Die Frage nach der Wirklichkeit begleitet die gesamte uns bekannte Menschheitsgeschichte; sie philosophisch zu beantworten, versuchen unsere Vorfahren mindestens seit der „Achsenzeit“ ( Karl Jaspers), die etwa von 800 bis 200 vor Christus reichte.
Spätestens Kant zeigte relativ unmißverständlich, daß „die Wirklichkeit kein Prädikat“ oder keine Eigenschaft darstellt und die Frage nach der Wirklichkeit somit prinzipiell nicht beantwortet werden kann.
Einfacher formuliert:
Wir haben keine Ahnung, worin das Es-gibt, Sein oder Vorhandensein, die Wirklichkeit bzw. Existenz bestehen könnten. Wir benutzen die entsprechen Worte nahezu ununterbrochen – aber niemand versteht sie.
Mit dem Übergang von der Tradition zur Postmoderne verschwindet die objektive Welt als Wirklichkeit; an ihre Stelle tritt – wie wir noch ausführlich sehen werden – das subjektive Leben. Damit meine ich, daß jeder von uns für sich selbst sagen müßte:
„Die gesamte Wirklichkeit, die es für mich gibt, besteht in meinem eigenen Leben.“
AD: „Ist das nicht ganz schön egoistisch oder zumindest kurzsichtig?“
Nein; in meinem Verständnis keineswegs:
Wir beide sind uns auf einem technischen Weg begegnet und kommunizieren nun digital miteinander. Das sind für mich Wissungen, die integral zu meinem Leben gehören.
Diese beiden Sätze können Sie wortwörtlich für sich wiederholen; sie bleiben richtig; auch für Ihre – vielleicht ganz anderen – Erlebungen in Ihrem subjektiven Leben.
Meine Aussage, daß die gesamte Wirklichkeit, die es für mich gibt, in meinem eigenen Leben besteht, bedeutet also ausführlicher:
1. Andere subjektive Leben existieren natürlich – ich bin kein Solipsist.
2. Jeder von uns ist jedoch einzig und führt sein eigenes subjektives Leben.
3. Wir besitzen aber absolut keinen Zugang zum Leben eines Anderen.
4. Zwar wechselwirken wir mit- und wirken dadurch aufeinander, kennen das Resultat dieser Beeinflussung jedoch nur als Wissung und damit Bestandteil des eigenen Lebens.
5. Die anderen Leben befinden sich vollständig außerhalb meines Bewußtseins.
6. Das ist nicht hinterwäldlerisch, denn ich weiß nichts von ihnen.
7. Die anderen Leben, Wirklichkeiten oder Bewußtseine verlängern die Reihe der eigenwillgen Entitäten, die wir oben begonnen hatten: Vergangenheit, Zukunft, Gott . . .
AD: „Die Wirklichkeit besteht in meinem eigenen Leben, und dazu gehören die subjektiven Wissungen. Meine Vorstellungen beziehen sich lediglich auf andere Vorstellungen und die Referenten meiner Erlebungen fallen mit ihnen selbst zusammen; allein dadurch können die Erlebungen gewiß sein.
Das erklärt, daß ich tatsächlich absolut nichts von den anderen Leben, Wirklichkeiten oder Bewußtseinen wissen kann; die dafür notwendigen Referenten existieren gar nicht.
Das bedeutet jedoch, daß wir nicht nur keinerlei Wissungen von den fremden Leben besitzen können, sondern auch keine vom eigenen?“
Sehr richtig; aber Ihr „jedoch“ ist unangebracht; „zum Glück“ müßten Sie sagen, um sich nicht mit Kant anzulegen.
Er hat doch gezeigt, daß es keinerlei Wissen von der Wirklichkeit geben kann. Und wenn diese postmodern im eigenen Leben besteht, muß auch alles Wissen von ihm entfallen.
Die recht abstrakten Überlegungen Kants lassen wir auf sich beruhen; ich versuche lediglich, Ihnen seine Begründung ein wenig plausibel zu machen.
Traditionell, insbesondere in Antike und Mittelalter, hat man die Wirklichkeit als eine Eigenschaft verstehen können.
Krokodile gibt es traditionell; sie haben 1000 Eigenschaften, und eine von ihnen besteht in ihrer Wirklichkeit oder Existenz.
Drachen besitzen ebenfalls 1000 Eigenschaften, aber die Wirklichkeit bzw. Existenz ist nicht darunter; deswegen gibt es sie nicht.
Kant will uns zeigen, daß ein solches Denken fehlerhaft ist und fragt deshalb, ob die 100 Taler, die wir nicht besitzen, etwas anderes sind als die 100 Taler, die wir haben.
Wenn wir von den Talern reden – nicht von uns –, besteht tatsächlich kein Unterschied. 100 Taler sind 100 Taler; und gerade weil es so ist, können wir die exakt gleichen 100 Taler sowohl haben als auch nicht haben.
Deswegen können wir die Wirklichkeit oder Existenz – zum Beispiel der 100 Taler – nicht mehr als Eigenschaft verstehen.
Damit entfällt jedoch auch eine – zwar etwas zu simple, aber dennoch (oder gerade deswegen) – weit verbreitete Interpretation des „ontologischen Gottesbeweises“ (Anselm von Canterbury):
Ein vollkommener Gott, der existiert, hat mit seiner Wirklichkeit eine positive Eigenschaft mehr, als exakt dieser gleiche „vollkommene“ Gott, der lediglich nicht existiert.
Wir definieren Gott mit Anselm „als das vollkommenste Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann„.
Angenommen wir denken uns ein großartiges und absolut vollkommenes Wesen ohne jeden Makel – bis auf einen einzigen: Es existiert leider nicht.
Dann ist es aber auch nicht „das vollkommenste Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann“, denn wir können uns auch das gleiche Wesen denken, das zusätzlich noch existiert.
Gott – „als das vollkommenste Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann“ – muß also notwendigerweise existieren, denn ohne Existenz wäre er nicht das vollkommendste Wesen.
AD: „Dieser ontologische Gottesbeweis gefällt mir nicht, denn er spielt allein in der Sphäre der Vorstellungen, und die sind alle unwirklich. Wie sollte man damit Gott beweisen können?
Er muß zur Wirklichkeit und damit zum Leben gehören.
Aber unabhängig davon vermute ich, daß Kant sich getäuscht hat und die Wirklichkeit doch eine Eigenschaft darstellt:
Träume ich von Wasser oder stelle es mir vor, dann ist das Wasser unwirklich; sonst könnten Menschen in der Wüste nicht verdursten; Vorstellen geht ja immer. Wirkliches Wasser ist dagegen solches, das man tatsächlich trinken kann.“
Nein; das stimmt nicht; ich stehe zu Kant; es gibt kein wirkliches und unwirkliches Wasser, sondern nur Wasser – wie bei den Talern oben.
Beim Trinken handelt es sich nicht um wirkliches Wasser, sondern wirklich um Wasser, denn das Trinken von Wasser ist eine [gewisse] Erlebung.
Im Traum handelt es sich dagegen nicht um unwirkliches Wasser, sondern nicht wirklich um Wasser; denn der Traum(-Inhalt) ist eine [irrtumsfähige] Vorstellung (und lediglich das Träumen stellt eine [gewisse] Erlebung dar).