1. Einleitung

Das waren sehr viele Zitate; sie sollten die Richtung andeuten, in die wir uns bewegen werden, und Ihnen damit eine Entscheidung ermöglichen, ob es sich für Sie möglicherweise lohnen könnte, mein Buch zu lesen.  

Haben Sie keine Sorge, daß es in diesem Sinne – also auch ein wenig langweilig und ermüdend – weitergehen könnte. Ganz im Gegenteil; ich versuche, selbst zu denken, finde das unheimlich spannend – es ist mein Hobby – und lade Sie dazu ein.

Wenn Sie mitspielen und Fehler finden, hat sich das Thema für Sie höchstwahrscheinlich erledigt. Sympathisch und der Wahrheit dienlich wäre es freilich, mich kurz auf die entsprechenden Schwachstellen hinzuweisen. Ich danke Ihnen schon im Voraus und bitte um Entschuldigung für meine Versehen.

 Unter Fehlern verstehe ich insbesondere logische Widersprüche, fehlende Denkmöglichkeiten und ungerechtfertigte Annahmen jeglicher Couleur, also nicht nur weltanschaulich-religiöse, sondern auch wissenschaftliche oder alltägliche.

 

Kein Fehler ist es freilich, gegen den Strich zu denken, vom Zeitgeist mit seinen Selbstverständlichkeiten und Plattitüden abzuweichen, von dem also, was „man sagt“ oder „jeder weiß“. Dabei darf es natürlich nicht um das Widersprechen als Selbstzweck gehen, wie wir es heute in unserer Gesellschaft tagtäglich – mit nahezu beliebigen „Begründungen“ und „Argumenten“ oder auch ganz ohne sie – erleben.

Entscheidend ist vielmehr, daß insbesondere logische Widersprüche, fehlende Denkmöglichkeiten und ungerechtfertigte Annahmen jeglicher Couleur auch dann zu vermeiden sind, wenn sie von vielen Menschen geteilt werden und somit dem Zeit- oder einem beliebigen Gruppen- bzw. Korpsgeist entsprechen.

Bloße Meinungen interessieren mich nicht, und eine „Meinungsfreiheit“, derzufolge doch jeder sagen darf, was er „denkt“, ist keine Errungenschaft der Demokratie, sondern arbeitet an deren Zerstörung. Meinungs-Freiheit setzt Meinungs-Bildung im engeren Sinne voraus, und ohne letztere wäre es häufig besser zu schweigen.

 

Die meisten von uns können es sich heute kaum leisten, Zeit und Mühe in die Auseinandersetzung mit einem Buch zu investieren, die sie anschließend bereuen würden, weil sich sein Inhalt rückblickend als oberflächlich, uninteressant oder sinnleer herausstellt.

Mit dem letzten Prädikat meine ich nicht die übliche Frage „Was bringt mir das?“, weil sie selbst oberflächlich, uninteressant und sinnleer ist. Wer dergleichen sucht, ist hier falsch und sollte besser Ratschläge zur Selbstverwirklichung, Anleitungen zur Erbauung oder Tips vom Baumarkt und Finanzberater lesen.

(„Tips“ stimmt; ich halte mich an die alte Rechtschreibung, denn sie wurde gerade geändert, als ich endlich einigermaßen sicher darin war. Die vorreformerische Orthographie ist offiziell auch für Bücher gestattet; sie muß nur konsequent „von gestern sein“, und das versuche ich zu befolgen.) 

 

Das Buch will Ihnen unter anderem helfen,

selbst zu denken und

– hierbei einzusehen, daß

  — Aussagen oder Sätze niemals wahr sind, sondern sich höchstens zwischen richtig und falsch bewegen,

  — Überzeugungen und Wahrheit dadurch zwei völlig verschiedene Dinge sind,

  — niemand die Wahrheit haben kann, weil

  — sie nicht die Form von Aussagen bzw. Sätzen besitzt,

  — eigene Überzeugungen sowohl für ein erfülltes Leben wichtig als auch für fruchtbare Gespräche notwendig sind und

  — der Widerstreit erst dort beginnt, wo diese Überzeugungen als Wahrheit geglaubt werden.

 

Ich möchte Ihnen möglichst deutlich aufzeigen, daß wir alle nur einen Zugang zum eigenen subjektiven Leben besitzen und unser Weltbild oder Wissen nicht darüber hinausreicht. Sämtliche weitergehenden Theorien über die Welt an sich und ihre Rettung oder Transzendenz sind reine Illusionen; die Geschichte zeigt uns im Übermaß, daß sie häufig ins Unglück führen – privat wie  gesellschaftlich.

Unsere Wahrheit ist bestenfalls die subjektive Wahrheit des eigenen Lebens – denn nur letzteres ist uns gegeben – und niemals diejenige irgendwelcher angeblich objektiver Theorien. Naturgesetze beispielsweise mögen richtig sein; aber das ist etwas ganz anderes als „wahr“, und die Unterscheidung zwischen beiden – sowie „wirklich“ als einem dritten Kandidaten in dieser Hinsicht – wird sich als wesentlich herausstellen:

Sätze – oder besser: Aussagen – variieren zwischen richtig und falsch.

Wirklich ist für mich nur mein subjektives Leben, zu dem das eigene Denken sowie Handeln – und damit natürlich auch das Sagen von richtigen oder falschen Sätzen – gehört, und deshalb gibt es auch in ihm allein Wahrheit.

 

Das bedeutet des weiteren, daß wir auch „die Welt nur retten können“, indem wir bei uns selbst bzw. dem eigenen Leben beginnen – und verbleiben. Erreicht diese Einsicht unser Herz, führt sie vielleicht dazu, im tiefsten Inneren ein wenig bescheidener, offener, gelassener und toleranter zu werden. François Jullien nennt dies „unser zweites Leben“ – natürlich hier und jetzt im Diesseits –, in dem wir „an keiner Idee hängen“, weil sie im günstigsten Falle richtig, aber niemals wahr ist.

Ich kann niemandem sagen, was – für ihnwahr ist, sondern lediglich versuchen, ihm meine Wahrheit als attraktiv vorzuleben.

 

AD:  „Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle, bevor ich Ihnen ins Wort falle:

Mein Name ist ‚Advocatus Diaboli‘, kurz ‚AD‘ genannt; ich vertrete Ihre Leser und versuche, ihnen ein wenig zu helfen, wenn Sie etwas – nennen wir es einmal vorsichtig – ‚Befremdliches‘ zum Ausdruck bringen.“

Sie haben uns noch gefehlt . . .; aber trotzdem: „Herzlich willkommen!“

AD: „Daß Sie sich von vornherein auf das eigene Leben beschränken und dieses als die einzige und gesamte Wirklichkeit überhaupt darstellen, ist schon mehr als befremdlich. Wo bleibt denn die gesamte ‚restliche‘ Welt – also eigentlich alles? Nehmen Sie sich dabei nicht selbst zu wichtig? Und welcher Leser sollte Ihnen darin folgen?“  

 

Könnte ich Ihre Fragen kurz und bündig beantworten, brauchten wir das Buch nicht. Aber mit ein paar einführenden Gedanken lassen sich vielleicht die schlimmsten Vorbehalte etwas abschwächen:

 

1. Es geht natürlich nicht um mich; ich bin ein Subjekt wie Sie, und für alle Subjekte besteht die gesamte, vollständige Wirklichkeit ausschließlich im eigenen Leben

 

2. Ist die Wahrheit daran gebunden, der Wirklichkeit zu begegnen, so bedeutet dies lediglich die Selbstverständlichkeit, daß die Wahrheit nur eine einzige Quelle besitzt und diese in unseren subjektiven (Lebens-)Erfahrungen oder Erlebungen besteht.

 

3. Ihre Erfahrungen sind nicht die meinigen, weil wir differente Leben leben; also können auch unsere Wahrheiten nicht übereinstimmen.

 

4. Natürlich bekommen wir auch vieles erzählt, berichtet oder mitgeteilt; Märchen, Fußballergebnisse, das Wetter auf Tasmanien und die Zahl der Jupitermonde zum Beispiel. Derartige Informationen befinden sich nicht außerhalb unseres Lebens oder transzendieren es nicht, sondern gehören ihm als Verstehungen integral an.

Viele von ihnen ignorieren wir einfach als belanglos oder glauben sie nicht.

Halten wir unsere Verstehungen dagegen für interessant und ihre Überbringer für vertrauenswürdig, so lassen wir uns vielleicht auf die Verstehungen ein:

– Könnten sie etwas mit meinem Leben zu tun haben oder dafür irgendwie relevant sein?

– Ist dies der Fall, überprüfen wir, ob die entsprechenden Verstehungen durch unsere eigenen Erfahrungen bestätigt werden; wenn nicht, sind auch sie hinfällig.

 

5. Was „über unser subjektives Leben hinausgeht bzw. es transzendiert“, 

– ist also entweder belanglos

– oder geht nicht über unser Leben hinaus.

Es existiert also keine zweite Quelle der Wahrheit neben unseren subjektiven (Lebens-)Erfahrungen oder Erlebungen.

 

Wir benötigen die subjektive Wahrheit unseres Lebens allein für dieses Leben selbst, nämlich um erfüllt leben zu können. Das ergibt sich meines Erachtens daraus, daß der Sinn unseres Lebens allein in dessen Fülle besteht; mehr als sie oder ein wahres Leben ist gar nicht möglich.

Der Glaube kann und sollte die Freiheit schenken, die wir benötigen, um dieses Ziel zu erreichen. 

Wenn Theodor W. Adorno Recht hat mit seinem Bonmot „Es gibt kein wahres Leben im falschen“, führen wir ein unwahres Leben bis zu unserem Tod. Das wahre Leben im wahren erhoffen sich die Gläubigen von der Zukunft.

Ich widerspreche dem nicht, sondern ergänze lediglich:

Und zuvor, das heißt, hier und jetzt besteht unsere Aufgabe darin, uns im falschen Leben um ein wahres zu bemühen.

 

Daß die Wahrheit „nur“ subjektiv ist, merken wir gar nicht, weil sie dem eigenen „Innen“ angehört und uns somit prinzipiell keine anderen Leben – mit ihren differenten Wahrheiten – begegnen können. Wir treffen lediglich auf uns fremde Verhaltenweisen, Handlungen oder Aussagen, aber die sind bestenfalls richtig.

Und allein ihnen gegenüber benötigen wir auch Toleranz. Sie bedeutet keineswegs, das Tolerierte zu achten oder gar zu bewundern; wir lehnen es ab – andernfalls wäre keine Toleranz erforderlich. Aber das liegt alles nicht auf der Ebene der Wahrheit und hat folglich insbesondere nichts damit zu tun, daß wir der Toleranz wegen unsere eigene Wahrheit aufgeben oder opfern müßten.

„Das Ziel der Toleranz ist nicht die Wahrheit, sondern die Wahrung des Friedens“ (John Gray). 

 

Da wir „natürlich“ von der Richtigkeit unserer eigenen Gedanken, Verhaltenweisen, Handlungen oder Aussagen überzeugt sind, bedeutet Toleranz zwar nicht den Verzicht auf die eigene Wahrheit, sehr wohl aber auf Rechthaberei oder jegliches Sein-Wollen-wie-Gott.

Selbst unsere tiefsten Überzeugungen können prinzipiell nicht wahr sein – ganz einfach weil es in ihrer Sphäre keine Wahrheit gibt –, so daß wir sie, ohne uns selbst untreu zu werden oder verraten zu müssen, problemlos relativieren können: 

 

Warum denke ich so, wie ich denke?

Weshalb bin ich sogar überzeugt, so denken zu müssen?

Welche Scheuklappen versperren mir den Blick auf andere Möglichkeiten?

Glaube ich ernstlich, weiser zu sein als Karl Jaspers‘ „maßgebliche Menschen“ – Sokrates, Buddha, Nagarjuna, Jesus oder Konfuzius –, so daß ich deren Gedanken einfach ignorieren könnte?

Muß ich nicht selbst über diese Einschätzung lachen? Wieso soll gerade ich über einen heißen Draht zu Gott oder Hegels „Weltgeist“ verfügen?

Woraus resultiert überhaupt Descartes‘ Überzeugung, daß ich denken würde?

Könnte es nicht auch sein, daß es in mir bzw. durch mich (hindurch) denkt; so wie „es regnet“, „blitzt“ (Georg Christoph Lichtenberg) oder – mir – dämmert?

Kann es denken? „Ja“; denn wer kann abschätzen, wie stark ein spezieller Gruppengeist an seiner Stelle denkt oder gar „die Sprache spricht“ (Martin Heidegger)?

Ist meine „ewige Wahrheit“ vielleicht nur ein alter Zeitgeist und die angeblich „großartige Idee“ lediglich der neue?

 

AD: „Ich fürchte, mit Ihrer Behauptung, wir könnten keine Wahrheit besitzen, widersprechen Sie sich selbst, denn das soll doch auch eine Wahrheit sein – die Sie bereits haben und mir bzw. den Lesern vermitteln möchten.“

Nein; das stellt einen alten Einwand dar, der an dieser Stelle häufig wiederkehrt. Aber er ist trotzdem falsch, denn ich erhebe keineswegs den Anspruch, daß mein Satz „Niemand kann die Wahrheit habenwahr sein soll; natürlich nicht; Sätze sind niemals wahr, hatten wir oben bereits festgestellt. 

Ich bin jedoch überzeugt, daß

– der Satz „Niemand kann die Wahrheit habenrichtig ist und

– es zu meinen Aufgaben gehört, ihn in diesem Buch zu verteidigen.

 

Wahr sein kann allein unser Leben. Das enthält aber keine Sätze – Behauptungen, Versprechen, Befehle, Entschuldigungen, Dogmen, Gesetze, Bitten, Appelle und dergleichen –, sondern höchstens das Äußern bzw. Ausdrücken – Denken, Sagen oder Schreiben – von ihnen. Es gibt also insbesondere weder wahre Naturgesetze noch wahre Dogmen – jeglicher Couleur –; aber meine Aufgabe im situativen Hier und Jetzt kann sehr wohl darin bestehen, derartige Aussagen zu treffen

In Abhängigkeit davon, ob und wie ich das tue, wird mein Leben – im Sinne einer Verantwortungs- oder Situationsethik – wahr bzw. unwahr; das betrifft jedoch nur mein Sagen, während das Gesagte bestenfalls richtig ist:

Ich halte es unter anderem für meine Aufgabe, hier den meines Erachtens richtigen Satz „Niemand kann die Wahrheit haben“ zu schreiben. Für Christen sollte das eine Selbstverständlichkeit sein, denn da sie glauben, daß Gott die Wahrheit ist,  hätten sie mit ihr zugleich Gott selbst. 

 

Wir müssen sogar noch einen Schritt weitergehen, denn auch die nachstehende Situation ist beileibe nicht absurd:

„Ich muß mich um der Wahrheit willen hier und jetzt so äußern – obwohl das, was ich sage, meiner tiefsten Überzeugung zufolge falsch ist.“

Dieser Unterschied zwischen Sagen und Gesagtem, der bei Emmanuel Levinas eine sehr große Rolle spielt, läßt sich leicht an Fällen verdeutlichen, in denen wir lügen müssen, um Leben zu retten. Dann „müssen“ wir – der Wahrheit zuliebe – lügen.

 

AD: „Das war etwas kompliziert; hätten Sie vielleicht noch ein verständliches Beispiel zu der von Ihnen offensichtlich favorisierten Verantwortungs- oder Situationsethik?“

Ja; natürlich:

„1 + 1 = 2“ kann unmöglich wahr sein, weil es nichts mit meinem Leben zu tun hat. Mathematische Laien würden also wahrscheinlich annehmen, diese Gleichung wäre richtig; aber nicht einmal das stimmt.

 

Es gibt nicht nur die – eine – Mathematik, die wir in der Grundschule kennengelernt haben, sondern (beliebig) viele Mathematiken.

Die „normale“ Mathematik von damals wird nach dem italienischen Mathematiker Peano benannt. Sie beginnt mit seinen fünf Axiomen; das sind mehr oder weniger willkürlich gewählte Sätze, die sich nicht beweisen lassen – ganz einfach weil sie am Anfang stehen und zunächst nur sie allein vorhanden sind; es gibt einfach noch nichts, mit dessen Hilfe wir sie beweisen könnten; wir beginnen erst, Mathematik zu betreiben. Die Konsequenzen, die sich aus diesen Axiomen ziehen lassen, bilden in ihrer Gesamtheit die Peanosche Mathematik oder Algebra, und dazu gehört auch, daß beispielsweise „1 + 1 = 2“ gilt.

 

Völlig analog läßt sich aus den Booleschen Axiomen unter anderem „1 + 1 = 1“ ableiten.

Das ist nicht falsch, und das „normale“ Ergebnis nicht richtig, vielmehr ist beides ableit- oder „beweisbar“. Bei unterschiedlichen Voraussetzungen – den Peanoschen bzw. Booleschen Axiomen – stellt es weder einen Widerspruch noch eine Überraschung dar, daß die beiden Summen unterschiedlich ausfallen.

 

Mathematik studieren heißt, möglichst viele Mathematiken kennenzulernen und ein Fingerspitzengefühl dafür zu entwickeln, bei welchen Problemen man welche Mathematik benutzen muß, um sie zu lösen.

Mit ein wenig Phantasie finden wir auch beliebig viele Beispiele, bei denen die Boolesche Algebra die angemessene ist: Zwei Wolken, zwei Geschichten, zwei Wahrheiten, zwei Leerstellen, zwei Tropfen . . . Das wichtigste Beispiel bilden natürlich die Digitalrechner; es gäbe sie nicht ohne die Boolesche Mathematik.

(Natürlich auch nicht ohne duale Zahlen; ich schreibe das jedoch nur, um darauf hinzuweisen, daß das etwas ganz anderes ist – nämlich lediglich eine Darstellungsweise innerhalb der peanoschen Algebra – und mit unserem Thema aber auch gar nichts zu tun hat. Hier gibt es selbstverständlich auch die 2; sie wird lediglich als „10“ geschrieben; in der Boolschen Mathematik existiert dagegen keine 2; nur 0 sowie 1. Und eben deswegen mußte Boole sich entscheiden, ob 1 + 1 nun 0 oder 1 sein soll; möglich gewesen wäre beides.) 

 

Wird mir also die Frage gestellt, ob „1 + 1 = 2“ stimmt, hängt meine Antwort von der jeweiligen Situation und insbesondere von den Fragestellern ab.

Sind letztere unsere Enkel aus der Kita, kann meine Antwort nur „ja“ lauten; ich will ihnen doch keine Schwierigkeiten in der Schule bereiten.

Würde ich das Gleiche jedoch zu Ihnen sagen, wäre es unwahrhaftig und damit eine Lüge, weil ich mit dieser Aussage – nicht der Wahrheit, sondern – meiner eigenen Überzeugung widersprechen würde; ganz abgesehen von der Beleidigung, Sie wie unsere Enkel zu behandeln.

Wahrhaftigkeit kann ja unmöglich bedeuten, die – prinzipiell unwiß- und unsagbare – Wahrheit auszudrücken; sie bedeutet vielmehr, der eigenen Überzeugung zu folgen. Der Lügner spricht nicht die Unwahrheit aus, sondern etwas, was er selbst nicht glaubt.

 

Damit sollte meine Unterscheidung zwischen „wahr“ und „richtig“ schon verständlicher werden:

Die Gleichungen „1 + 1 = 1“ oder „1 + 1 = 2“ sind – wie alle Sätze bzw. Aussagen – natürlich weder wahr noch unwahr und in diesem speziellen Fall nicht einmal richtig oder falsch. Unser verbales Denken, Sprechen oder Schreiben gehört dagegen zum Leben, und das allein kann bzw. sollte wahr sein. Dafür müssen wir freilich – je nach Situation – das eine Mal „ja“ und das andere Mal „nein“ sagen, wenn wir nach der Gültigkeit der (ersten bzw.) zweiten Gleichung gefragt werden.

Deswegen ist allein eine Verantwortungs- oder Situationethik möglich, denn sich um ein wahres Leben zu bemühen, bedeutet, im Hier und Jetzt jeweils das zu tun, worin wir unsere Aufgabe oder Verantwortung sehen. Ohne das eigene, prinzipiell unkontrollierbare Gewissen gibt es also auch keine – eo ipso subjektive und situative – Wahrheit.

Das Gewissen bietet uns eine Orientierung für das Leben, zu dem auch das Sagen gehört – aber nicht das Gesagte. Und ersteres ist wichtiger oder primär, denn falls das Sagen fehlt, existiert auch kein Gesagtes.

 

AD: „Wer dagegen die Verantwortungs- bzw. Situationsethik ablehnt, an ewige Wahrheiten glaubt und diese in Sätzen oder Aussagen sucht, muß mitunter böse sein. Das wird bei Kant, den ich ansonsten sehr verehre, überaus deutlich; seiner Auffassung nach dürften wir niemals lügen.

Wir müßten also beispielsweise dem Nazi-Soldaten, wenn er uns fragt, ‚ehrlich‘ antworten, wo sich der versteckte Jude aufhält; oder dem labilen Patienten seine Diagnose mitteilen – wie schlimm auch immer sie ausgefallen sein mag. Und wenn das noch unwissende adoptierte Nachbarkind uns nach seinen Eltern fragt, . . .“

Ja; es mag übertrieben fromm klingen, wenn wir sagen „Alles, was zählt, ist die Liebe“ oder mit Augustinus „Liebe und tu, was Du willst“, aber ich bin überzeugt, daß uns schwerlich etwas viel Besseres einfallen wird.

 

Wir dürfen, anders formuliert, die Leibhaftigkeit unseres Lebens – die in der Sphäre von wahr und unwahr spielt – nicht durch eine bloße Reflexion darüber – die bestenfalls richtig sein kann – ersetzen; die Praxis durch die Theorie oder die Wirklichkeit durch ihre Abstraktion.

Es ist völlig belanglos, ob zum Beispiel Christen bekennen äußern, Gott sei dreifaltig; das ist – wenn es hochkommt – vielleicht Reflexion, Theorie oder Gesagtes; kann aber auch bloßes, papageienhaftes Gerede darstellen.

Wichtig könnte höchstens sein, ob die Dreifaltigkeit Gottes in ihrem Leben zum Ausdruck kommt; wenn „ja“, wäre dies ein Bekenntnis.

Und sofort wird es spannend:

Wie müßte denn mein Leben aussehen, wenn darin die Dreifaltigkeit Gottes zum Ausdruck käme?

Wie hängt sie überhaupt mit meinem Leben zusammen?

Wie läßt sich das verstehen, wenn wir Gott nicht verstehen können?

 

AD: „Demzufolge kann Glauben nicht darin bestehen, einfach die Existenz Gottes zu bejahen?“

Möglicherweise gab es Zeiten und existieren auch heute noch Orte, wo es selbstverständlich war bzw. ist, was der Name „Gott“ bedeutet; aber das ist bei uns gewiß nicht (mehr) der Fall. Hat Gott jedoch seine Offensichtlichkeit verloren, werden sowohl die Frage nach als auch das Bekenntnis zu seiner Existenz gegenstandslos; wir müsen erst einmal klären, wovon überhaupt die Rede sein soll.    

Selbst ein Schöpfer-Gott wäre auch teuflisch, gemein und hinterhältig möglich; er könnte zum Beispiel völlig sinnlos einen sehr schönen Baum in seinem Garten pflanzen und uns bei Strafe verbieten, davon zu essen.

Daß sich die Frage, zu welchem Gott wir „ja“ bzw. „nein“ sagen, nicht durch das Nennen eines Namens beantworten läßt – JHWH, Baal, Allah, Re oder Zeus beispielsweise –, versteht sich von selbst, denn Namen sagen nichts, das heißt, sie enthalten nichts Gesagtes und können damit weder richtig noch falsch sein.

 

Wir müssen diesbezüglich also mindestens drei Fragen unterscheiden:

1. Wer oder was ist der wahre Gott – sofern es ihn überhaupt gibt?

2. An welchen Gott glaube ich gegebenenfalls?

3. Wie wirkt sich dieser Glaube bzw. Nicht-Glaube auf mein Leben aus?

 

AD: „Jetzt verstehe ich, weshalb Sie oben so locker und – wie – selbstverständlich von Gott sprechen konnten:

Damit legen Sie nicht – in vorauseilendem ‚frommen Gehorsam‘ – bereits fest, daß es ihn gibt, sondern verbieten sich lediglich, etwas auszuschließen, von dem Sie gar nicht wissen, worum es sich handelt. Das ist dann keine fromme Vorentscheidung, sondern gehört zu den notwendigen Voraussetzungen kritischen Denkens – wie sehr auch immer es dem Zeitgeist widersprechen mag.“