dem für uns Unerreichbaren meine ich natürlich keine Tabus, Denkverbote oder von irgendwelchen „Experten“ zu Geheimnissen erklärte Bereiche. Soetwas gibt es für mündige Menschen meines Erachtens nicht; nur Scharlatane, Lügner, Karrieristen oder Despoten benötigen dergleichen.

Damit entzaubere ich die Wirklichkeit nicht; ganz im Gegenteil; sie ist ambig und voller Geheimnisse. Aber worin diese bestehen, vermag uns niemand zu sagen, sondern das können wir nur selbst erfahren, indem wir uns ernstlich um die Aufhellung der Geheimnisse bemühen.

Tun wir das nicht, liegen auch keine Geheimnisse vor, sondern an deren Stelle treten bloße Worte; „Gott“, „Transzendenz“, „Dreifaltigkeit“, „Subjekt“, „Leben“, „Tod“ und „Teufel“ oder „das Böse“ beispielsweise. Wer sagt, sie würden Geheimnisse bezeichnen, mag für sich persönlich Recht haben, kann dies aber nicht wie selbstverständlich auf andere übertragen:

Ein objektives Geheimnis ist ein Widerspruch in sich, denn was gar nicht interessiert, ist kein Geheimnis, sondern Peanuts. Die einzige Wirklichkeit, die es für uns gibt, hatten wir oben gesagt, besteht im eigenen Leben; das entspricht einem unmittelbaren Ich-Erlebe.

Die Existenz einer objektiven Wirklichkeit läßt sich dagegen nur behaupten, so daß wir sämtliche Konsequenzen, die sich aus ihrem angeblichen Sein ergeben, ignorieren können. Der eine behauptet dieses, und der andere jenes; beides braucht uns nicht zu interessieren.

 

Geheimnisse unterscheiden sich gewaltig sowohl von Rätseln als auch von Geheimlehren.

Letztere bilden Märchen für Erwachsene; versuchen wir ihnen auf die Spur zu kommen, verflüchtigen sie sich zumeist sehr schnell und wir schämen uns vielleicht der Aufmerksamkeit, die wir dem Unsinn zunächst geschenkt hatten.

Geheimnisse sind dagegen umso größer, phantastischer, umwerfender – eben geheimnisvoller –, je intensiver wir uns mit ihnen beschäftigen; sie werden niemals gelöst, und das unterscheidet sie von bloßen Rätseln.

Die exakten Wissenschaften lösen lediglich Rätsel, kennen aber keine Geheimnisse, denn sie – sowohl die Wissenschaften als auch die Rätsel – sind nur (von uns) konstruiert.

Geheimnisse gehören jedoch zur Wirklichkeit und sind keine bloßen Konstruktionen. Insbesondere das Leben stellt für mich persönlich ein Geheimnis dar, so daß ich unter anderem die Biologie und Medizin nicht als Wissenschaften vom Leben betrachten kann. Wer es tut, verwechselt meines Erachtens die Leibhaftigkeit des Lebens mit bloßen Modellen oder die wirklichen Geheimnisse mit theoretischen Rätseln.

Die Hüter von ersteren müssen keine Angst um ihren Schatz haben; je offener sie ihn präsentieren, desto mehr werden sie ihrer Aufgabe gerecht, das Geheimnis als solches zu (be)wahren und weder zu einem leeren Wort noch zur Geheimniskrämerei verkommen zu lassen.

Geheimnisse verteidigen sich selbst gegen ihre „Entzauberung“ (Max Weber), weil sie bei jedem ernsthaften Versuch, sie aufzudecken, tiefer werden. 

 

AD: „Also bestreiten Sie, daß wir in den letzten 300 Jahren – oder vielleicht auch schon viel länger – die Wirklichkeit entzaubert haben?“

Ja; das tue ich!

Wir haben die Wirklichkeit nicht entzaubert – was auch unmöglich wäre –, sondern vergessen, ignoriert und sogar bestritten. Das wahre Leben oder seine Fülle interessiert nicht mehr; statt danach zu fragen, uns danach zu sehnen und darum zu bemühen, perfektionieren wir den Status quo als komfortables Luxusgeprotze im falschen Leben.