Gliederung
0. Zitate
„Der Glaube an den Kausalnexus ist der Aberglaube.
Ich wollte damit keineswegs sagen, der Glaube an den Kausalnexus sei ein Aberglaube unter mehreren, sondern es ging mir darum, daß jeder Aberglaube eben nichts anderes ist als der Glaube an den Kausalnexus.“
Ludwig Wittgenstein
„Es gibt viele Wege, auf denen das, was ich vergeblich zu sagen versuche, vergeblich zu sagen versucht werden kann.«
Samuel Beckett
Johann Wolfgang von Goethe
„Sollten die Gesetze des (bisherigen) Denkens niederbrechen, dann wird es die tiefste Wandlung im intellektuellen Leben des Menschen geben, verglichen mit welcher die Kopernikanische und die Einstein’sche Revolution nur Scheinschlachten sind.“
Oliver Leslie Reiser
„Das Gegenteil von Liebe ist nicht Haß, sondern Gleichgültigkeit.“
Elie Wiesel
„Die Welt ist ein erstaunlicher Ort, und der Gedanke, daß wir über die wichtigsten Werkzeuge verfügen, die nötig sind, um sie zu verstehen, ist heute nicht glaubwürdiger als zu Aristoteles‘ Zeiten.“
Thomas Nagel
„Der vernünftige Glaube weiß, daß er ein Glaube ist.“
Rainer Forst
„Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dieses Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.“
Max Weber
„Das nicht erforschte Leben ist es nicht wert, gelebt zu werden.“
Sokrates
„Es ist eine furchteinflößende, eine ehrfürchtige Wahrheit, daß die Anerkennung der Andersheit der anderen, unserer unausweichlichen Trennung, die Bedingung menschlichen Glücks darstellt. Gleichgültigkeit ist die Verleugnung dieser Bedingung.“
Stanley Cavell
„Keiner kann sagen, was er meint, obwohl jeder nur das sagt, was er meint.“
Bruno Liebrucks
„Glaube nie, was in den Büchern steht. Selbst sei dir Weiser, selbst Prophet!
Glaubst du, was die Leute glauben, dann glaube nicht, daß du was weißt.
Das Wissen nur kann niemand rauben, das bei den Menschen Glauben heißt.“
Erich Mühsam
„Der Perspektivismus bildet keine Relativität des Wahren, sondern ganz im Gegenteil die Wahrheit des Relativen.“
Gilles Deleuze und Felix Guattari
„Das Böse in der Welt entspringt beinahe immer dem Unwissen, und der gute Wille kann genauso viele Schäden anrichten wie die Bosheit, wenn er nicht aufgeklärt ist. Die Menschen sind eher gut als schlecht, doch in Wahrheit ist das gar nicht die Frage.“
Albert Camus
„Wir müssen entweder lernen, als Brüder miteinander zu leben, oder wir gehen als Narren unter.“
Martin Luther King
„Ich suche nicht – ich finde.
Suchen, das ist das Ausgehen von alten Beständen und das Finden-Wollen von bereits Bekanntem.
Finden, das ist das völlig Neue. Alle Wege sind offen, und was gefunden wird, ist unbekannt. Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer. Die Ungewißheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen, die sich im Ungeborgenen geborgen wissen, die in der Ungewißheit geführt werden, die sich vom Ziel ziehen lassen und nicht selbst das Ziel bestimmen.“
Pablo Picasso
„Wir sind alle als Originale geboren – wie kommt es, daß so viele von uns als Kopien sterben?“
Edward Young
„Ich erkenne meine Verwandtschaft“ (mit allen Wesen), „ich bin nichts als ein Vermögen, ihnen Widerhall zu geben, sie zu verstehen und zu antworten.“
Maurice Merleau-Ponty
„Der philosophische Diskurs ist die Musik des Denkens.“
Georg Steiner
„Was mich betrifft, so bezweifle ich, daß der Mensch jemals eine völlige religiöse Unabhängigkeit und eine vollkommene politische Freiheit ertragen kann, und ich bin geneigt zu denken, daß er, ist er frei, gläubig sein muß.“
Alexis de Tocqueville
„. . . wieder versuchen, wieder scheitern, besser scheitern . . .“
Samuel Beckett
„Die Geschichte ist nämlich nicht, wie es die herrschende Ideologie gern sieht, die Hingabe des Menschen an die lineare, kontinuierliche Zeit, sondern die Befreiung des Menschen von ihr.“
Giorgio Agamben
„Theologie verliert ihr Thema, wenn sie nicht mit dem völlig Verändernden zu tun hat.“
Gerhard Ebeling
„Wir befinden uns in einer summenden Welt, inmitten einer Demokratie von Mitgeschöpfen; wohingegen die orthodoxe Philosophie, in welcher Gestalt auch immer, uns nur zwischen einsame Substanzen stellen kann, die alle scheinhafte Erfahrungen machen.“
Alfred North Whitehead
„Das Wahre ist Prüfstein sowohl seiner selbst als auch des Falschen.“
Baruch de Spinoza
„Der Mensch ist nicht so sehr von Dämonen besessen als von Automatismen beherrscht. Nicht böse Geister setzen ihm zu, es sind Routinen und Trägheiten, die ihn zu Boden drücken und deformieren. Was seine Vernunft trübt, sind nicht zufällige Irrtümer und okkasionelle Wahrnehmungsfehler – es ist die ewige Wiederkehr der Klischees, die wahres Denken und freies Wahrnehmen verunmöglichen.
Die alltägliche Meinung ist eine Pest, an der man zwar nicht stirbt, die aber doch von Zeit zu Zeit ganze Gemeinwesen vergiftet. Phrasen, die in den Körper abgesunken sind, erzeugen ‚Charaktere’. Sie formen Menschen zu lebenden Karikaturen der Durchschnittlichkeit, sie machen aus ihnen fleischgewordene Plattitüden.“
Peter Sloterdijk
„Der Weg entsteht im Gehen.“
Antonio Machado
„Wir fühlen, daß, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Probleme beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. . . Die Lösung des Rätsels von Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit.“
Ludwig Wittgenstein
„Wer wirklich Sehen lernt, nähert sich dem Unsichtbaren.“
Paul Celan
„Keine andere Wahrheit ist zeitlicher als die des Religiösen.“
Klaus Hemmerle
„Die Entgegensetzung der fest gewordenen Subjektivität und Objektivität ist aufzuheben und das Gewordensein der intellektuellen und reellen Welt als ein Werden, ihr Sein als Produkt, als ein Produzieren zu begreifen. . . Alle Unterscheidungen werden dabei ver-rückt; diese Tätigkeit ist die Kraft und Arbeit des Verstandes, das Fixe zu verflüssigen. . . Es ist aber weit schwerer, die festen Gedanken in Flüssigkeit zu bringen, als das sinnliche Dasein.“
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
„Als wir das Ziel aus den Augen verloren, verdoppelten wir die Anstrengung.“
Mark Twain
„Je mehr ich den sogenannten Erfolg zu schmecken bekomme, desto gründlicher werde ich mir der Nichtigkeit der eigenen Existenz bewußt. Denn diese wird zu einer Funktion des Erfolgs.“
Theodor Adorno
„Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Erlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun.“
Theodor W. Adorno und Max Horkheimer
„Bewahre dir in allen Dingen die Freiheit des Geistes und sieh zu, wohin er dich führt!“
Ignatius von Loyola
„Die wichtige Frage bezüglich der Tiere ist doch nicht, ob sie denken oder sprechen können; entscheidend ist vielmehr allein, ob sie leiden können.“
Jeremy Bentham
„Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen; ein Werdender wird immer dankbar sein.“
Johann Wolfgang von Goethe
„Das Wie des Lebens ist als der Status quo die notwendige Voraussetzung seines eigenen Warum, der Fülle des Lebens.“
Johannes Soukup
„Nicht das Interesse an Wahrheit oder Wissen schwand, sondern die Überzeugung griff um sich, daß Wahrheit sich nur dem Zugreifen und nicht dem Zuschauen erschließen würde.“
Hannah Arendt
„Die Wissenschaft versteht es bestens, metaphysische Annahmen zu zerstören; aber sie liefert keinen Ersatz dafür.“
Francisco Varela
„Ein frommes und gottgefälliges Leben besteht darin, sich der wahren menschlichen Weisheit, das heißt, des Nichtwissens im Wissenmüssen des Guten bewusst zu sein.“
Hans-Georg Gadamer
„Ein Wort muß man nicht ‚verstehen‘. Man kennt es, oder man kennt es nicht.“
Philipp Wegener
„Wir müssen uns wohl von dem naiven Realismus, nach dem die Welt an sich existiert, ohne unser Zutun und unabhängig von unserer Beobachtung, irgendwann verabschieden.“
Anton Zeilinger
„Sprechen wir sinnvoll von Realität, so sprechen wir von Realität; spricht niemand von Realität, so ist von Realität nicht die Rede.“
Carl Friedrich von Weizsäcker
„In dem Maße, wie wir uns bemühen zu verstehen, um weniger glauben zu müssen, vertieft sich der Glaube.“
Johannes Soukup
„Ich möchte ein Buch schreiben, das die Menschen verwirrt, . . . und das sie dahin führt, wo hinzugehen sie niemals eingewilligt hätten.“
Antonin Artaud
„Ich beginne zu glauben, daß die einzige wirkliche Sünde der Selbstmord ist oder das Faktum, nicht wir selbst zu sein.“
George Tyrell
„Man sollte die Wahrheit dem anderen wie einen Mantel hinhalten, daß er hineinschlüpfen kann – und nicht wie ein nasses Tuch um den Kopf schlagen.“
Max Frisch
„Die Welt bietet nicht Wahrheiten, sondern Liebesmöglichkeiten.“
Albert Camus
„Glaube, der nicht Erkenntnis ist, aus Erkenntnis kommt und auf Erkenntnis beruht, ist ohne Kontakt zur Wirklichkeit. Glaube ohne Kontakt zur Wirklichkeit ändert an der Wirklichkeit des Glaubenden nichts. Er ist ohne soteriologische Kraft.“
Johannes Fischer
„Jeder tue das Seine, der Leser aber das Meiste.“
Søren Kierkegaard
„Welchen Sinn hätte unser ganzes Sein, wenn nicht den, daß in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst als Problem zum Bewußtsein gekommen wäre? An diesem Sich-bewußt-werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an – daran ist kein Zweifel – die Moral zugrunde: jenes große Schauspiel in hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten Europas aufgespart bleibt, das furchtbarste, fragwürdigste und vielleicht auch hoffnungsreichste aller Schauspiele.“
Friedrich Nietzsche
„Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele.“
Ludwig Wittgenstein
„Physikalische Objekte sind gelegen kommende Vermittler – nicht durch Definition aufgrund von Erfahrung, sondern einfach als nicht reduzierbare Setzungen, epistemologisch den Göttern Homers vergleichbar. . . . Der Mythos der physikalischen Objekte ist den meisten anderen Mythen darin überlegen, daß er sich als wirksamer erweist, dem Fluß der Erfahrungen eine handliche Struktur aufzuprägen.“
Willard Van Orman Quine
„Denken ist Schöpfung, nicht Wille zur Wahrheit.“
Gilles Deleuze
„Die Welt ist ein sehr labiles Gebilde, abhängig . . . von der satzförmigen Rede des Menschen.“
Hermann Schmitz
„‚Alles klar‘ oder ‚kein Problem‘ – beide Formeln sind zutiefst unwahr . . .
Die Rätselhaftigkeit ist unsere fundamentale Wahrheit; alles übrige ist Interpretation . . .
Zu wissen, was man nicht wissen kann, ist ein bedeutendes Stück Erkenntnis – denn es ermöglicht Toleranz, Kommunikation und Frieden.“
Heinz Robert Schlette
„Nichts fordert so viel Treue wie lebendiger Wandel.“
Johann Baptist Metz
„Die Sprache ‚vermittelt‘, wenn man so sagen will, zunächst nur in dem Sinne zwischen dem Menschen und seiner Welt, daß sie diese seine Welt überhaupt erst als eine solche für ihn entstehen läßt. In diesem Sinne ist die ‚Welt‘ immer schon sprachlich vermittelte Welt.“
Theodor Bodammer
Existieren heißt Differieren; die Differenz ist in gewissem Sinne das Wesen der Dinge.“
Gabriel Tarde
„Wer existiert, ist beständig im Werden und versetzt sein Denken ins Werden. . . Wer ein objektives Christentum und nichts anderes hat, der ist eo ipso ein Heide, denn das Christentum ist gerade eine Sache des Geistes, der Subjektivität und Innerlichkeit.“
Søren Kierkegaard
„Definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat.“
Friedrich Nietzsche
„Die Lehre vom Gottsein Jesu würde nicht angetastet, wenn Jesus aus einer normalen menschlichen Ehe hervorgegangen wäre.“
Joseph Ratzinger
„Freiheit ist heute die Aufgabe und Chance der Kirche.“
Hermann Krings
„Es gibt keinen Rückzugsort des Christen von der Welt, weder äußerlich noch in der Sphäre der Innerlichkeit. Jeder Versuch, der Welt auszuweichen, muß früher oder später mit einem sündigen Verfall an die Welt bezahlt werden.“
Dietrich Bonhoeffer
„Man vergisst immer wieder, auf den Grund zu gehen, und setzt die Fragezeichen nicht tief genug.“
Ludwig Wittgenstein
„Christlicher Glaube richtet sich nicht auf Sätze und Lehren, sondern auf die Wirklichkeit, von der Sätze und Lehren handeln.“
Thomas von Aquin
„Kunst ist Magie – befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.“
Theodor Adorno
„Das Eigenartige am Schicksal ist, daß es auf keine Seite der Trennung zwischen Ich und Nicht-Ich richtig paßt.“
Jonathan Lear
„Je begreiflicher uns das Universum wird, um so sinnloser erscheint es auch.“
Steven Weinberg
„Leuten, die an Esoterik glauben, sage ich: Studiert Quantenmechanik, das ist noch viel seltsamer, aber im Gegensatz zu euren Behauptungen experimentell bewiesen!“
Anton Zeilinger
„Ich glaube keiner Theorie, sondern ich benutze sie nur. Ich benutze von der Theorie jeweils das Teilstück, das mir hilft, . . . solange es mir hilft.“
Eckard Sperling
„Glauben heißt nicht Propaganda betreiben; es heißt auch nicht schockieren.
Es heißt so leben, wie es unerklärlich wäre, wenn es keinen Gott gäbe.“
Emmanuel Célestin Suhard
„Die gegenwärtige, weit verzweigte Realismus-Debatte wirft manche Rätsel auf, deren größtes sein könnte, warum sie überhaupt geführt wird.“
Peter Janich
„Um der Zukunft willen vernichten wir alles, was der Zukunft eine Chance ließe.“
Friedrich-Wilhelm Marquardt
„Nicht nur Gott kennen wir allein durch Jesus Christus, auch uns selbst kennen wir nur durch ihn. Ohne Jesus Christus wüßten wir weder, was unser Leben noch was unser Tod noch was Gott ist noch was wir selber sind.“
Blaise Pascal
„Die Kunst gibt nicht das Sichbare wieder, sondern macht sichtbar,“
Paul Klee
„Es ist immer etwas Lächerliches im philosophischen Diskurs, wenn er von außen den anderen vorschreiben und vorsagen will, wo ihre Wahrheit liegt und wie sie zu finden ist.“
Michel Foucault
„Das Wort ist ans Wort gebunden; niemals jedoch an Dinge.“
Edmond Jabès
„Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“
William Faulkner
„Es gehört schon zu den Widersprüchen des Menschen, daß er welche zu haben glaubt.“
Jean Paul
„Das Bild des Menschen, das wir für wahr halten, wird selbst ein Faktor unseres Lebens. Er entscheidet über die Weisen unseres Umgangs mit uns selbst und den Mitmenschen, über Lebensstimmung und Wahl der Aufgaben.“
Karl Jaspers
„Der Auferstehungsglaube ist nicht die ‚Lösung‘ des Todesproblems.“
Dietrich Bonhoeffer
„Eines Tages wird man offiziell zugeben müssen, daß das, was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch größere Illusion ist als die Welt des Traumes“
Salvador Dali
„Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen.“
Friedrich Nietzsche
„Wer mehr sieht, hat Recht; . . . aber nur der, der mehr sieht, sieht, daß er mehr sieht.“
Heinrich Rombach
„Hoffnung ist nicht die Überzeugung, daß etwas gut ausgehen wird, sondern daß es Sinn hat – unabhängig davon, wie es ausgehen wird.“
Václav Havel
„Meine Philosophie lautet, daß alles viel komplizierter ist, als man gemeinhin glaubt.“
Kwame Anthony Appiah
„Ich bin kein Revolutionär, aber ich bin der Meinung, daß die Kirche im besten Sinne des Wortes unterwandert werden muß, und zwar durch eine größere Wahrheit, durch die ursprüngliche Wahrheit, und daß das Gebäude der Kirche, um dieser Wahrheit Rechnung zu tragen, irgendwann nachgeben muß, um so diese Wahrheit zur Geltung kommen zu lassen.
Das kann keine andere als die Wahrheit Jesu Christi sein.“
Eugen Biser
„Ein Zyniker ist ein Mensch, der von allem den Preis und von nichts den Wert kennt.“
Oscar Wilde
„Ohne Mythus aber geht jede Kultur ihrer gesunden schöpferischen Kraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Kulturbewegung zur Einheit ab.“
Friedrich Nietzsche
„Wo man der Zweifel nicht fähig ist, ist man auch der Wahrheit nicht fähig.“
Fulbert Steffensky
„In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt. . . Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sünden unserer Väter und Vorväter. Wir sind nur noch Kindeskinder. Das ist unser Pech, nicht unsere Schuld.“
Friedrich Dürrenmatt
„Kommunikation ist ein produktives Mißverständnis.“
Jacques Lacan
„Die Philosophie besteht gerade in der Anstrengung, das zu sagen, was sich nicht sagen läßt.
Philosophie ließe, wenn irgend, sich definieren als Anstrengung, zu sagen, wovon man nicht sprechen kann; dem Nichtidentischen zum Ausdruck zu helfen, während der Ausdruck es immer doch identifiziert.“
Theodor Adorno
„Um die Menschen zu lieben, muß man sehr stark hassen, was sie unterdrückt.“
Jean-Paul Sartre
„Unsere Kultur ermutigt uns nicht, Philosophen zu sein, und dies ist vielleicht die verheerendste Verneinung von Freiheit in unserem Leben.“
William Warren Bartley
„Nein; gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen.“
Friedrich Nietzsche
„Die großartigste Lehre in beiden Religionen, der jüdischen wie der christlichen, ist – ich berufe mich hier auf ein Wort Schopenhauers – die Lehre von der Erbsünde. Sie hat die bisherige Geschichte bestimmt und bestimmt heute für den Denkenden die Welt. Möglich ist sie nur unter der Voraussetzung, daß Gott den Menschen mit einem freien Willen geschaffen hat.“
Max Horkheimer
„Wir verstehen nicht einmal das Leben – wie können wir den Tod verstehen?“
Konfuzius
„Die meisten Menschen, die sich schämen, mit einem abgelegten Hut oder Mantel zu gehen, laufen freudig mit abgelegten Meinungen herum.“
Sören Kierkegaard
„Wie kann der Mensch sich verstehen, wenn er den Tod nicht versteht?“
Karl Rahner
„Daß es dieser Arbeit in ihrer Dürftigkeit und der Finsternis dieser Zeit bschieden sein sollte, Licht in das eine oder andere Gehirn zu werfen, ist nicht unmöglich; aber freilich auch nicht wahrscheinlich.“
Ludwig Wittgenstein
„Glaube nicht alles, was Du denkst; aber bedenke alles, was Du glaubst.“
Johannes Soukup
„Der fundamentale Widerspruch unserer Existenz . . . ist die gleichzeitige Notwendigkeit der Hierarchie, die Athen lehrt, einerseits, und des abstrakten und in gewisser Weise anarchischen ethischen Individualismus, den Jerusalem zur Aufhebung der Gewalt lehrt, andererseits.“
Emmanuel Levinas
„Man muß die Erklärung geben, die akzeptiert wird. Darauf kommt es beim Erklären an.“
Ludwig Wittgenstein
„Die Götter anderer Menschen zu verachten, bedeutet, diese Menschen selbst zu verachten, denn sie und ihre Götter gehören zusammen.“
Sarvepalli Radhakrishnan
„Grundlagenreflexion ist unverzichtbar, solange wir uns selbst fudamental verstehen wollen.“
Uwe Meixner
„Entfremdung ist die freiwillige Unterwerfung unter eine angebliche Objektivität.“
Johannes Soukup
„Wenn ich mich nicht täusche, ist die Innenseite dieser äußeren Reserviertheit nicht nur Gleichgültigkeit, sondern, häufiger als wir es uns zum Bewußtsein bringen, eine leise Aversion, eine gegenseitige Fremdheit und Abstoßung, die in dem Augenblick einer irgendwie veranlaßten nahen Berührung sogleich in Haß und Kampf ausschlagen würde.“
Georg Simmel
„Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens“ . . . und . . . „Denken ist Danken“.
Martin Heidegger
„Die Macht des Menschen, aus sich zu machen, was ihm beliebt, bedeutet . . . die Macht einiger weniger, aus anderen zu machen, was ihnen beliebt.“
Clive Staples Lewis
„Achtung ist Beachtung der Andersheit . . . Ohne diese Achtung versteht man nichts.“
Josef Simon
„Schließlich geht es in der Offenbarung Gottes gerade darum, daß er, der Lebendige und Wahre, in unsere Welt einbricht und so auch den Kerker unserer Theorien aufbricht, mit deren Gitterstäben wir uns selbst gegen dieses Kommen Gottes in unser Leben absichern wollen.
Jede – auch die frömmste – Theorie entspricht einem Kerker, weil sie die (Wirklichkeit der) Zeit leugnet und damit die Offenbarung oder eine neue Fülle des Lebens verunmöglicht.“
Joseph Ratzinger
„Exaktheit ist ein Schwindel.“
Alfred North Whitehead
„Ich möchte nicht mit meiner Schrift Anderen das Denken ersparen, sondern, wenn es möglich wäre, jemand zu eigenen Gedanken anregen.“
Ludwig Wittgenstein
„Freiheit ist das Wahrheitskriterium des Christentums.“
Eberhard Jüngel
„Es ist schwer, jemandem etwas auseinanderzusetzen, wenn er dafür bezahlt wird, es nicht zu verstehen.
Upton Sinclair
„Glaube ist die Unmöglichkeit, unbedeutend zu sein.“
Peter Sloterdijk
„Was ist das Allgemeine? Der einzelne Fall.
Was ist das Besondere? Millionen Fälle,“
Johann Wolfgang von Goethe
„Kurz: ‚Substanz‘ ist ein metaphysischer Irrtum, der dadurch entsteht, daß die Struktur von Subjekt-Prädikat-Sätzen auf die Struktur der Welt übertragen wird.“
Bertrand Russel
„Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind. Wir sehen die Dinge, wie wir sind.“
Talmud
„Viele Bewunderer der Wissenschaft meinen, sie unterscheide sich gerade darin von der Religion, daß sie Glauben durch Vernunft ersetzt. Eben diese Meinung ist nach meiner Ansicht eine Äußerung ihres Glaubens. Wir dürfen nur den Begriff des Glaubens nicht zu eng fassen.“
Carl Friedrich von Weizsäcker
„Nicht behaupten ’so ist es‘, sondern leben, als wäre es so.“
Johannes Soukup
„Die Religionen, . . . die diesen freiwilligen Abstand begriffen haben, dieses freiwillige Verschwinden Gottes, seine scheinbare Abwesenheit und seine verborgene Anwesenheit hienieden, – diese Religionen sind wahre Religionen, die Übersetzung der großen Offenbarung in unterschiedliche Sprachen.
Die Religionen, welche die Gottheit überall dort, wo sie die Macht dazu haben, als befehlend darstellen, sind falsch. Selbst wenn sie monotheistisch sind, sind sie Götzendienst.“
Simone Weil
„Wir ertrinken in Informationen, aber uns dürstet nach Wissen.“
Paul Nurse
„Der Szientismus fügt zur Wissenschaft zwei Begleitsätze hinzu:
Erstens, daß die wissenschaftliche Methode, wenn nicht die einzige, so doch zumindest die am meisten verläßliche Methode ist, zur Wahrheit zu gelangen.
Und zweitens, daß die Dinge, mit denen sich die Wissenschaft beschäftigt – materielle Entitäten –, die grundlegendsten Dinge sind, die existieren.“
Huston Smith
„Gott kannst du nicht mit einem anderen reden hören, sondern nur, wenn du der Angeredete bist.“
Ludwig Wittgenstein
„Wir haben nicht zu viel Verstand und zu wenig Seele, sondern wir haben zu wenig Verstand in den Fragen der Seele.“
Robert Musil
„In einer werdenden Welt ist ‚Realität‘ immer nur eine Simplifikation zu praktischen Zwecken oder eine Täuschung aufgrund grober Organe oder eine Verschiedenheit im Tempo des Werdens.“
Friedrich Nietzsche
„Wir glauben – nicht, was richtig ist, sondern – was zu glauben wir für richtig halten.“
Johannes Soukup
„Philosophen sind Gewalttäter, die keine Armee zur Verfügung haben und sich deshalb die Welt in der Weise unterwerfen, daß sie sie in ein System sperren.“
Robert Musil
„Nur Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden.“
Heinz von Förster
„Der entscheidende Punkt ist, daß nur der Verzicht auf eine Erklärung des Lebens im üblichen Sinne uns die Möglichkeit schafft, den charakteristischen Merkmalen des Lebens Rechnung zu tragen.“
Niels Bohr
„Glaube ist das Denken eines religiösen Geistes.“
John Henry Newman
„Das schlechthin Unvernünftige – wir zerstören unsere Welt – tritt ein, weil alle vernünftig handeln.“
Thomas Ruster
„Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, aber bei Gruppen Parteien, Kirchen oder Völkern die Regel.“
Friedrich Nietzsche
„Unablässig versucht der moderne Mensch, die Welt in Reichweite zu bringen.
Dabei droht sie uns jedoch, stumm und fremd zu werden.
Lebendigkeit entsteht nur aus der Akzeptanz des Unverfügbaren.“
Hartmut Rosa
„Nichts ist stärker als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“
Victor Hugo
„Möglicherweise hat nicht die Gesellschaft Gott vergessen, sondern wir Christen haben verlernt, richtig über Gott zu reden.“
Manfred Lütz
„Wir brauchen ein Ministerium für Ruhestörung, das kalkuliert Ärger erzeugt; die Routine zerstört und die Selbstzufriedenheit untergräbt.“
Cyril Dean Darlington
„Du und ich, wir sind nicht zwei.“
Emmanuel Levinas
„Wirklich ist das, wovon wir ausgehen, selbst wenn wir es im einzelnen bezweifeln.“
Bernhard Waldenfels
„Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind, – oder doch ähnliche Gedanken – schon selbst einmal gedacht hat.
Es ist also kein Lehrbuch.
Sein Zweck wäre erreicht, wenn es einem, der es mit Verständnis liest, Vergnügen bereitete. . .
Denn wenn ich auch nur selten ins Schwarze getroffen habe, wird der aufmerksame Leser doch erkennen, nach welchen Zielen ich unablässig geschossen habe.“
Ludwig Wittgenstein.
1. Einleitung
Das waren sehr viele Zitate; sie sollten die Richtung andeuten, in die wir uns bewegen werden, und Ihnen damit die Entscheidung ermöglichen, ob es sich eventuell lohnen könnte, mein Buch zu lesen.
Haben Sie keine Sorge, daß es in diesem Sinne – also auch ein wenig langweilig und ermüdend – weitergehen könnte. Ganz im Gegenteil; ich versuche, selbst zu denken, finde das unheimlich spannend, weil man möglicherweise gezwungen wird, einen völlig unbekannten Weg in geistiges Neuland zu wagen, und lade Sie ein, mich zu begleiten.
Wenn Sie Fehler finden, hat sich das Thema für Sie höchstwahrscheinlich erledigt. Sympathisch und hilfreich wäre es freilich, mich kurz auf die entsprechenden Schwachstellen hinzuweisen. Ich danke Ihnen schon im Voraus und bitte um Entschuldigung für meine Versehen.
Unter Fehlern verstehe ich insbesondere logische Widersprüche, fehlende Denkmöglichkeiten und ungerechtfertigte Annahmen jeglicher Couleur, also nicht nur wissenschaftliche, sondern auch weltanschaulich-religiöse oder alltägliche.
Keinen Fehler bedeutet es freilich, gegen den Strich zu denken oder vom Zeitgeist mit seinen Selbstverständlichkeiten und Plattitüden abzuweichen, von dem also, was „man sagt“ oder „jeder weiß“; das interessiert mich nicht im geringsten.
Dabei darf es natürlich nicht um das Widersprechen als Selbstzweck gehen, wie wir es heute in unserer Gesellschaft tagtäglich – mit nahezu beliebigen „Begründungen“ und „Argumenten“ oder auch ganz ohne beide – erleben. Entscheidend ist lediglich, daß Unsinnigkeiten auch dann zu vermeiden sind, wenn sie von vielen Menschen geteilt werden und somit einem beliebigen Gruppen- bzw. Korpsgeist entsprechen.
Bloße Ansichten spielen keine Rolle, und eine „Meinungsfreiheit“, derzufolge schließlich jeder sagen darf, was ihm in den Sinn kommt, ist keine Errungenschaft der Demokratie, sondern zerstört sie. Meinungs-Freiheit setzt Meinungs-Bildung im engeren Sinne voraus, und ohne diese wäre es zumeist besser, auf jene zu verzichten.
Die meisten von uns können es sich heute kaum leisten, Zeit und Mühe in die Auseinandersetzung mit einem Buch zu investieren, die sie anschließend bereuen würden, weil sich sein Inhalt rückblickend als oberflächlich, belanglos oder sinnleer herausstellt.
Mit dem letzten Prädikat meine ich nicht die übliche Frage „Was bringt mir das?“, weil sie selbst oberflächlich, belanglos und sinnleer ist. Wer dergleichen sucht, ist hier falsch und sollte besser Ratschläge zur Selbstverwirklichung, Anleitungen zur Erbauung und Tips vom Baumarkt oder Finanzberater lesen.
(„Tips“ stimmt; ich halte mich an die alte Rechtschreibung, denn sie wurde gerade überarbeitet, als ich endlich einigermaßen sicher darin war. Die vorreformerische Orthographie ist offiziell auch für Bücher gestattet; sie muß nur konsequent von gestern sein, und dem versuche ich nachzukommen.)
Zahlreiche prominente Wissenschaftler deuten unser Zeitalter als das Anthropozän, weil erstmals auch wir Menschen über das Schicksal des Lebens auf der Erde mitbestimmen – nicht mehr Sonneneruptionen, tektonische Verschiebungen, Meteoriteneinschläge, Seebeben oder Vulkanausbrüche allein. Für Ernst Ulrich von Weizsäcker ist es „das Zeitalter, in dem der Mensch das gesamte Geschehen dominiert, bis hin zur bio-geochemischen Zusammensetzung der Erde“. Man muß weder Apokalyptiker oder Weltuntergangs-Prophet noch Verschwörungstheoretiker sein, um derartige Szenarien ernstnehmen zu können, sondern nur die täglichen Nachrichten verfolgen.
Gemessen an den Privilegien, die ich angesichts der bisherigen Menschheitsgeschichte genieße, indem ich hier und jetzt leben darf, tue ich nahezu nichts. Das Schreiben dieses Buches ist mein Versuch, mit oder trotz dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit anderen Menschen gegenüber leben zu können und mich nicht nur schämen zu müssen.
Obwohl ich seit bald 50 Jahren über seinen Inhalt nachdenke, gelingt mir leider immer noch keine leicht verständliche Darstellung, so daß Ihnen die vorliegende gewiß einige Mühe abverlangen wird. Dahinter steckt jedoch nicht die mitunter anzutreffende Wichtigtuerei, die eigenen Ausführungen unnötig verkomplizieren zu wollen.
Die Schwierigkeit besteht vielmehr darin, daß
– meine Gedanken zum einen recht ungewohnt sind, weil ich mich nicht von ihrer Exotik verunsichern lasse, sofern sie mir als richtig oder gar relativ zwingend erscheinen, und
– es zum anderen absolut keinen Sinn hätte, wenn Sie mir glauben würden.
Das sollen und „dürfen“ Sie nicht; vielmehr müßten Sie sich bemühen,
– entweder möglichst jeden Schritt als folgerichtig zu erkennen und – wenn es sein muß auch zähneknirschend – mitzugehen
– oder ihn aus guten Gründen abzulehnen.
Gute Gründe können freilich nur Gegenargumente, aber nicht widersprechende Meinungen sein.
Ein „ja, aber . . .“ hilft beim Denken nicht weiter; entweder „ja“ oder „nein“; tertium non datur, denn jedes Dritte wäre nur Firlefanz.
Beim Denken; im Leben ist das zumeist ganz anders.
Weder glaube ich an die Logik, noch bildet sie für mich das Nonplusultra (wie mir mitunter vorgehalten wird); alles Wichtige im Leben oder das, was uns zu Menschen macht, transzendiert die Logik. Damit wird es keineswegs unlogisch, sondern befindet sich als Alogisches jenseits der logischen Dimensionen und damit auch jenseits von richtig oder falsch.
Das bedeutet, daß wir diese Wirklichkeit nicht aus-sagen, formulieren oder bezeichnen, sondern höchstens beschreiben können. Darin besteht die Aufgabe der Kunst, die also ebenso alogisch sein muß wie unser Leben.
Wer jedoch nicht „nur“ – mehr oder weniger gut – beschreiben, sondern einen Anspruch auf Richtigkeit erheben möchte, muß sich logisch sauber ausdrücken. Denn andernfalls sagt er nicht nur etwas Falsches – denn selbst das ist nur im Rahmen der Logik möglich –, sondern gar nichts.
Um Ihnen das Lesen zu erleichtern, versuche ich, alle Gedankengänge möglichst vollständig wiederzugeben. Bei einem Geflecht von Überlegungen ergeben sich daraus zwangsläufig viele Überschneidungen, das heißt, Wiederholungen und somit Redundanz. Die nehme ich bewußt inkauf, um Ihnen laufendes Grübeln oder Blättern zu ersparen; aber vielleicht ist Ihnen dieses „schon wieder“ mitunter sogar ganz recht.
Hinter mir liegt ein Denkweg, für den ich, wie schon gesagt, Jahrzehnte benötigt habe. Wenn Sie immer noch ein Stückchen brauchten, um ihn nachvollziehen zu können, wäre das also meines Erachtens nicht sonderlich schlimm; Sie hätten trotzdem noch erheblich Zeit gespart.
Mein Buch können Sie in diesem Sinne als „Abkürzung“ verstehen, mit der ich dem einen oder anderen Leser bzw. Hörer bereits helfen konnte, worüber ich sehr froh und wofür ich sehr dankbar bin.
Ich antworte Ihnen auf jede Kritik, die sich sachlich auf den Ansatz einläßt und meine darin enthaltenen Fehler, Lücken bzw. Unsauberkeiten im Auge hat. Daß man auch anders denken oder es ganz unterlassen kann, weiß ich bereits, und bloße Meinungen interessieren mich nicht – völlig unabhängig davon, wer sie äußert.
„Herr Müller sagt aber . . .“
Na und? Frau Meier meint auch etwas.
„Prüfet alles und behaltet das Gute„, nicht aber „. . . was ‚die Guten‘ sagen“, denn wer zu ihnen gehört, wissen wir nicht einmal nach der Prüfung und ist auch nicht unser Problem.
Winston Churchill schrieb: „Ein vernünftiger Text soll das Thema erschöpfen, nicht die Zuhörer.“
Bezüglich des Themas habe ich kein ganz schlechtes Gefühl . . .
Den tapferen Lesern wünsche ich die Erfahrung, daß letztlich nur eigene Anstrengungen vor Langeweile bewahren, zur Sinnfindung beitragen und Erfüllung ermöglichen oder glücklich machen können.
Ich hoffe und glaube sogar ein wenig, daß Sie am Ende nicht das Gefühl haben, um Ihre Zeit betrogen worden zu sein. Mir hat sich eine neue Sicht auf die Wirklichkeit erschlossen, die ich am besten als „befreiend“ charakterisieren würde, weil sämtliche Denk-Zwänge durch angebliche Evidenz, Logik oder Dogmatik jeglicher Couleur entfallen. Ich beschreibe Ihnen also nicht – im Sinne eines Ratgebers – den Weg zu Ihrem Glück oder Heil, sondern will Ihnen verständlich machen, daß Sie dafür im wesentlichen selbst zuständig und verantwortlich sind.
Aber vielleicht ist es auch nur halb so schlimm, weil irgendwann der flow einsetzt und Sie dann – ebenso wie es mir erging – gar nicht mehr aufhören wollen oder können.
Unser erster Teil entspricht einer Einleitung, deren Ziel darin besteht
– Ihnen eine Ahnung vom Gesamtkonzept sowie
– seine wichtigsten Grundbegriffe zu vermitteln und
– unsere Überlegungen ein wenig in das geistige Leben der Gegenwart einzuordnen.
Im zweiten Teil stellen wir das traditionelle Denken möglichst unvoreingenommen dar und kritisieren es (hoffentlich) möglichst ohne Polemik. Dieses Denken bildet jedoch nicht unser Thema, sondern lediglich dessen Hintergrund; an ihm können wir unser eigentliches Anliegen am besten verdeutlichen.
Das besteht darin, einen speziellen postmodernen Ansatz so konsistent, wie es mir möglich ist, zu entwickeln. Dies geschieht im dritten Teil; er bildet also – auch vom Umfang her – den Schwerpunkt unserer Überlegungen, und mein Hauptaugenmerk liegt darauf,
– möglichst wenige Glaubensbekenntnisse im weitesten Sinne zu bemühen und
– zu schauen, wohin uns das Denken dann führt.
1.1. Das traditionelle Denken
Die zweieinhalb tausend Jahren seit Platon geht das abendländische Denken im wesentlichen davon aus, daß es eine uns vorgegebene und damit objektive Wirklichkeit gibt, deren Bestandteile per definitionem die Seienden bilden. Vor diesem neuen, hochtrabend klingenden Wort muß man nicht erschrecken; es ist völlig harmlos:
Was – beim Bäcker – gebacken wird, bildet Gebäck; was – von Archäologen – gefunden wird, gilt als Fundstück; und was – für traditionelle Philosophen – ist, stellt ein Seiendes dar. Sie könnten also problemlos Tausende von Seienden nennen und müßten dazu lediglich die Dinge aufzählen, von deren Existenz, Wirklichkeit oder (Vorhanden-)Sein Sie überzeugt sind; Gebäck, Fundstücke, Ihr eigener Körper, Sonne, Mond und Sterne . . .
Zu den Seienden gehören natürlich auch wir selbst, so daß sich automatisch eine Zweiteilung in Subjekte und Objekte ergibt.
Von letzteren unterscheidet uns Subjekte, daß zu unserem Körper – dem Seienden i. e. S. – eine nicht-seiende Psyche hinzukommt, in der wir sowohl andere Seiende als auch uns selbst wahrnehmen können. Subjekte bestehen somit traditionell in der Einheit von Körper und Psyche.
Damit entsteht ein sauberer Dualismus zwischen den Seienden der objektiven Wirklichkeit auf der einen Seite und unseren subjektiven Psychen auf der anderen.
Eine Brücke, die beide Seiten verbindet, ist aber trotzdem erforderlich, denn sonst hätten wir keinen Dualismus vor uns, sondern zwei getrennte Sphären, die sich gar nich tangieren. Dieser Zusammenhang besteht im Wahrnehmen, durch das wir das Außen der Seienden in unseren Psychen erleben – sehen, angreifen, hören usw. Ein genaueres Verständnis dieses einseitigen Übergangs, der (zumindest in der Moderne) meistens als ein Abbilden verstanden wird, benötigen wir nicht, da uns das traditionelle Denken nur als notwendiger Hintergrund dient, aber nicht am Herzen liegt.
Seit der Moderne versteht man die Seienden nahezu automatisch als materiell und damit ihre Wahrnehmungen als sinnlich.
In Antike und Mittelalter setzte die Tradition jedoch auch ideelle Seiende und ihre geistigen Wahrnehmungen voraus. Wir kennen sie am ehesten in Form der Platonischen Ideen; diejenigen des Guten, der Gerechtigkeit und Wahrheit bilden wohl ihre bekanntesten Beispiele. Hinter diesem Glauben an ideelle Seiende stand damals ein recht einleuchtender Gedanke:
Um Sokrates als gerecht und Protagoras als ungerecht beurteilen zu können, müssen wir wissen, worin die Gerechtigkeit besteht, oder eine wahre Idee von ihr haben. Fehlt uns dieser objektive Maßstab,
– sagen wir entweder gar nichts Gehaltvolles oder
– werten nach unserer eigenen Façon.
In beiden Fällen kommen wir also nicht über unsere eigene Subjektivität hinaus und legen selbst den Maßstab fest; ohne ideelle Seiende gibt es in unserem Leben – der Tradition zufolge – somit keine Objektivität oder Wahrheit.
Sokrates stellte für Platon die personifizierte Gerechtigkeit dar, weil sie in ihm Gestalt annahm oder sich verleiblichte.
Ideelle Seiende schienen Platon jedoch sogar für die materiellen Körper des physikalischen Kosmos nötig zu sein. Ohne die Idee des Planeten beispielsweise würde es ihm zufolge keine Planeten geben; sie nimmt in ihnen Gestalt an oder verkörpert sich darin – ganz ähnlich zur Gerechtigkeit bei Sokrates.
Platon war diesbezüglich so konsequent, daß er auch eine Idee des Schmutzes, Kots oder Bettgestells annahm; andernfalls könnten diese Dinge ja seines Erachtens gar nicht existieren.
In der Moderne benötigt der Kosmos die Idee des Planeten ebensowenig wie wir diejenige der Gerechtigkeit. Aus den ideellen Seienden entwickeln sich im Laufe der Geschichte allmählich die Begriffe und verdrängen jene.
Aber um so überzeugender werden für uns die materiellen Seienden. Auch Sie persönlich gehen höchstwahrscheinlich immer schon wie selbstverständlich von deren Existenz aus; vielleicht haben Sie bisher das Wort „Seiende“ nicht gekannt oder zumindest kaum benutzt. Sofern Sie jedoch beispielsweise an eine Schöpfung oder Evolution der objektiven Wirklichkeit glauben, denken Sie letztere traditionell und damit als eine Summe von Seienden.
AD: „Steckt etwas dahinter, daß Sie von einer objektiven Wirklichkeit und nicht Welt sprechen? Konsequenterweise müßten Sie ja dann auch Wirklichkeits– und dürften nicht Weltbild sagen.“
Ja; bei „Welt“ assoziieren die meisten unserer Zeitgenossen eine reine Immanenz, die zwar theoretisch der Transzendenz gegenübersteht, sie aber häufig unter den Tisch fallen läßt. Mit dem Begriff der Wirklichkeit möchte ich nicht erst letzteres, sondern bereits die Einteilung in Immanenz und Transzenenz vermeiden. Wir können nichts streichen – einerlei ob nun mit oder ohne Absicht –, ohne es zu verstehen; das wäre Russisches Roulette.
Bei dem Kosmos bzw. der objektiven Realität verhält es sich dagegen umgekehrt; mit diesen Begriffen schränken wir die Wirklichkeit zumindest assoziativ nicht nur auf die Welt, sondern noch weiter auf deren materielle Dimensionen ein. Beispielsweise gehören zum Kosmos der Physik weder Farben noch Töne oder Schönheit und Sinn.
1.2. Meine Intention
Ich verstehe die geistigen Turbulenzen der Gegenwart als Symptome eines epochalen Bewußtseinswandels, der uns – sofern wir ihn bewältigen – vom traditionellen Denken zum postmodernen führen dürfte.
Die Postmoderne ist ein schillernder Begriff, der häufig stark polarisiert und sehr viele unterschiedliche Bedeutungen annehmen kann. Auf diese Vielfalt gehen wir jedoch gar nicht ein; uns interessiert nur das eine Charakteristikum, das die Postmoderne in eine klare Gegenposition zur Tradition bringt:
Letztere geht davon aus, daß eine uns vorgegebene objektive Wirklichkeit existiert, während die Postmoderne – wie wir sie im vorliegenden Buch verstehen – dieses philosophische Glaubensbekenntnis ablehnt. Ich bin aus den verschiedensten Gründen – die alle noch zu besprechen sein werden – davon überzeugt, daß sich die Tradition diesbezüglich im Unrecht befindet.
Vielen Menschen graut vor einem solchen Bewußtseinswandel; ich sehne ihn jedoch herbei und hoffe auf sein Gelingen. Zwei der Argumente für meine positive Sicht sollten jetzt schon deutlich sein:
Zunächst dürfte unsere Zukunft – sofern wir sie denn erleben werden – zutiefst pluralistisch ausfallen und damit ein hohes Maß an Toleranz erfordern; das läßt sich jedoch schwerlich mit dem Glauben an eine objektive Wirklichkeit vereinbaren.
Denn wer diese zu wissen glaubt, wird sehr leicht jede Gemeinschaft spalten, weil er zu unterscheiden vermag zwischen Rechtgläubigen und Irrenden. Das kann sogar ausschließlich derjenige, der die Wahrheit zu besitzen meint; wer sich „nur“ um sie bemüht, versteht andere als auf einem differenten Weg nach dem gleichen Ziel suchend.
Des weiteren ist alles Entscheidende im Leben oder das, was uns letztlich zu Menschen macht – Liebe, Wahrheit, Freundschaft, Dankbarkeit, Empathie, Verständnis, Glaube, Vertrauen . . . –, an Freiheit gebunden. Sie würde durch die Existenz einer objektiven Wirklichkeit jedoch willkürlich und völlig unnötig begrenzt.
Dann könnte der Glaube beispielsweise keine Berge versetzen. Wer dies behauptet, obwohl er eine objektive Realität für selbstverständlich hält, legt kein beeindruckendes Zeugnis ab, sondern redet einfach Unsinn.
Wir könnten unseren Ansatz somit recht treffend als den Versuch zu einer Philosophie der Freiheit verstehen.
AD: „Gestatten Sie bitte, daß ich mich kurz vorstelle, wenn ich Ihnen schon ins Wort falle:
Mein Name ist ‚Advocatus Diaboli‘, kurz ‚AD‘ genannt; ich vertrete Ihre Leser und versuche, ihnen ein wenig zu helfen, wenn Sie etwas, nennen wir es einmal vorsichtig, ‚Befremdliches‘ zum Ausdruck bringen – wie soeben.“
„Adé“ ist gut . . .; aber trotzdem: Herzlich willkommen!
AD: „Danke!
Ich vermag nicht einzusehen, wieso die Toleranz kaum mit dem Glauben an eine objektive Wirklichkeit vereinbar sein soll.“
Wer ihn teilt, muß richtige Aussagen prinzipiell für möglich halten, nämlich diejenigen, welche die objektive Wirklichkeit adäquat wiedergeben.
Gibt es dergleichen jedoch überhaupt, kann jeder – Philosoph, Verschwörungstheoretiker, Naturwissenschaftler, Theologe, Stammtischler, Politiker, Esoteriker . . . – behaupten, über derartige Sätze zu verfügen. Begründungen sind völlig unnötig, denn mit dem Totschlag-„Argument“ „So ist es – basta!“ wird jedes konstruktive Gespräch jäh abgebrochen.
Irgendwie muß es der Tradition zufolge ja sein, und der Sprecher beansprucht, diesbezüglich genauere Kenntnisse als wir zu besitzen – woher auch immer.
Es gibt als kein zwingendes Argument gegen die Richtigkeit der Behauptung „So ist es – basta!“, denn
– die geglaubte objektive Wirklichkeit schließt nicht aus, daß es tatsächlich gerade so ist, und
– da der Sprecher nichts begründet, existiert auch nichts, was man widerlegen müßte oder auch nur könnte.
Natürlich gibt es dann 1000 verschiedene und sogar gegensätzliche „So ist es – basta!“; der Redner behauptet einfach nur eines von ihnen.
Wir glauben ihm zwar nicht – können aber trotzdem nach Hause gehen; er ist stur, und wir sind mit unserem Latein am Ende. Das wird daran am deutlichsten, daß dieses „Argument“ bei jedem „So ist es“ „erfolgreich“ vorgebracht werden kann; auch bei einem glatt gegenteiligen „so“.
In der Postmoderne kann es nicht speziell „so“ sein, weil es gar nicht irgendwie ist.
AD: „Das läßt sich kaum bestreiten; nichtsdestotrotz halte ich Ihre Idee, die objektive Wirklichkeit zu canceln, für absurd. Sie würden nach der Arbeit die Wohnung nicht finden, könnten keine Freunde wiedererkennen oder ein bestimmtes Buch im Regal suchen.
All das funktioniert doch nur, weil für uns alle
– eine objektive Wirklichkeit existiert und
– wir den wichtigen Teil davon vor unserem geistigen Auge Revue passieren lassen können. Meine Wohnung befindet sich dort hinten; das ist Moritz; und das Buch hatte ich gestern hier abgelegt.“
Was hat es mit Ihnen zu tun, daß ich meine Wohnung finde, Freunde wiedererkenne oder ein Buch suche?
AD: „Mit mir gar nichts; warum fragen Sie das?“
Wenn meine subjektiven Aufgaben von Ihnen unabhängig sind, verstehe ich nicht, weshalb Sie eine objektive Wirklichkeit bemühen um jene lösbar zu machen. Es genügt dann vollkommen, Ihre Aussage von soeben etwas abzuschwächen:
All das funktioniert doch nur, weil für mich
– ein subjektives Wirklichkeitsbild existiert und
– ich den wichtigen Teil davon vor meinem geistigen Auge Revue passieren lassen kann.
Auf der einen Seite gebe ich Ihnen also Recht; ohne eine hinreichende Stabilität könnten wir überhaupt nicht leben. Wir benötigen sie für (nahezu) jede unserer Entscheidungen.
Auf der anderen Seite
– sehe ich aber partout keinen Grund dafür, daß diese Stabilität bei uns beiden sowie allen anderen Subjekten die gleiche sein müßte, und
– bin ich zudem überzeugt, daß sie keine Stabilität der Wirklichkeit sein muß, sondern eine des subjektiven Wirklichkeitsbilds vollkommen genügt.
Zum ersten Punkt:
Haben Obdachlose die gleiche Wirklichkeit wie Elon Musk? Freimaurer wie Amische? Leibeigene wie Fürsten? Folterer wie Opfer? Kinder wie Erwachsene? Kranke wie Gesunde?
Für sie alle hat möglicherweise der Saturn Ringe – na und?
Der zweite Punkt ist für unsere weiteren Überlegungen der wichtigere; ich habe mich oben der Einfachheit halber vielleicht noch etwas mißverständlich ausgedrückt:
„Die Tradition geht davon aus, daß eine uns vorgegebene objektive Wirklichkeit existiert, während die Postmoderne – wie wir sie im vorliegenden Buch verstehen – dieses philosophische Glaubensbekenntnis ablehnt.“
Es ist ein philosophisches Glauenbekenntnis – und nicht mehr!
Die Postmoderne – zumindest die meinige – schafft also nicht die Seienden ab, sondern will „nur“ verdeutlichen,daß
– es diese nie gab,
– die Tradition lediglich (an) die – Existenz der – Seienden glaubt und
– unser Leben ohne diese Annahme wesentlich an Freiheit und Tiefe oder Fülle gewinnen könnte.
Mein Anliegen besteht also tatsächlich nur darin, das objektive Wirklichkeitsbild durch ein subjektives zu ersetzen.
Sowohl traditionell als auch postmodern gibt es unserem Verständnis zufolge also keine Seienden.
Ohne ein stabiles Wirklichkeitsbild wäre das Leben jedoch unmöglich.
Wir sind uns ganz sicher, daß
– sich dort hinten unsere Wohnung befindet,
– dies Moritz ist und
– das Buch hier liegen muß;
daß Trump lebt, Rußland Krieg führt und der Saturn Ringe besitzt.
Postmodern sind das alles aber keine Seienden – weil sie nicht sind –, sondern
Überzeugungen – wei wir fest an sie glauben und unser Leben an ihnen ausrichten.
AD: „Und da diese Überzeugungen bei jedem ein wenig anders sind, können unsere Wirklichkeitsbilder ’nur‘ subjektiv sein.“
Diese Einsicht erhoffe ich mir von einem möglichen Bewußtseinswandel.
„Überzeugungen“ war soeben vielleicht ein treffendes Wort; wir ersetzen es der Deutlichkeit halber trotzdem durch „Aktanten“. Dieser Ausdruck geht auf Bruno Latour zurück, einen (lesbaren) französischen Soziologen; aber der damit bezeichnete, also unser Begriff des Aktanten muß sich natürlich wie von selbst aus den weiteren Überlegungen ergeben.
Lassen Sie sich bitte die folgenden Gedanken einmal in Ruhe durch den Kopf gehen:
Eine Wirklichkeit jenseits unserer Erfahrungen – einerlei ob sie nun als „immanent“ oder als „transzendent“ bezeichnet wird – ist transzendent und damit absolut belanglos, solange sie nicht geglaubt wird; erst dann kann sie wirken.
Wird sie aber geglaubt, spielt es auch nicht die geringste Rolle, ob diese „Wirklichkeit“ tatsächlich existiert oder „stimmt“.
Eine Wirklichkeit jenseits der Erfahrungen kann also immer „weggekürzt“ werden; zurückbleibt dann – gegebenenfalls – der Glaube.
„Dein Glaube hat dir geholfen.“
Natürlich; was denn sonst? Es ist eine Tautologie, daß – wenn überhaupt geholfen wurde – dies nur der Glaube gewesen sein kann.
AD: „Ihr gesamter Ansatz ist somit daran gebunden, daß Sie beispielsweise unsere subjektiven Sonnen-Wahrnehmungen ohne eine objektive Sonne erklären können müßten?“
Stimmt; aber warum soll das problematischer sein als das traditionelle Verständnis einer objektiven Sonne? Der entscheidende Punkt scheint mir eher darin zu bestehen, daß wir
– uns an die engstirnige Alternative „entweder Evolution oder Schöpfung“ gewöhnt haben,
– sie als selbst-verständlich erachten,
– gar nicht mehr nachdenken und
– damit den Blick für andere Möglichkeiten vollkommen verloren haben,
– die völlig neue Perspektiven eröffnen (könnten).
1.2.1. Kopernikanische Wende
Die Denkrichtung unserer Überlegungen können wir in einfachen Worten anhand von vier für die betreffenden Philosophen charakteristischen Fragen andeuten:
George Berkeley: „Verursacht ein fallender Baum Lärm, wenn es niemand hört?“
Martin Heidegger: „Waren die Gesetze Newtons schon vor Newton wahr?“
Thomas S. Kuhn: „Lebten Aristoteles und Galilei in derselben Welt?“
Max Black: „Existierte die Rückseite des Mondes, bevor wir sie gesehen haben?“
Wohl viele von uns dürften sich ob solch naiver Fragen fast beleidigt fühlen und sie natürlich alle mit einem glatten „ja“ beantworten.
Ich will Ihnen dagegen zeigen, daß manches für das ebenso eindeutige „nein“ der genannten Denker spricht, dem wir uns 100%-ig anschließen.
Mir ist bewußt, daß diese „Kopernikanische Wende“ (Kant) natürlich „keineswegs eine Empfehlung für mein Buch darstellt, sondern eher das Gegenteil. Denn Neues will weder der Fachmann noch der Laie. Jener ist froh, wenn er so weitermachen kann, wie er es gelernt hat, . . . und dieser will auch nicht eine neue und revolutionäre Philosophie vorgesetzt bekommen, sondern – wenn überhaupt Philosophie, dann schon – die richtige oder die Philosophie der Gegenwart.“ (Franz Rosenzweig)
Bei beiden Wünschen des Laien muß ich Sie allerdings enttäuschen:
Die richtige Philosophie kann es nicht geben, weil philosophische Fragen keine endgültigen Antworten kennen – genau das macht sie zu philosophischen Fragen: Was einmal definitiv beantwortet sein wird, war schon zuvor keine philosophische Frage.
„Die Meinung, die sich am Ziel glaubt, blockiert das Verstehen“ (Josef Simon) und damit die Wahrheit, würde ich gerne ergänzen.
Ob mein Denken gegenwärtig en vogue ist – der zweite Wunsch –, interessiert mich nicht. Ich möchte, soweit dies überhaupt möglich ist, jeglichen Zeitgeist hinter mir lassen; freilich denjenigen, der zur Zeit des Sokrates, Jesus, Thomas oder Newton herrschte, ebenso wie den heutigen.
Das Buch basiert auf der Annahme, daß ein Bewußtseinswandel hin zu den negativen Antworten auf die obigen Fragen bei hinreichend vielen Menschen gegenwärtig wichtiger wäre als alle pragmatischen Fortschritte, auf die wir in den letzten vier Jahrhunderten ebenso einseitig wie stolz gesetzt haben und in denen noch immer viele die Lösung unserer ständig zunehmenden Probleme sehen – anstatt ihrer Ursache.
Dieser moderne Irrglaube ist freilich nicht nur nachvollziehbar, sondern sogar nahezu zwingend, solange wir glauben, in den exakten Wissenschaften den Königsweg – vielleicht nicht nur zur Richtigkeit, sondern sogar – zur Wahrheit gefunden zu haben.
Die exakten Wissenschaften – für mich persönlich insbesondere die Theoretische Physik und Mathematik – sind großartig und eine unglaubliche Kulturleistung sowie ein Segen für uns alle. Aber zum einen haben sie nichts mit der Wahrheit zu tun, und zum anderen gibt es sehr viele weitere, ebenso bewundernswerte kulturelle Errungenschaften.
Die heute weit verbreitete Annahme, deren Krönung bestände in den exakten Wissenschaften, teile ich nicht. Das bezieht sich insbesondere auf den Reduktionismus, der davon ausgeht, daß sich nahezu alles – Leben, Bewußtsein, Kunst, Sprache, Religion usw. – auf Physik als die fundamentale Naturwissenschaft zurückführen lasse.
Bevor Sie mein Buch jetzt endgültig als „unwissenschaftlich“ beiseite legen, sollten Sie vielleicht einmal in „Geist und Kosmos“ von Thomas Nagel schauen. Obwohl dieses Buch den Untertitel trägt „Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist“, dürfte es kaum Fachleute geben, die Nagel vorwerfen, er sei unwissenschaftlich.
AD: „Das verstehe ich nicht; wenn die exakte Wissenschaft richtig ist, muß die Nicht-Wissenschaft als deren Negation falsch sein.“
Nein; zum einen wissen wir noch gar nicht, worin die angebliche Richtigkeit der exakten Wissenschaft genau bestehen könnte, und zum anderen ist Ihre Argumentation zu simpel gestrickt. Wir werden ausführlich darauf zurückkommen, so daß ich Sie bitte vorerst mit einem Beispiel, das auf Ernst von Glasersfeld zurückgeht, abspeisen darf:
Um den vor ihm liegenden Wald zu durchqueren, tastet sich ein Blinder Schritt für Schritt mühsam vorwärts. Auf der Gegenseite angekommen hat er einen Weg gefunden, um sein Ziel zu erreichen. So, wie der Blinde gelaufen ist, geht es also – auch. Es paßte; aber nicht wie der Schlüssel zum Schloß, sondern wie einer von 1000 Dietrichen. Dieser Weg war möglich – 999 andere Wege wären es freilich auch gewesen.
Ihr Fehlschluß besteht also in Folgendem:
Natürlich gilt „Wenn A richtig ist, muß Nicht-A als seine Negation falsch sein“; aber um eine solche Logik geht es an dieser Stelle gar nicht:
Bei uns ist A – der Weg des Blinden – keineswegs richtig, sondern lediglich geeignet, um ein davon unabhängiges Ziel B, die andere Seite des Waldes, zu erreichen. Daraus folgt dann nicht, daß andere Wege ungeeignet sein müßten. Was hat ein von A unabhängiges B mit dem Negieren von A zu tun?
Verstehen Sie mein Relativieren der exakten Wissenschaften bitte nicht falsch; das ist keine Ungerechtigkeit; ich bin dankbar und froh, heute hier in Mitteleuropa leben zu dürfen, und genieße die abendländischen Errungenschaften der Moderne. Den meisten von uns geht es zum Glück besser als vielen mittelalterlichen Fürsten. Das betrifft nahezu alle Bereiche unseres Lebens; selbst die relative Anzahl der Menschen, die gewaltsam umkommen, nimmt – allem Augenschein zum Trotz – wohl stetig ab (Thomas Piketty, „Eine kurze Geschichte der Gleichheit“).
Das entspricht dem Wie unseres Lebens.
Ich habe in diesem letzten Satz ganz bewußt kein einschränkendes „aber“ bzw. “ jedoch nur“ eingefügt, weil derartige Ermahnungen meiner Überzeugung zutiefst widersprechen würden. Wir wollen und – dürfen nicht nur, sondern – sollen das Leben genießen. Der Sinn des Lebens besteht in seiner eigenen Fülle oder Tiefe; das Leben ist letzte Wirklichkeit, Selbstzweck und kein bloßes Mittel – wofür auch immer.
Es geht „nur“ – im Sinne von „allein“ – um unser Leben, weil letzteres unüberbietbar ist!
Das bezieht sich keineswegs bloß auf ein „Jenseits“, sondern beginnt – wenn wir diesen unseligen Dualismus vorerst einmal beibehalten – im „Diesseits“.
Wir sollten Theodor Adornos Bonmot „Es gibt kein wahres Leben im falschen“ durch den Hinweis ergänzen, daß es aber sehr wichtig wäre, sich trotzdem darum zu bemühen.
(Ich möchte mich nicht mit fremden Federn schmücken und gebe daher gerne Texte anderer Autoren, die mir spontan in den Sinn kommen, wieder. Mir geht es dabei aber nur um den Inhalt, den das „Zitat“ verdeutlichen soll und nicht um seine „wissenschaftliche Exaktheit“. Ich „zitiere“ zumeist aus dem Kopf, weil mich das Suchen nach den Quellen langweilt.)
Das „Diesseits“ ist weder Prüfungs- noch Bewährungsort und dürfte auch kein Jammertal sein, denn die Lust am Leben bildet nach meinem Dafürhalten das ent- sowie unterscheidend Christliche. Jesus wurde bekanntlich unter anderem auch vorgeworfen, er sei ein „Säufer und Fresser“.
Der katholische Dominikaner-Theologe Marie-Dominique Chenu sagte zu Maria Caterina Jacobelli, der Autorin von „Ostergelächter. Sexualität und Lust im Raum des Heiligen“:
„Sprechen Sie niemals von der Freude, Madame, sprechen Sie immer von der Lust, sonst wird man Sie spiritualistisch mißverstehen“ (wollen).
Trotz dieser positiven Wertung von Lust und Genuß ist das freilich – jetzt kommt das bereits befürchtete „aber nur“ also doch noch – lediglich die halbe Wahrheit, denn es gibt neben dem Wie des Lebens auch sein Wozu, seinen Inhalt oder Sinn.
Viktor E. Frankl – der „dritte Wiener Psychotherapeut“ – faßte seine Lebenserfahrungen in dem Leitsatz der Logotherapie zusammen, daß „wer ein Wozu zum Leben besitzt, nahezu jedes Wie erträgt“. Aus seinem Munde hat eine solche Überzeugung für mich Gewicht, denn Frankl überlebte Dachau sowie Auschwitz, wo sein Bruder, seine Frau und Eltern ermordet wurden.
Selbstverständlich können wir das Wozu unseres Lebens – seine mögliche Fülle also – völlig ignorieren und mit ungezügeltem Prassen, seichter Unterhaltung bzw. langweiligem Zeitvertreib oder Nicht-Denken in seinem Wie aufgehen.
Aber dieses Wie ist doch nichts anderes als der Status quo unseres Lebens auf dem Weg zu seiner Erfüllung oder Fülle, seinem Wozu oder Telos; das Wie ist also weder sekundär noch vermeidbar, sondern notwendig. Ein Wozu des Lebens ohne Wie würde erfordern, daß ersteres fertig vom Himmel fiele.
Ich bleibe also – mit der Tradition – dabei, zwischen dem Wie und Wozu des Lebens zu unterscheiden, weigere mich aber – entgegen der Tradition –, die beiden voneinander zu trennen oder gar gegeneinander auszuspielen:
Das Wie des Lebens ist – als der Status quo des letzteren – die notwendige Voraussetzung seines eigenen Wozu, der Fülle des Lebens; ohne Wie kein Wozu; ohne Status quo kein Telos.
In unserem Buch geht es also um beides; deswegen mein obiges Plädoyer für Lust und Genuß. Wer das Leben will oder wem es gar – Schiller zum Trotz – als „der Güter höchstes“ gilt, kann das Wie nur als ein Durchgangsstadium des Lebens auf dem Weg zu seinem Wozu verstehen.
AD: „‚Letzteres würde ohne ein Wie erfordern‘, sagten Sie, ‚daß es einfach so vom Himmel fiele‘. Na und? Dann fällt es eben.“
Sie haben Recht; wir sehen bisher nichts, was dagegen sprechen sollte. Die Erfüllung des Lebens könnte theoretisch bereits von Anfang an bestehen, so daß wir direkt in sie hineingeboren und der unglückliche Status quo, das unbefriedigende Wie oder das falsche Leben im falschen entfallen würden.
Wir haben, mit anderen Worten, vorerst keine befriedigende Antwort auf die Frage, warum wir Menschen nicht von Anfang an in der Vollendung, dem Paradies oder Reich Gottes leben.
Auf der einen Seite liegt hier offensichtlich ein brennendes Problem vor: Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, daß die Moderne wesentlich durch den Glauben mitbestimmt wurde, die Fülle des Lebens für alle zukünftigen Menschen innergeschichtlich verwirklichen zu wollen und zu können; entweder als Kapitalismus oder als Sozialismus.
Auf der anderen Seite kommen selbst von den Christen, denen diese Frage doch auf den Nägeln brennen müßte, diesbezüglich kaum konstruktive Antworten. Die allermeisten von ihnen sehen sogar in ihrem Nicht-Wissen nicht nur keinen Mangel, sondern geradezu einen Gradmesser demütig-ergebener Rechtgläubigkeit:
„Gottes Gedanken sind nicht unsere Gedanken; . . .“
Mit einer solchen „Logik“ kann ich absolut nichts anfangen; sie ist mir furchtbar zuwider.
Da das Denken im Suchen nach Wahrheit oder Richtigkeit besteht, über die Gott immer schon verfügt, kann er nicht denken und somit auch keinerlei Gedanken besitzen. Denn andernfalls müßte er doch nach etwas suchen, was er selbst ist oder zumindest hat; er wäre ein Alzheimer-Gott, so daß der „rechtgläubige“ Gedanke von soeben meines Erachtens hinfällig wird.
Mir geht es nicht um fromme Floskeln, sondern um begründbare Aussagen; Christen sollten offen Rechenschaft über ihren Glauben ablegen können und keine Angst vor kritischen Rückfragen haben müssen.
Aber abgesehen von solchen Nebenkriegsschauplätzen schlage ich vor, dieses Problem ganz anders anzugehen:
Bei wichtigen alltäglichen oder wissenschaftlichen Fragen kommt kaum jemand auf den Gedanken, sich mit der Antwort „prinzipiell unlösbar“ abzufinden und sie vielleicht sogar noch durch ein „genau so sollte es aber doch auch sein“ zu adeln. Läßt sich beispielsweise die Periheldrehung des Merkur mit Newton nicht erklären , liegt das nicht daran, daß Gottes (Schöpfungs-)“Gedanken“ nicht unsere Gedanken sind.
Wir bleiben nicht bei solchem frommen Geschwafel stehen, sondern suchen nach vernünftigen Antworten; in unserem Beispiel gelang Einstein mit seiner Allgemeinen Relativitätstheorie bekanntlich der Durchbruch.
Weshalb sollten wir in Philosophie oder Theologie anders vorgehen als in der Physik – und in jedem kritischen Weiterdenken empört einen Häresieverdacht vermuten oder eine Gotteslästerung wittern?
Mir schwebt eine dogmenfreie Theologie vor, die die Dogmen nicht ignoriert oder gar leugnet, sondern in der sie keine – als willkürlich erscheinenden – Dogmen mehr sind, über die Nicht-Christen nur verwundert den Kopf schütteln können. Vielmehr müßten die Dogmen als verständliche und möglichst sogar selbstverständliche Resultate aus einem eo ipso begründeten und damit nachvollziehbaren Denken hervorgehen.
Wir werden auf einige Fälle zu sprechen kommen, an denen zumindest deutlich wird,
– wie ich das genau meine und
– daß dieses Ziel nicht illusorisch sein muß.
Zwei Beispiele ergaben sich bereits:
Daß der Glaube Berge versetzen kann, ist einfach Nonsens, solange wir (an) eine objektive Realität glauben.
„Dein Glaube hat dir geholfen“ stellt eine Tautologie dar – wenn denn geholfen wurde.
AD: „Ihre dogmenfreie Theologie scheint mir unmöglich zu sein:
Nach christlichem Verständnis kann die Offenbarung der Vernunft zwar nicht widersprechen, jedoch auch nicht mit ihrer Hilfe abgeleitet werden. Damit wird aber jede Theologie ohne Dogmen hinfällig, denn letztere müßten darin vernünftig begründet werden.“
Ich stimme Ihrer Erläuterung zu, teile aber die Schlußfolgerung nicht:
Die Offenbarung besteht nach christlichem Verständnis in der Selbstmitteilung Gottes – durch seine Menschwerdung – und nicht in Dogmen. Letztere sind reines Menschenwerk, können also bestenfalls vernünftig sein, sollten es aber möglichst auch – und schon hätten wir meine dogmenfreie Theologie.
1.3. Gesamtkonzept
Ludwig Wittgenstein sagte des öfteren:
„Es gibt das, was sich sagen läßt, und das, was sich zeigt.“
Ersteres sind (in unseren Worten) die Denkungen, letzteres deutet auf die Phänomene hin.
Sie sind aber nicht das, was sich zeigt, sondern das Sich-Zeigen selbst.
Für die Phänomenologie, eine philosophische Schule die im ausgehenden 19. Jahrhundert von Edmund Husserl begründet wurde, ist dieser Unterschied fundamental; für uns natürlich auch:
Das, was sich zeigt, sind die Seienden; mit einem solchen Verständnis würden wir also lediglich das traditionelle Denken fortsetzen und nicht überwinden.
En passant habe ich jetzt das unübliche Wort „Denkungen“ benutzt; es ist zwar synonym mit „Gedanken“, wir brauchen es aber trotzdem, um eine möglichst einheitliche Darstellungsweise entwickeln zu können.
Wortpaare wie „Wahrnehmungen – Wahrgenommene“ oder „Vorstellungen – Vorgestellte“ besitzen bei uns eine sehr exakte Bedeutung. Diese konsistente Systematik möchte ich um „Denkungen – Gedachte“, „Wissungen – Gewußte“, . . . und so fort erweitern. Meine Wortbildungen erinnern vielleicht ein wenig an Martin Heidegger, erfolgen aber relativ zwingend und unabhängig von ihm.
Der zweite Grund ist ein grammatischer: Wissung gestattet nicht nur eine Pluralbildung, sondern weist auch – anders als Wissen – eindeutig auf seine substantivische oder nicht-verbale Bedeutung hin.
Am wichtigsten ist jedoch das Inhaltliche:
Bei Wissen assoziieren wir, nahezu ohne es vermeiden zu können, ein Wovon oder einen Referenten in der Wirklichkeit. Wir wissen, wann die materielle Erde entstand, wer der tatsächliche Goethe war oder was ein richtiger Fliegenpilz ist, und springen mit diesem Wovon bzw. Referenten vom Wissen in die angeblich gewußte Wirklichkeit.
Dieser Sprung ist uns nicht möglich; es gibt keine gewußte Wirklichkeit und damit auch weder ein Wovon noch Referenten des Wissens.
Von der wichtigen phänomenologischen Korrektur an Wittgenstein abgesehen hat mich seine Gegenüberstellung von Anfang an nicht mehr losgelassen. Er sah im Verhältnis zwischen Denkungen und Phänomenen oder in der Frage nach ihrer Vermittlung möglicherweise das Grundproblem der Philosophie überhaupt.
Wir schließen uns dieser Sichtweise an und betrachten deshalb Denkungen sowie Phänomene als die beiden Fundamente unseres Ansatzes.
Phänomene | Denkungen | Objekte | Seiende / Nicht-Seiende | ||
wirklich | gewußt | ||||
ja | ja | Wahrnehmungen | wirklich | gewußt | gewußte Seiende |
ja | nein | Phänomene | wirklich | ungewußt | ungewußte Seiende |
nein | ja | Denkungen | unwirklich | gewußt | gewußte Nicht-Seiende |
nein | nein | Vorstellungen | unwirklich | ungewußt | ungewußte Nicht-Seiende |
Abbildung 1.2.-1
Die vier möglichen Kombinationen aus Phänomenen und Denkungen bilden die Objekte; sie entsprechen dem aktual Gegebenen. Falls ein Jetzt existiert – was bei Babys und Tieren ausgeschlossen ist –, fällt die Aktualität der Objekte mit ihm zusammen.
Wissungen sind diejenigen Objekte, die Denkungen enthalten; also diese selbst und die Wahrnehmungen.
Phänomene und Vorstellungen müssen Nicht-Wissungen sein, weil sie rein subjektiv sind. Wittgenstein drückt diese Erkenntnis deshalb auch in der Form aus, daß keine Privatsprachen existieren (können).
Unsere Vierer-Gruppe ist idealtypisch zu verstehen; natürlich können
– die Wahrnehmungen kontinuierlich in die Phänomene und
– die Denkungen kontinuierlich in die Vorstellungen übergehen,
wenn die Denkung an Gewicht verliert.
Innerhalb der Wissungen bzw. Nicht-Wissungen bestehen keine entsprechenden Übergänge, weil das Sich-Zeigen
– der Wirklichkeit entspricht und somit
– nicht bei uns liegt oder unverfügbar ist.
Nun können wir den obigen Gedankengang wieder aufnehmen:
„Dieser Sprung ist uns nicht möglich; es gibt keine gewußte Wirklichkeit und damit auch weder ein Wovon noch Referenten des Wissens.“
Warum nicht?
Eine gewußte Wirklichkeit muß
– an sich – das heißt, vollkommen unabhängig von ihrem Gewußt-Werden – vorhanden sein oder existieren, und
– zusätzlich bzw. vollkommen unabhängig davon auch noch gewußt werden.
Fehlt eine dieser beiden Bedingungen, handelt es sich nicht um eine gewußte Wirklichkeit.
Sie läßt sich also nur nach dem Modell der traditionellen Seienden denken; oder wohl besser formuliert:
Die Tradition erhebt den Anspruch, die Wirklichkeit wissen zu wollen – und zu können.
Wir verzichten auf ihn.
Wirklich bzw. unwirklich und gewußt resp. ungewußt zu sein, sind Eigenschaften von Objekten; ihre möglichen Kombinationen entsprechen genau unserer Vierer-Gruppe.
Dann sind die Wahrnehmungen jedoch
– keine gewußte Wirklichkeit oder
– kein Wissen von der Wirklichkeit, sondern
– Objekte, die zugleich gewußt und wirklich sind.
Der Systematik halber vervollständigen wir:
Als das Sich-Zeigen sind die Phäomene wirklich, aber rein subjektiv und damit ungewußt.
Bei den Denkungen verhält es sich umgekehrt; sie werden gewußt, bleiben jedoch als unsere verfügbaren Produkte unwirklich; wir können keine Wirklichkeit hervorbringen oder schaffen.
Wegen ihrer reinen Subjektivität und Willkür sind die Vorstellungen natürlich ungewußt und unwirklich.
In der letzten Spalte der Abbildung habe ich die traditionellen Pendants zu unseren Objekten eingetragen.
Gegen die gewußten Seienden selbst gibt es meines Erachtens rein logisch nichts einzuwenden; sie sind – wie unsere Wahrnehmungen – „zugleich gewußt und wirklich“.
Aber konsistent denken können wir sie trotzdem nur, wenn es auch
– Nicht-Seiende sowie
– (noch) ungewußte Seiende
gibt. Die scheinen mir jedoch beide logisch widersprüchlich zu sein.
Nicht-Seiende stellt einen Unbegriff dar. Wie soll man etwas erkennen, was gar nicht ist?
„Natürlich“ gibt es keine Einhörner; aber was ist mit den Zwei-, Drei- oder Vierhörnern? „Jeder weiß“, daß Osterhasen nicht existieren; haben Sie jedoch schon einmal über Weihnachts-, Pfingst- oder Geburtstagshasen nachgedacht? Marsmenschen sind „offensichtlich“ Quatsch, aber Venus-, Merkur- bzw. Saturnmenschen . . .
„Ich weiß, was es nicht gibt.“
Um die ungewußten Seienden steht es nicht besser; schon zwei von ihnen genügen, um das einzusehen:
Traditionell Denkender: „Es gibt das Seiende A und das Seiende B; leider wissen wir beide (noch) nicht.“
Woher wollen Sie dann wissen, daß sich die zwei Seienden unterscheiden?
Oder anders formuliert:
Das Unterscheiden ist möglicherweise selbst ein Wissen, setzt dieses aber mit Sicherheit zumindest voraus, so daß wir innerhalb des Ungewußten prinzipiell keine Unterscheidungen treffen können.
AD: „Das hätte ich nicht erwartet:
Ohne alle Wissungen oder innerhalb des reinen Ungewußten gibt es nur – dieses Ungewußte. Jede andere Annahme macht notwendigerweise einen Unterschied, der
– nicht nur keinen Unterschied macht, sondern
– sich sogar als widersprüchlich erweist.“
Das Kunstwort „Denkungen“ haben wir für „Gedanken“ eingeführt; wahrscheinlich hätten Sie in diesem Zusammenhang eher mit den Begriffen gerechnet, die überhaupt noch nicht aufgetreten sind.
Hinter den Phänomenen steht nichts, was uns interessieren müßte, aber
hinter den Denkungen steht die Einheit der Begriffe.
Einzelne Begriffe – wie die Elemente einer Menge – gibt es gar nicht; sie existieren nur als Einheit, in der jeder Begriff mit jedem anderen zusammen- und von ihm abhängt. Diese Gesamtheit bildet den Horizont, der die Denkungen ermöglicht.
Der Horizont tritt niemals als solcher in Erscheinung, sondern ist nur in seinen Denkungen.
(Das entspricht dem Denken der Struktur bei Heinrich Rombach; sie ist nur in ihren Momenten.)
Der Horizont aktualisiert sich in seinen Denkungen, und diese können für eine bestimmte Dauer näherungsweise wiederholt werden. Das ist unbedingt notwendig, denn andernfalls – das heißt, ohne hinreichend stabile Denkungen – wären
– Wissungen unmöglich und
– Denkungen sinnlos.
Der Horizont muß also zeitlich über die Aktualität des Jetzt hinausreichen. Diese Dauer besteht per definitionem in der Gegenwart; innerhalb von ihr können die Denkungen wiederholt – aus dem Horizont als ihrer Ermöglichung wieder ge-holt – werden.
1.3.1. Objekte
Wir fassen das bisher zum Thema Gesagte zusammen und ergänzen zugleich ein wenig.
Unsere vier Arten von Objekten sind alle aktual oder gegebenenfalls jetzt, befinden sich in der Psyche und die beiden grund-legenden können etwa folgendermaßen charakterisiert werden:
Die Phänomene
– sind ein Sich-Zeigen und damit
– wirklich,
– können jedoch nicht gesagt und folglich
– auch nicht gewußt werden, sondern
– sind „nur“ bewußt und
– tragen möglicherweise nichtssagende Eigennamen. Sie
– stellen ein Kontinuum dar,
– bilden die Leibhaftigkeit des Lebens und
– ereignen sich in der vergehenden Zeit,
– von der die stehende Zeit lediglich ein asymptotischer Spezialfall ist.
Die Denkungen
– können gesagt und damit
– auch gewußt werden,
– sind aber kein Sich-Zeigen und folglich
– unwirklich. Sie
– tragen aussagekräftige Bezeichnungen,
– sind diskret,
– bilden jedoch lediglich die Reflexion des Lebens und
– werden in der aufhebenden Zeit oder Diachronie generiert,
– von der die Synchronie lediglich einen asymptotischen Spezialfall bildet.
Im Sich-Zeigen fassen wir das Entstehen, Sich-Ändern sowie Vergehen der Phänomene zusammen, und die Sphäre, in er das alles geschieht, besteht in der vergehenden Zeit. Wenn einmal nichts variiert, scheint sie stillzustehen; das ist dann die stehende Zeit, die nichts Besonderes darstellt, sondern lediglich den asmptotischen Grenzfall des Vergehens mit dem Wert 0 bildet.
Als Sphäre der prinzipiell unwißbaren oder immer „nur“ bewußten Phänomene können wir natürlich auch die vergehende Zeit nicht wissen; es besteht insbesondere keinerlei Zusammenhang mit dem üblichen t-Pfeil der Physiker. Sie ist vielmehr die Zeit, in der sich die Leibhaftigkeit unseres Lebens abspielt; in der wir, Babys und Tiere älter werden – vollkommen unabhängig von jeder Reflexion.
Auch der Horizont sowie die von ihm ermöglichten Denkungen fallen nicht vom Himmel, sondern müssen entstehen und vergehen; dazwischen können sie variieren. Während wir diesbezüglich bei den Phänomenen von Änderungen gesprochen haben, handelt es sich nun per definitionem um Anderungen.
Die Phänomene sind ein Sich-Zeigen, und der Horizont wird generiert; darin fassen wir also sein Entstehen, Sich-Andern sowie Vergehen zusammen.
Diese Genese des Horizonts erfolgt – nicht in der vergehenden, sondern – in der aufhebenden Zeit, die wir auch „Diachronie“ nennen. Besitzt die Variation den Wert 0, so geht die Diachronie in die Synchronie als ihren asymptotischen Grenzfall über.
Phänomene | Horizont | |||
↓ | ↓ | |||
Phänomene | Denkungen | |||
= | ||||
Sich-Zeigen | werden generiert | |||
= |
= | |||
– entstehen | – entstehen | |||
– sich ändern | – sich andern | |||
– vergehen | – vergehen | |||
Variation 0: | Variation 0: | |||
vergehende Zeit | stehende Zeit | aufhebende Zeit | ||
Diachronie | Synchronie |
Abbildung 1.3.1.-1
Um die Vorstellungen müssen wir uns kaum kümmern, da sie weitgehenst willkürlich sind und „alles“ vorgestellt werden kann. Damit will ich keineswegs sagen, sie seien unwichtig; natürlich nicht; ohne Vorstellungen könnten wir gar nichts intendieren oder gezielt tun.
Aber aufgrund ihrer Beliebigkeit helfen sie bei unserer Frage nach der Wirklichkeit kaum weiter.
Verbleiben noch die Wahrnehmungen; sie bilden gewiß die kompliziertesten Objekte, und um sie zu verstehen, müssen wir etwas weiter ausholen.
Daß wir mit der Postmoderne die – Existenz der – traditionellen Seienden bestreiten, hat unmittelbar zwei wichtige Konsequenzen:
Zum einen fällt alles Wahrgenommene bzw. Wahrnehmbare weg, so daß es weder Sub- noch Objekte gibt.
Und zum anderen existieren auch keine Wahrnehmenden mehr; das waren traditionell die Subjekte.
AD: „Und damit entfallen natürlich auch die Wahrnehmungen.“
Nein; dieser Schluß wäre ein Denkfehler:
Wenn wir den traditionellen Ansatz ablehnen, sind für uns natürlich auch die sich aus ihm ergebenden logischen Konsequenzen hinfällig.
An unseren Wahrnehmungen ändert sich doch absolut nichts, wenn wir eine spezielle Erklärung ihres Entstehens für falsch halten.
Die „postmodernen“ Wahrnehmungen
– stimmen – vom faktischen Gegeben-Sein her – nicht nur 100%-ig mit den „traditionellen“ überein, sondern
– bilden zugleich den einzig möglichen Ausgangspunkt für die Frage nach ihrem Zustandekommen.
Wir haben nichts Ursprünglicheres als unsere Wahrnehmungen; natürlich liegt ihre Entstehung
– „hinter“ ihnen, aber auch
– nicht „vor“ uns (ausgebreitet).
Traditionell werden die Wahrnehmungen als die Wirkung der Wahrgenommenen auf den Wahrnehmenden verstanden.
Wir streichen beide; nicht aus Dumdideldei, sondern weil sich ein solches Procedere prinzipiell nicht verstehen läßt. Wir können doch unmöglich hinter die Wahrnehmungen schauen, wenn sie das Erste (und Einzige) bilden, was uns gegeben ist. Wie sie zustandekommen, führt traditionell auf eine absolut unbeantwortbare Frage, weil sie einer Gleichung mit zwei Unbekannten entspricht:
Die Summe von x (Wahrgenommene) und y (Wahrnehmende) ist 100 (Wahrnehmungen); wie lauten die beiden Zahlen?
Begriffe sind Denkwerkzeuge; erzeugen sie unlösbare Probleme, handelt es sich – zumindest für die anstehende Aufgabe – also um ungeeignetes Werkzeug, und wir müssen es mit anderem versuchen.
AD: „Dann läßt sich das Zustandekommen von Wahrnehmungen niemals verstehen, denn zwei ‚Komponenten‘ – x und y – sind ja mindestens erforderlich; mit einer läßt sich nichts erklären.“
Stimmt; die beiden Seiten der traditionellen Beschreibung – Wahrgenommene und Wahrnehmende –
– befinden sich außerhalb unserer Psyche und
– konstituieren dort angeblich etwas, was sich als Wahrnehmung darin befindet.
Da kann man freilich viel (Widerspruchsfreies) erzählen . . .
Aber nichts davon stimmt, denn allein der Ansatz, außerhalb der Psyche zwei Entitäten unterscheiden zu wollen, ist unseren obigen Überlegungen zufolge widersprüchlich:
Wir haben in 1.3. gesehen, daß es unmöglich ist, im Ungewußten – also außerhalb der Psyche – A von B zu unterscheiden. Bezeichnen wir dieses Außerhalb mit „A“, kann es in ihm also kein davon verschiedenes B geben.
Sauber denken läßt sich folglich nur:
Das Außerhalb der Psyche ist das Außerhalb der Psyche oder was auch immer, aber
es befindet sich nichts darin.
Wir konkretisieren:
Unsere Wahrnehmungen in der Psyche benötigen eine Ursache.
Sie besteht – nicht in irgendeinem Geschehen im Außerhalb der Psyche, sondern – in diesem (gesamten) Außerhalb.
Wir sprechen deshalb der Deutlichkeit halber beim Außerhalb der Psyche auch vom Input oder Außen-Input. Daß er prinzipiell nicht gewußt werden kann, müßte ich wohl kaum nochmals erwähnen.
Damit haben wir unser x; aus den vielen – und damit widersprüchlichen – Wahrgenommenen im Außen ist das eine widerspruchsfreie Außen selbst geworden.
Mit einer „Komponente“ läßt sich jedoch nichts erklären, haben Sie richtig gesehen; woher nehmen wir die zweite?
Klar ist nur, daß sie sich nicht außerhalb der Psyche befinden kann.
Innerhalb aber ebenfalls nicht, denn dort sind (in unserer momentanen Hinsicht) nur die Objekte, deren Entstehung ja gerade erst erklärt werden soll.
Wir benötigen also noch einen dritten „Ort“ und wählen dazu das Unbewußte.
Das läßt sich vielleicht am besten als eine Erweiterung der Psyche um das Unbewußte zum Bewußtsein verstehen.
Psyche → Bewußtsein = Psyche + Unbewußtes
Die Psyche ist mit ihren Objekten an die Aktualität (des Jetzt) gebunden, während das Unbewußte der Gegenwart entspricht und damit das Jetzt möglicherweise weit überdauert. Es enthält oder umfaßt
– sowohl den Horizont als die Einheit der Begriffe
– wie auch unser Wirklichkeitsbild.
Jener wird in den Wissungen – Denkungen sowie Wahrnehmungen – aktualisiert, während
wir Bruchstücke des Wirklichkeitsbilds in unseren Vorstellungen vor Augen haben können.
AD: „Das gefällt mir nicht, weil es eine ziemlich unehrliche Konstruktion darstellt:
Sie erfinden ein Unbewußtes,
– behaupten, es gehöre zu einem ominösen Bewußtsein, tatsächlich aber
– zählt es zum Außerhalb der Psyche, wo es niemals sein dürfte.“
Ich habe diesen Einwand erwartet, freue mich aber über Ihre Aufmerksamkeit!
Mir ist klar, daß meine Antwort zu pauschal ist, und ich bitte darum, sie nicht auf die Goldwaage zu legen. Der entscheidende Punkt soll deutlich werden, und dafür bin ich bereit, ihn zu überzeichnen.
Die Tradition kennt nur die vergehende Zeit und betrachtet sie von zwei Seiten her:
Die materiellen Seienden verändern sich in oder mit ihr; das gilt natürlich auch für unseren Körper, der ihnen angehört.
Zusätzlich bilden wir diese Änderungen in unserer – als zeitlos vorgestellten – Psyche ab.
Ein anschauliches Bild für uns Subjekte – als Einheit von Körper und Psyche – liefert die Filmkamera, die auf Schienen neben der Szene entlangfährt.
Unsere Psyche macht Momentaufnahmen von der aktualen Situation der materiellen Seienden – aber mehr existiert ja auch gar nicht. Physikalisch gesprochen besitzt der Kosmos einen Ist- oder Jetzt-Zustand; seine früheren Konstellationen sind nicht mehr und seine späteren noch nicht. Die vierdimensionale Raum-Zeit ist nur dreidimensional im Jetzt gefüllt.
Das traditionelle Denken ist dasjenige der klassischen Physik und kennt keinerlei Dauer.
Deswegen ist es nicht nur lebensfremd, sondern sogar lebensfeindlich, denn ohne Dauer ist Leben ausgeschlossen. Wir kommen im Abschnitt 1.3.3. ausführlich auf diese Thematik zurück; einstweilen genügt uns die Einsicht, daß sämtliche Wissungen im weitesten Sinne an Dauer gebunden sind – eben solange wir sie wissen.
Das fehlt dem traditionellen Denk-Modell, und deshalb müssen wir im Sinne der obigen Formel die für die Aktualität zuständige Psyche um das Unbewußte erweitern, das der für unser Leben notwendigen Dauer Rechnung trägt.
Wir könnten nicht leben, wüßten wir auf der einen Seite nicht, wo der Kühlschrank steht, getankt werden kann oder sich unser Herz befindet. Auf der anderen Seite denken wir aber nicht ununterbrochen an den Kühlschrank, die Tankstelle oder das Herz.
Es muß also Wissungen geben, die
– (zu) mir gehören, also
– rein subjektiv, aber dennoch
– nicht aktual sind.
Die aktualen Wissungen gehören zu den Objekten und sind somit in der Psyche enthalten.
Die dauernden Wissungen bilden das Unbewußte; wir unterscheiden daran den Horizont sowie das Wirklichkeitsbild, die beide partiell zu Objekten werden können.
Zwischen der Psyche und dem Unbewußten herrscht ein ununterbrochenes Hin und Her; ohne Unbewußtes keine Objekte, und ohne Objekte kein Unbewußtes, so daß das Bewußtsein gar nichts Ominöses, sondern eher ein subjektives Fundament darstellt.
Input-Außen | |||||
↓ | |||||
BEWUßTSEIN | |||||
Psyche | Unbewußtes | ||||
aktual bzw. jetzt | gegenwärtig | ||||
Phänomene | |||||
↓ | |||||
← | Wirklichkeitsbild | ||||
↓ | |||||
Wahrnehmungen | |||||
↓ | |||||
← | Horizont | ||||
↓ | |||||
– Denkungen | |||||
– Vorstellungen | |||||
↓ | ↓ | ↓ | |||
Mir-oder-mich – Träger des Aktes der Freiheit |
|||||
↓ | |||||
Akt der Freiheit – Selbstbestimmung |
→ | |
Selbst | ||
↓ | |||||
Output-Außen |
Abbildung 1.3.1.-2
AD: „Jetzt verstehe ich auch die beiden Zeiten:
Daß nur das Jetzt existiert, bedeutet, daß die Zeit vergeht.
Dauert sie jedoch eine ganze, vielleicht lange Gegenwart, so wird sie aufgehoben.“
Ersteres ist eine Illusion; Georg Picht brachte das sehr schön mit den Worten zum Ausdruck:
„Nichts, was vergangen ist, vergeht.“
Damit haben wir unser Ziel in groben Zügen erreicht und können sagen, wie die Objekte im Prinzip zustande kommen:
Das Input-Außen bewirkt die Phänomene, die durch unser oder in unserem Wirklichkeitsbild zu Wahrnehmungen werden. Der Horizont fügt Denkungen sowie Vorstellungen hinzu, und alle vier Objekte wirken auf uns ein.
AD: „Danke für Ihre Vorlage:
Was meinen Sie mit ‚uns‘? Oder anders gefragt; was charakterisiert die Subjekte, wenn es nicht mehr ihre Fähigkeit sein kann wahrzunehmen – weil es keine Wahrnehmenden gibt?„
Um nicht unnötig durcheinanderzukommen, sollten wir auch hier die Bezeichnung ändern; aus den traditionellen Subjekten werden postmodern die Subjektivitäten, die kaum noch etwas mit jenen zu tun haben.
Wir haben bisher nur über die Objektseite des Bewußtseins gesprochen, das heißt, über das Zusammenspiel der Objekte mit dem Unbewußten.
Aber sowohl traditionell als auch postmodern besitzt die Psyche neben ihrer Objekt- auch eine Subjektseite; für uns besteht letztere in der Subjektivität.
Diese enthält wiederum zwei Teile.
Der erste ist das Mir-oder-mich, das als Träger (des Aktes) der Freiheit fungiert. Das hatte ich mit „uns“ gemeint; alle vier Objektarten wirken auf das Mir-oder-mich ein.
Den zweiten Teil der Subjektivität bildet der Akt der Freiheit, den wir als Selbstbestimmung verstehen. Er kann aber nicht nur zu einem Selbst führen, sondern muß sich auch außerhalb des Bewußtseins auswirken.
Wie er das tut, können wir nicht wissen; das ist das Output-Außen.
AD: „Ich verstehe; zwei Außen sind möglich, weil wir sie an ihrem Bezug zum Bewußtsein unterscheiden können.“
1.4. "Methode"
Unsere „Methode“ ist so denkbar einfach, daß ich den Titel mit Anführungszeichen versehen habe. Wir versuchen lediglich konsequent, Kants „sapere aude“ zu befolgen:
„Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen“ und dabei auch gegen scheinbare Selbstverständlichkeiten der Zeit anzudenken, wenn Du sie vor Deiner Vernunft nicht rechtfertigen kannst. Plappere nicht einfach leere Begriffshülsen nach, nur weil man – in Deiner Kommunität – so redet, sondern „versuche zu verstehen, was Du selbst sagst“.
In diesem Bemühen sah Georg Picht den Sinn des Philosophierens.
Ich glaube nicht an die eine objektive Vernunft, die der traditionellen Moderne zufolge für alle Menschen die gleiche – und womöglich auch noch „die bestverteilte Sache der Welt“ (René Descartes) – sein soll.
An ihre Stelle tritt meines Erachtens unsere subjektive Vernunft, die auf den eigenen Lebenserfahrungen beruht. Ein objektiverer oder „höherer“ – vielleicht gar absoluter – Maßstab ist uns nicht zugänglich, denn wir sind Menschen, die stets an ihr singuläres Hier und Jetzt gebunden bleiben – ohne Kontakt zu einem angeblichen „Weltgeist“ (Hegel), „transzendentalem Subjekt“ (Kant) oder ähnlichem.
Diese subjektive Vernunft kommt nicht zuletzt auch in den „Wahrheitspraktiken“ (Michael Hampe) zum Ausdruck, die für alle Bereiche unseres Lebens bestehen und häufig deutlich zeigen, was wir in der betreffenden Sphäre intersubjektiv als richtig anerkennen sollten. In der Mathematik zum Beispiel betrifft das die Ableitungen aus den Axiomen, vor Gericht die Zeugenaussagen und im Alltag das Wort eines Freundes.
Die Tradition geht im Sinne einer objektiven Vernunft davon aus, daß – gemäß unserem Bild mit dem Blinden – der eine richtige Weg durch den Wald existiert.
Bis zum Mittelalter kannten ihn zumeist nur die jeweiligen Autoritäten; sie galten als Garanten der Wahrheit, so daß diese ihnen einfach geglaubt werden mußte. Die Aufklärung wandte sich mit Recht gegen ein solch naives Nicht-Denken und animierte jeden gesunden Erwachsenen, „sich aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien“ (Kant), um selbst erkennen, verstehen, argumentieren sowie glauben zu können.
Der aufklärerisch-moderne Traum von einer fundamentalen Wahrheitstheorie für möglichst alle Bereiche sollte zur intersubjektiven Übereinstimmung führen und damit helfen, sinnlose Konflikte wie die Religionskriege des 17. Jahrhunderts in Zukunft zu vermeiden. Diese Hoffnung erwies sich jedoch als überzogen und wird von der Postmoderne nicht mehr geteilt. Sie verbleibt bei den 1000 funktionierenden Wegen, Dietrichen oder Wahrheitspraktiken, und jeder von uns steht vor der Aufgabe, die seinigen zu finden.
Die Aufklärung besitzt also zwei Aspekte, die wir deutlich auseinanderhalten müssen:
(1) Natürlich hat Kant Recht mit seinem Aufruf, die Verantwortung stets als unsere eigene anzuerkennen. Das betrifft nicht nur alles Tun oder Sprechen, sondern gilt auch für unser Denken, Glauben und Wissen. Wer die Bestimmung hierüber anderen anvertraut, entmündigt sich selbst und scheidet damit als ernstzunehmender Gesprächspartner aus.
Reinhard Kreissl fragt in seinem Buchtitel spitz: „Wo lassen Sie denken?“
Ich wollte es vor der Wende nicht in Ost-Berlin oder Moskau, will es aber auch heute weder in Rom bzw. Riad noch im Silicon Valley.
Besonders bei weltanschaulich-religiösen Fragen, die schwerlich durch Erfahrungen entschieden werden können, ist das eigene Denken überaus wichtig. Der Verzicht auf letzteres entspricht sonst dem Freifahrtschein, jede willkürliche (widerspruchsfreie) Aussage – und natürlich auch ihr glattes Gegenteil – behaupten zu können, weil eine Überprüfung ausgeschlossen ist.
Wegen eines solchen Fehlens der Falsifizierbarkeit wurden beispielsweise viele Schulen der Tiefenpsychologie von ihren Gegnern nicht als seriös oder gar „wissenschaftlich“ anerkannt. Das gilt natürlich auch für jede Theologie, die sich auf fromme Formulierungen, blinden Glauben, bloße Textstellen oder andere unbegründbare Äußerungen beruft.
(2) Aber da wir „nur“ über eine subjektive Vernunft bzw. Wahrheitstheorie verfügen, bleibt unser eigenes Denken natürlich individuell und wird somit niemals zu den ursprünglich von der Aufklärung erhofften objektiv-einheitlichen Ergebnissen führen.
Das Denken setzt unter anderem voraus, sich im Streitgespräch „dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Jürgen Habermas) zu beugen. Das bringt beide Seiten weiter; unabhängig davon, welcher von ihnen dieses Argument entstammt. Der damit einhergehende Verzicht auf willkürlich-beliebige Meinungen bringt zugleich einen Gewinn an Freiheit mit sich, denn letztere besteht
– nicht im Umfang des wählbaren, wenn auch noch so dummen Angebots, sondern
– in der Möglichkeit einer gerechtfertigten, weil wohlüberlegten Wahl.
Freiheit bedeutet, mit anderen Worten,
– argumentativ sauber begründen sowie
– daraufhin entscheiden zu können,
und unsere Fähigkeit zu beiden besteht in der Vernunft.
Sie führt zu einem „Müssen“; „ich ‚muß‘ das jetzt zugeben, sagen, tun oder zumindest überdenken“.
Friedrich Nietzsche konnte deswegen formulieren „Ich habe nie eine Wahl gehabt“ und meinte damit, daß stets zwingende Gründe für seine Freiheitsentscheidungen vorlagen. Eine möglichst saubere Begründung und dadurch „erzwungene“ Entscheidung bilden die beiden notwendigen Seiten der Freiheit, von denen es die eine niemals ohne die andere gibt, so daß jegliche „freie Wahl“ entfällt.
„Frei wählen“ können wir zwischen Lamm und Rindfleisch; aber das tun vielleicht auch die Katzen.
Da wir über keinen höheren Maßstab als unsere subjektive Vernunft verfügen, kann es mir auch nicht um eine angeblich aus uns selbst kommende Autonomie gehen. Wir stehen – nur optisch, aber – nicht wirklich auf eigenen Beinen; mit der gleichen Überzeugung wie oben setze ich Kants Zitat also fort:
Ignorare aude; „habe zugleich auch den Mut, Deine Verwundbarkeit, Endlichkeit, Kontingenz, Grenzen usw. anzuerkennen. Du hast Dich nicht selbst hervorgebracht, bleibst damit abhängig, und die Wirklichkeit geht nicht nur über Dich hinaus, sondern ist auch unverfügbar. Deine Selbstbestimmung bedeutet somit keine Autonomie im Sinne von Selbständigkeit, sondern beschränkt sich auf die Dir anvertraute endliche Sphäre der Freiheit.“
Wir bestimmen uns selbst in Freiheit zu dem, der wir dann sein werden; nur so ist ein – mit sich selbst übereinstimmendes, das heißt – kongruentes Selbst möglich. Kein Gott kann das schöpfen; das können wir nur selbst schaffen – aber eben nicht autonom, aus eigener Kraft oder aus uns selbst heraus, sondern allein, weil uns die Freiheit zur Selbstbestimmung geschenkt wird.
Diese Ermöglichung der Freiheit entspricht meines Erachtens der Schöpfung, die traditionell zumeist als ein Machen oder Herstellen von Seienden – insbesondere von uns Subjekten – mißverstanden wird.
Wir können nur mit dem kongruent sein, wozu wir uns selbst bestimmt haben. Ein von Gott geschaffenes „Selbst“ wäre als ein fremdbestimmtes „Selbst“ kein Selbst; es müßte etwas sein, was es vielleicht gar nicht sein will und wozu es sich niemals selbst bestimmt hätte; dann ist dieses „Selbst“ jedoch nicht mit sich kongruent.
Beide Aussagen zusammengenommen – Kants Zitat und seine Fortsetzung durch uns – bedeuten, daß uns eine Freiheit auszeichnet, die wir einem oder einer Ganz-Anderen verdanken.
Die „Atheisten“ lehnen dieses Ganz-Andere häufig aus guten Gründen ab, weil sie eine hinterwäldlerische Vorstellung davon haben, zu der ich ebenfalls nur „nein“ sagen könnte.
Viele „Rechtgläubige“ wissen dagegen nicht nur genau, daß das Andere existiert, sondern kennen es auch sehr gut und können uns viel darüber erzählen; zum Beispiel, daß es „der Andere“ heißen muß.
Völlig unabhängig von derartigen konkreten Inhalten glaube ich das jedoch ebenfalls nicht; es gibt kein Wissen von dem oder der Anderen. Wir bemühen uns deshalb um einen Mittelweg zwischen Skylla und Charybdis, der aus dem Ziel resultiert, das Ganz-Andere zugleich
– sowohl in seiner unbedingten Notwendigkeit – als Ursprung des Lebens –
– wie auch als absolutes Geheimnis
deutlich werden zu lassen.
Nichtsdestotrotz ist dieses Buch ein rein philosophisches – auch wenn Gott darin eine wesentliche Rolle zukommt. Es ist freilich nicht der traditionelle (Lückenbüßer-)Gott, mit dem wir aufgrund seiner angeblichen Allmacht und Allwissenheit sämtliche Probleme lösen und Fragen beantworten können. Mit einem Allmächtigen dieser Art läßt sich denkerisch natürlich gar nichts anfangen:
„Kann Gott einen runden Würfel herstellen?“
„Natürlich; was fragst Du überhaupt? Er kann doch alles; daß wir nicht verstehen, wie er das in seiner unendlichen Weisheit macht, liegt an unserer Endlichkeit, in der wir die großartigen Handlungen Gottes niemals erfassen werden. Das betrifft insbesondere auch sein Dulden des Leids in der Welt, die Theodizee-Frage oder den ‚Fels des Atheismus‘ (Georg Büchner). Wir werden in der Ewigkeit einmal sehen, daß Gott alles herrlich für uns gefügt und wahrscheinlich sogar ‚die beste aller möglichen Welten‘ (Leibniz) geschaffen hat.“
Dazu würde ich sagen:
(1) Ein runder Würfel ist logisch widersprüchlich und damit ein Unding, das natürlich auch Gott nicht zu schaffen vermag. Damit haben wir jedoch nicht seine Allmacht widerlegt, sondern lediglich den Bereich vernünftigen Sprechens begrenzt. Es macht keinen Sinn, Gottes Stellung zu Sinnlosem zu erfragen.
(2) Als bedenkenswert erscheint mir dagegen beispielsweise die Frage, ob Gott, der nach christlichem Verständnis selbst die Liebe ist, auch hassen kann oder trotz seiner Allmacht lieben muß? Gilt letzteres, müßte meines Erachtens jede Hölle praktisch ausgeschlossen sein.
(3) Und selbst wenn Gott die beste aller möglichen Welten geschaffen hätte, erhebt sich für mich – angesichts des unvorstellbaren Leids in der Geschichte – die Frage, ob es nicht vielleicht besser gewesen wäre, er hätte ganz auf seine Schöpfung verzichtet, denn viele Menschen sehen das eigentliche Problem nicht in ihrem Tod, sondern in ihrer Geburt.
Natürlich kann uns die subjektive Vernunft nahelegen, bei speziellen Fragen bestimmte Autoritäten anzuerkennen, weil diese ihre Kompetenz auf dem betreffenden Gebiet – wie wir meinen – deutlich nachgewiesen haben. Aber weder kann eine Autorität diesen Anspruch von sich aus erheben oder blindlings unser Vertrauen einfordern, noch delegieren wir damit unsere Verantwortung an sie; es war doch gegebenenfalls unsere Entscheidung, die jeweilige Autorität für uns denken, glauben oder wissen zu lassen.
Diese unübertragbare Verantwortung bildet gemeinsam mit der subjektiven Vernunft den Kern der Menschenwürde; letztere entspricht einer Medaille mit jenen beiden als ihren zwei Seiten. Sprechen wir einem Menschen – durch Indoktrination – seine Verantwortung oder subjektive Vernunft ab, so berauben wir ihn seiner Würde und machen ihn zu einer Marionette an den Fäden unserer Macht.
„Niemand hat das Recht zu gehorchen“ (Hanna Arendt) und sich damit hinter anderen zu verstecken. Es gibt nach der Aufklärung – über die „Aufklärung“ – keine Ausrede mehr. Jean-Paul Sartre mag damit Unrecht haben, daß wir „zur Freiheit verdammt“ seien; aber richtig bleibt hieran, daß auch das „Nicht-Entscheiden-Wollen“ – demzufolge andere für uns denken, glauben oder wissen – ein freies Entscheiden darstellt, für das wir selbst verantwortlich sind.
Die meisten von uns würden bei größeren Geldgeschäften keinem Fremden blind vertrauen, sondern versuchen, sich möglichst selbst kundig zu machen. Ich schließe mich dem 100%-ig an – und ergänze lediglich, daß mir grundlegende existenzielle, religiöse oder weltanschauliche Fragen mitunter noch wichtiger sind als finanzielle.
Schlußendlich nimmt meine „Methode“ die Selbstverständlichkeit ernst, daß wir über Dinge, die uns prinzipiell unzugänglich sind, auch weder sinnvoll nachdenken noch sprechen können. Natürlich läßt sich alles Mögliche vorstellen bzw. behaupten; aber Meinungen bezüglich eines Bereichs, der uns grundsätzlich verborgen bleibt, erweisen sich als unkontrollierbar und damit als willkürlich oder beliebig.
Das bedeutet freilich nicht, daß ein derartiges Gedöns belanglos sei oder keine Konsequenzen hätte. Wäre dem so, könnten wir es generös auf sich beruhen lassen; aber alle politischen, religiösen, wirtschaftlichen oder sonstigen Diktaturen zeigen, daß zwischen diesem und jenem Blablabla ein himmelweiter Unterschied bestehen kann.
Mit dem für uns Unerreichbaren meine ich natürlich keine Tabus, Denkverbote oder von irgendwelchen „Experten“ zu Geheimnissen erklärte Bereiche. Soetwas gibt es für mündige Menschen meines Erachtens nicht; nur Scharlatane, Lügner, Karrieristen oder Despoten benötigen dergleichen.
Damit entzaubere ich die Wirklichkeit nicht; ganz im Gegenteil; sie ist ambig und voller Geheimnisse. Aber worin diese bestehen, vermag uns niemand zu sagen, sondern das können wir nur selbst erfahren, indem wir uns ernstlich um die Aufhellung der Geheimnisse bemühen.
Tun wir das nicht, liegen auch keine Geheimnisse vor, sondern an deren Stelle treten bloße Worte; „Gott“, „Transzendenz“, „Dreifaltigkeit“, „Subjekt“, „Leben“, „Tod“ und „Teufel“ oder „das Böse“ beispielsweise. Wer sagt, sie würden Geheimnisse bezeichnen, mag für sich persönlich Recht haben, kann dies aber nicht wie selbstverständlich auf andere übertragen:
Ein objektives Geheimnis ist ein Widerspruch in sich, denn was mich gar nicht interessiert, ist für mich kein Geheimnis, sondern Peanuts. Die einzige Wirklichkeit, die es für uns gibt, besteht im eigenen Leben, und was dazu keinen Bezug besitzt, kann also auch kein – wirkliches – Geheimnis sein.
Geheimnisse unterscheiden sich gewaltig sowohl von Rätseln als auch von Geheimlehren.
Letztere bilden Märchen für Erwachsene; versuchen wir ihnen auf die Spur zu kommen, verflüchtigen sie sich zumeist sehr schnell und wir schämen uns vielleicht der Aufmerksamkeit, die wir dem Unsinn zunächst geschenkt hatten.
Geheimnisse sind dagegen umso größer, phantastischer, umwerfender – eben geheimnisvoller –, je intensiver wir uns mit ihnen beschäftigen. Sie werden niemals gelöst; das unterscheidet die Geheimisse von bloßen Rätseln und verbindet sie mit philosophischen Fragen.
Die exakten Wissenschaften lösen lediglich Rätsel, kennen aber keine Geheimnisse, denn sie – sowohl die Wissenschaften als auch ihre Rätsel – sind nur (von uns) konstruiert.
Geheimnisse gehören dagegen zur Wirklichkeit und sind keine bloßen Konstruktionen. Insbesondere das Leben stellt für mich persönlich ein Geheimnis dar, so daß ich unter anderem die Biologie und Medizin nicht als Wissenschaften vom Leben betrachten kann. Wer es tut, verwechselt meines Erachtens die Leibhaftigkeit des Lebens mit bloßen Modellen oder die wirklichen Geheimnisse mit konstruierten Rätseln.
Die Hüter von ersteren müssen keine Angst um ihren Schatz haben; je offener sie ihn präsentieren, desto mehr werden sie ihrer Aufgabe gerecht, das Geheimnis als solches zu (be)wahren und weder zu einem leeren Wort noch zur Geheimniskrämerei verkommen zu lassen.
Geheimnisse verteidigen sich selbst gegen ihre „Entzauberung“ (Max Weber), weil sie bei jedem ernsthaften Versuch, sie aufzudecken, tiefer werden.
AD: „Also bestreiten Sie, daß wir in den letzten 300 Jahren – oder vielleicht auch schon viel länger – die Wirklichkeit entzaubert haben?“
Ja; das tue ich!
Wir haben die Wirklichkeit bzw. das Leben nicht entzaubert – was uns auch gar nicht möglich wäre, da sie unverfügbar sind –, sondern vergessen, ignoriert und teilweise sogar bestritten. Das wahre Leben oder seine Fülle interessieren weitestgehend nicht mehr; statt danach zu fragen, uns danach zu sehnen und darum zu bemühen, perfektionieren wir selbstzufrieden den Status quo zum komfortablen Luxus im falschen Leben.
AD: „Selbst wenn alles, was Sie in diesem Kapitel gesagt haben, richtig wäre, fürchte ich, daß einige Leser mit Ihrer „Methode“ unzufrieden sind. Es gibt doch beispielsweise ganz verschiedene Denkrichtungen innerhalb der Philosophie; sollten Sie Ihre – wirkliche – Methode darin nicht ein wenig einordnen?“
Ich glaube nicht; eher hätten wir auf diese gesamte Methodendiskussion verzichten sollen, denn sie übersieht meines Erachtens zumeist, daß das Erkennen des Erkennens auch bereits Erkennen – und damit Philosophie – ist. Friedrich Nietzsche verspottete die Denker, die das ignorieren, indem er sie mit Menschen verglich, die ein Streichholz prüfen wollen, bevor sie es benutzen:
„Es ist das Streichholz, das sich selber prüfen will, ob es brennen wird.“
Ohne Bild gesprochen:
Von den Begriffen können wir uns nicht befreien; sie lassen sich nicht zum Gegenstand einer Betrachtung machen, ohne sie dafür im gleichen Moment in Anspruch zu nehmen, so daß in der Philosophie Inhalt und Methode zusammenfallen.
Sie könnten damit freilich auch im Umkehrschluß das gesamte Buch als eine einzige Methodendiskussion verstehen.
AD: „Das leuchtet mir ein; aber darf ich bitte noch einmal zurückgreifen:
Mir ist noch nicht klar geworden, was es bedeutet, daß Ihr Buch, obwohl Gott darin eine große Rolle spielt, wie Sie selbst einräumen, rein philosophisch sein soll.“
Ganz einfach: Daß ich mich nicht auf (angebliche) Offenbarungen berufe. Ich sage also nur das von Gott, was sich durch unser Denken, das heißt, ohne alle Glaubensbekenntnisse im engeren Sinne, begründen läßt.
AD: „Das war keine gute Antwort, weil ich auch Offenbarung nicht verstehe.“
Sorry; das ist meines Erachtens ein Inhalt oder eine „Sendung“, die von Gott kommen müssen, weil sie sich partout nicht mittels unserer Vernunft herleiten lassen.
Daß sie ihr auch nicht widersprechen dürfen, sollte sich von selbst verstehen; tun sie letzteres, handelt es sich nicht um eine Offenbarung, sondern um Aberglaube.
„Woran ein Theologe nach Gott also am meisten glaubt, das ist die Vernunft.“ (Peter Knauer)
Zum Beispiel schließen wir – nahezu der gesamten christlichen Tradition zum Trotz – logisch aus, daß Gott sowohl allmächtig wie auch allwissend ist.
Vermag er jederzeit zu tun, was er will, kann Gott nicht schon im Voraus wissen, was geschehen wird; er disponiert ja vielleicht noch um.
Weiß Gott dagegen, was kommen wird, muß er es dabei belassen, kann nichts mehr korrigieren und somit nicht allmächtig sein.
AD: „Das überzeugt mich nicht; Gott weiß doch auch schon immer, wann und wie er eingreift.“
Ja; einverstanden; aber dann muß er sich eben an dieses bereits von ihm selbst korrigierte Wissen halten – und ist folglich wiederum nicht allmächtig.
AD: „Ich fürchte, jetzt denken Sie zu kurz:
Ihre Schußfolgerung stimmt wahrscheinlich – aber nur auf der Grundlage unseres menschlichen Verständnisses von der Allmacht sowie Allwissenheit. Bei Gott sind das ganz andere Kategorien, und an ihnen zerbricht jede menschliche Logik.“
Wenn Sie mit Allmacht bzw. Allwissenheit nicht das meinen, was wir unter diesen Begriffen im „Normalfall“ verstehen, ist mir unklar,
– was Sie mit der Allmacht resp. Allwissenheit Gottes überhaupt sagen möchten und
– weshalb Sie gerade diese Worte – trotz ihrer unangemessenen Bedeutung – benutzen.
Natürlich ergibt sich Gott nicht aus der Logik, aber von allem und somit auch von ihm kann ich sinnvoll
– weder etwas Widersprüchliches sagen
– noch etwas, was ich selbst nicht weiß oder verstehe.
Denn zum Glauben gehört meines Erachtens, daß wir zu etwas Verstandenem in einer freien Entscheidung, das heißt, begründet „ja“ sagen. Blinder „Glaube“ ist kein Glaube; Tertullians „Ich glaube, denn es ist absurd“ scheint mir abwegig zu sein, denn es wird so viel Absurdes erzählt – das kann man unmöglich alles glauben.
Der hieraus resultierende – wenn Sie wollen: postmoderne – Gott unterscheidet sich natürlich erheblich von dem traditionellen.
AD: „Nein; so geht das nicht. Es gibt weder einen traditionellen noch einen postmodernen Gott, sondern – wenn überhaupt einen, dann – nur den wirklichen, der tatsächlich existiert; allein von ihm können wir sinnvoll sprechen.“
Diese Antwort klingt wohl in vielen Ohren sehr überzeugend, hilft uns aber dennoch nicht weiter, denn Sie denken den möglicherweise existierenden Gott in der Form eines Seienden – und damit als traditionellen. Das ist ein solcher, von dem Dietrich Bonhoeffer sagt: „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“
Damit bestreite ich nicht die Wirklichkeit Gottes, sondern gestehe lediglich, noch keine Ahnung zu haben, auf welche Weise wir ihn anders – und damit vernünftig – denken könnten.
AD: „Gott läßt sich gar nicht denken!“
Doch; auch wer ihn wie selbstverständlich als Seiendes versteht, denkt Gott – wenn auch gedankenlos
Daraus ergibt sich ein wichtiger Unterschied zwischen traditionellen und postmodernen Christen; er besteht im Grad ihrer Demut bzw. umgekehrt im Maße ihres Sein-Wollens-wie-Gott:
Beide sagen, wie sie sich Gott aufgrund ihres gegenwärtigen Wissens denken; das ist alternativlos, denn niemand kann etwas anderes als sein Wissen vorbringen; das gilt selbst beim Lügen noch.
Die traditionell Denkenden ergänzen ihre Schilderung dann lediglich – vielleicht nicht ex-, mit Sicherheit aber implizit – durch den unbescheiden-wahnwitzigen Zusatz, mit ihren Ausführungen den einen wirklichen, richtigen oder existierenden Gott zu beschreiben, . . .
. . . und den postmodern Denkenden bleibt vor Staunen der Mund offen:
„Woher wissen die das? Wir“, ergänzen sie vielleicht kleinlaut, „sprechen nur von dem, was uns gegenwärtig bekannt ist, und maßen uns nicht an damit die Tatsächlichkeit Gottes zu treffen.
Es ist tautologisch, nur über das eigene Wissen sprechen zu können. Wer etwas sagt, ohne es zu wissen, ist im günstigsten Falle ein Quatscher.
Unser Wissen entfaltet sich im Verlaufe des Lebens; als Baby wußten wir noch gar nichts, und bis heute haben wir irgendeinen Status quo erreicht. Sollte er auch noch so umfangreich und beeindruckend sein – es handelt sich lediglich um den Status quo einer Genese, die spätestens durch unseren Tod beendet wird, bevor wir ‚die Wahrheit‘ erreicht haben. Das gilt ganz allgemein, und wir postmodernen Christen akzeptieren das deshalb insbesondere auch bei Gott:
Wollen wir tatsächlich etwas zum Ausdruck bringen und nicht nur fromm klingende Floskeln erzeugen, kann das Wort ‚Gott‘ also ebenfalls nur den Status quo unseres diesbezüglichen Wissens bezeichnen, das höchstwahrscheinlich so gut wie gar nichts mit Gott zu tun hat.
Das sagte selbst Karl Rahner von seiner eigenen Theologie; er stellte sich vor, wie Gott darüber lacht und sich auf die Schenkel klopftt: ‚Das soll ich sein?'“
1.5. Igel und Fuchs
Von Archilolos ist das Fragment „Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel kennt eine große Sache“ überliefert.
Ich behaupte keineswegs, ein Igel zu sein, aber es ist letztlich eine einzige Idee, die mich seit fast 50 Jahren umtreibt. Provoziert wurde sie nicht zuletzt durch meine berufliche Arbeit an Grundfragen der Quantentheorie, und das vor Ihnen liegende Buch stellt im Kern den Status quo dar, den die (nicht-physikalische) Entfaltung dieser Idee bisher angenommen hat.
Wer sich intensiv mit der Quantentheorie beschäftigt, wird meines Erachtens vor die Alternative gestellt, ob er weiterhin an die Existenz einer objektiven Realität glaubt oder die millionenfachen phantastischen experimentellen Bestätigungen der Quantentheorie ernstnimmt. Beides zusammen scheint nicht möglich zu sein; entweder objektive Realität oder Quantentheorie.
(Wenn Sie sich selbst ein Bild davon machen wollen, ob ich das richtig sehe, wären vielleicht die Bücher von Anton Zeilinger sehr empfehlenswert. Insbesondere „Einsteins Spuk“ und „Einsteins Schleier“ hat er für Laien geschrieben. Zeilinger bekam 2022 immerhin den Physik-Nobelpreis; ich empfehle Ihnen also keinen Autor, den Sie leicht als „Bruder im Geiste“ abtun könnten, der mit mir gemeinsam spinnt.)
Albert Einstein hatte sich bekanntlich dafür entschieden, den traditionellen Glauben an die objektive Realität beizubehalten, und leider bis zu seinem Lebensende versucht, Fehler oder widersprüchliche bzw. absurde Konsequenzen der Quantentheorie aufzuspüren.
Ich habe mich als Student auf die Gegenseite geschlagen und gedacht:
Unsere Physik ist die grundlegende Naturwissenschaft, die in der Moderne mit dem Ziel antrat, die objektive Realität zu erkennen. Wenn selbst sie zu dem Ergebnis kommt, daß keinerlei Objektivität existiert, dann gibt es in den anderen wissenschaftlichen Disziplinen oder sonstigen Sphären unseres Lebens wohl erst recht keine.
Aber wieso sind sich die meisten Menschen – mit Einstein – der objektiven Wirklichkeit außerhalb ihrer Psyche so sicher?
Einer meiner Versuche, diese Frage zu beantworten, lautet etwa:
Weil sie gedankenlos überzeugt sind,
– sich auf das Außerhalb der Psyche beziehen und
– problemlos darüber nachdenken oder sprechen zu können.
Damit sind wir bereits bei meiner Igel-Idee; sie ist nicht sonderlich schlau, pfiffig, spitzfindig oder ausgefallen, sondern ich empfinde sie eher als selbstverständlich:
„Außerhalb meiner Psyche“ bedeutet, daß mir dieser Bereich nicht zugänglich oder gegeben ist.
Dann kann ich mich jedoch nicht darauf beziehen und auch absolut nicht(s) davon wissen, so daß kein einziger sinnvoller Gedanke oder Satz darüber möglich sind. Sämtliche diesbezüglichen Annahmen sind willkürlich oder beliebig – weil nicht kontrollierbar –, könnten ebenso völlig widerspruchsfrei durch ihr Gegenteil ersetzt werden und entsprechen somit einem bloßen, sinnleeren Blablabla.
Positiv formuliert lautet meine Grundidee also:
Alles sinnvoll Gedachte, Vorgestellte, Erlebte, Geglaubte oder Gesagte gehört notwendigerweise der eigenen Psyche an. Wer von ihrem Außerhalb zu handeln meint, gibt lediglich seine Vorstellungen von diesem Außen wieder, und die müssen sich natürlich innerhalb der Psyche befinden.
Sagen Sie bitte einmal etwas zu Blahreßua.
AD: „Was soll das sein ‚Blahreßua‘?“
Das weiß ich nicht; es verhält sich bei ihm genauso wie beim Außerhalb der Psyche.
„Dort befindet sich die Materie“ stellt also lediglich die – innerhalb seiner Psyche befindliche – Vorstellung oder gar Überzeugung eines naiven Physik-Gläubigen dar; wissen kann das natürlich niemand – selbst wenn es so wäre.
Moritz behauptet dagegen, außerhalb seiner Psyche lebe der grasgrüne Steinbeißer. Natürlich ist das Quatsch; deswegen hat Moritz auch weniger Fans als unser Physik-Gläubiger. Aber dessen Überzeugung ist keinen Deut intelligenter, aufgeklärter oder vernünftiger, denn wenn wir Moritz‘ grasgrünen Steinbeißer gegen die Materie der Physiker austauschen, ändert sich absolut nichts – außer den Glaubensbekenntnissen innerhalb der Psychen.
Natürlich kann sich der Inhalt unserer Psyche vergrößern; aber die Annahme, daß sich dieser Zuwachs zuvor Außerhalb von ihr befunden haben muß,
– gehört selbst zum prinzipiell Unwißbaren und
– ist auch keineswegs logisch zwingend.
AD: „Doch; diese Annahme ist zwingend!
Wenn ich jetzt etwas weiß, was mir gestern noch unbekannt war, muß es notwendigerweise in den letzten 24 Stunden vom Außen meiner Psyche in sie hineingekommen sein.
Genau so funktioniert doch der wissenschaftliche Fortschritt ganz allgemein. Unsere Psyche und ihr Außerhalb befinden sich anschaulich gesprochen nebeneinander, und wir verschieben die zwischen beiden bestehende Trennfläche immer weiter nach außen.“
Nein; das glaube ich nicht.
Beethoven hatte irgendwann die großartige Intuition, die zu seiner „Ode an die Freude“ führte. Ist sie in den Tagen zuvor von außen in seine Psyche eingedrungen? Wenn „ja“ – was bedeutet dann „außen“? Wo befand sich die Ode zuvor? Im Musik-Himmel?
Newton griff eines Tages den Gedanken auf, Massen würden sich gegenseitig anziehen. Das war und bleibt eine geniale Idee, auch wenn sich heute praktisch alle Physiker einig sind, daß es keine derartige Gravitationskraft gibt, so daß Newton seinen Gedanken unmöglich der Natur abgelauscht haben kann – wie er wohl selbst glaubte. Die Massenanziehung existierte also nicht bereits außen, so daß Newton sie erkennen, das heißt, irgendwie von außen nach innen abbilden konnte. Er hat diese Idee vielmehr in seiner Psyche erzeugt, geerstmaligt, generiert oder konstruiert.
Wie anders hätten auch die Imaginationen der Märchenfiguren, Romanhelden, Götter oder Unterwelten entstehen sollen? Wir halten sie für unwirklich; aber das bedeutet doch, daß sie sich niemals im Außerhalb der Psyche befanden – und trotzdem waren sie irgendwann drin.
Sie wurden alle in geeigneten Psychen geboren. Letztere sind kreativ; Psychen haben es nicht nötig, ihre Produkte einem angeblichen Außen abzuschauen, und die führenden Wissenschaftler entsprechen den großen Künstlern; beide schaffen Neues.
Der Unterschied wird erst in der zweiten Reihe deutlich; Wissenschaft kann man nachmachen; in ihr läßt sich alles Geerstmaligte wiederholen, so daß nach Einstein Millionen von Physikern die Relativitätstheorie erlernen können und vielleicht besser beherrschen als ihr Erfinder.
Das ist bei der Ode an die Freude offensichtlich wesentlich schwieriger.
Das wäre meine erste Entgegnung auf Ihren Einwand, neues Wissen könne nur durch den Übergang bzw. das Abbilden von außen nach innen entstehen; eine zweite dürfte jedoch ebenso wichtig sein:
Sie stellen sich die Psyche wahrscheinlich ganz traditionell als irgendwie in Ihrem Körper befindlich vor. Er ist außen oder im Raum; deswegen können wir ihn zum Beispiel sehen; die zugehörige Psyche jedoch nicht, weil sie angeblich innen bzw. nicht im Raum ist.
Aber diese Überlegung ist falsch, denn nur von räumlichen oder ausgedehnten Dingen können wir sinnvoll sagen, sie befänden sich innen; der Kern in der Kirsche, der Käfer in der Schachtel oder das Gehirn im Kopf. Beide Bestandteile eines solchen Ineinanders müssen räumlich sein; das Innere ist natürlich kleiner – aber nicht unräumlich.
Die Psyche befindet sich dagegen nicht im Raum; dann kann sie aber auch nicht innen und der Körper nicht relativ dazu außen sein; ein unräumliches Innen im räumlichen Außen ist widersprüchlich.
Damit wird freilich auch Ihr anschauliches Bild hinfällig:
Eine Psyche und ihr Außerhalb können sich nicht nebeneinander befinden, so daß auch die trennende Grenzfläche entfällt, denn das sind alles räumliche und damit ungeeignete Vorstellungen zu einer eo ipso unräumlichen Psyche.
Obwohl mir das alles als sehr zwingend erscheint, sehen es viele Menschen offensichtlich ganz anders. Sie
– haben sehr bestimmte Vorstellungen vom Außerhalb ihrer Psyche,
– sind von deren Richtigkeit felsenfest überzeugt und
– möglicherweise sogar bereit, Andersdenkende für deren widersprechende Annahmen zu töten; Inquisition, real existierender Sozialismus, Islamischer Staat . . .
Die abstrusesten Bekenntnisse können also, wenn sie fanatisch als wahr geglaubt werden, sowohl bei den „Gläubigen“ als auch bei den „Ungläubigen“ (über) das Leben entscheiden.
Viele Menschen sind leider überzeugt, das eine richtige Blablaba von jedem anderen und damit falschen unterscheiden zu können. Hierbei ist es natürlich völlig belanglos, ob es sich dabei um religiöse, wissenschaftliche, politische, esoterische, verschwörungstheoretische oder sonstige Willkürlichkeiten handelt.
Das muß man sich einmal ernsthaft durch den Kopf gehen lassen – 300 Jahre nach der „Aufklärung“:
Eine willkürlich-leere Annahme, die bzw. deren Richtigkeit durch absolut nichts zu rechtfertigen ist und völlig widerspruchsfrei durch ihr glattes Gegenteil ersetzt werden könnte, kann weitreichende bis verheerende Folgen nach sich ziehen, wenn sie fanatisch geglaubt wird!
Was wir vom Außerhalb unserer Psyche denken, kann zwar keinen nachweisbaren Anspruch auf seine Richtigkeit erheben, sich aber nichtsdestotrotz ganz massiv auf ihr Innerhalb, das heißt, auf unser Leben auswirken.
Wer annimmt, außerhalb seiner Psyche befinde sich ein Schwarzes Loch, daß uns am 29. Februar 2028 alle verschlingen wird, lebt höchstwahrscheinlich anders als „Ungläubige“.
Ein positives Beispiel für dieses Denken finden wir im Neuen Testament:
„Dein Glaube hat dir geholfen.“ „Dein Glaube“ – und nicht, daß „er stimmt“ oder „richtig ist“ – hat dir geholfen.
AD: „Das ist letztlich ein selbstverständlicher Gedanke:
Wir können alle nur unseren subjektiven Überzeugungen, Befindlichkeiten, Erwartungen, Intentionen usw. folgen, was freilich mitunter schiefgeht.
Die Tradition erklärt diesen Mißerfolg durch unsere subjektive Abweichung von der objekiven Wirklichkeit; wir wissen noch zu wenig . . .
Die Postmoderne muß gar nichts erklären, weil sie völlig symmetrisch konstatieren kann, daß unser Wissen natürlich manchmal nützlich ist, mitunter aber auch nicht hilft.
Die beiden Positionen unterscheiden sich also nur und erst dann, wenn die traditionell Denkenden auf die von ihnen behauptete Objektivität der Wirklichkeit pochen. Dann sind in deren Augen alle Abweichler dumm, böse, ungläubig oder stur.“
Sehr schön; ohne den festen Glauben, außerhalb meiner Psyche befänden sich die Aktanten einer subjektiven Wirklichkeit, könnte ich gar nicht leben. Aber
– die sind subjektiv,
– hängen von mir ab, und
– ich weiß sie seit ihrer Existenz, denn
– sie wurden von mir selbst projiziert,
– so daß ihre Genese zu meinem Leben gehört.
Ich vermag jedoch beim besten Willen nicht zu sehen, wie daraus Seiende werden könnten,
– die objektiv und
– von mir unabhängig sind,
– möglicherweise schon lange vor mir existierten und
– theoretisch von mir erkannt werden müßten,
– nachdem sie irgendwie – zum Beispiel durch Evolution oder Schöpfung – entstanden sind.
(Ich werde des öfteren wie soeben zur ersten Person Singular wechseln, ohne nochmals explizit darauf hinzuweisen. Nicht wegen einer übersteigerten Egomanie, sondern um mich möglichst einfach und verständlich ausdrücken zu können; in der Ich-Form gelingt mir das häufig besser.)
AD: „Diese Gegenüberstellung war hilfreich; aber ein Problem habe ich trotzdem noch:
Solange wir ernstlich miteinander diskutieren, treffen Argumente – Prämissen, Konsequenzen, Begründungen oder Widerlegungen – aufeinander. Hierfür kann es keine Rolle spielen, ob im Außerhalb angeblich eine Wirklichkeit existiert oder nicht, denn argumentativ erreichen wir sie ja ohnehin niemals.
Tangiert diese angebliche Wirklichkeit unsere Gespräche dann überhaupt? Wie soll die willkürliche Antwort auf eine prinzipiell unentscheidbare Frage jemals in einem vernünftigen Diskurs virulent werden können?“
Die Aktanten können natürlich in unseren Diskurs eingehen; wir wissen doch, was wir selbst projiziert haben und glauben. Daß dies so ist, beweisen die Naturwissenschaften, die andernfalls gar nicht möglich wären. Die Physiker vereint also, lax ausgedrückt, die Intersubjektivität ihrer Aktanten.
Wer die heutige Physik ablehnt, verweigert sich dieser Kommunität und nutzt andere Aktanten, muß aber weder unwissenschaftlich noch krank oder etwas ähnlich Schlimmes sein, wie dies auf der Grundlage des traditionellen Denkens häufig behauptet wird.
Dessen Seiende werden nicht projiziert und gewußt, sondern lediglich als gewußtes Erfordernis behauptet. Sie können somit tatsächlich, wie von Ihnen angedeutet, in keinem vernünftigen Diskurs vorkommen und insbesondere weder begründet noch widerlegt werden. Wird die Existenz von Seienden jedoch als möglich erachtet, läßt sich jedes fruchtbare Gespräch durch ein bloßes Blablabla jäh beenden.
Daß meine an Holzschnitt- oder eher noch Kettensägekunst erinnernde Darstellungsweise sinnvoll sein kann, versucht Heinzpeter Hempelmann – in einem anderen Zusammenhang, aber ganz in meinem Sinne – zu verdeutlichen:
„Ich rechne damit, daß dieser Text auf ebenso energischen, teilweise empörten Widerspruch stoßen wird wie auf dankbare Zustimmung. Möglicher Hauptangriffspunkt ist die notwendige flächige, weit ausgreifende und nicht um tausend Differenzierungen bemühte Darstellung, die auch als gewalttätig, unfair und ungerecht empfunden werden kann.
Der moderne Diskurs ist gekennzeichnet durch das Bemühen um Differenzierungen. So notwendig diese an ihrem Ort sind, so sehr kann der Diskurs eine im Endeffekt lähmende Wirkung entfalten. Schlicht formuliert: Man sieht vor lauter Bäumen, Ästen und Zweigen den Wald nicht mehr.
Es fehlt zumeist das Gesamtbild, das letztlich handlungsleitend und zielgebend sein muß.
Mein Resultat ist ein Wucht-, aber kein Wut-Text; apodiktisch im Ton, ohne Ausreden und Schminke, sicherlich korrektur- und ergänzungsbedürftig, mindestens aber ein Versuch, verschiedene Gründe zu benennen, warum . . .“
. . . wir uns vom traditionellen Denken mit seiner objektiven Wirklichkeit verabschieden sollten.
Das tun auch die verschiedenen Spielarten des Radikalen Konstruktivismus. Mit ihnen hat unser Ansatz aber kaum etwas gemein, und es hilft vielleicht manchem Leser, von vornherein deutlich zu sehen, weshalb wir einen anderen – wenn auch noch schwer erkennbaren – Weg einschlagen werden.
Die einzige Übereinstimmung zwischen unserem Ansatz und dem Radikalen Konstruktivismus besteht im Verzicht auf die objektive Wirklichkeit. Aber daraus resultieren bei letzterem zwei Probleme, die der Radikale Konstruktivismus meines Erachtens nicht lösen kann, so daß wir uns von ihm deutlich distanzieren.
Das betrifft zum einen die Stellung oder Rolle des Gehirns.
Wenn die gesamte Wirklichkeit nur eine Konstruktion darstellen würde, hätten wir keinen Konstrukteur, denn dieser kann nicht seiner eigenen Konstruktion angehören; das wäre widersprüchlich.
Der Radikale Konstruktivismus „löst“ dieses Problem mit sehr viel unsauberem Gerede, indem er das Gehirn zum Konstrukteur erklärt. Als Rechtfertigung dient ihm hierbei zumeist die angebliche „neurophilosophische Erkenntnis“, unser Ich sei das Gehirn.
Das ist natürlich ganz großer Humbug; die unbestreitbare Aktivität bestimmter Gehirnareale beim Sehen beispielsweise lehrt uns – so gut wie gar nichts über das Sehen, sondern lediglich –, daß es höchstwahrscheinlich nicht funktioniert, wenn die entsprechenden Regionen ausfallen.
„Viele Neurophilosophen“ kennen unsere Geistesgeschichte kaum, argumentieren treuherzig-naiv und legen zumeist nur Glaubensbekenntnisse ab, so daß ihre „schlechte Wissenschaft zu einer schlechten Religion“ (Guido Rappe) verkommt.
Abgesehen von der grundlegenden Frage, woher die Vertreter des Radikalen Konstruktivismus von dem prinzipiellen Unterschied zwischen dem Gehirn als Konstrukteur und der gesamten „restlichen“ Wirklichkeit als dessen Konstruktion wissen (wollen), entstehen natürlich zahllose weitere Probleme.
Eines davon resultiert ganz simpel daraus, daß es zwar sehr viele Gehirne gibt, aber jeder von uns nur sein eigenes als Konstrukteur – für alles andere – benötigt. Das bedeutet beispielsweise, daß Ihr Konstrukteur den Konstruktionen meines Konstrukteurs angehören müßte und umgekehrt; ich bezweifle sehr stark, daß sich dies sauber denken läßt.
Der Radikale Konstruktivismus ist, mit anderen Worten, nicht radikal genug, weil er das jeweils eigene Gehirn der Subjekte ganz traditionell als objektive Realität denkt und wohl auch denken muß, um einen Konstrukteur für alles andere zu gewinnen.
Wir denken zum einen radikaler; bei uns spielt das eigene Gehirn keine Sonderrolle, sondern gehört ganz normal zum Körper.
Zum anderen distanzieren wir uns ganz massiv von der „Neurophilosophie“:
Ich bin nicht mein Gehirn, sondern
– eine lebende und freie Subjektivität,
– ohne die es gar nichts gäbe; insbesondere auch kein Gehirn.
Meine zweite Schwierigkeit mit dem Radikalen Konstruktivismus besteht darin, daß er den gewaltigen Unterschied zwischen Wahrnehmungen und Vorstellungen nicht erklären kann. Natürlich sind – wie bei uns – beide konstruiert; aber das genügt eben nicht:
Vor der Wahrnehmung „Krokodil im Swimmingpool“ erschrecken wir – mit Recht –, während die entsprechende Vorstellung bestenfalls ein wohliges Gruseln hervorruft.
Im Radikalen Konstruktivismus habe ich – sehr interessiert, aber – leider vergebens nach einer befriedigenden Begründung dieses Unterschieds gesucht.
AD: „Sie hatten soeben sinngemäß gesagt ‚ohne Leben kein Gehirn‘. Das war wohl ein Versprecher und sollte ‚ohne Gehirn kein Leben‘ heißen?“
Nein; meine Umkehrung ist beabsichtigt und fundamental für unseren Ansatz.
Traditionell existiert eine objektive Wirklichkeit, und zu ihr zählt insbesondere unser Gehirn. Es gehört zu den notwendigen Voraussetzungen unseres Lebens, und bei einem solchen Verständnis hätten Sie natürlich Recht.
Aber postmodern denke ich von meinem Leben her, so daß nur für mich eine subjektive Wirklichkeit – gegebenenfalls mit Gehirnen als Aktanten – existieren kann.
AD: „Komisch; meine subjektive Wirklichkeit kann noch so exotisch sein; das stört Sie gar nicht. Aber wehe mir, wenn ich glaube, sie gelte objektiv oder für alle Subjekte gemeinsam – dann werden Sie munter . . .“
Nein; das stimmt nicht; Ihnen unterlief ein Denkfehler; er besteht darin, daß Sie nicht zwischen „objektiv“ und „für alle Subjekte gemeinsam“ unterscheiden.
Die Physiker, hatten wir oben gesagt, vereint die Intersubjektivität ihrer Aktanten. Wählen wir letztere weniger speziell, wird die Anzahl der Menschen, die sich intersubjektiv einig sind, größer, und letztlich ist sogar die vollständige Intersubjektivität aller Menschen als ein asymptotischer Grenzfall denkbar.
Zu einer Objektivität gelangen wir auf diesem Wege jedoch nie; sie entspricht dem subjekt-unabhängigem An-sich der Seienden und nicht dem 100%-igen Für-die-Subjektivitäten der Aktanten.
Ihre subjektive Wirklichkeit kann folglich völlig problemlos darin bestehen, daß deren Aktanten für sämtliche Subjektivitäten gelten müßten. Dann kann die Hinführung, die Ihr persönliches Leben mtbestimmt hat, den anderen Subjektivitäten gelehrt werden.
Vielleicht hat Sokrates in diesem Sinne gedacht, als er meinte, niemand tue aus Absicht Böses; vielmehr handle es sich hierbei stets um Unwissenheit. Deswegen gab es für Sokrates einen Weg, um dem Bösen Herr zu werden; das Gute und die Tugend sind lehrbar.
Dagegen habe ich nichts einzuwenden, weil wir bei den Aktanten verbleiben.
Die Seienden sind widersprüchlich, weil sie
– sich angeblich außerhalb der Psyche befinden und
– trotzdem erkannt werden (müssen).
Die Seienden sind „Aktanten“, deren Projektion – irrtümlich oder verlogen – als Erkennung ausgegeben wird.
Allein durch diese Abweichung unterscheiden sich die traditionell von den postmodern Denkenden (im Falle vollständiger Intersubjekivität).
1.6. Religiöser Hintergrund
Ich bin zufällig katholisch, aber das ist völlig belanglos für dieses Buch. Letzteres scheint mir dagegen sehr wichtig zu sein: Wir müssen verstehen, wieso der religiöse und auch jeder andere Glaube für das Philosophieren irrelevant zu sein hat.
Es gibt ebensowenig ein christliches oder gar katholisches Philosophieren wie ein islamisches, kapitalistisches oder nationalistisches: Wir haben nur die Alternative zwischen einem ergebnisoffenen Denken – dem Streben nach Wahrheit – oder dem Vertreten einer Ideologie – dem angeblichen Besitz der Wahrheit. Jeder, der – völlig unabhängig von der Farbe – zu Beginn schon weiß, wohin sein „Denken“ führt bzw. was „wahr“ ist, versteht nicht, was es bedeutet zu denken, und ist Ideologe.
Mich interessiert demzufolge auch absolut nicht, wer irgendwas sagt, sondern lediglich, welche grundlegenden Antworten irgendwer vernünftig begründet. Würde die Relativitätstheorie von Adolf Hitler stammen, wäre sie keinen Deut weniger genial als die Einsteinsche.
Ich lese also keine Bücher katholischer Autoren, nur weil sie katholisch sind, sondern solche jeglicher Couleur, sofern ich hoffen kann, daß sie mir helfen, selbst zu denken und damit meiner eigenen Wahrheit näher zu kommen. Das ist diejenige meines Lebens, und die kann natürlich in keinem Buch stehen; dort gibt es bestenfalls richtige oder hilfreiche Sätze.
Auch bei meinem eigenen Schreiben versuche ich stets, mir dessen bewußt zu sein. Weder will ich Ihnen etwas mitteilen, noch sollen Sie mir glauben; vielmehr möchte ich Sie anregen zum eigenen Fragen, Sich-Orientieren und Weiterdenken.
Hochkomplexe bzw. abstrakte Objekte – wie Liebe, Demokratie, Freiheit oder Recht – können wir als solche nicht erfahren; das ist nur möglich, wenn sie eine konkrete Gestalt annehmen, sich verleiblichen, ausdrücken oder darstellen.
Sage ich beispielsweise zu einem Menschen „Ich liebe Dich; das haben wir damit für ein und allemal geklärt“, und er erfährt dann diesbezüglich tatsächlich nichts mehr, war es gelogen. Eine „Liebe“, die sich nicht ausdrückt oder verleiblicht, ist keine Liebe; sie bedarf notwendigerweise irgendwelcher Darstellungsformen; Zärtlichkeit, Schutz, Einsatz, Verständnis, Verantwortungsgefühl, Hilfsbereitschaft, Sexualität, Geborgenheit usw.
Kein Ausdruck ist die Liebe, aber ohne Ausdruck ist auch keine Liebe.
Das können wir nahezu wörtlich auf den Glauben übertragen. Auch er kann nicht als solcher oder rein erfahren werden, sondern nur in seinen Ausdrucksformen bzw. durch diese. Sie können zum Beispiel in der Kunst oder Lebensführung bestehen, in Gebet, Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Verkündigung, gesellschaftlichem Engagement und Meditation, in Geschichten oder Theologie. Ein „Glaube“ ohne alle Verleiblichungen, ist kein Glaube; er ist auch nicht rein, sondern rein gar nichts.
Auf der einen Seite darf also keine einzelne Darstellungsform mit dem Glauben identifiziert werden; Sex allein ist auch keine Liebe. Der Glaube kann also beispielsweise nicht mit dem Für-wahr-Halten irgendwelcher Geschichten gleichgesetzt werden – welcher auch immer –, obwohl er sich natürlich auch in ihnen ausdrücken kann; bei einem Kind beispielsweise in der Schöpfungs-, Weihnachts- oder Ostergeschichte.
Auf der anderen Seite ist natürlich auch niemand gezwungen, seinen Glauben auf eine ganz bestimmte Art zu leben.
Wer dies jedoch in Form der Theologie tun möchte, muß sich notwendigerweise den Maßstäben unterordnen, die auch sonst mit Recht an eine Wissenschaft gestellt werden – andernfalls ist es keine Theo-Logie. Das bedeutet insbesondere, daß der Theologie sich möglichst exakt ausdrücken sowie logisch sauber denken sollte und in seiner Argumentation nicht auf Zitate als Beweise, Prämissen oder gar Letztbegründungen zurückgreifen kann.
„Heilige“ Schriften sind dabei nicht bessergestellt als profane, weil ihre angebliche Heiligkeit – vielleicht nicht für den Glauben, gewiß aber – theologisch ebenfalls auf dem Prüfstand steht. So wenig sich ein guter Physiker auf Werner Heisenberg oder Nils Bohr berufen wird, darf dies ein passabler Theologe mit Jesus oder Paulus tun – völlig abgesehen von allen damit verbundenen exegetischen, hermeneutischen und sprachlichen Problemen.
Im Zen-Buddhismus „sind die Heiligen Schriften nichts anderes als schmutzige Papierabfälle“ (Shizuteru Ueda), in denen zum Beispiel bezogen auf das Meditieren steht: „Wenn Du den Buddha siehst, töte ihn.“
Theologisch sind die Aussagen des Lehramts für mich ebenfalls nur beliebige Meinungen; einen Mehrwert würden auch sie erst durch eine originelle Sichtweise, ihre integrierende Kraft oder Fruchtbarkeit, saubere Begründung, Kreativität, Zeitgemäßheit und ähnliches erhalten.
Wenn Johannes Paul II beispielsweise höchst offiziell die Meinung vertritt, Frauen könnten nicht zu Priestern geweiht werden – „Basta!“ –, dann bereitet er vielleicht einigen gutgläubigen Christen größere Probleme, aber nicht einer denkenden, das heißt, freien Theologie, denn der sollten meines Erachtens sämtliche bloßen, das heißt, schlecht oder gar nicht argumentierenden Meinungen gleichgültig sein.
Um sie ernstnehmen zu können, müssen Stellungnahmen so begründet werden, daß ich ihre Rechtfertigung verstehen und dieser guten Gewissens zustimmen kann. Eine „Begründung“, die mir nicht einleuchtet, ist keine Begründung, denn im Verstanden-Werden und Nachvollziehen-Können besteht der Sinn aller Erklärungen oder Rechtfertigungen – nicht im bloßen Beteuern ihrer angeblichen Richtigkeit oder gar Wahrheit.
Bleibt es bei einem solchen Beteuern, interessiert mich die Meinung nicht.
Wie anders wollen wir den Glauben von jeglichem Aberglauben unterscheiden?
AD: „Müssen wir das tun? Gott ist in seiner Schöpfung – als Heiliger Geist – gegenwärtig; und ich dachte immer, es sei seine Aufgabe, für den wahren Glauben zu sorgen.“
Vielleicht tut er es auch; aber es gibt das Gotteswort ausschließlich in dem und durch das Menschenwort, denn sonst würden wir absolut nichts davon verstehen.
Der Glaube läßt sich nicht mittels des Verstandes oder seiner Logik und nicht einmal aus der Vernunft herleiten, sondern verdankt sich nach christlichem Verständnis der Offenbarung als Selbstmitteilung Gottes. In dem Maße, wie sie durch das Wirken des Heiligen Geistes – im Menschenwort – bei uns ankommt, sprechen wir vom – eo ipso subjektiven – Glauben.
Er folgt zwar nicht aus dem Verstand oder der Vernunft, widerspricht ihnen aber auch nicht. Jeden „Glauben“, der letzteres tut, weist der Heilige Geist dadurch als Aberglauben aus.
Die Ergebnisse, zu denen die Theologen gelangen, sollten ihnen helfen, ihren Glauben besser zu verstehen. Das Verstehen kommt – sofern wir uns für die Theologie als Ausdrucksweise entscheiden – natürlich stets vor dem Glauben bzw. Nicht-Glauben, denn diese bestehen darin, verstandene – und damit insbesondere auf ihre Widerspruchsfreiheit geprüfte – Inhalte anzunehmen und zu leben resp. abzulehnen und zu ignorieren.
Was wir nicht verstanden haben, können wir theologisch weder glauben noch nicht-glauben; wir wissen doch gar nicht, worum es geht. Wer „glaubt“, ohne zu verstehen, glaubt nicht, sondern wiederholt lediglich leere Worte; entsprechend lehnt natürlich auch nur leere Worte ab, wer ohne zu verstehen „nicht-glaubt“.
Deswegen gibt es heute theologisch relativ selten nicht nur Gläubige, sondern auch Nicht-Gläubige; es wird wenig gedacht, aber viel geredet, geeifert und vor allem gefühlt. Der weltweite Aufschwung der Evangelikalen, Frei- oder Pfingstkirchen bestätigt letzteres meines Erachtens.
Damit sage ich nichts gegen deren Gläubige, sondern lediglich wertfrei, daß ihre Ausdrucksform des Glaubens nicht die theologische ist – aber natürlich auch nicht sein muß.
AD: „Von meinem Bauchgefühl her mißfällt mir, daß das Verstehen so eindeutig vor dem Glauben kommen soll. Tertullians ‚Ich glaube, weil es absurd ist‘ erscheint auch mir als eine sehr schwache Argumentation; aber beispielsweise im Sinne von Anselm ‚glauben um zu verstehen‘, dürfte ebenfalls wichtig sein.“
Gut, daß Sie anhand Ihrer Emotionen argumentieren; da kann ich problemlos mitgehen:
Meine Favorisierung des Verstehens bezieht sich ja nur auf die Theologie; hier halte ich es jedoch für fundamental, weil die Wissenschaftlichkeit der letzteren daran gebunden ist. Aber außerhalb der Theologie gilt mit Sicherheit auch, daß der Glaube zum Verstehen führen kann.
AD: „Das entspricht dem Vertrauensvorschuß, den wir dem Überbringer einer Botschaft stets gewähren müssen, um uns überhaupt auf sein Projekt einlassen zu können.
Diese Notwendigkeit ist also nicht glaubensspezifisch; auch Liebe und Freundschaft, Bildung und Erziehung, Wirtschaftskontakte oder sogar Urlaubsreisen gelingen nicht ohne einen Vertrauensvorschuß, der sich bestenfalls im Nachhinein als berechtigt erweisen kann. Wir müssen uns immer erst auf Versprechungen oder Zusagen einlassen, um ihre Zuverlässigkeit überprüfen zu können.“
Das ist richtig; aber in der Theologie geht es nicht um die Zuverlässigkeit der Offenbarung, sondern erst einmal um ihr Verständnis. Diese Vorstufe existiert bei Ihren Beispielen gar nicht, weil wir bereits einigermaßen wissen, worum es bei Liebe, Freundschaft usw. geht.
Wer nicht selbst denkt, kann keine Überzeugung besitzen, sondern höchstens eine „Autorität“, der er blind und kindisch folgt.
Wer denkt, irrt vielleicht, aber das macht ihn niemals zum Häretiker oder Ketzer, denn dazu wird man allein durch das Häretiker- bzw. Ketzer-Sein-Wollen.
AD: „Das bezweifle ich; wozu brauchten wir überhaupt Religionen, wenn sich jeder selbst überlegen könnte, was er glauben will?“
Zunächst einmal erscheint es mir als selbstverständlich, nur allein entscheiden zu können, was ich glaube, und mir diesbezüglich von niemandem Vorschriften machen zu lassen; das gilt um so mehr, je existenzieller die jeweiligen Fragen sind.
Zum einen kann doch nur eine tiefe Überzeugung, die wirklich Herzenssache ist, als religiöser Glaube ernstgenommen werden.
Und zum anderen bin ich selbst für meinen Glauben verantwortlich; „Herr Müller hat aber gesagt“ wirkt in diesem Zusammenhang sehr unglücklich.
Ich denke, daß Sie soweit mitgehen; dann wird aber recht deutlich, wie unsinnig die Aufforderung ist:
„Jetzt sage ich Dir, welche Bekenntnisse Du aus tiefstem Herzen zu glauben hast.“
So geht es doch nicht; das, wofür ich brenne, muß aus mir selbst kommen, denn Glauben läßt sich ebensowenig anordnen wie Lieben, Glücklich-, Spontan-, Frei- oder Dankbar-Sein.
AD: „Traditionell denkende Christen würden Ihrem Einwand wahrscheinlich beipflichten und als Argument vielleicht das Zitat ‚Der Glaube kommt vom Hören‘ aus dem Römerbrief bemühen.“
Ich stimme Paulus 100%-ig zu und ergänze lediglich, daß es in unserem Leben sehr viel Verschiedenes zu hören gibt und wir deshalb bereits denken müssen, um vernünftig auszuwählen, worauf wir hören wollen, das heißt, was wir möglicherweise glauben könnten.
Das kann bei vielen Menschen die Bibel sein, wird es aber nicht notwendigerweise. Jeder von uns muß selbst seinen Weg finden, und dazu gehört vielleicht nicht zuletzt, daß wir auch entscheiden müssen, was wir lesen, das heißt, wovon wir uns die stärksten Impulse für die Gestaltung unseres Lebens versprechen.
Es wäre die eminent wichtige Aufgabe eines postmodernen Lehramts, durch sauberes Argumentieren – statt leeren Machtgehabes – auf eventuelle Denkfehler hinzuweisen, damit sie gegebenenfalls korrigiert werden können. Ein so verstandenes Lehramt wäre nicht nur kein unnötiger Stein des Anstoßes und damit kein Handicap der katholischen Kirche (mehr), sondern eine höchst willkommene, weil wirkliche Lebenshilfe für alle Menschen; und als eine solche verstehe ich den Glauben ganz allgemein:
Er ist meines Erachtens weder eine Theorie noch ein Ge- oder Verbotssystem, sondern Unterstützung, Hilfe und Ansporn, um die Fülle eines wahren freiheitlichen Lebens zu erreichen.
Die Postmoderne entbindet das Lehramt offiziell von der unmöglichen Aufgabe, eine traditionell verstandene (Glaubens-)Wahrheit durch die Geschichte hindurch bewahren zu müssen. Denn weder existiert sie ohne objektive Wirklichkeit, noch wird eine traditionelle Wahrheit benötigt, um Denkfehler zu erkennen; dafür genügen (möglichst) vorurteilsfreie Gespräche.
AD: „Ich staune, wie Sie als Katholik das traditionelle Lehramt abkanzeln. Woraus resultiert Ihre diesbezügliche Sicherheit?“
Drei Punkte dürften in meiner Antwort besonders wichtig sein:
1. Ich glaube, daß Gott in seiner „Schöpfung“ anwesend ist; diese Präsenz wird „Heiliger Geist“ genannt.
Zum einen weht er dem Johannes-Evangelium zufolge, „wo er will“, und zum anderen bin ich überzeugt, daß Gott trotz seiner Selbstmitteilung oder Offenbarung ein Geheimnis bleibt. Dann ist es ebenso absurd wie widersprüchlich, den Heiligen Geist an das Lehramt zu binden. Das läßt sich meines Erachtens weder vor der Vernunft noch aus dem Glauben rechtfertigen.
Ich habe, anders formuliert, keinerlei Schwierigkeiten damit, die Kirche als den Leib Christi verstehen zu wollen. Da wir aber nicht einmal unseren eigenen Leib wissen können, scheint mir der Anspruch, beim Leib Christi einzuteilen, daß beispielsweise Kardinal M. ihm angehöre, der Religionskritiker N. aber nicht, eine unglaubliche Hybris zu sein.
2. Ich halte es für unmöglich, Sinn, Bedeutungen, Inhalte, Werte, Ge- oder Verbote konstant durch eine Geschichte hindurchtragen oder bewahren zu wollen, in der sich alles weitere ändert.
Meine Begründung ist denkbar einfach:
Unsere Wissungen bilden eine integrale Einheit, in der sämtliche Wissungen mit allen anderen verbunden sind. Darin kann es prinzipiell keinen Teilbereich eines „Glaubens-Wissens“ geben, der identisch bleibt, während sich alles sonstige Wissen im Verlaufe der Geschichte ändert.
Der traditionelle Versuch, die gewünschte Identität durch das Wiederholen der alten Worte zu garantieren, dürfte angesichts der Situation unserer Kirchen als gescheitert gelten. Wenn Jesus von Schafen oder Königen sprach, hat er kaum etwas gemeint, was unseren heutigen Assoziationen bei diesen Worten entspricht.
3. Wir hätten uns den zweiten Punkt sogar sparen können, denn
– weder ist der Glaube eine Lehre,
– noch geht es darum, das, was sich vor 2000 Jahren in Galiläa ereignete – insbesondere die Worte, die Jesus vielleicht gesprochen hat, – möglichst genau wiederzugeben. Auch das tollste Wissen über den historischen Jesus führt nicht zum Glauben, wie die Leben-Jesu-Forschung zeigt, und hat höchstens am Rande mit ihm zu tun.
Glauben bedeutet meines Erachtens vielmehr, „das eigene Leben im Licht der Möglichkeiten zu betrachten, die die Selbstoffenbarung Gottes uns zur Verfügung stellt; hierdurch wird das gleiche Leben ein ganz anderes“ (Hans-Joachim Höhn).
Damit meine ich ausführlicher Folgendes:
Das Leben eines „Atheisten“ besteht in der Einheit { Essen, Arbeiten, Spielen, Leiden, Feiern, Denken . . . }
Konvertiert er zum Glauben, kommt letzterer nicht noch zu dieser Einheit hinzu
– { Essen, Arbeiten, Spielen, Leiden, Feiern, Denken, Glauben . . . } –,
sondern der Glaube entspricht einem Vorzeichen, das die gesamte Klammer betrifft,
– † { Essen, Arbeiten, Spielen, Leiden, Feiern, Denken . . . } –;
das gleiche Leben wird ein ganz anderes.
Mit den nachfolgenden drei Zitaten von Höhn kann ich mich voll identifizieren:
„Wer Theologie studiert, muß lernen, daß Frömmigkeit nicht vor Leichtgläubigkeit schützt. Wer nur etwas bezeugt, ohne davon auch überzeugen zu können, hat ein Glaubwürdigkeitsdefizit. Den Glauben zu festigen, vermag keine Theologie, der die Frömmigkeit ihres Anstrichs wichtiger ist als ihre wissenschaftliche Redlichkeit.“
„Wie man durch das Medizinstudium nicht gesünder wird, sondern am Ende weiß, was Gesundheit und Krankheit sind – wie man durch ein Jurastudium nicht gerechter wird, sondern am Ende Recht und Unrecht zu unterscheiden weiß, so wird man durch ein Theologiestudium nicht gottesfürchtiger, sondern lernt zu unterscheiden, wer oder was es in Wahrheit nicht verdient, ‚Gott‘ genannt zu werden, und auf wen man sich stattdessen im Leben und Sterben verlassen sollte.“
„Die Theologie ist nicht dazu da, ihre Adressaten gläubiger zu machen. Sie hat vielmehr jenes Wissen über und vom christlichen Glauben zu vermitteln, das zugleich nachdenklich und hoffnungsvoll macht. Sie hat zu zeigen, daß man nicht an Gott glauben kann, ohne dabei auf neue Weise ins Nachdenken zu kommen, und daß man beim Nachdenken über erste und letzte Fragen mit guten Gründen auf den Gedanken kommen kann, dabei an Gott zu denken.“
Was Höhn nach meinem Dafürhalten damit meint, „an Gott zu denken“, können wir uns am Beispiel der Dreifaltigkeit Gottes gut verdeutlichen.
Ich bestreite sie in keiner Weise, sondern ergänze wiederum nur, was an dieser Stelle zumeist vergessen wird; nämlich, daß ein solcher Glaube unter anderem die Behauptung impliziert, Gott sei weder zwei- noch vierfaltig.
Das sind drei verschiedene Möglichkeiten, von denen nur die „mittlere“ stimmen soll.
Wem die Dreifaltigkeit wichtig ist, der müßte also erklären können, was bei einem zwei- bzw. vierfaltigen Gott anders wäre. Wenn wir das nonchalant übergehen oder keine vernünftige Antwort auf diese Frage finden, sagt die Aussage, Gott sei dreifaltig, nichts, denn bei einem zwei- oder vierfaltigen Gott wäre alles ebenso.
Gregory Bateson sprach diesbezüglich von „einem ‚Unterschied‘, der keinen Unterschied macht“. Können wir nicht angeben, zu welchem abweichenden Ergebnissen ein zwei- oder vierfaltiger Gott führen würde, macht der Glaube an den dreifaltigen keinen Unterschied, und wir reden nur, ohne etwas zu sagen.
Die philosophisch denkenden Theologen, denen ich am meisten zu verdanken habe, sind vielleicht Kurt Appel, Eugen Biser, Dietrich Bonhoeffer, Ingolf U. Dalferth, Georg Essen, Klaus Hemmerle, Hans-Joachim Höhn, Gregor Maria Hoff, Hans Joas, Gordon D. Kaufman, Peter Knauer, Jörg Lauster, Meister Eckhart, Willibald Sandler, Hartmut von Sass, Thomas Schärtl, Klaus von Stosch, Magnus Striet, Miroslav Volf und Jürgen Werbick.
Würden Sie mir die Pistole auf die Brust setzen „Nur einer!“, wäre dies wohl Jürgen Werbick.
Auf die Frage, ob Menschen, denen mein Verständnis des Glaubens, zu komplex ist, auf „die liebe alte Art weiterglauben“ dürften, antworte ich mit Stefan Schütze:
„Sehr gerne; ich habe doch nicht die Absicht, jemandem seinen Glauben wegzunehmen“, mit dem er glücklich und in Frieden leben kann. „Das wäre furchtbar überheblich und absolutistisch. Nur erwarte ich von diesen Gläubigen, daß sie ebenfalls andere Einstellungen akzeptieren und auch ihre Glaubensweise nicht fanatisch, unhinterfragbar oder gar gewalttätig vertreten.“
Ich schreibe dieses Buch nicht für die fraglos Glücklichen, um ihnen völlig unnötige Probleme einzureden, sondern für diejenigen, die Schwierigkeiten mit ihrem Glauben bzw. ihrer subjektiven Wirklichkeit haben und nach intellektuell redlichen Antworten suchen.
Vielleicht ist es hoffnungslos naiv von mir anzunehmen, das gegenwärtige Verdunsten des christlichen Glaubens in Mitteleuropa hätte etwas mit der Form unserer Verkündigung zu tun. Noch gehe ich aber davon aus und suche folglich nach einer Sprache, die Außenstehende bei ihren Lebensproblemen voller Spannung und Neugierde fragen lassen könnte:
„Welche konstruktiven Ideen würden wohl gläubigen Christen in meiner Situation einfallen? Sie müßten theoretisch mehr sehen können als ich, denn, der Glaube besteht angeblich darin, ‚das eigene Leben im Licht der Möglichkeiten zu betrachten, die die Selbstoffenbarung Gottes uns zur Verfügung stellt‘.
Über diese Möglichkeiten verfüge ich leider nicht; lohnt es, sich darum zu bemühen?“
Der Gott des Lebens muß Freiheit wollen, weil nur mit ihr ein erfülltes Leben möglich ist. Dann existieren jedoch notwendigerweise so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt, und wir sollten einander helfen, daß möglichst jeder von uns den seinen findet.
AD: „Besteht hier nicht ein Widerspruch? Können Sie sich zum Christentum bekennen und gleichzeitig zugestehen, es gäbe so viele Wege zu Gott wie Menschen?“
Ich bin überzeugt, daß sich diese beiden Seiten ergänzen:
Christ-Sein ist eine intersubjektive Lebensform und zwar meines Erachtens eine solche, in der
– das Ziel des Lebens in dessen Fülle oder Tiefe gesucht und dabei
– Jesus Christus als unüberbietbarer Fixpunkt betrachtet wird,
— weil er nicht nur einen Weg zu diesem Ziel aufzeigt oder vorbildlich geht, sondern
— weil ihn erst ermöglicht.
AD: „Durch seinen Tod am Kreuz?“
Nein; daran glaube ich nicht. Um meine alternative Antwort verstehen zu können, brauchen wir jedoch noch einige Kapitel, so daß ich Sie auf den dritten Teil vertrösten muß. Aber die Richtung, in der sich unsere Suche bewegen wird, dürfte bereits verständlich sein:
Mein Leben besteht darin, in Freiheit
– bestimmte Wege zu wählen und
– diese gehen zu wollen.
Das sind zwei Tätigkeiten, die wir deutlich auseinanderhalten müssen. Die Wahl oder Entscheidung über die Wege liegt allein bei mir; denken wir etwa an Partner, Kinder, Beruf, Hobbys oder Freunde. Aber ob sich mein Wunsch realisieren läßt, ist eine ganz andere Frage und hängt von zahllosen Faktoren ab.
Um wählen zu können, müssen wir über hinreichendes Wissen verfügen; das entsteht durch eine Genese im Verlaufe unseres Lebens. Das läßt sich einerseits (widerspruchsfrei) denken und müßte problemlos möglich sein, weil unser Wissen unwirklich ist. Ob wir Wirkliches hervorbringen könnten, dürfte eine wesentlich diffizilere Frage darstellen.
Aber da das Wissen unwirklich ist, kann es andererseits nicht selbst der wirkliche (Lebens-)Weg sein, den ich gehen möchte. Wir können, mit anderen Worten, zwar erklären, woher unser erforderliches Wissen stammt, müssen aber noch eine Antwort auf die Frage finden, wie die Wege entstehen oder woher wir sie nehmen.
Damit kommen wir endlich auf Ihre Frage zurück:
In seinem Gedicht „Der Wanderer“ schreibt Antonio Machado „Der Weg entsteht im Gehen“ und will damit zum Ausdruck bringen, daß letztlich gar keiner existiert. Machado erklärt dies anhand eines Dampfers auf dem Meer; sowohl vor dem Bug als auch hinter dem Heck finden wir nur Wasser ohne alle Spuren oder Hinweise auf einen Weg.
Ich gehe den Weg meines Lebens, indem ich ihn durch dieses Gehen erzeuge; weder vor noch hinter ihm ist etwas von einem Weg zu sehen.
Christus hat uns meines Erachtens nicht durch seinen Tod erlöst; das kann ich unmöglich glauben, weil mir dieser Satz völlig unverständlich bleibt. Maximilian Kolbe hat einen Mithäftling durch seinen Tod das Leben gerettet; das ist nachvollziehbar – und bewundernswert.
Ich gelange diesbezüglich einen Schritt weiter, wenn wir Christus in Machados Bild mit dem Meer identifizieren:
In ihm kann ich zur Fülle des Lebens gehen und damit meinen Weg erzeugen.
Einen intersubjektiven oder gar objektiven gibt es nicht; dieses Meer kennt vielleicht Strudel oder Wirbel, aber keine Bojen und Grenzen.
Zum einen bietet das Meer namens „Christus“ unendlich viel Raum für die persönliche Lebensgestaltung.
Ich veranschauliche mir dieses Zusammenspiel von intersubjektiver Vorgabe und subjektiver Freiheit, Miroslav Volf folgend, an der musikalischen Improvisation; etwa beim Jazz:
Jeder Musiker spielt zwar frei seine persönliche Musik, aber letztlich macht keiner hemmungslos, was er will, sondern die Einzelinstrumente fügen sich wie von selbst zu einer Harmonie.
Jeder spielt, geht bzw. glaubt anders – auf dem gleichen Meer oder im Bemühen um das gleiche Ziel, die Fülle des Lebens.
Und zum anderen bildet der christliche Rahmen kein Gefängnis; ich muß nicht „offiziell“ Christ bleiben, sondern sollte meinem Gewissen folgen – auch wenn es mir beispielsweise rät, mich partiell beispielsweise zum Atheismus oder Buddhismus zu bekennen.
Ich verlasse das Meer nicht, wenn ich vom Atlantik in den Indischen Ozean wechsle.
1.7. Philosophischer Hintergrund
Mir liegt sehr daran, daß dieses Buch allen Lesern zugänglich ist, die meine Intention annähernd teilen und bereit sind, gegen jeden Strich zu denken. Deshalb setze ich keinerlei explizites Wissen der Philosophie voraus und mache einen möglichst großen Bogen um ihre Geschichte.
Gilles Deleuze schreibt ganz in meinem Sinne: „Ich gehöre zu einer Generation, einer der letzten Generationen, die man mehr oder weniger mit der Philosophiegeschichte umgebracht hat. Die Philosophiegeschichte übt in der Philosophie eine ganz offenkundig repressive Funktion aus.“
Das entspricht zudem meiner festen Überzeugung, daß es Philosophie als Lehrfach (wie Mathematik oder Ökonomie beispielsweise) ohnehin nicht gibt, sondern nur ein (eigenständiges) Philosophieren im Sinne von Selbst-Denken.
Meine gelegentlichen Angaben von Namen setzen also kein anderweitig erworbenes Wissen voraus, sondern sollen auf eventuell bekannte hilfreiche Zusammenhänge oder Möglichkeiten zu einer gründlicheren Auseinandersetzung hinweisen bzw. auch einfach nur andeuten, daß wir beide nicht allein sind, wenn Sie inhaltlich mitgehen.
Bemerkungen der Form „wie man weiß . . .“, „es ist allgemein bekannt, daß . . .“ oder „. . . im Sinne von X. Y.“ sind nach meinen Erfahrungen ebenso leserunfreundlich wie mathematische Zusammenhänge. Derartige „Hinweise“ deuten einen Unterschied zwischen uns an, auf den ich gerne verzichten möchte.
„Jede philosophische Abhandlung muß in gewissem Sinne eine ‚Einführung in die Philosophie‘ sein, denn dadurch bewahrt sie sich vor der Gefahr, bloße Lehrmeinungen, die doch zumeist nur Leermeinungen sind, zu reproduzieren“ (Leo Dümpelmann und Rafael Hüntelmann). (Ich will Sie nicht auf den Arm nehmen; die beiden Autoren heißen wirklich so.)
Das versuche ich zu beherzigen und schreibe das Buch für Nachdenkliche oder Suchende; weder für Ignoranten noch für Halbgebildete oder Alles- und Besserwisser. Als sein Motto wäre auch dasjenige Michel Foucaults möglich: „Ich denke gern!“ Wer das von sich ebenfalls sagt, ist herzlich zum Dialog eingeladen.
Meine wichtigsten Gewährsleute bei den Philosophen sind Georg Bertram, Ernst Cassirer, Isolde Charim, Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Paul Feyerabend, Michel Foucault, Hans-Georg Gadamer, Gotthard Günther, Michael Hampe, Michel Henry, Hans Joas, François Jullien, Carl Gustav Jung, Matthias Jung, Immanuel Kant, Julia Kristeva, Bruno Latour, Emmanuel Levinas, Christoph Menke, Josef Mitterer, A. M. Klaus Müller, Friedrich Nietzsche, Corine Pelluchon, Charles Sanders Peirce, Georg Picht, Paul Ricœur, Heinrich Rombach, Richard Rorty, Hartmut Rosa, Franz Rosenzweig, Josef Simon, George Spencer-Brown, Gianni Vattimo, Carl Friedrich sowie Viktor von Weizsäcker und Ludwig Wittgenstein.
Müßte ich mich wieder auf einen einzigen Autor beschränken, wäre dies wohl Michel Henry.
Ich entschuldige mich nicht, daß sich unter all meinen „Kronzeugen“ mit Isolde Charim, Julia Kristeva sowie Corine Pelluchon nur drei Frauen befinden; es hat sich ganz einfach so ergeben. Hanna Arendt, Judith Butler oder Natalie Depraz beispielsweise sind für mich phantastische Denker, die ich auch sehr gerne lese, es aber eben nicht in meine Top-40 geschafft haben.
Ich gendere nie und tangiere dieses Thema auch nicht nochmals – weil wir heute meines Erachtens vor wirklich großen Problemen stehen und keine kleinen erfinden müssen –, sondern versichere hiermit allen Frauen, keinerlei Schwierigkeiten mit ihrem Geschlecht zu haben; im Zweifelsfalle fragen Sie bitte meine Gattin.
Vor 15 Jahren habe ich mit dem Buch „Ursprüngliche Wirklichkeit“ die Hinführung zu einem etwas avantgardistischen, das traditionelle Denken sprengenden Ansatz vorgelegt, die insbesondere wissenschaftsgläubigen Lesern helfen sollte, Michel Henrys „Philosophie des Johannesevangeliums“ ernstnehmen zu können.
Die ersten 100 Seiten davon würde ich Ihnen heute noch guten Gewissens empfehlen, den Rest nicht mehr; an seine Stelle tritt das vorliegende Buch.
Das Philosophieren oder Theologisieren darf bei keinerlei unhinterfragbaren Zitaten beginnen, hatte ich oben geschrieben.
Das ist aber nur die eine Seite, von der ich auch nichts zurücknehme.
Auf der anderen Seite können wir jedoch nur hoffen, daß die Ergebnisse, die wir durch unser eigenes Nachdenken erzielen, einer möglichst großen Tradition entsprechen. Sie sollen diese freilich nicht einfach wiederholen – für bloßes Nachplappern ist kein Denken erforderlich –, sich jedoch als ihre zeitgemäße Interpretation verstehen lassen.
Denn wäre dies nicht der Fall und wir würden ohne alle Berührungspunkte etwas völlig Neues finden, blieben dafür wohl nur zwei Erklärungsvarianten:
Theoretisch könnten wir Genies sein; praktisch liegt aber die Vermutung wesentlich näher, daß unsere in der Geschichte erstmaligen „Denkergebnisse“ nur Unsinn darstellen, der so absurd ist, daß kein Mensch vor uns jemals auf dergleichen kommen konnte.
Ich nenne bereitwillig Namen, um mich nicht mit fremden Federn zu schmücken, „erhebe aber überhaupt nicht den Anspruch auf Neuheit; und darum gebe ich auch keine Quellen an, weil es mir gleichgültig ist, ob das, was ich gedacht habe, vor mir schon ein anderer gedacht hat“ (Wittgenstein).
Damit läßt sich ein wichtiger Bogen zum Beginn des vorigen Kapitels schlagen:
Erst im Nachhinein ist feststellbar, in welcher Tradition wir philosophisch oder theologisch wirklich stehen, das heißt, welche wir – weiter – interpretieren. Und so kann ich auch als offizieller Katholik erkennen, daß mein Denken beispielsweise (zen-)buddhistischen, jüdischen oder atheistischen Ansätzen teilweise sehr nahesteht.
Bei letzteren denke ich freilich an einen „anderen, das heißt, durchdachten Atheismus“ (Gregor Maria Hoff), wie wir ihn etwa von Albert Camus, Gilles Deleuze, Martin Heidegger, François Jullien, Bruno Latour, Richard Rorty, Jean-Paul Sartre, Peter Sloterdijk, Martin Walser oder Slavoj Zizek kennen.
Aber unsere subjektive Wirklichkeit wird natürlich erst deutlich, indem wir selbst denken, und steht nicht auf unserer Taufurkunde, die zumeist vor allem eigenen Denken ausgestellt wird, dieses aber zum Glück nicht festlegt.
Daß wir inmitten eines fundamentalen Bewußtseinswandels leben, dürften die Wenigsten von uns bestreiten wollen; weder seine Protagonisten noch die Skeptiker. Möglich ist ein solcher wohl nur in Zeiten einer Krise, und zu letzterer gehört auch immer, daß nicht klar ist,
– ob sie bestanden wird und schon gar nicht,
– wohin die Krise im positiven Falle führt.
Die Chancen auf ein gutes Ende vergrößern sich vielleicht mit der Anzahl der Menschen, die sich um ein solches bemühen. Ich glaube das, und mein Beitrag liegt vor Ihnen; als Namen für diesen „Versuch zu einer Philosophie der Freiheit“ schwebt mir „transzendentaler Explikationismus“ vor.
„Transzendental“ hat nichts mit Transzendenz zu tun, sondern meint (seit Kant) die Frage nach den notwendigen Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit empirische Erkenntnisse – unsere Wahrnehmungen also – möglich werden.
Die notwendigen Voraussetzungen der empirischen Erkenntnisse können einerseits nicht wieder in empirischen Erkenntnissen bestehen; andernfalls entstünde eine unendliche Kette.
Andererseits müssen sie aber trotzdem mit der Empirie verbunden bleiben; deswegen nicht „transzendent“, sondern „transzendental“.
Der transzendentale Explikationismus will zeigen,
– wie meine subjektiven Wahrnehmungen aus der Leibhaftigkeit des eigenen Lebens expliziert werden können, so
– daß keine objektive Wirklichkeit erforderlich ist und
– auch ohne sie ein konsistentes Gedankengbäude aufgebaut werden kann.
2. Kritik des traditionellen Denkens der Moderne
In der Moderne wurden die ideellen Seienden kaum noch geglaubt und weitgehendst durch Begriffe ersetzt. Im Kern verbleiben nur noch die materiellen Seienden, deren Gesamtheit den physikalischen Kosmos ergibt; sie sind prinzipiell wißbar oder bilden das potentiell Gewußte.
Zum aktual oder wirklich Gewußten werden die Seienden dadurch, daß wir sie wahrnehmen, das heißt, als sinnliche Abbilder in unserer Psyche darstellen. Entsprechen sie adäquat ihren Urbildern, müssen die Abbilder auch untereinander übereinstimmen oder intersubjektiv sein.
Die inadäquaten „Abbilder“ sind zwar keine Ab-, sondern lediglich Trugbilder, gehören aber natürlich dennoch unserer Psyche an.
Das führt wieder zu meinem Igel-Problem:
Wie sollen wir die Ab- von den Trugbildern unterscheiden, wenn sich die Seienden außerhalb der Psyche befinden und uns dadurch prinzipiell nicht zugänglich sind?
Natürlich existieren ungezählte „Sonder-Bilder“, denn nicht hinter allen Wahrnehmungen stehen Seiende, so daß jene weder Ab- noch Trugbilder darstellen. Die wenigsten Menschen werden Lichtreflexe, Regenbogen, Schatten, Strömungen oder ähnliches in diesem Sinne verstehen.
Aber behaupten läßt sich die Existenz von Seienden natürlich immer; weshalb sollte gerade jene Spiegelung dort keine Abbildung darstellen?
Diesen Gedanken nehmen wir konstruktiv in unsere Kritik auf:
Die Existenz von Urbildern als Basis unserer Wahrnehmungen
– läßt sich nicht nur stets behaupten – auch wenn sie nicht vorliegt –, sondern
– wird immer lediglich behauptet – und liegt nie vor.
Es gibt keinerlei Seiende; hinter Baum-Wahrnehmungen ebensowenig wie hinter den zugehörigen Schatten-Wahrnehmungen.
Wir bestreiten natürlich weder die einen noch die anderen Wahrnehmungen; ansonsten könnten Sie mein Buch mit Recht als „unsinnig“ zur Seite legen. Ich glaube nur nicht an Hinterwelten, . . .
. . . stehe damit aber freilich (im dritten Teil) vor der Aufgabe, sowohl die Baum- als auch seine Schatten-Wahrnehmungen ohne urbildliche Bäume bzw. Schatten erklären zu müssen.
Die materiellen Seienden setzen sich aus Objekten und Subjekten zusammen; zu letzteren gehören natürlich auch wir selbst.
Die Objekte lassen sich als physikalische Körper im weitesten Sinne verstehen; zu den natürlichen – leblosen, pflanzlichen, tierischen und menschlichen – Körpern kommen noch die künstlichen hinzu. Alle zusammen bilden die physikalische oder objektive Realität.
Die Tradition geht davon aus, daß auch wir Subjekte im wesentlichen unser Körper sind und folglich als solche dieser Realität angehören. „Ich bin mein Körper“ gilt weitestgehend als eine Selbstverständlichkeit.
Und das, obwohl diese Formulierung – ganz abgesehen von ihrem philosophischen Gehalt – schon rein logisch falsch sein muß:
Nur ein Subjekt, das den Körper besitzt oder hat, kann sinnvoll „mein Körper“ sagen. Würde das Subjekt – dem traditionellen Denken folgend – mit dem Körper zusammenfallen, würde dieser von sich selbst als „seinem Körper“ sprechen, und das wäre offensichtlich Unsinn.
Wir können also nicht unser Körper sein, sondern ihn lediglich haben. Natürlich anders als zum Beispiel ein Auto. Das ist aber kein Grund, aus dem Körper-Haben ein Körper-Sein zu machen; vielmehr müssen wir aufzeigen, worin sich die beiden Arten des Besitzens – von Körper bzw. Auto – voneinander unterscheiden.
Viele Philosophen und die allermeisten Theologen der Moderne haben sich zwar gegen einen solchen Materialismus oder Physikalismus gewandt, dies jedoch zumeist bloß sehr halbherzig getan:
„Natürlich sind die Subjekte im wesentlichen ihr Körper“, wurde nahezu ausnahmslos zugestanden; „aber doch nicht nur. Wir müssen dem Körper noch ein Innen hinzufügen, das aus ihm als Objekt ein Subjekt macht: Subjekte sind Körper mit Innen.“
Letzteres kann freilich die verschiedensten Formen annehmen und zum Beispiel im Geist, in einer Seele oder in einer Kombination beider etwa als unsterbliche Geist-Seele bestehen. Wir können das völlig offenlassen, weil ich dieses gesamte Konzept aus tiefster Überzeugung als unsinnig erachte und in ihm einen der Hauptgründe unserer heutigen Schwierigkeiten sehe.
Es muß doch zu Problemen führen, wenn wir von uns selbst falsch denken:
Was auch immer einem Körper hinzugefügt werden mag: Es wandelt ihn nicht in ein Subjekt um; kein Innen, kein Odem, Hauch oder Pneuma könnte ein solches Wunder vollbringen.
Aber auch diese Selbstverständlichkeit ist jedoch völlig belanglos:
Ohne Seiende gibt es nicht einmal die Körper, von denen die Tradition ausgehen zu können glaubt.
Wir bleiben jedoch trotzdem bei unserer kurzen Darstellung ihrer Grundlagen, weil sich nur Verstandenes kritisieren läßt.
Die traditionellen Subjekte bestehen also in der Einheit von Körper sowie Innen, und die Psyche, von der bisher schon laufend die Rede war, weil sie sämtliche Bilder enthält, gehört letzterem an.
Natürlich ist dieses „enthält“ unsauber formuliert. Die Psyche bildet kein Gefäß, sondern bei ihr fallen „Inhalt“ und „Gefäß“ zusammen, was wir uns leicht an einer Analogie verdeutlichen können: Jede einzelne Zahl gehört – als „Inhalt“ – der Menge aller Zahlen – dem „Gefäß“ – an.
Dem Außen der objektiven Realität mit ihren materiellen Seienden stehen damit unsere subjektiven Innen gegenüber.
Wir werden auch in der Postmoderne auf einen sehr ähnlichen Dualismus stoßen, ihn aber nahezu gegensätzlich verstehen:
Ist es nicht einfach irre, daß in diesem traditionell-modernen Weltbild mein Innen als unwirklich erachtet und dem als wirklich behaupteten physikalischen Kosmos untergeordnet wird?
Für mich sind meine Wünsche, Sorgen, Hoffnungen oder Freuden wesentlich entscheidender als alle Schwarzen Löcher, Roten Riesen, Weißen Zwerge und farbigen Quarks zusammen.
Bei unserem postmodernen Dualismus
– bildet das Innen die Wirklichkeit und besteht in meinem Leben, während
– sich außen – keine materiellen Seienden, sondern – die rein geistigen Aktanten befinden.
Sie sind subjektiv, und mit diesem Begriff decken wir den gesamten Spielraum ab von „rein subjektiv oder individuell“ über „intersubjektiv für eine Deutegemeinschaft“ bis zu „völlig intersubjektiv bzw. für alle“.
AD: „Und das ‚materiell‘ bei den Seienden bedeutet, daß sie – im Gegensatz zu den rein geistigen Aktanten – wirklich existieren?“
Nein; aber es ist gut, daß Sie nachfragen, denn diesbezüglich herrscht auch in der Literatur ein ziemliches Durcheinander.
Zum einen hat „materiell“ nichts mit einem Bestehen-aus-Material zu tun.
Zum anderen meint es auch weder wirklich noch existent, sondern objektiv – und damit stehen die Seienden den „nur“ subjektiven Aktanten gegenüber.
Meine Bauchschmerzen sind wirklich, aber nicht materiell bzw. objektiv, vielmehr (sogar: rein) subjektiv.
Mit anderen Worten bestreiten wir postmodern die Wirklichkeit, Materialität und Materielität des physikalischen Kosmos:
Die Wirklichkeit; der Kosmos ist unwirklich, weil er lediglich ein geistiges Konstrukt darstellt.
Seine Materialität; der Kosmos kennt als geistiges Konstrukt kein Bestehen-aus . . ., sondern besteht in Vorstellungen oder Überzeugungen.
Und materiell bzw. objektiv ist der physikalische Kosmos nicht, weil er als geistiges Konstrukt nur subjektiv sein kann.
„Materiell“ und „geistig“ bilden somit zwar einen Gegensatz, wie unser üblicher Sprachgebrauch erahnen läßt; aber es ist exakt der gleiche, den wir auch durch „objektiv“ bzw. „subjektiv“ ausdrücken könnten.
Das Grundproblem der Tradition besteht darin, daß ihre Seienden widersprüchlich definiert sind. Es ist unmöglich, daß sie
– sich außerhalb der Psyche befinden und
– trotzdem erkannt oder gewußt werden können.
Gegen unsere Aktanten läßt sich diesbezüglich nichts einwenden; als Projektionen können wir sie (widerspruchsfrei) denken, denn alles kann von innen nach außen projiziert, aber nichts von außen nach innen abgebildet werden.
Die Seienden sind zwar widersprüchlich, aber wir können sehr gut nachvollziehen, wie die Tradition auf die Idee ihrer Existenz kommen konnte:
Meine unbestreitbare Sonnen-Wahrnehmung läßt sich am einfachsten erklären, wenn wir sie als Abbild einer Ursonne verstehen.
Ergeben sich auch die Aktanten aus einer solchen Plausibilitätsüberlegung?
Möglicherweise „ja“, denn zumindest der Beginn des entsprechenden Gedankens ist ebenso stringent wie bei der Tradition:
Meine unbestreitbare Sonnen-Wahrnehmung wäre ausgeschlossen, wenn ich nicht leben würde. Das Wahrnehmen bildet eine Facette an meinem Leben, und letzteres somit die notwendige Voraussetzung sämtlicher Wahrnehmungen.
Traditionell denkende Gläubige erweitern die materiell-immanente Wirklichkeit um eine immateriell-transzendente, indem sie Gott zwar als reinen Geist behaupten, sich ihn aber dennoch nach dem Modell der Körper vorstellen. Er gehört dann zwar offiziell dem „Jenseits“ an, aber die Frage, worin sich das vom „Diesseits“ unterscheidet, wird zumeist überspielt; häufig bilden die beiden Bezeichnungen die einzige Differenz.
Es gibt das eine wie das andere; der transzendente Gott existiert neben dem immanenten Kosmos, beide sind vorhanden und wechselwirken vielleicht sogar miteinander; etwa indem Gott in die Geschichte eingreift.
Hermann Schmitz kritisierte des öfteren, daß sich die traditionelle Philosophie der Moderne an der Physik fester Körper orientiere und die Wirklichkeit im Sinne eines Lego-Baukastens verstehe. Alles, was sich in der Kiste befindet, gehört dazu – kann zusammengebastelt und in unserer Psyche abgebildet werden.
Mit meiner Kritik bestreite ich wohlgemerkt nicht die Transzendenz, sehr wohl aber Immanenz und Transzendenz in ihrer traditionellen Denkform.
Deswegen ist es für mich auch ausgeschlossen, daß Gott in die Geschichte eingreift.
Das ist kein Bestreiten der Allmacht Gottes, denn dazu wäre ich höchstens in der Lage, wenn mir klar wäre, worin sie überhaupt bestehen könnte. Vielmehr geht es wiederum nur um die Form, in der die Tradition Gottes Wirken in der Geschichte denkt:
Sie betrachtet letztere (ebenso wie Gott) als ein Seiendes, womit sich die gesamte traditionelle Konstruktion für uns erledigt hat.
Möglicherweise ist Gott allmächtig, aber in die Geschichte eingreifen kann er – trotzdem – nicht. Wohl nicht einmal zu denken vermag er, wie wir im ersten Teil schon erwähnt hatten; denn was soll dieses Suchen nach der Wahrheit bei ihm bedeuten, wenn er sie selbst ist oder zumindest hat?
2.1. Die Wirklichkeit wechselt von der objektiven Welt zu meinem Leben
Der Übergang vom Mittelalter zur Moderne hat das traditionelle Denken kaum berührt. Die Erde beispielsweise blieb objektiv-real, und es wurde lediglich aus der wirklichen Scheibe eine wirkliche Kugel.
Nun dürfen wir uns freilich nicht vorstellen, die Physiker der beginnenden Moderne hätten das alte Trugbild der Erdscheibe mit der objektiv-realen Erde verglichen, den bisherigen Fehler erkannt und daraufhin das falsche Scheiben-Bild durch das richtige Kugel-Bild ersetzt. Im nächsten Abschnitt versuche ich, Ihnen zu zeigen, daß eine solche Geschichte mit Sicherheit falsch ist, weil man eine Erdkugel prinzipiell nicht wahrnehmen kann.
Möglich wäre dagegen etwa Folgendes:
Galileo Galilei und seine Kollegen sind bei ihren Naturbeobachtungen auf eine wachsende Zahl von Schwierigkeiten gestoßen, wenn sie die Erde als eine Scheibe dachten. Es existierten gewiß mehrere Wege, um die sich ergebenden Probleme zu lösen; einer von ihnen bestand darin, die bisherige Vorstellung oder das alte Modell Erde zu korrigieren und es statt der Scheibe mit einer Kugel zu versuchen.
Diesen letzten Absatz könnten wir wortwörtlich unterschreiben; er gilt auch in der Postmoderne, denn der einzige in dieser Hinsicht relevante Unterschied zur Tradition kommt darin nicht zum Ausdruck.
Scheibe und Kugel sind zwar in beiden Denkformen „nur“ Modelle, aber:
Traditionell handelt es sich um Modelle
– von der objektiv-realen Erde als einem Seienden,
– die sich im Verlaufe der Forschung immer stärker an die Erde annähern sollen und
– die – nicht der objektiven Welt, sondern – nur dem subjektiven Weltbild angehören.
(Trotz der objektiven Welt bleiben die Weltbilder natürlich subjektiv, da jeder von uns beim Abbilden der ersteren andere Fehler begehen kann. Unterlaufen uns keine, sind die Weltbilder dennoch nicht objektiv, sondern „nur“ intersubjektiv.)
Postmodern handelt es sich – da keine Seienden existieren – um Modelle
– ohne ein Wovon bzw. einen Referenten,
– die sich also weder auf etwas beziehen noch an etwas annähern und
– nur dem subjektiven Weltbild angehören können, denn eine subjektive Welt gibt es nicht.
AD: „Darf ich Sie bitte einmal unterbrechen, auch wenn es gerade sehr spannend war . . .
Die objektive Welt mit ihren Seienden nehmen Sie der Tradition nicht ab und wird gecancelt.
Wir sind zwar überzeugt von der Wirklichkeit der Aktanten; aber die gehören – wie alle Modelle und insbesondere Scheibe sowie Kugel soeben – zum subjektiven Weltbild.
Eine subjektive Welt ist unmöglich, weil widersprüchlich, sofern wir die Welt als etwas uns Vorgegebenes oder von uns Unabhängiges verstehen. Dann lebt auch der „Kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry auf seinem Planeten in einer eo ipso objektiven Welt – obwohl er ganz allein ist.
Damit sind wir endlich bei meinem Problem:
In einem Weltbild kann niemand leben; zum Beispiel weil es rein geistig ist; wo lebe ich dann, wenn Sie die objektive Welt ablehnen und sich die subjektive als widersprüchlich erweist?“
Ihre Frage nach der Sphäre, in der sich unser Leben abspielt, ist nur dann sinnvoll, wenn wir als Subjekte etwas räumlich Ausgedehntes sind. Auf diese Thematik waren wir bereits einmal gestoßen; es gibt beispielsweise den Käfer in der Schachtel, den Kern in der Kirsche und das Gehirn im Schädel.
Wären wir Subjekte also – im Sinne der Tradition – tatsächlich unser Körper, hätten Sie mich jetzt in Verlegenheit gebracht: Wo sollten wir leben ohne Welt?
Aber bei unräumlichen Entitäten ist Ihre Frage – nicht unbeantwortbar, sondern – sinnleer: Wo ist die Seele? Der Geist? Das Leben? Das Bewußtsein? Der Sinn? Gott?
Sollte sich im Zuge unserer weiteren Überlegungen bestätigen, daß wir Subjekte tatsächlich keine räumliche Ausdehnung besitzen, dürfte ich an dieser Stelle abbrechen:
Ihre Frage ist falsch gestellt, weil Subjekte keine Sphäre besitzen oder benötigen, in der sie leben (können).
Christen würden unser Gespräch möglicherweise nicht beenden, sondern Ihnen antworten, daß wir oder ausnahmslos alle Subjekte in Gott leben – freilich mit einem ganz anderen, weil unräumlichen „in“.
Ich glaube das auch, möchte aber unbedingt hinzufügen:
Ich muß das nicht sagen, denn Sie haben mich nicht in Verlegenheit gebracht; es ist gar kein „Lebens-Raum“ erforderlich. Meine Bestätigung soeben ist also kein neuer Gottesbeweis, sondern lediglich ein Glaubensbekenntnis, das Sie
– nicht teilen sollen und
– sich für unsere gemeinsamen Überlegungen natürlich als absolut belanglos erweist.
Aber daß es um einen gewaltigen Bewußtseinswandel geht, dürfte bereits deutlich geworden sein – obwohl sich scheinbar gar nicht viel am traditionellen Denken geändert hat:
Wir haben lediglich
– die Seienden gestrichen, die aber ohnehin noch niemand jemals erfahren hat, und
– nehmen ernst, daß wir dann auch
— nicht mehr unser Körper (mit einem beliebigen Innen) sein können sowie
— das traditionelle Wahrheitsverständnis korrigieren müssen (Abschnitt 2.1.2.).
Wie ist es möglich, daß Korrekturen an einem bloßen Glaubensbekenntnis tiefgreifende Konsequenzen nach sich ziehen?
Meine wichtigste Antwort läuft darauf hinaus, daß die subjektiven Weltbilder mit ihren Modellen von der Tradition bzw. Postmoderne nahezu gegensätzlich verstanden werden:
Traditionell von der Welt her; das Weltbild sollte letztere möglichst adäquat wiedergeben. Vom Erreichen dieses Zieles hat sich zumindest die Moderne die Lösung all unserer Probleme versprochen.
Natürlich war das naiv; niemand konnte oder kann jemals sein Weltbild mit der Welt vergleichen. Wäre dies möglich, müßte unser Streichen der Welt unter anderem auf Widersprüche führen, von denen ich bisher nichts sehe.
Sollten Sie glauben, jemals Ihr Weltbild an der Welt upgedated zu haben, wüßte ich gerne, wie Sie dabei vorgegangen sind. Wo befindet sich die objektive Welt? In welche Richtung muß man schauen, um sie selbst zu sehen und nicht bloß Wahrnehmungen zu haben (Abschnitt 2.1.3.)? Wie sind Sie – die Abbilder überspringend – zu den Urbildern gelangt?
Die Postmoderne kennt nicht nur keine Welt, sondern versteht auch gar nicht, wozu eine solche dienen könnte:
1. Im dritten Teil werden wir zeigen, daß sich die Wahrnehmungen sehr leicht und sogar anschaulich ohne Seiende erklären lassen.
2. Nur dazu und zu keinem anderen Zweck werden letztere traditionell benötigt, so daß wir sie getrost streichen können.
3. Wichtig sind dagegen die Weltbilder, denn in beiden Denkformen orientieren wir Subjekte uns an ihnen, und eine andere Möglichkeit besteht gar nicht.
4. Damit herrschen klare Verhältnisse, und wir sind nicht mehr genötigt, irgendetwas anzunehmen oder grundlos zu behaupten:
a) Unsere Wahrnehmungen werden ohne Seiende erklärt.
b) Die Weltbilder können bei fehlender Welt keine Bilder von dieser sein.
c) Vielmehr verstehen wir sie in dem einen Sinn, in dem sie seit zweieinhalb tausend Jahren genutzt werden – zur Orientierung im eigenen Leben.
5. Wir ersetzen in unserem Ansatz also das, was als Wirklichkeit gilt; aus der objektiven Welt der Tradition wird in der Postmoderne mein subjektives Leben.
6. Damit führt keine theoretische Erkenntnis mehr von der Welt zum Weltbild, sondern eine praktische vom Weltbild zum eigenen Leben.
AD: „Wenn ich Sie richtig verstehe, gilt Ihre Kritik allein dem Glauben an eine objektive Welt, denn eine subjektive wäre widersprüchlich und ist damit ohnehin ausgeschlossen. Es gibt also gar keine Welt, aber die eo ipso subjektiven Weltbilder sind Ihnen völlig gleichgültig?„
Natürlich; würden Sie beispielsweise glauben, daß die Erdscheibe von einem Elefanten getragen wird, der auf einer Schildkröte steht, während diese im Ozean des Nichts schwimmt, würde ich mich gewiß sehr wundern und vielleicht nachfragen, wie Sie davon überzeugt sein können.
Daß diese Sichtweise „von gestern“ oder „unwissenschaftlich“ sein soll, ist dabei völlig belanglos; es geht weder um Modetrends noch um den Zeitgeist, sondern allein um Ihr Leben. Als entscheidend kann somit immer nur die Frage gelten, ob das Weltbild ihm dient.
Wenn Sie mit Ihrem Tier-Bild glücklich und zufrieden sind, ziehe ich den Hut und mich diskret zurück, weil ich Ihnen dann nichts Konstruktives zu sagen habe. Niemand kann mehr, als seinen eigenen Weg zur Fülle des Lebens finden. Ich möchte denen helfen, die intellektuell redlich danach suchen, ihn aber noch nicht gefunden haben und leere Worte nicht mehr hören können.
Michel Henry spricht von den modernen als den „verlorenen Menschen“, die sich durch „ihr einseitig objektivistisches Denken in eine Masse von geistig Behinderten verwandeln“ werden, denn „jeder reine Objektivismus ist eine Philosophie des Todes“.
„Masse von geistig Behinderten“ und „Philosophie des Todes“ klingen nicht sehr ermutigend. Aber wenn wir uns umschauen – bis in die Universitäten und Kirchen hinein –, wo heute noch
– konsequent und grund-legend nachgedacht,
– das Erbe der Aufklärung hochgehalten,
– die Subjektivität ernstgenommen und
– nach der Wirklichkeit des Lebens gefragt wird,
werden wir vielleicht doch erschrecken und Henry stillschweigend-verzweifelt ein wenig Recht geben.
AD: „Dem traditionellem Denken zufolge sind wir unser Körper und damit im physikalischen Kosmos pure Nichtse; jede Ameise ist für ihren Haufen millionenfach wichtiger als wir für die Welt.
Jacques Monod schrieb in seinem Bestseller ‚Zufall und Notwendigkeit‘ ganz in diesem Sinne:
‚Das Universum trug weder das Leben, noch trug die Biosphäre den Menschen in sich. Unsere Losnummer kam beim Glücksspiel heraus.
Der Mensch weiß endlich, daß er in der teilnahmslosen Unermeßlichkeit des Universums, aus dem er zufällig hervortrat, allein ist. Wir sind Zigeuner am Rande eines Universums, das taub ist für unsere Musik und unempfindlich für unsere Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.
Nicht nur sein Los, auch seine Pflicht steht nirgendwo geschrieben. Es ist an ihm, zwischen dem Reich und der Finsternis zu wählen.'“
Dieses Unbehaust-Sein ist eine Atmosphäre, die das Denken großer Geister seit dem Zerfall der christlichen Schöpfungsordnung zu Beginn der Moderne mitbestimmte. Schon Blaise Pascal konstatierte:
„Ich sehe diese entsetzlichen Weiten des Weltalls, die mich einschließen, und ich finde mich an einen Winkel dieses gewaltigen Raums gefesselt, ohne daß ich weiß, warum ich an diesen Ort und nicht vielmehr an einen anderen gestellt bin und warum diese kurze Frist, die mir zu leben gegeben ist, mir gerade zu diesem Zeitpunkt und nicht vielmehr zu einem anderen der ganzen Ewigkeit, die mir vorausgegangen ist, und der ganzen Ewigkeit, die auf mich folgt, bestimmt ist . . .
Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume und Zeiten erschreckt mich.“
AD: „Wenn Sie Recht haben mit Ihrer Überzeugung, daß keine Welt existiert, läßt sich dieses traditionell-moderne Denken nicht damit rechtfertigen, daß es richtig sei. Weshalb denken wir trotzdem so ‚unmenschlich‘? Warum tun wir uns das an?“
Sie stellen damit eine fundamentale Frage. Es gibt keine Welt, die unser Denken erzwingen, provozieren oder wenigstens leiten könnte. Wer oder was tut es dann?
Meines Erachtens gibt es nur eine Antwort; wir erkennen sie jedoch nicht sofort, weil unsere Frage die Form „Warum führt unser Denken zu diesem Weltbild?“ besitzt.
Ich glaube, sie ist falsch gestellt, weil wir darin Ursache und Wirkung vertauschen. Unser Denken führt im allgemeinen nicht oder höchstens geringfügig zum eigenen Weltbild; primär wurde uns letzteres gelehrt. Dieses anerzogene Weltbild bestimmt unser Denken, weil es ungemein schwerfällt, seinen Horizont oder Rahmen zu verlassen und dagegen anzudenken.
AD: „Sie sagen also, daß umgekehrt das Weltbild zum Denken führt – und wir geben es an unsere Kinder weiter . . .; der Gedanke, daß mit ‚Erbsünde‘ etwas derartiges gemeint sein könnte, drängt sich förmlich auf.“
Ja; wie schwer es ist, die Überlieferung hinter sich zu lassen,
– erfahren Sie unmittelbar beim Lesen meines Buches und
– zeigt sich an den vielen Versuchen,
— unsere brennenden Fragen zu beantworten,
— ohne das Weltbild wesentlich korrigieren zu müssen.
AD: „Hätten Sie dazu vielleicht ein eingängiges Beispiel?“
Natürlich; unsere obige Problematik, daß wir als „Krone der Schöpfung“ im physikalischen Kosmos pure Nichtse sind, versuchen einige Philosophen mit Hilfe des (starken oder schwachen) anthropischen Prinzips zu lösen. Ihm zufolge ist der ganze Aufwand mit seinen Wahnsinns-Ausdehnungen notwendig, damit wir existieren können. Wir sind die „Krone der Schöpfung“, weil Gott den physikalischen Kosmos um unseretwegen schaffen „mußte“.
Das ist ein Gedanke, der nicht von vornherein unsinnig sein muß. Die Idee allein genügt jedoch ebensowenig wie die eigene Überzeugung davon. Auch mit dem festesten Glauben dienen wir noch niemandem; das wirkt – mit Recht – häufig als dickköpfig, stur oder beratungsresistent.
Wer etwas Altes glaubt, ohne zeigen zu können, daß es auch heute noch sinnvoll gedacht werden kann, ist nicht rechtgläubig-treu, sondern „von gestern“. Die Denkbarkeit ist ein wesentliches Kriterium des Glaubens; Martin Seel konkretisierte das sehr schön:
„Denkbar ist bekanntlich vieles,
konsistent denkbar schon erheblich weniger und
plausibel denkbar– das heißt, in Einklang mit unserem übrigen Wissen – gar nicht mehr so viel.“
Vielleicht darf ich Sie auch nochmals an das obige Zitat von Höhn erinnern:
„Wer Theologie studiert, muß lernen, daß Frömmigkeit nicht vor Leichtgläubigkeit schützt. Wer nur etwas bezeugt, ohne davon auch überzeugen zu können, hat ein Glaubwürdigkeitsdefizit. Den Glauben zu festigen, vermag keine Theologie, der die Frömmigkeit ihres Anstrichs wichtiger ist als ihre wissenschaftliche Redlichkeit.“
Das anthropische Prinzip kann also, mit anderen Worten, allein dann von Interesse sein, wenn
– zum einen die entsprechende Denk-Möglichkeit ersichtlich und
– zum anderen deren Realisierung nicht völlig ausgeschlossen ist.
Erst und allein dann läßt sich mit dieser Idee argumentieren; ein vernünftiger Glaube entspricht keinem Wunschkonzert – obwohl er „nur“ Glaube ist.
Auf einem enorm hohen Reflexionsniveau wollte beispielsweise John Archibald Wheeler, der letzte große Schüler Albert Einsteins, die Denk- und Realisierbarkeit des anthropischen Prinzips nachweisen. Aber selbst sein Versuch, die Notwendigkeit des modernen Kosmos für unsere Existenz nachzuweisen, scheiterte.
Anton Friedrich Koch unternimmt gegenwärtig einen neuen Anlauf in diese Richtung; sein Ergebnis ist wohl noch offen, aber leider auch nicht besonders leicht nachvollzieh- oder gar überprüfbar. Die Fragestellung lautet:
„Wie muß der Kosmos beschaffen sein, damit in ihm Beobachter möglich sind, für die er existiert?“
2.1.1. Hohlwelttheorie
Die meisten unserer Zeitgenossen gehen davon aus. daß Galilei den Streit mit der Kirche über die Bewegung von Erde und Sonne für sich entschieden hätte. Das stimmt nicht; im Nachhinein können wir sehen, daß dem Ganzen ein Irrtum zugrunde lag:
Beide Seiten glaubten, über Seiende und deren wirkliche Bewegungen in einem absoluten Raum zu sprechen. Daß wir uns etwas phantastisch vorstellen können, ist absolut kein Argument für seine Existenz
Wir wissen zumindest seit der Speziellen Relativitätstheorie, daß weder die damals strittigen Bewegungen noch der sie ermöglichende Raum – der Äther – existieren; beide wurden fälschlicherweise als Seiende gedacht. Beobachten läßt sich jedoch nur die Relativbewegung zwischen Erde und Sonne, so daß auch nur sie als Gegenstand eines sinnvollen Diskurses dienen kann.
Wollen wir diese Relativbewegung wiedergeben, muß unsere Beschreibung notwendigerweise von irgendeinem als fest angenommenen Punkt aus erfolgen. Galilei wählte – aus heutiger Sicht – als Fixpunkt die Sonne, die Kirche fand die Erde besser, und Newton hätte sich wahrscheinlich für den gemeinsamen Schwerpunkt der beiden Himmelskörper entschieden. Mehr steckt nicht dahinter; alle drei Beschreibungsweisen und viele andere sind heute (noch) möglich, welche von ihnen wir bevorzugen, hängt allein von unseren Zielen und Vorlieben ab.
Die damaligen Auseinandersetzungen wurden jedoch erbittert geführt, weil beide Parteiungen dies noch nicht (ein)sehen konnten und fälschlicherweise annahmen, von der Wirklichkeit selbst zu sprechen, so daß es um die Wahrheit – der Bibel bzw. Naturwissenschaft – geht.
Im Galilei-Prozeß besitzt die Beschreibung keinerlei Einfluß auf das Beschriebene; die Relativbewegung von Erde und Sonne. Ihre Darstellung kann also höchstens elegant, denkökonomisch, einsichtig oder ähnliches sein.
Das bedeutet, daß das Beschriebene auch ohne seine Beschreibung existiert oder wir die beiden völlig voneinander trennen können.
Das muß nicht so sein; viele Beschreibungen bringen das Beschriebene erst hervor oder erzeugen es, so daß wir besser von Generieren als von Beschreiben sprechen sollten, um die Einheit der „beiden Seiten“ anzudeuten.
Ein sehr schönes Beispiel für eine solche Genese bildet die Hohlwelttheorie.
Unter dieser Überschrift treiben auch viele Sektierer ihr Unwesen und wird ziemlicher Blödsinn publiziert. Für eine seriöse Darstellung würde ich Ihnen Roman Sexl empfehlen; er war bis zu seinem Tod Professor für Theoretische Physik an der Universität seiner Heimatstadt Wien.
Den Kerngedanke der Hohlwelttheorie bildet die Inversion oder Spiegelung an der Kugel. Hierbei geht es darum, daß jedem Punkt aus ihrem Inneren eineindeutig ein Partner aus dem Äußeren der Kugel zugeordnet wird (und umgekehrt). Daß geschieht auf folgende Weise:
1. Wir zeichnen einen Strahl aus dem Mittelpunkt der Kugel heraus bis ins Unendliche.
2. Die beiden Punkte eines Paares liegen jeweils auf dem gleichen Strahl.
3. Ihre Abstände vom Mittelpunkt sind r(i) bzw. r(a), und der Kugelradius ist R.
4. Mittels der Formel r(i) • r(a) = R² können Kugelinneres und -äußeres vertauscht werden.
Nun wird auch der Name „Hohlwelttheorie“ verständlich:
Identifizieren wir unsere mathematische Kugel mit der Erde, so geht deren Oberfläche in sich selbst über; wenn r(i) = R ist, muß auch r(a) = R gelten. Wir stehen also mit den Füßen wie gewohnt auf der Erdoberfläche, aber unser Kopf zeigt Richtung Erdmittelpunkt. Über uns oder weiter bei ihm befinden sich die Wolken, Flugzeuge sowie Sterne und der Dreck, die Lava oder das Grundwasser unter unseren Füßen sind nun im Äußeren der Kugel lokalisiert.
Im Internet werden sehr viele, auch interaktive Verstehenshilfen angeboten; mit meiner Software kann ich Ihnen leider keine anschaulichen Bilder zeichnen. Sie können sich also im Netz selbst überzeugen – oder mir glauben:
Die Spiegelung an der Kugel gehört zu den konformen mathematischen Abbildungen, die sehr schöne, einfache Eigenschaften besitzen. Zum Beispiel ändern sich die Winkel beim Transformieren nicht und wird eine Gerade im Außen zum Kreis im Innen; die Tangente etwa zu einem Kreis mit dem Radius ½R.
Für uns ist jedoch nur ein einziger Punkt wichtig:
Wir glauben außen zu leben; gestalten Experimente und führen Messungen durch.
Hohlwelttheoretiker glauben innen zu leben; gestalten Experimente und führen Messungen durch.
Die beiden Ergebnisreihen stimmen 100%-ig überein, so daß keinerlei Möglichkeit besteht, sich begründet für eine der beien Seiten und damit gegen die jeweils andere zu entscheiden.
Funktioniert die eine Beschreibungsweise, dann tut dies auch die andere.
Funktioniert die eine Beschreibungsweise nicht, dann tut dies auch die andere nicht.
Damit haben wir unser Ziel erreicht:
– Führt die eine Darstellung dazu, daß wir überzeugt sind, auf einer Dreckkugel zu leben,
– während uns bei der anderen ebenso klar ist, in einer Hohlkugel zu leben, dann
— muß unser Glaube das Resultat der jeweiligen Beschreibung sein, so daß
— wir ohne diese weder auf einer Dreck- noch in einer Hohlkugel leben würden.
Mit anderen Worten:
Wer behauptet, wir würden uns gemeinsam mit den Wolken, Flugzeugen und Sternen über uns in einer Hohlkugel befinden, hat natürlich Unrecht.
Ebenso wie derjenige, der behauptet, wir würden uns gemeinsam mit den Wolken, Flugzeugen und Sternen über uns im Raum außerhalb einer Dreckkugel befinden.
Man kann die Welt so und so beschreiben; tut dies keiner, ist sie auch weder so noch so.
AD: „Dann waren Sie oben ein bißchen voreilig:
Bei der Hohlwelttheorie wird einsichtig, daß das ‚Beschreiben‘ kein bloßes Beschreiben sein kann, sondern ein Generieren ist.
Sie können nicht nachweisen, daß es sich beim Galilei-Prozeß ebenso verhält – dürfen es aber auch nicht ausschließen. Es wäre also theoretisch denkbar, daß sämtliche ‚Beschreibungen‘ in Wirklichkeit Generierungen sind.“
Das war richtig, und ich bin sogar überzeugt, daß es sich tatsächlich so verhält.
Das paßt zudem ausgezeichnet zu der heute weitgehendst anerkannten Konsequenz der Quantentheorie, daß die angeblichen Meßprozesse nicht(s) bereits Vorhandenes messen, sondern ihr Resultat selbst erst hervorbringen. Ein Elektron beispielsweise besitzt keinen Ort, wenn er nicht gerade „gemessen“, das heißt, erzeugt wurde.
Wenn Sie in diesem Abschnitt mitgehen konnten, dürfte Ihnen unser Entwurf bereits etwas durchsichtiger geworden sein:
1. Das Beschreiben und „Messen“ gehört zum Leben.
2. Wie ich es tue, hängt von meinem Weltbild ab.
3. Die Resultate des Beschreibens bzw. „Messens“ bestehen in den Wahrnehmungen.
4. Ohne mein Leben – ohne mein Beschreiben und „Messen“ – gäbe es letztere nicht, . . .
5. . . . denn wir nehmen nicht etwas wahr, was auch ohne unser Tun vorhanden ist.
6. Seiende sind damit als Referenten unserer Wahrnehmungen unnötig.
7. Da sie keine andere Funktion besitzen, können wir die Referenten streichen.
8. Damit ändert sich für Sie absolut nichts – nur das traditionelle Glaubensbekenntnis dürfen Sie aufgeben.
2.1.2. Das traditionelle Wahrheitsverständnis
Im Kapitel 2.1. hatte ich geschrieben, daß wir nach unserem Streichen der Seienden das traditionelle Wahrheitsverständnis korrigieren müßten. Darum soll es nun gehen, und es besteht kein Grund, uns hierbei auf den physikalischen Kosmos zu beschränken.
Die Wirklichkeit besteht für die Tradition in Seienden, die vollkommen unabhängig von uns oder objektiv vorhanden sind; die materiellen Seienden des Kosmos bilden die eine Variante und die ideellen Seienden der Ideenwelt die andere.
In unserer Psyche befinden sich die verschiedensten Bilder, und wir haben die Aufgabe festzustellen, welche von ihnen die adäquaten Abbilder der uns vorgegebenen Urbilder sind. Nur auf sie ist Verlaß, und ausgehend von ihnen müßten wir unser Wirklichkeitsbild gestalten.
Da uns die Seienden verborgen bleiben, ist das eine mehr als problematische Aufgabe. Nach welchem Kriterium sollten wir vorgehen, um die Übereinstimmung zweier Seiten zu prüfen, von denen die eine immer fehlt?
Daß sich bestimmte Wahrnehmungen stetig wiederholen, ist auch kein gutes Argument. Vielleicht beschreiben und „messen“ wir nur immer wieder gleich, haben einen Tick oder sind vernarrt in bestimmte Überzeugungen.
Die großen Denker der Tradition waren sich dieser Schwierigkeit bewußt und definierten trotzdem „veritas est adaequatio intellectus et rei“, das heißt, die Wahrheit als Übereinstimmung der Abbilder mit ihren Urbildern.
Finden können wir eine solche Wahrheit freilich nur dann, wenn uns Gott bzw. der Nous auf seiten der Wirklichkeit helfen, denn sie allein sind zu dem Vergleich fähig, den die Erkenntnis der Wahrheit verlangt. Damit wird verständlich, weshalb Gott in der abendländischen Philosophiegeschichte eine so große Bedeutung zukommt.
Gott | |||||
↓ | ↓ | ||||
Außen | Innen | ||||
Wirklichkeit | Psyche | ||||
Seiende | Bilder | ||||
Urbilder | ← Wahrheit → | – Abbilder | |||
———– | – Trugbilder | ||||
———– | – Sonderbilder |
Abbildung 2.1.2.
Ich persönlich habe damit auch keine Schwierigkeiten; das Einbeziehen Gottes muß nur tatsächlich notwendig sein und darf nicht erforderlich werden, um unsere Unzulänglichkeiten zu kompensieren:
1. Mir ist die Wahrheit etwas sehr Wichtiges.
2. Der Tradition zufolge können wir sie ohne Gott nicht erreichen.
3. Das ermöglicht zumindest zwei Deutungen:
a) Manche Christen sehen darin einen Gottesbeweis.
b) Ich lehne das ab und halte den zweiten Punkt für falsch.
Was soll ein „Verständnis“ der Wahrheit, wenn wir keinen Zugang zu ihr besitzen?
Haben wir dann überhaupt etwas verstanden?
AD: „Vielleicht geht das auch gar nicht; die Christen sagen, Gott sei die Wahrheit.“
Im Sinne der Tradition ist dieser Satz sinnleer:
Wir wissen nicht, was Wahrheit sein soll, so daß die Christen mit ihrer Aussage Gott kein Prädikat zuordnen können.
Dann läßt sie sich jedoch nur so verstehen, daß „Wahrheit“ einen zweiten – und damit unnötigen – Namen für Gott darstellt.
AD: „Sie betonen, daß der Satz im Sinne der Tradition sinnleer sei; ist das postmodern anders?“
Ich glaube „ja“. Wir kommen noch ausführlich darauf zu sprechen; jetzt nur kurz eine Antwort auf Ihre Frage:
Wir unterscheiden im weiteren sehr genau zwischen „wahr“ und „richtig“.
Nur was wirklich ist, kann sich als wahr oder unwahr erweisen; das betrifft folglich ausschließlich mein eigenes Leben; es sollte wahr sein. In diesem Zusammenhang ist auch der Gedanke, daß Gott die Wahrheit sei, nicht ausgeschlossen.
Alles Unwirkliche – also beispielsweise meine Vorstellungen und mein Gesagtes – kann dagegen bestenfalls richtig bzw. falsch sein.
AD: „Aber Nietzsche hat doch wirklich gesagt: ‚Gott ist tot.‘„
Ja; wir sprechen so im Alltag, dürfen das aber nicht ungeprüft als bloße Floskel übernehmen, um dann philosophische Konsequenzen daraus zu ziehen.
Nietzsche hat gesagt: „Gott ist tot.“
Sie haben gesagt: „Nietzsche hat gesagt: ‚Gott ist tot.'“
Das läßt sich natürlich beliebig fortsetzen . . .
Die Wirklichkeit besteht allein in meinem Leben, und dazu zählt nicht zuletzt auch mein Sagen; all das kann unwahr und sollte wahr sein.
Da das Sagen jedoch nicht nur zum Leben gehört, sondern nur zum Leben gehören kann, gibt es einzig und allein mein eigenes Sagen; ich besitze doch keinerlei Zugang zu einem anderen Leben.
Das läßt sich wortwörtlich auf das Hören übertragen. Dazu müssen wir lediglich die beiden Vorurteile überwinden,
– unser Hören erfolge rein passiv, so daß
– das Gehörte mit dem von anderen Gesagten zsammenfalle.
Auch das Hören existiert folglich nur als das meinige und sollte ebenfalls wahr sein.
Damit können wir diesen Gedankengang abschließend zusammenfassen:
1. Es gibt nur mein Sagen sowie Hören.
2. Wozu ersteres – eo ipso bei anderen Subjektivitäten – führt, ist mir nicht zugänglich.
3. Mein Hören bewirkt das Gehörte, das (unter anderem) richtig oder falsch sein kann.
4. Wie oft das Wort „Sagen“ in dem rot hervorgehobenem Text auch immer vorkommen mag; das ist ausschließlich Gehörtes, . . .
5. . . . denn es gibt nur mein Sagen, mein Hören und mein Gehörtes.
6. Aus dem traditionellen „Herr Müller hat gesagt . . .“, wird postmodern „ich habe gehört . . .“.
2.1.3. Mein Körper als Aktant
Stellen wir uns vor, Sie frühstücken im Garten und sehen, wie der böse Hund des Nachbarn Ihre liebe Katze jagt.
H → K
Im Sinne der Tradition mit ihrem Glauben an Seiende ist unsere Symbolik falsch.
Wir Menschen verfügen über ganz bestimmte, artspezifische Sinnesorgane und nur mit ihnen können wir wahrnehmen. Im Vergleich zu Fledermäusen, Bienen oder Maulwürfen wird sehr deutlich, daß all unsere Wahrnehmungen den Stempel „menschlich“ tragen. Wir sehen also niemals neutrale Abbilder der Urbilder, sondern immer nur „menschlich“ verfremdete und hätten deshalb besser so formulieren sollen:
H(M) → K(M)
AD: „Das ist irre! Wir identifizieren die menschliche Wahrnehmung H(M) eines Hundes mit dem Hund H und erklären damit jene zu einem Seienden. Warum eigentlich gerade die menschliche Wahrnehmung? Ein geistiges Tohuwabohu!“
Ja; wir sehen uns im Spiegel und sagen von dieser Wahrnehmung: „Das bin ich.“ So als wären wir Spiegelbilder!
Die rechte Seite ist immer noch falsch, denn unsere Hundewahrnehmung H(M) rennt nicht unserer, sondern ihrer Katzenwahrnehmung nach, das heißt, demjenigen, was der Hund dort sieht, wo sich unsere Katzenwahrnehmung befindet.
H(M) → [K(M)](H)
Rechts geht es nicht weiter; Hundewahrnehmungen sind uns nicht zugänglich.
Und die linke Seite ist unverständlich:
Dort steht, wie das Seiende Mensch das Seiende Hund wahrnimmt. Das sehen wir; aber wir wissen keineswegs, was das Seiende Mensch ist, denn das kennen wir doch auch immer nur mit dem Abbild-Stempel „menschlich“ und niemals als neutrales Ur- oder Abbild. Wir müßten also überall M durch M(M) ersetzen – und werden damit nie fertig:
M → M(M) → [M(M)](M) → {[M(M)](M)}(M) → . . .
Wie kann es zu diesem Chaos kommen?
Wir haben nur drei traditionelle Voraussetzungen ernstgenommen:
1. Es gibt Seiende.
2. Wir erkennen sie in unseren Wahrnehmungen.
3. Diese bilden nicht neutral ab, sondern sind artspezifisch.
Ich vermag beim besten Willen nicht zu sehen, welche dieser drei Prämissen aufgegeben werden könnte,
– um das angedeutete Chaos zu vermeiden und
– trotzdem noch innerhalb des traditionellen Denkmodells zu verbleiben.
AD: „Ich verstehe Ihr Problem, kann aber nicht sehen, wie sie es lösen wollen.“
Wir versuchen es und unterscheiden dazu – mit der Tradition – streng zwischen Subjekten und Objekten. Letztere können die verschiedensten Formen annehmen; innerhalb der objektiven Realität gibt es unter anderem Flüssigkeiten, Blitze, Schallwellen und Körper. Bei unserem gegenwärtigen Thema sind nur letztere von Interesse, so daß ich mich, ohne Mißverständnisse befürchten zu müssen, auf die Körper beschränken kann.
Könnten wir uns jetzt etwa in einer Videokonferenz sehen, hätten Sie eine Wahrnehmung – von mir, von meinem Körper oder wovon eigentlich?
Die traditionelle Antwort ist einfach:
Als Subjekt falle ich mit meinem Körper zusammen, der von den meisten Denkern durch ein bestimmtes Innen ergänzt wird. Da dieses jedoch unsichtbar ist, haben Sie eine Wahrnehmung
– von meinem Körper als einem Seienden und damit
– von mir Subjekt als einem Seienden.
OBJEKTIVE REALITÄT | |||
Seiende | |||
∋ |
|||
Wahrgenommene | |||
Urbilder | |||
PSYCHE | |||
—————— | |||
Wahrnehmungen | |||
Abbilder | |||
jetzt |
Abbildung 2.1.3.-1
Postmodern haben Sie natürlich exakt die gleiche Wahrnehmung; wir verstehen sie nur anders.
Ohne Seinde kann Ihre Wahrnehmung auf der einen Seite weder eine von mir noch von meinem Körper sein.
Auf der anderen Seite läßt sich schwerlich bestreiten, daß Ihre Wahrnehmung eng mit meinem Körper zusammenhängen muß.
Dieser „Widerspruch“ läßt sich leicht auflösen:
Ihre Wahrnehmung
– ist keine von meinem Körper, sondern
– besteht in der Aktualität oder im Jetzt meines Körpers.
Mein Körper ist ein Aktant; ich kann – den Glauben an – seine Existenz nicht ernstlich bestreiten.
Ihre Wahrnehmung bildet ihn nicht ab, sondern ist mein Körper, freilich mit dem Stempel „menschlich“; bei unserer Katze verhält es sich ebenso, aber natürlich „kätzisch“.
AD: „Diese Thematik hatten wir schon mehrfach berührt:
Seiende
– sind objektiv oder an sich als S vorhanden und
– werden artspezifisch zum Beispiel von uns Menschen als S(M) wahrgenommen.
Sie hatten das im Kapitel 1.1. recht anschaulich als Zentralgestirn bzw. Perspektiven beschrieben.“
Das rot Hervorgehobene ist (im allgemeinen) wieder stabil und reicht damit über das Jetzt der Wahrnehmungen hinaus.
AUßERHALB DER PSYCHE | ||||
subjektive Wirklichkeit | ||||
Aktanten | ||||
PSYCHE | ||||
Wahrnehmungen | ||||
artspezifischer Jetzt-Zustand der Aktanten | ||||
jetzt | ||||
Abbildung 2.1.3.-2
Kommen wir nochmals auf unsere drei Prämissen von soeben zurück; was haben wir mit ihnen gemacht?
1. Es gibt Seiende.
Nein!
2. Wir erkennen sie in unseren Wahrnehmungen.
Nein; das versteht sich von selbst, da keine Seienden (mehr) existieren. Aber ganz unabhängig davon erkennen wir auch nichts anderes, weil die Wahrnehmungen kein Wovon besitzen, sondern selbst der artspezifische Jetzt-Zustand der Aktanten sind.
3. Die Wahrnehmungen bilden nicht neutral ab, sondern sind artspezifisch.
Letzteres hatte ich soeben konkretisiert und wollte dabei auch nochmals verdeutlichen, daß die Wahrnehmungen überhaupt nicht als Abbildungen oder Verdopplungen verstanden werden können.
Nach so vielen Korrekturen sollten wir der Deutlichkeit halber nicht mehr von uns als Subjekten sprechen. Um mich sauberer ausdrücken zu können, verstehe ich uns im weiteren als Subjektivitäten und kann zusammenfassen:
Ich bin eine Subjektivität und weiß von mir nur, daß dies hier mein Körper sein muß.
Er ist ein Aktant, und das bedeutet insbesondere, daß mein Körper nur in Form artspezifischer Wahrnehmungen im jeweiligen Jetzt wirklich wird.
Ich als Subjektivität kann aber unmöglich artspezifisch und folglich auch nicht mein Körper sein; das wußten wir jedoch bereits; ich habe ihn nur.
AD: „Ich konnte Ihnen ganz gut folgen, habe aber trotzdem ein Problem:
Daß die Wahrnehmungen keine Referenten besitzen und folglich mein Körper nicht die Wahrnehmung von mir als Subjektivität sein kann, begründen Sie damit, daß es postmodern keine Seienden (mehr) gibt. Ihre Argumentation ist möglicherweise sehr stringent – das überschaue ich nicht –, mit Sicherheit abe etwas abstrakt. Könnten Sie uns das vielleicht noch einmal anschaulicher erklären?“
Ja; das kann ich.
Wir alle sagen mit völliger Gewißheit, daß dies hier mein Körper ist. Anschaulich gesprochen bedeutet das: Es reicht ein Pfeil von mir als Subjektivität zu meinem Körper. Aber er ist nicht umkehrbar; es gibt keinen Pfeil, der von meinem Körper zu mir als Subjektivität führt. Wohin sollte er auch zeigen, wenn sie sich nicht im Raum befindet?
Die Frage, hinter welchen weiteren Körpern eine Subjektivität steht, dürfte also falsch gestellt sein oder ein Scheinproblem darstellen; die entsprechenden Pfeile fehlen. Auch bei mir, denn mein Körper steht zwar vor mir, aber ich stehe trotzdem nicht hinter ihm.
Wenn Studenten mir sagen, Föten, Bernhardiner oder alte Bäume hätten eine Seele und wir solten uns ihnen gegenüber entsprechend verhalten, habe ich damit keinerlei Probleme; ganz im Gegenteil. Das entspricht jedoch einem moralischen Appell und gehört nicht in einen philosophischen Diskurs. In seinem Sinne müßte ich rückfragen,
– woher sie das wissen und
– was sie unter einer Seele verstehen.
AD: „Ich wollte Sie nicht unterbrechen, glaube aber, daß auch der umgekehrte Pfeil existiert. Wird mein Körper gezwickt, tut es – weder ihm noch einer anderen Subjektivität, sondern – mir weh.“
Das bestreite ich nicht; Ihrer Formulierung zufolge müssen Sie den richtigen Körper aber schon vor dem Zwicken kennen. Wir sollten also besser sagen:
Derjenige Körper, dessen Gezwickt-Werden mich schmerzt, ist der meinige; das führt auf unseren ursprünglichen Pfeil zurück.
2.2. Naiver Realismus der Moderne
Als „Naiver Realist“ bezeichnet zu werden, soll nicht beleidigend sein; das entspricht tatsächlich einer philosophischen Richtung. Zu ihr gehören im wesentlichen drei Charakteristika:
1. Es existiert – natürlich für die gesamte Tradition – eine objektive Wirklichkeit.
2. Diese umfaßt – wie es die Moderne sieht – nur materielle Seiende und wird damit zu der objektiven Realität oder dem Kosmos der Physik.
3. Diese Seienden werden – und darin besteht die Naivität – durch einfaches Hinschauen abgebildet:
„Dort ist die – an sich – seiende objektiv-reale Sonne; schau einfach hin, dann siehst Du sie.“
Dieser Satz klingt wie selbst-, ist aber absolut unverständlich und voller Widersprüche.
Damit läßt sich unsere Gegenwart als Übergang nicht nur von der Tradition, sondern auch von der Moderne mit ihrem Naiven Realismus zur Postmoderne verstehen. Das ist ein Paradigmenwechsel sowohl im Alltag als auch in Philosophie und Theologie, dessen Konsequenzen wir wohl noch nicht einmal erahnen können.
AD: „Haben Sie bewußt nur von Philosophie und Theologie gesprochen oder lediglich die anderen Wissenschaften nicht erwähnt?“
Das war Absicht!
Philosophie und Theologie sind die beiden einzigen Wissenschaften, deren Gegenstand in der Wirklichkeit besteht. Deswegen entwickeln sich gegenwärtig beide in Richtung einer Phänomenologie, deren Anliegen Edmund Husserl mit den Worten „Zu den Sachen selbst“ formulierte.
Den anderen oder Einzelwissenschaften geht es nicht um die Wirklichkeit selbst; sie konstruieren, arbeiten an oder denken in Modellen, so daß sie forschungsmäßig möglicherweise die größten Umwälzungen im Wirklichkeitsverständnis „verschlafen“ bzw. unversehrt überstehen können.
Auch das komplizierteste oder schönste Modell besitzt keinen Wirklichkeitsbezug. Der Apfel fällt nicht vom Baum, weil die Erde ihn anzieht, wie es uns wahrscheinlich allen in der Schule gelehrt wurde. Vielmehr haben wir mit Newtons Gravitationskraft ein physikalisches Modell erfunden, mit dessen Hilfe sich die Bewegung des Apfels phantastisch genau darstellen und damit auch vorhersagen läßt; mehr kann und soll die Physik nicht.
AD: „Und darf sie auch nicht; Physiker sollten wie alle anderen Menschen in einer lebensdienlichen Wirklichkeit zu Hause sein und dazu ihre Überzeugung vertreten; aber als Physiker können sie diesbezüglich nichts beitragen.“
Die Frage, ob Einsteins Raum-Zeit-Krümmung die Wirklichkeit besser beschreibt als Newtons Gravitationskraft, ist völlig unverständlich.
Wir erreichen mit unseren Modellen
– eine partielle Verfügbarkeit innerhalb
– der prinzipiell unverfügbaren Wirklichkeit.
Weder kommen Modelle letzterer nahe, noch sind sie von ihr entfernt. Die beiden gehören zwei unterschiedlichen Sphären an, die wir uns jedoch nicht als räumlich getrennt voneinander vorstellen dürfen; es geht doch um eine partielle Verfügbarkeit innerhalb des prinzipiell Unverfügbaren.
In der Philosophie wurde der Naive Realismus bereits von Kant sowie dessen unmittelbaren Nachfolgern – Fichte, Schelling, Hegel – kritisch infragegestellt; viele Sachkundige würden wahrscheinlich konkretisieren: „widerlegt“. Später betrachteten nicht zuletzt Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein oder Alfred North Whitehead ein solches Denken immer skeptischer. Diese Diskussion, der sich insbesondere zahlreiche Künstler angeschlossen haben, ist wohl noch lange nicht beendet.
Außerhalb von Philosophie und Kunst – nicht zuletzt in den Naturwissenschaften, der Theologie sowie im Glaubensleben und Alltagsdenken – ist das freilich ganz anders. Dort wird der physikalische Kosmos als – scheinbar – offen-sichtliche und selbst-verständliche objektive Realität kaum hinterfragt, da man ja angeblich nur hinschauen muß, um die Seienden sehen zu können:
Dort befindet sich zum Beispiel das Urbild namens „Sonne“; es ist abbildbar, und durch das Hinschauen erhalten wir ein Abbild von ihm in unserer Psyche.
Wer so, naiv-realistisch denkt, braucht natürlich keine Philosophie und staunt nur, wie man sich mit deren „absurden Hirngespinsten“ beschäftigen kann, obwohl doch „in Wirklichkeit alles so einfach und selbstverständlich ist“:
„Was wollen diese Philosophen eigentlich? Sie konstruieren nur sinnlose Schein-Probleme an Stellen, wo es keine tatsächlichen gibt. Wirkliche Schwierigkeiten bereiten die ‚harten Fakten‘ des Alltags sowie der Wissenschaft und Technik. Wozu überhaupt noch Geisteswissenschaften? Die lösen keine Probleme, sondern erzeugen sie nur unnötig.“
Es ist schon ein wenig grotesk, daß sich die meisten Naiven Realisten selbst zur Avantgarde der Aufklärung zählen, obwohl beispielsweise Kant zu einem großen Aufklärer wurde, indem er gerade die Schwächen des Naiven Realismus aufgezeigt hat.
Der soeben angedeuteten Stammtisch-Philosophie würde ich im Sinne Wittgensteins etwa Folgendes entgegenhalten:
1. Die Philosophen konstruieren keine Schein-Probleme, sondern versuchen, wirkliche Probleme auf-scheinen zu lassen, indem sie angebliche Selbstverständlichkeiten der Wissenschaft, des Alltags oder Glaubens infrage stellen.
2. Daß die Philosophen keine Probleme lösen, sieht der Naive Realist freilig richtig; darin besteht die Aufgabe der Wissenschaft.
3. Die Philosophie ist keine Wissenschaft, sondern eine Therapie, die „die Probleme wie eine Krankheit behandeln“, das heißt, nicht lösen, sodern zum Verschwinden bringen soll.
„Die ‚Lösung‘ der Probleme des Lebens merkt man am Verschwinden dieser Probleme.“
„Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat.“
4. Das setzt allerdings ein möglichst offenes und sauberes Denken voraus, aber „die Wissenschaft denkt nicht“ (Martin Heidegger).
5. Diese „Verleumdung“ läßt sich recht gut verstehen:
Um die Probleme oder „Rätsel der normalen Wissenschaft“ (Thomas S. Kuhn) zu lösen, stehen Denkwerkzeuge – Begriffe, Paradigmen, Theorien, Modelle und Techniken – zur Verfügung, die nur angewandt werden müssen. Das erfordert mehr Routine durch Üben oder Lernen als Denken und ist ein geistiges Handwerk.
Das pflegen die „normalen“ Wissenschaftler, die mit den bereits bestehenden Denkwerkzeugen operieren.
6. Zur „wissenschaftlichen Revolution“ als einem „Paradigmenwechsel“ (Kuhn) gehört dagegen grund-legendes Denken.
7. Das ist aber auch schon der Bereich der Philosophie, weil dadurch die Probleme des alten Paradigmas – nicht wissenschaftlich gelöst werden, sondern – durch das Erfinden oder Schaffen neuer Denkwerkzeuge therapeutisch verschwinden.
8. Diese Probleme bestanden also nicht an sich, sondern wurden lediglich durch unser unzureichendes Denkwerkzeug – das alte Paradigma mit seinen unfruchtbar gewordenen Begriffen – erzeugt.
9. Als Therapie kann und soll die Philosophie uns helfen zu leben, aber sie hat nicht – wie die Tradition häufig meint – die Aufgabe, ewig wahre Antworten auf die letzten, größten oder allgemeinsten Fragen der Menschheit zu finden und endlich zu klären, worin Sein oder Sinn, das Eine, Wahre, Gute und Schöne bzw. Gott nun wirklich bestehen.
10. Das sind für die Postmoderne keine besonders tiefen, sondern überholte, weil heute falsch gestellte Fragen. Uns interessiert auch nicht mehr, wie der Rand der Erdscheibe beschaffen ist.
11. Die philosophische Tradition sucht ewig-wahre Antworten; die Postmoderne erkennt, daß nicht einmal unsere Fragen diese Eigenschaft besitzen.
12. Ihr geht es um „das Andere der Vernunft“ – das Irrationale, Irreale, Unschickliche oder Alogische; den Leib, das Begehren, die Phantasie, Triebe und Gefühle –, das die Tradition unter den Tisch fallen läßt, weil sie es nicht denken kann.
13. Wir versuchen es trotzdem und verstehen das Andere der Vernunft als die Leibhaftigkeit unseres Lebens.
14. Sie spielt jenseits der Logik und ist damit alogisch, kann aber niemals unlogisch im Sinne von widersprüchlich oder inhaltsleer sein.
2.3. Kosmos – Welt – Leben
Möglicherweise wundern Sie sich die ganze Zeit schon, weshalb ich zumeist zwischen der objektiven Welt und dem physikalischen Kosmos unterscheide. An Ihrem Erstaunen zeigt sich gegebenenfalls, wie massiv wir uns im Verlauf der letzten drei Jahrhunderte an das Denken der exakten Wissenschaften angepaßt haben.
In vielen Büchern und Artikeln wird gegenwärtig spekuliert, daß wir Menschen möglicherweise gar nicht nur in unserem physikalischen Kosmos als einem Universum leben, sondern in einem Multiversum – in Kosmen gewissermaßen. Das geschieht teilweise auf einem sehr hohen intellektuellen Niveau, etwa im Zusammenhang mit Hugh Everetts „Quantentheorie der vielen Welten“.
Ich meine jedoch etwas völlig anderes und in gewissem Sinne sogar das glatte Gegenteil.
Der physikalische Kosmos stellt nur einen winzigen Teil der (irdischen) Welt dar.
Überlegen Sie bitte einmal, was Ihnen in Ihrem Leben besonders wichtig ist. Befindet sich darunter – bei Nicht-Physikern – etwas Physikalisches? Vielleicht denken Sie an Liebe und Freundschaft, bestimmte Menschen, Lebensziele und Selbstverwirklichung, Hobbys, Handwerk, Bücher, Kunst, Bildung oder einfach nur gutes Essen und Trinken.
All das sind keine Gegenstände der Physik – und sie können somit in deren Welt, dem Kosmos, auch nicht vorkommen. Darin gibt es keine Sprachen oder Gedichte, keine Gemälde oder Bierdeckel, weder Schön- noch Gemeinheit, weder Geld noch Armut, keine Verbrechen oder Fußballspiele, keine Staaten mit Flaggen und Hymnen, keine Bedürfnisse und kein Begehren.
Im physikalischen Kosmos existiert fast nichts; zu ihm kann nur das Wenige gehören, das sich vollständig mittels der Physik beschreiben läßt. Das ist bereits bei Reißzwecken, Sicherheitsnadeln und Büroklammern nicht mehr möglich, weil sie einen Zweck besitzen, dieser aber keine physikalische Kategorie darstellt, das heißt, daß der Physiker als Physiker nicht verstehen kann, was ein Zweck – und damit auch eine Reißzwecke – sein soll.
Es verbleiben ihm somit nur die traditionellen primären Qualitäten Anzahl, Größe, Masse, Form, Ort, Geschwindigkeit usw.
AD: „Wieso sollen Reißzwecken, Sicherheitsnadeln und Büroklammern keine physikalischen Gegenstände und somit auch nicht im Kosmos enthalten sein?“
Entschuldigung; mein „nicht“ war falsch; sie befinden sich auch, aber nicht nur im Kosmos.
Reißzwecken, Sicherheitsnadeln und Büroklammern haben eine bestimmte Größe, Form, Masse, Festigkeit sowie weitere Eigenschaften, für die die Physik zuständig zeichnet, und hierdurch gehören diese Gegenstände natürlich dem Kosmos an – pardon.
Das wollte ich keineswegs bestreiten; aber damit handelt es sich noch nicht um Reißzwecken, Sicherheitsnadeln bzw. Büroklammern, denn das sind sie erst durch ihren jeweils noch hinzukommenden Zweck. Und mit ihm transzendieren sie den Kosmos und reichen in andere Dimensionen der Welt hinein.
Ich korrigiere mich also; sämtliche Dinge, die physikalische Aspekte besitzen, gehören auch dem Kosmos an, gehen aber zumeist weit über ihn hinaus; er ist – anschaulich gesprochen – zu eng für sie.
Unbestreitbar bedeutet unser Rendezvous auch eine Ortsveränderung, aber daß es nur das sein soll, können hoffentlich auch die dreistesten Physikalisten selbst nicht glauben.
Viele Menschen finden in ihrem Leben keinen Sinn – und haben damit auch vollkommen Recht, wenn sie ihre Welt auf die physikalischen Komponenten reduziert haben. Darin kann es natürlich keinen Sinn geben, weil er ebenfalls keine physikalische Kategorie darstellt. Auch Physiker finden keinen Sinn im Kosmos; hoffentlich bei ihrer Arbeit, aber die erfolgt nicht im Kosmos, sondern handelt nur von ihm.
Wir können nicht unsere Wohnung schwarz überstreichen und dann klagen, daß die Farben fehlen. Doch; natürlich können wir es; wir tun es ja weitestgehend, indem wir die (moralisch-)praktische Wahrheit unseres Lebens durch die (erkenntnis-)theoretische Richtigkeit des Weltbilds ersetzen.
AD: „Die nicht-physikalischen Partial-Welten, die Sie andeuten, spielen aber doch wirklich nur eine untergeordnete Rolle . . .“
Das ist richtig; aber nicht weil es sich objektiv so verhält, sondern weil wir uns in der Moderne einreden lassen haben, allein die physikalische Partial-Welt sei entscheidend. Überlegen Sie bitte einmal, was wir alles über unseren Kosmos erzählen könnten, und wie rudimentär sich daran gemessen – bei den meisten von uns – das musische oder poetische Vokabular ausnimmt, wie beschränkt unsere Partial-Welten beispielsweise des Schönen, Guten, Religiösen und der Gabe oder Stille entwickelt sind.
Bei dem Wort „Krieg“ beispielsweise assoziieren die meisten Menschen heute physikalisch-elektronische Waffen(-Systeme) und deren Abwehr. Aber müßte uns nicht als erstes das Leid der Betroffenen – Menschen, Tiere und vielleicht sogar Pflanzen – in den Sinn kommen?
Nun sollte verständlich sein:
Die Welt besitzt nicht nur die vier Dimensionen der physikalischen Raum-Zeit, sondern potentiell unendlich viele und ist unabsehbar reichhaltig oder mannigfaltig. Der Kosmos mit seinen armseligen Inhalten nimmt sich daran gemessen entsetzlich provinziell aus. Auch wenn er räumlich sowie zeitlich praktisch keine Grenzen besitzt, bleibt der Kosmos gegenüber dem Reichtum, der Vielfalt und Faszination der Welt, die ihn umgreift, nahezu vernachlässigbar.
Allein das traditionelle Denken im modernen Abendland glaubt, mit der Physik den Nabel oder die Einheit der Welt gefunden zu haben, so daß die physikalische Weltformel als das letzte noch zu lüftende Rätsel gehandelt und als Endlösung verkauft wird.
Wir setzen diese Horizonterweiterung vom Kosmos zur Welt fort und gehen mit der Postmoderne zum eigenen Leben über:
objektiver Kosmos → objektive Welt → subjektives Leben
AD: „Und dieses subjektive Leben erfolgt in der subjektiven Wirklichkeit, die zugleich mit ihm entsteht; das erinnert ein bißchen an das Perpetuum mobile . . .
Trotzdem ist Ihr Versuch, eine rationale Antwort zu geben, anerkennungswert; ich hatte die fromme Variante ‚Wir leben in Gott‘ erwartet.“
Nein; sie wäre völlig daneben; nicht weil ich diese Antwort für falsch halte, sondern weil sie an dieser Stelle nichts zu suchen hat:
Wenn ich behaupte, es gäbe keine objektive Welt, muß ich Ihre Frage, wo wir dann leben, vernünftig beantworten können. Mißlingt mir das, habe ich nicht die Notwendigkeit Gottes bewiesen, sondern dumm dahergeredet.
Konnte ich Ihr Problem jedoch befriedigend klären (soweit sind wir noch nicht) und sage dann vollkommen unabhängig davon, daß dies alles meines Erachtens ohne Gott nicht möglich wäre, habe ich freiwillig ein Bekenntnis abgelegt.
Hier geht es also nicht um eine Alternative; vielmehr ist die erste Antwort für einen vernünftigen Dialog unbedingt erforderlich, und die zweite fakultativ.
2.4. Schwierigkeiten mit den Seienden
Dieses Kapitels brauchte es eigentlich gar nicht, denn wir können keine Schwierigkeiten mit etwas haben, was unseres Erachtens gar nicht existiert.
Die meisten Menschen sehen das jedoch ganz anders, und wissen komischerweise nicht nur, daß es Seiende gibt, sondern auch noch recht genau, worin diese angeblich bestehen (müssen); allein daraus resultieren unsere uneigentlichen Schwierigkeiten mit den Seienden.
Ich biete Ihnen darin noch ein paar Argumente an, die Sie in der Einsicht bestärken sollen, daß unser Übergang von der Tradition zur Postmoderne
– recht zwingend und
– vielleicht für unsere Zukuftsfähigkeit,
– mit Sicherheit aber für ein aufgeklärtes Denken
notwendig ist.
Meine Hinweise entsprechen Wittgensteins Leiter. Vielleicht benötigen Sie diese noch als Hilfe; aber nachdem Sie auf ihr emporgestiegen sind und die nächste Reflexionsebene erreicht haben, können Sie die Leiter getrost wegwerfen und tatsächlich mit dem nächsten Kapitel beginnen.
2.4.1. Wir wissen nicht, was Sein, Wirklichkeit oder Existenz bedeuten
Wir hatten oben schon festgehalten, daß unsere Aussagen zum Sein, zur Wirklichkeit, Existenz oder Vorhandenheit immer bedeutungsloser werden, je umfassender oder wichtiger sie eigentlch sein müßten. Jeder versteht, daß die Butter im Kühlschrank ist, aber keiner, daß es die Welt gibt oder Gott existiert bzw. nicht-existiert.
Seit zweieinhalb tausend Jahren bemühen sich die abendländischen Denker vergeblich darum zu klären, was wir mit „Wirklichkeit“ meinen. Andere Namen – wie „Sein“, „Exstenz“, „Bestehen“, „Bestehen aus . . .“ oder „. . . in . . .“, „Gegeben-“ bzw. „Vorhandenheit“ usw. – liefern keine Antworten, sondern benennen das Fragliche nur um.
Viele Philosophen sehen in Leibniz‘ Frage „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“ das Grundproblem des traditionellen Denkens.
Ich glaube, wir müßten mindestens eine Ebene tiefer ansetzen:
Was soll es überhaupt bedeuten, daß etwas ist und nicht vielmehr nichts?
Erst wer diese Frage beantwortet hat, kann sich sinnvoll der Leibnizschen zuwenden.
Das hat aber noch niemand getan, so daß die Tradition ihre eigene Grundvoraussetzung, daß „die Seienden sind“ (Parmenides), nicht versteht.
Die meisten Philosophen in Antike und Mittelalter hielten die Wirklichkeit eines bestimmten Seienden für eine seiner Eigenschaften.
Krokodile haben 1000 Attribute; eines von ihnen besteht in ihrer Existenz und dadurch sind Krokodile (wirklich).
Drachen besitzen ebenfalls 1000 Eigenschaften, aber das (Vorhanden-)Sein befindet sich nicht darunter; deswegen gibt es keine Drachen.
Ein solches Denken ist uns wohl kaum noch möglich. Wir kennen weder existierendes noch nicht-existierendes Geld; das wollte Kant mit seinem Beispiel der „100 Taler“ zeigen. Geld ist Geld – unabhängig davon, ob wir es besitzen oder vermissen; das ist unser Problem, und nicht das des Geldes.
Damit entfällt auch eine – vielleicht etwas simple, aber wohl gerade dadurch – weit verbreitete Interpretation des „ontologischen Gottesbeweises“ (Anselm von Canterbury):
Ein vollkommener Gott, der existiert, hat mit seiner Existenz eine positive Eigenschaft mehr, als exakt dieser gleiche „fast vollkommene“ Gott, der lediglich nicht existiert.
Anselm definierte Gott „als das vollkommenste aller Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann„.
Angenommen wir denken uns ein großartiges und absolut perfektes Wesen, das (nahezu) keinen Makel besitzt – bis auf einen einzigen: Es existiert leider nicht.
Dann ist es jedoch nicht das vollkommenste Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann, denn das gleiche Wesen wäre auch als existent denkbar.
Gott – als das vollkommenste Wesen, über das hinaus tatsächlich nichts Vollkommeneres gedacht werden kann – muß also notwendigerweise existieren, denn ansonsten wäre er nicht das vollkommenste Wesen.
Natürlich ist das für mich – und hoffentlich auch für Sie – kein Gottesbeweis; aus den Wissungen folgt meines Erachtens niemals die Existenz ihres Wovon.
Die Tradition sah das und sieht es teilweise heute noch anders. Schon Parmenides kennt die Idee einer „Identität von Denken und Sein“, und bei Hegel kehrt sie wieder in der Form: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“ Wer diese Idee voraussetzt, kann wahrscheinlich problemlos von der Logik auf die Wirklichkeit schließen.
Wir tun dies nicht; dazu kommt außerdem noch, daß mir Anselms Definition ohnehin mißfällt:
Gott ist nicht „das vollkommenste aller Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann“, sondern bestenfalls ein Wesen, das vollkommener ist als alles, was gedacht werden kann. Deswegen scheint es mir auch ein prinzipieller Fehler der Tradition zu sein, die Frage nach Gott auf dem Wege des Wissens beantworten zu wollen, das heißt, ihn im Wißbaren – und damit letztlich bei den Seienden – zu suchen.
Zwischen Physiko- und „Onto-Theologie“ (Heidegger) besteht dann kein gravierender Unterschied mehr.
AD: „Der Gedanke gefällt mir spontan; leider drücken Sie nur negativ aus, daß Gott nicht gewußt werden kann . . .“
Das ist doch ganz positiv:
Wäre Gott ein Seiendes, würden wir nicht verstehen, was seine Wirklichkeit oder Existenz bedeuten sollen!
2.4.2. Das Wovon der Wissungen besteht ausschließlich in Wissungen
Die Tradition versteht ihre Seienden als Einheiten von zwei bzw. drei Komponenten.
Ersteres gilt für die ideellen Seienden; sie setzen sich aus den beiden „Komponenten“
– Existenz, Sein oder Daß sowie
– Essenz, Wesen bzw. Was
zusammen, die – nicht miteinander, sondern im zeitlichen Sinne – identisch sind.
Bei den materiellen Seienden kommt noh ein dritter Aspekt hinzu, der in den veränderlichen oder unveränderlichen Eigenschaften bzw. Akzidenzien besteht.
Was ich von einem speziellen Seienden – der Venus beispielsweise – weiß, bezeichnen wir als „I-“ bzw. „Ich-Wissen“.
Die Wirklichkeit des Seienden geht natürlich weit über meine entsprechenden I-Wissungen hinaus. Zum einen sind mir viele seiner Essenzen und gegebenenfalls Akzidenzien – des G- resp. Gesamt-Wissens also – unbekannt, und zum anderen fehlt die Existenz des Seienden.
Das muß sie aber auch; wir können nicht sinnvoll über etwas sprechen, ohne es zu verstehen, und streichen somit in dem tradiionellen Ansatz bei sämtlichen Seienden die Existenz, das Sein oder Daß.
Damit vereinfacht sich unser Problem ungemein , denn es liegen nur noch zwei Wissungen vor.
Dem I-Wissen steht das G-Wissen – bestehend aus Essenzen und Akzidenzien – gegenüber, das möglicherweise viel umfangreicher ist als jenes. Die traditionelle Wissenschaft sieht ihre Aufgabe darin, diese Differenz immer kleiner werden zu lassen; G – I soll möglichst verschwinden.
Aber hier stimmt etwas nicht:
Woher kann ich wissen,
– daß mein – bekanntes – I-Wissen
– einen Teil des – nicht vorhadenen – G-Wissens bildet oder diesem angehört?
Wieso stellt I einenTeil von G dar?
„Rom ist in Baronesien enthalten, aber ich weiß nicht, was Baronesien sein soll.“
Um begründen oder rechtfertigen zu können, daß das I zu dem G zählt, hat die Tradition die existierenden Seienden erfunden:
Es gibt
– ein Gesamtwissen G(A)
– von dem Seienden A,
– das ich natürlich nur Schritt für Schritt erwerben kann;
– I(A) entspricht meinem gegenwärtigen Wissensstand.
Die Tradition
– benötigt das Seiende A, um einen Zusammenhang zwischen I(A) sowie G(A) herstellen zu können, und
– ist sogar bereit, dafür einen völlig unverständlichen Existenzbegriff inkauf zu nehmen.
AD: „Wenn das stimmen sollte, ergäben sich daraus unabsehbare Konsequenzen:
Es gibt natürlich kein Wissen von Seienden, weil sie gar nicht existieren; das scheint unser Resultat zu sein.
Aber wenn wir diese Phantasieprodukte einmal aus dem Spiel lassen, bedeutet es doch:
Es gibt kein Wissen von Ungewußtem.
Das klingt auch noch logisch bis selbstverständlich, bedeutet aber doch in seiner Umkehrung, daß wir nur von Wissungen wissen können:
Der Referent oder das Wovon unserer Wissungen muß in Wissungen bestehen.
Weder von Gott noch vom Teufel beispielsweise vermögen wir irgendetwas zu wissen.
Wer den gegenteiligen Anspruch erhebt, macht die beiden zu Seienden und soll uns bitte erklären, worin ihre Existenz oder Wirklichkeit besteht.“
Betrachten wir diese Konsequenz aus einer etwas anderen Richtung, wird sie vielleicht noch ein wenig „normaler“:
Die Aussage, wir wüßten von A, läßt sich – wie jede andere auch – nur im Rahmen unseres Wirklichkeitsbilds verstehen. Das bedeutet jedoch, daß A eine Wissung sein muß, denn etwas anderes ist darin gar nicht enthalten.
Es ist also gleichgültig, ob das Wissen in unseren expliziten Formulierungen einen Referenten besitzt oder nicht, denn
– einerseits muß der Referent eine Wissung sein, und
– andererseits können wir nur von Wissungen wissen.
Zu diesem Ergebnis kommt auch Josef Mitterer:
Unser I-Wissen heißt bei ihm „Wissen so far“, und für G – I schreibt er „Wissen from now on“. Ohne auch nur an Seiende denken zu müssen, geht Mitterer also allein davon aus, daß
– wir bereits über Wissungen verfügen und
– noch weitere hinzukommen werden.
Mehr läßt sich auch nicht sagen; es „existieren“ keine Zusammenhänge zwischen dem Wissen so far oder I-Wissen und dem Wissen from now on, das wir somit auch nicht als Differenz aus dem G- und I-Wissen verstehen können.
Die Tradition erfindet mit ihren Seienden „existierende“ Zusammenhänge und erzeugt dadurch 1000 Scheinprobleme.
2.4.3. Materie ist nur ein Begriff
Nur der Vollständigkeit halber und des besseren Verständnisses wegen erwähnen wir mitunter auch die ideellen Seienden, benötigen für unsere eigenen Überlegungen jedoch hauptsächlich die materiellen; aus zwei Gründen:
Zum einen können die allermeisten unserer Zeitgenossen mit Platonischen und ähnlichen Ideen kaum (noch) etwas anfangen. Aber um so sicherer sind sich nahezu alle von uns, daß der physikalische Kosmos objektiv, das heißt, vollkommen unabhängig von uns existiert. Wir müssen nur die Augen öffnen, um ihn zu sehen, und verstehen dieses Repräsentieren (scheinbar) problemlos als ein Abbilden der materiellen Seienden in unserer Psyche.
Ihnen als Lesern ist inzwischen deutlich geworden, daß ich das alles – vorsichtig formuliert – sehr stark bezweifle; aber mir bleibt trotzdem nichts anderes übrig, als zu versuchen, Sie bei diesem traditionell-modernen Denken abzuholen, weil gar nicht so leicht davon loszukommen ist.
Zum anderen müssen wir beachten, was aus den materiellen Seienden wird.
Die ideellen sind schon mit der Moderne verschwunden und durch bloße Begriffe – wie das Gute, die Wahrheit oder Gerechtigkeit beispielsweise – ersetzt worden. Dieser Wechsel setzt sich postmodern bei den materiellen Seienden fort; an ihre Stelle treten in erster Linie die Begriffe der Physik und ihrer Folgedisziplinen.
Es gibt also insbesondere weiterhin die Wissung oder den Begriff namens „Materie“; aber eben auch nur diese beiden.
(Die Differenz zwischen Begriff und Wissung überspiele ich jetzt absichtlich, weil sie noch nicht relevant dafür ist, daß Sie mich verstehen können.)
Das paßt aber gut zusammen:
Viele Wissenschafts-Gläubige halten die Aussage „Materie existiert“ vielleicht für eine Basis ihres Wirklichkeitsbilds. Postmodern verliert sie jedoch in zweifacher Hinsicht diese traditionell-moderne Funktion:
Zum einen verstehen wir das Wort „existiert“ nicht, und
zum anderen ist Materie nur noch ein Begriff bzw. eine Wissung.
In der Postmoderne wird die „physikalische Grund-Frage“, was Materie „wirklich“ sei, wahrscheinlich unverständlich:
„Ich weiß gar nicht, was Sie meinen; ein Begriff natürlich; was sonst?“
AD: „Nein; das ist ausgeschlossen, denn Begriffe können wir nicht angreifen.“
Das stimmt; bei Masse, Geschwindigkeit oder Entfernung hatten wir das auch niemals erwartet, aber die Materie spielt – obwohl sie ebenso in die Physik gehört – irgendwie eine Sonderrolle. Worin besteht sie? Was unterscheidet die Materie von (allen) anderen physikalischen Grundbegriffen?
Im vorhergehenden Abschnitt hatten wir gesagt, die materiellen Seienden beständen traditonell aus der Einheit von Existenz und Essenz als ihrem harten, weil identischen Kern sowie den veränderlichen oder unveränderlichen Eigenschaften dieser Einheit.
Wir vergessen jetzt einmal kurz unseren naiven Realismus der Moderne und nehmen die ihm zugrundeliegende Philosophie ernst. Nur so läßt sich verstehen, was diesbezüglich bei uns schiefgelaufen sein muß, denn sauber gedacht lassen sich auch die materellen Seienden nicht abbilden:
Existenz und Essenz sind stets und damit auch bei ihnen identisch, können somit nur rein geistig sein und müssen folglich mittels (des Nous resp.) der Vernunft erschlossen werden.
Die Eigenschaften der Seienden liegen natürlich ebenso immer vor wie der harte Kern; sie sind bloß nicht identisch, sondern können sich verändern. Unsere Wahrnehmungen bestehen folglich – nicht in Abbildungen, sondern – in den mehr oder weniger zufälligen aktualen Registrierungen der Eigenschaften bzw. Akzidenzien.
Die Wahrnehmungen bilden, mit anderen Worten, keine verdoppelnden Momentaufnahmen der Eigenschaften, sondern sind zeitliche Bruchstücke der Eigenschaften selbst.
Diese Erinnerung an die traditionelle Theorie dürfte uns bei der Materie einen Schritt weiterbringen:
Masse, Geschwindigkeit und Entfernung zum Beispiel sind materielle Seiende bzw. Begriffe, bei denen wir – auch traditionell gedacht – immer schon richtig vorgegangen sind.
Sie
– existieren natürlich für die Tradition,
– aber die Existenz ist ursprünglich keine Eigenschaft der Seienden und
– kann folglich auch niemals wahrgenommen werden.
Wer nach der Existenz von Masse, Geschwindigkeit oder Entfernung sucht, hat demzufolge die traditionelle Philosophie nicht verstanden.
Bei diesen drei Beispielen hätten wir die Materie als viertes hinzufügen können – und sollen, denn sie unterscheidet sich von den anderen hinsichtlich unserer Überlegungen in keiner Weise.
Die unbestreitbare Differenz besteht vielmehr in Folgendem:
Auch die Materie
– ist zwar ein materielles Seiendes oder ein postmoderner Begriff,
– aber bei ihr wird der obige Fehler begangen, die Existenz als Eigenschaft mißzuverstehen.
– Dadurch besitzt (nur) die Materie mit der Existenz eine Eigenschaft, die
– zu Sehungen, Greifungen, Berührungen, Fühlungen, Stoßungen und ähnlichem führen kann.
Der Fehler des Naiven Realismus besteht also mit anderen Worten darin,
– die Existenz der Materie als eine Eigenschaft von letzterer zu verstehen,
– welche die Materie wahrnehmbar macht,
– so daß unser Sehen, Greifen, Berühren, Fühlen, Stoßen usw.,
– wenn wir es als Abbilden verstehen,
– das Existieren der Materie – im Sinne eines Vorhandenseins – beweisen.
Dadurch wird die Existenz der Materie, die – wie bei jedem anderen Seienden auch – empirisch prinzipiell unerreichbar ist, zu einem bloßen und scheinbar selbstverständlichen „es gibt“.
Insbesondere Emmanuel Levinas polemisiert sehr massiv gegen dieses „il y a“ oder die „unerträgliche Seichtigkeit des Seins“ und weist leidenschaftlich auf die sich daraus zwangsläufig ergebende Verflachung unseres Denken hin.
2.4.4. Das Konzept der Seienden widerspricht unserem Leben
Die objektive Wirklichkeit der Tradition besteht aus Seienden, die unabhängig voneinander sind und dadurch wie die Elemente einer mathematischen Menge eine Summe bilden. Von jedem Kandidaten kann – theoretisch – eindeutig gesagt werden, ob er der Wirklichkeit angehört oder nicht und damit ob er ein Seiendes bzw. ein Nicht-Seiendes darstellt.
Das setzt freilich voraus, daß die Seienden
– sowohl mit sich identisch
– als auch voneinander verschieden sind.
Joseph Maria Bochénski, ein polnischer Logiker, formulierte letzteres folgendermaßen:
„Die Welt ist voller Nicht-Elefanten.“
Als Subjekte gehören wir selbst diesen Seienden an, was Probleme mit sich bringt, die jedoch – für mich unverständlicherweise – weitestgehend übersehen werden.
Um dies zu verstehen, führen wir den Begriff der Relation oder Beziehung ein und unterscheiden zwischen realen sowie konstruierten Relationen.
Ein Beispiel für erstere wäre die wechselseitige Anziehung von Erde und Mond, während ihr Größenverhältnis nicht den beiden Himmelskörpern selbst zukommt, sondern lediglich von außen an sie herangetragen und damit konstruiert wird.
Zwischen Seienden können beliebig viele solcher Relationen bestehen, aber keine realen.
Ich bestreite damit keineswegs die Massenanziehung, die den Mond um die Erde rotieren läßt; aber sie gehört in die Physik und nicht in die traditionelle Philosophie, für die es keine realen Relationen geben kann, denn
– das sind keine Seienden – weil sie anderes verbinden und folglich nicht mit sich selbst identisch sein können – und
– wenn die realen Relationen zwischen „Seienden“ bestehen, sind das keine Seienden mehr.
Mit der „Wechselwirkung“, die „Erde“ und „Mond“ verbindet, haben wir nicht drei Seiende vorliegen, sonern deren Einheit – { Erde + Wechselwirkung + Mond }.
Was hat das mit uns als den traditionellen Subjekten zu tun?
Sinneswahrnehmungen setzen Wechselwirkungen voraus; ohne sie wären wir zwar Seiende, aber nur blinde, taube, gehör- sowie gefühllose und könnten somit nichts von der objektiven Wirklichkeit wahrnehmen
Insbesondere wäre es völlig belanglos für mich, ob außer mir noch andere Subjekte existieren würden oder nicht – was auch immer das nun bedeuten mag –, denn zwischen
– ihrer Inexistenz und
– meiner Isolation von ihnen
besteht kein Unterschied, der einen Unterschied macht.
Als traditionelle Seiende wären wir Subjekte also
– Solipsisten im Nichts und
– keine „normalen“ Menschen in der objektiven Wirklichkeit.
(„Solipsismus“ kommt von „solus“, „allein“ und bezeichnet eine philosophische Richtung, in der ich mich als einziges Subjekt überhaupt verstehe; wäre ich Solipsist, würde ich also auch Ihre Existenz bestreiten.
Das erscheint Ihnen gewiß als absurd; soweit mir bekannt, gibt es bisher jedoch kein überzeugendes Argument gegen den Solipsismus – aber vielleicht trotzdem keine ernstzunehmenden Solipsisten.)
Unsere Wahrnehmungen beweisen also meines Erachtens recht deutlich, daß wir keine – der objektiven Wirklichkeit angehörenden – Seienden oder Subjekte sind.
Die großen traditionellen Denker in Antike und Mittelalter haben das natürlich ebenfalls erkannt. Sie wollten das Problem lösen, ohne ihr Wirklichkeitsbild zu korrigieren. Dazu erfanden sie mit dem Nous einen Gott oder „Weltgeist“ (Hegel), der der objektiven Wirklichkeit nicht als Seiendes angehört – und folglich wie wir auch mit Blindheit geschlagen ist –, sondern die Wirklichkeit von außen schauen kann.
Bei Pascal wurde aus dem Nous der „Gott der Philosophen“ und bei Thomas Nagel der „Blick von nirgendwo“; „sowie nirgendwann“ würde ich gerne ergänzen. Der Name tut aber nichts zur Sache; entscheidend ist allein, daß sich der traditionelle Ansatz nicht mit unseren Wahrnehmungen vereinbaren läßt.
In der Moderne müssen wir – meines Erachtens richtigerweise – leben, „als ob es Gott nicht gäbe“ (Dietrich Bonhoeffer). Dafür genügt es aber keineswegs, „Gott“ rein formal in eine „objektive Vernunft der Menschheit“ umzutaufen, somit alles beim alten zu lassen und trotz der Ungereimtheiten locker „weiterzudenken“.
2.4.5. Es gibt kein Abbilden
Mit unserem Streichen der Seienden wird natürlich auch deren Abbilden hinfällig. Aber auch wenn wir dieses Ergebnis nicht schon vorweg-, sondern das traditionelle Denken ganz ernstnehmen, gibt es kein Abbilden.
Auf der einen Seite haben wir die Seienden der objektiven Wirklichkeit, und auf der anderen die Abbilder (in) der Psyche. Ein Übergang von jenen zu diesen ist offensichtlich erforderlich; er besteht im Abbilden und muß konsistenterweise wirklich sein – aber wohin gehört er dann?
Wirklich sind allein die Seienden, aber das Abbilden kann ihnen unmöglich zugehören.
Die Abbilder scheiden ebenfalls aus, da sie erst durch das Abbilden entstehen; zudem sind sie unwirklich; tertiun non datur.
AD. „Auf der einen Seite kann ich Ihnen schwerlich widersprechen; es gibt tatsächlich kein Abbilden.
Aber auf der anderen Seite sind wir uns ebenso einig, Sonne, Mond und Sterne wahrnehmen zu können.
Läßt sich dieser Widerspruch beseitigen?“
Sogar ganz einfach:
Das Wahrnehmen ist unbestreitbar, kann aber – und muß auch – nicht als Abbilden verstanden werden. Es
– ist wirklich und
– kommt „vor“ den Wahrnehmungen, um diese hervorzubringen.
Die Tradition kann nicht beiden Forderungen zugleich erfüllen, denn dazu müßte das Abbilden selbst ein Seiendes darstellen.
AD: „Ich hättee noch eine andere Idee:
Wir können vielleicht auf das Abbilden verzichten und damit den traditionellen Ansatz retten.
Sind unsere Augen auf die Venus gerichtet, erfolgt kein Abbilden, sondern wir nehmen sie selbst wahr. Dann entfällt freilich auch die Psyche, denn vor uns befindet sich die wirkliche Venus und alles gehört mit uns selbst dem einen wirklichen Raum an.“
In diese Richtung geht tatsächlich unsere Lösung, auf die wir später zurückkommen. Jetzt, bei unserer Kritik des traditionellen Denkens genügt jedoch der Hinweis, daß die Venus in Ihrem Vorschlag nicht als Seiendes verstanden werden kann.
AD: „Wieso?“
Wenn zwischen Ur- und Abbild unterschieden wird, verdankt sich jenes einer langen Geschichte mit Schöpfung, Evolution oder ähnlichem. Das Hinschauen oder Öffnen der Augen kann dann wie das Klicken einer Kamera verstanden werden; zum Abbilden genügt ein Sekundenbruchteil.
Diese Differenz von Ur- und Abbild wollten Sie nicht mehr; es soll nur noch die eine wirkliche Venus geben. Wir sehen sie beim Hinschauen; sind unsere Augen geschlossen, ist sie weg. Aber nun fehlt nicht nur das Abbild – das haben wir ja gestrichen –, sondern die ganze Venus ist weg.
Das würde freilich umgekehrt bedeuten, daß sie durch unser Hinschauen bei geöffneten Augen erst entsteht; ein solche Venus ist kein Seiendes!
So läßt sich der traditionelle Ansatz also nicht retten; mit dem Abbilden ist auch er hinfällig.
AD: „Intuitiv überkommt mich immer wieder ein ganz einfaches und überzeugendes traditionelles Bild:
Ich lebe als seiender Körper in einer objektiven Wirklichkeit, schaue – mittels meiner Psyche – aus dem Körper heraus und erkenne die Seienden; mich selbst und die anderen.
Sie haben viele Argumente vorgebracht, um uns anzuregen, dieses Modell wenigstens zu überdenken. Nicht zuletzt geht es von einem Wahrnehmen als Abbilden aus, das es Ihrer Meinung nach nicht geben kann. Alles, was Sie aufführen, ist einigermaßen stringent; im wesentlichen konnte ich Ihnen auch folgen, aber es sind so viele Einzelgedanken, daß ich fürchte, Ihre Argumentation wieder aus den Augen zu verlieren.
Könnten Sie uns in einem Satz sagen, weshalb meine traditonelles Bild falsch sein muß?“
Ja; wenn er etwas länger sein darf . . .
Daß Sie mittels Ihrer Psyche aus dem eigenen Körper in die Wirklichkeit hinaussehen, der Sie selbst angehören, erkennen Sie nicht,
– denn dazu müßten Sie der Nous sein oder ihn zumindest kontaktieren, denn
– daß Sie mittels Ihrer Psyche aus dem eigenen Körper in die Wirklichkeit hinaussehen,
– zeigt sich bei diesem Sehen nicht, sondern
– kann nur von außen geschaut werden.
In der Systemtheorie oder dem Konstruktivismus wird diese Differenz ale eine zwischen den Beobachtern erster bzw. zweiter Ordnung thematisiert.
Der Naive Realismus geht davon aus, unsere Wahrnehmungen mittels der entsprechenden Urbilder vernünftig erklären zu können. Wir bestreiten das wegen des logischen Zirkels, der in dieser „Erklärung“ notwendigerweise enthalten ist.
Um einen Schritt weiterzukommen und unsere eigene Position besser zu verstehen, lassen wir uns aber nochmals auf das angebliche Abbilden ein. Dann bestehen hinsichtlich unserer Wahrnehmungen theoretisch zwei Möglichkeiten; sie könnten sowohl den Urbildern als auch deren Abbildern entsprechen.
Wären uns die Urbilder selbst in Form der Wahrnehmungen gegeben, benötigten wir weder ein Abbilden noch Abbilder.
Beständen die Wahrnehmungen dagegen in den Abbildern, so läge das Abbilden bereits hinter ihnen. Weder wissen wir etwas davon, noch haben wir abgebildet, denn die Wahrnehmungen sind diesbezüglich das Erste, das uns begegnet.
Bei beiden Denkmöglichkeiten – Wahrnehmungen sind Ur- bzw. Abbilder – gibt es also kein Abbilden. Das eine Mal entfällt es gemeinsam mit den Ab- und das andere Mal gemeinsam mit den Urbildern. Das paßt genau; eine Bild-Sorte fehlt immer, denn wir sehen nie doppelt.
Üblicherweise wird argumentiert:
Schließen wir die Augen, ist die Venus offensichtlich nicht einfach weg; also kann sich in unserer Psyche nur ein Abbild von ihr befinden. Damit ist das Abbilden für den Naiven Realismus unbedingt erforderlich – folglich muß es auch irgendwie vonstatten gehen.
Wir kehren die Logik um:
Weil das Abbilden niemals vorkommt, muß der Naive Realismus, der es unbedingt benötigt, falsch sein.
Bei uns existiert demzufolge . . .
. . . kein Regenbogen, ohne daß wir ihn sehen.
. . . keine Festigkeit, ohne daß wir sie fühlen.
. . . keine Anzahl, ohne daß wir sie zählen oder berechnen.
. . . keine Materie, ohne daß wir sie messen.
. . . keine Seele, ohne daß wir sie fühlen.
. . . kein Geist, ohne daß wir ihn erfahren.
. . . keine Offenbarung, ohne daß wir sie glauben.
2.4.6. Urbilder und Abbilder – im logischen Zirkel
Die Tradition erfindet einen unsichtbaren Ur-Mond Y im Außerhalb der Psyche, um Ihre Mond-Sehung X innerhalb von ihr erklären zu können. Ich bezweifle jedoch sehr stark, daß es sich hierbei um eine Erklärung, das heißt, um etwas Akzeptables handelt:
1. Gegeben ist die Mond-Sehung X.
2. Deren Zustandekommen möchten Sie verstehen.
3. Dazu erfinden Sie einen unsichtbaren Ur-Mond Y.
4. Der einzige Hiinweis auf ihn, besteht in unserer Mond-Sehung X.
5. Sie interpretieren letztere als Abbild des erfundenen Ur-Monds Y.
Damit
– leiten Sie aus der Mond-Sehung X den Ur-Mond Y – als eine mögliche Erklärung – ab und
– schließen zugleich aus der Existenz der Mond-Sehung X auf die Richtigkeit dieser Erklärung.
Kann ein logischer Zirkel perfekter sein?
Sie erklären die Mond-Sehung X mittels des Ur-Monds Y, von dem Sie nur durch die Mond-Sehung X wissen:
Von den Urbildern wissen wir allein durch ihre Abbilder.
Die Urbilder machen uns die Abbilder verständlich.
→ Es gibt Urbilder.
Diese „Logik“ kannten schon die alten Germanen:
Von Donar wissen wir allein durch den Donner.
Donar macht uns den Donner verständlich.
→ Es gibt Donar.
Rein logisch besteht zwischen diesen beiden Zirkelschlüssen auch nicht der geringste Unterschied:
Das Wissen, das sich aus den Abbildern ergibt, macht uns die Abbilder verständlich.
Das Wissen, das sich aus dem Donner ergibt, macht uns den Donner verständlich.
Nicht nur Donar, sondern auch die Urbilder sind meiner tiefsten Überzeugung zufolge pure Erfindungen, mit denen wir uns selbst belügen, solange wir glauben, etwas erklärt zu haben.
Es handelt sich bei diesen zwei Beispielen um einen (relativ weit verbreiteten) logischen Fehlschluß, den wir rein formal folgendermaßen darstellen können:
Prämisse 1 | p → q | Regnet es, wird die Straße naß. | Das Urbild erklärt das Abbild. |
Pränisse 2 | q | Die Straße ist naß. | Das Abbild liegt vor. |
falsche Konklusion | → p | Also hat es geregnet. | Also existiert das Urbild. |
Die erste Schlußfolgerung – „Also hat es geregnet“ – ist offensichtlich nicht zwingend, weil zum Beispiel auch Schnee geschmolzen, ein Wasserrohr geplatzt oder der Sprengwagen gefahren sein könnte. Die Prämisse lautete nicht „Wenn es regnet, aber auch nur dann, wird die Straße naß“.
Da die Logik nicht vom Inhalt abhängt, kann die zweite Konklusion – „Also existiert das Urbild“ – ebenfalls nicht zwingend sein. Natürlich wäre das eine mögliche Lösung dieses traditionellen Problems; aber daß wir uns gegenwärtig gar keine andere vorstellen können, beweist nicht ihre Richtigkeit, sondern unsere mangelnde Phantasie (oder Denkfaulheit).
Sowohl Donar als auch die Urbilder stellen Versuche dar, etwas zu erklären; sie mögen vielleicht ihre Zeit und ihr Recht gehabt haben; das muß uns nicht interessieren. Aber wenn wir ihre Schwachstellen kennen und die traditionellen Schlüsse nicht mehr intellektuell redlich nachvollziehen können, müssen wir nach etwas Konsistenterem Ausschau halten.
AD: „Also hatte Feuerbach mit seinen Projektionen doch Recht?“
Natürlich; man kann zwar alles Widerspruchsfreie aus der Psyche in ihr Außen projizieren, aber nichts von dort in ihr Innen abbilden; die „Abbilder“ müssen also Projektionen sein.
Da es Feuerbach jedoch im wesentlichen um seine Religionskritik ging, war er allein auf Gott fixiert, obwohl seine logisch saubere Argumentation auch nicht das Geringste speziell mit Gott zu tun hat und sich damit wortwörtlich auf sämtliche Seienden überträgt.
Wieso soll die Materie keine Projektion sein, wenn Gott eine sein muß?
Wer davon ausgeht, Gott zu wissen, glaubt lediglich seine diesbezüglichen Projektionen.
Wer davon ausgeht, die Materie zu wissen, glaubt lediglich seine diesbezüglichen Projektionen.
Feuerbach wollte mit seinen Überlegungen plausibel machen, wie die Traditionell-Gläubigen auf einen Gott kommen, der zwar als „transzendent“ bezeichnet, aber völlig immanent gedacht wird. Diese naiv-realistische Position in Bezug auf Gott nennt man „Theismus“; sie entspricht „einem Gott, den es gibt“, und von dem Dietrich Bonhoeffer sagte, daß „es ihn nicht gibt“; er wäre lediglich ein Gott nach unserem Bilde.
Mir geht es, anders als Feuerbach, nicht um eine Kritik der Religion, sondern um eine solche des traditionell-philosophischen Aberglaubens, und deswegen wende ich mich zwangsläufig auch gegen den Theismus.
Überzeugte Christen können nicht nur „a-theistisch glauben“ (Hartmut von Sass), sondern müßten es sogar, um intellektuell redlich zu sein und nicht schon von Feuerbach mit Recht belächelt zu werden.
2.5. Die objektive Wirklichkeit als Hinterwelt
Die objektive Wirklichkeit bildet eine Hinterwelt, weil traditionell Denkende mit ihr etwas zu wissen behaupten, was – da außerhalb der Psyche befindlich – prinzipiell niemand wissen kann und sich damit in einen Widerspruch verwickeln.
AD: „Also kann es auch kein Unbewußtes geben?“
Doch; ganz im Gegenteil; das muß sogar existieren.
Es besteht im Wirken unseres Wirklichkeitsbildes, und das zu negieren, würde bedeuten, daß selbst erschreckende oder beflügelnde Wissungen uns nur dann beeinflussen könnten, wenn wir gerade an sie denken; eine solche Annahme wäre offensichtlich geradezu absurd.
Der Fehler der Tradition besteht also nicht darin, ein Außerhalb der Psyche anzunehmen, sondern erst in der widersprüchlichen Annahme, von ihm wissen zu können.
AD: „Die Vertreter der Postmoderne setzen sich überall für Toleranz, Vielfalt, Harmonie, Pluralismus, Gesprächsbereitschaft und dergleichen ein. Das geht soweit, daß ihnen von traditionell-konservativer Seite ein ‚Abschied von der Wahrheit‘ oder eine ‚Diktatur des Relativismus‘ vorgeworfen werden.
Da überrascht mich Ihre Überschrift trotz der Klärung soeben doch ein bißchen: Wenn Sie die objektive Wirklichkeit als Hinterwelt betrachten, bedeutet dies doch, daß der postmoderne Spaß spätestens hier endet. Wer daran glaubt, darf nicht länger mitspielen.“
Nein; das wäre ein völliges Mißverständnis:
Die Toleranz der Postmoderne allen – (natürlich) menschlichen, freiheitlichen, demokratischen, friedlichen . . . – Wirklichkeitsbildern gegenüber, ist nur möglich, wenn wir auf sämtliche – Behauptungen von – Hinterwelten verzichten. Was Sie als leidige Grenze der postmodernen Offenheit geschildert haben, bildet also in Wirklichkeit ihre notwendige Voraussetzung und ermöglicht erst die Freiheit als Verantwortung, die nach meinem Dafürhalten im Zentrum der Postmoderne steht.
Meine Begründung erweist sich als denkbar einfach:
Wenn es eine objektive Wirklichkeit gäbe, sollten sich unsere Wirklichkeitsbilder auf diese beziehen, so daß letztere mehr oder weniger richtig und sogar völlig falsch sein könnten. Wer sich im Besitz eines adäquaten Abbilds wähnt, wird kaum sonderlich tolerant sein und die ihm vielleicht unverständliche Selbstbestimmung seiner anders – und somit eo ipso falsch – abbildenden Mitmenschen achten (können). Die Andersgläubigen müssen ja entweder naiv bzw. dumm oder böse sein.
Toleranz bedeutet dann nicht, sie mit ihren Überzeugungen als gleichwertige Subjekte anzuerkennen, sondern ihnen auf Teufel komm raus zur richtgen Einsicht zu verhelfen.
Das Fehlen einer objektiven Wirklichkeit beendet also nicht den postmodernen Spaß, um Ihre Formulierung aufzugreifen, sondern ermöglicht ihn erst.
Er endet dort, wo irgendwelche Menschen der postmodernen Offenheit widersprechen und hinterwäldlerisch beanspruchen, über richtiges Wissen von einer angeblichen objektiven Wirklichkeit zu verfügen, dem sich alle anderen unterzuordnen haben.
Beweist die Geschichte nicht hinreichend deutlich, daß ein solcher angemaßter Besitz der „Wahrheit“ immer wieder die schlimmsten Verbrechen – in der Politik, Wirtschaft, Religion, im Alltag oder wo auch immer – zu rechtfertigen scheint?
Die objektive Wirklichkeit bildet eine Hinterwelt, und das völlig unabhängig von ihrer konkreten Gestaltung.
In Antike und Mittelalter bestand sie in der Einheit von Immanenz und Transzendenz.
Während der Moderne setzte sich immer stärker der Gedanke durch, daß letztere eine bloße Hinterwelt sei und wir uns auf die naturwissenschaftliche Seite der Immanenz konzentrieren sollten, die (dadurch) immer mehr zum physikalischen Kosmos degenerierte.
Das nannte sich wohl „Aufklärung“, brachte aber sehr viel Polemik ins Spiel. Der antik-mittelalterliche Absolutheitsanspruch der Religion wurde – zu Recht – beseitigt, aber – zu Unrecht – durch den der exakten Wissenschaften ersetzt.
In der Postmoderne entsteht möglicherweise wieder eine fruchtbare Balance, weil nun die gesamte objektive Wirklichkeit als Hinterwelt durchschaut wird; die diesseitige ebenso wie die jenseitige.
Ich erhoffe mir hiervon eine wirkliche Aufklärung, das heißt, eine Aufklärung über die „Aufklärung“, die durch die Einsicht, daß wir uns keinerlei – weder religiöser noch wissenschaftlicher – Fremdbestimmung zu unterwerfen haben, zur eigenen Selbstbestimmung befreit.
Hinterwäldlerisch sind also niemals die jeweiligen konkreten Vorstellungen oder Überzeugungen, sondern hinterwäldlerisch ist allein die Annahme, von einer objektiven Wirklichkeit zu wissen; von welcher auch immer. Wer deren Materie im Auge hat, ist folglich keinen Deut aufgeklärter als derjenige, der vom objektiv-wirklichen Teufel spricht.
AD: „Ich darf also an nichts mit Sicherheit glauben oder von keiner Entität fest überzeugt sein, denn ich würde auf diese Weise hinterwäldlerisch und mich damit von jedem vernünftigen Diskurs verabschieden?“
Nein; das wäre ja furchtbar, würde ich dergleichen – Absurditäten – behaupten!
Ob wir etwas und gegebenenfalls was wir subjektiv mit 100%-iger Sicherheit glauben, spielt überhaupt keine Rolle. Wir könnten uns beispielsweise todsicher sein, daß es sowohl Materie als auch eine Evolution gibt oder Gott mit seinem Hofstaat von Engeln und der Teufel nebst Unterteufeln existieren. Es wird kaum etwas Widerspruchsfreies geben, das wir nicht für selbstverständlich halten dürften.
Die Begründung für unseren möglicherweise tiefen Glauben müßte dabei jedoch sinngemäß stets etwa folgendermaßen lauten:
„Aufgrund meines bisherigen Lebens ergibt sich für mich zwingend, daß es sich so verhalten muß; ich kann gar nicht anders denken, will ich mir nicht selbst widersprechen, unvernünftig sein, mich absichtlich dumm stellen oder selbst belügen.
Aber hier geht es nur um meine subjektiven Überzeugungen. Ich will wahrhaftig sein – und sage deswegen ganz ehrlich, wie ich es sehe; mehr ist gar nicht möglich und vermag niemand. Wir können uns gegenseitig um Wahrhaftigkeit bitten, aber von niemandem die Wahrheit erwarten.
Ich beanspruche für meine Überzeugung also weder Richtigkeit noch Wahrheit und erwarte somit auch nicht, daß Ihr Euch mir anschließt.
Das Lutherische ‚Hier stehe ich und kann nicht anders‘ trifft meine Situation recht gut.“
Ohne den Glauben an eine objektive Wirklichkeit können wir völlig problemlos die offensichtliche Tatsache anerkennen, daß Kinder und Erwachsene, Soziahilfeempfänger und Manager, Christen und Muslime sowie um Regen tanzende Hopiindianer oder atheistische Abendländer, psychisch „Kranke“ sowie Nobelpreisträger mit ihren jeweiligen subjektiven Wirklichkeiten leben, zwischen denen wohl häufig keinerlei Berührungspunkte bestehen.
Nietzsche wußte das schon lange vor uns und schrieb am Ausgang der Moderne, daß „die wahre Welt zur Fabel geworden ist“; damit natürlich auch jede unwahre. Das führt zu dem postmodernen Pluralismus der subjektiven Welten, den wir heute alle bereits erleben, der aber erst am Anfang seiner Entfaltung stehen und sämtliche „Bastionen einer objektiven Wirklichkeit oder Wahrheit“ hinwegfegen dürfte.
Ob wir die Heraufkunft dieses Pluralismus begrüßen oder bedauern und die damit verbundenen neuen Freiheiten feiern oder den verlorenen Gewißheiten nachtrauern, spielt dabei keine Rolle, weil die Geschichte irreversibel ist, so daß ohne Katastrophen wie Kriege, Umweltzerstörung, Genmanipulation, Gehirnwäsche, Diktaturen usw. die eindimensionale – Naivität der – Tradition (zum Glück) nicht wiederkehren wird.
Ein Hinter-die-„Aufklärung“-zurück kann sich ohnehin niemand wünschen, dem die (subjektive) Vernunft und Freiheit als die Grundlagen der Menschenwürde sowie ein erfülltes Leben wichtig sind.
Behaupten wir in einem Disput, die eigene Überzeugung sei wahr, dann ist das kein – weiteres – Argument für unsere Position, sondern lediglich die unseren Gesprächspartner beleidigende Behauptung, daß seine Überzeugung falsch sein muß, insoweit sie der unsrigen widerspricht.
Krass ausgedrückt bedeutet „Ich sage die Wahrheit“ im Sreitgespräch das Gleiche wie „Sie irren – und irgendwann ist meine Geduld mit Ihnen am Ende“.
Wer so redet, sehnt sich nicht nach Wahrheit, sondern will Recht haben. Denn wer die Wahrheit sucht, kann nicht behaupten, sie (bereits) zu haben; entweder . . ., oder . . .
Wir können bestenfalls – und sollten natürlich auch – wahrhaftig sein; das heißt, im Sinne unserer eigenen Überzeugungen leben und damit ohne alle diesbezüglichen Wahrheitsansprüche das sagen, was wir wirklich glauben oder denken und auch dementsprechend handeln.
Christen, die sich im Besitz der Wahrheit wähnen, erwarten vom Reich Gottes lediglich die – lobhudelnde – Bestätigung, daß Sie Recht hatten; das wäre meines Erachtens entsetzlich wenig und grauselig langweilig.
Ich bin dagegen überzeugt, daß wir in unserem ganzen irdischen Leben keine Wahrheit finden können, aber nichtsdestotrotz Suchende bleiben sollen und hoffe, daß das Reich Gottes uns mit seiner Wahrheit trotz aller Suche noch umwerfen wird.
Es würde mich furchtbar enttäuschen, wäre Gott nicht unendlich viel mehr und absolut Besseres eingefallen als mir.
Daß wußte schon Lessing vor bald 300 Jahren, und weil er mir aus der Seele spricht, zitiere ich ihn ausnahmsweise einmal recht ausführlich:
„Wenn mir in der einen Hand die Wahrheit, in der anderen das Streben nach ihr geboten würde und ich wählen müßte, ich würde das letztere wählen, und des Apostels Aufforderung lautet: Prüfet alles! Ohne Prüfung kann man nicht erfahren, ob der Geist, der in uns spricht, und die Geister, die zu uns reden, aus Gott sind oder nicht. Nur durch redliche von reiner Liebe zur Wahrheit ausgehende Prüfung wird sie allmählich unser Eigentum.
Darum fühlen wir uns zu dem hingezogen, der uns zur Prüfung seiner angeblichen Wahrheit auffordert, und wenden uns von dem ab, der uns seine Wahrheit aufdrängen will. Ein solcher erweckt mit Recht in uns das Vorurteil, daß er selbst nicht an die Wahrheit seiner Lehren glaube.
Denn die Wahrheit kann durch Prüfung nur gewinnen; die Wahrheit besteht in der bestandenen Prüfung, die Lüge und der Wahn aber verschwinden durch sie. Wer daher die Prüfung vorgeblicher Wahrheiten scheut und verhindern will, ist kein Freund der Wahrheit, sondern ihr Feind.
Kein Mensch auf Erden hat daher Ansprüche auf sogenannte Untrüglichkeit. Wer als unbedingte Autorität gelten will, wird daher verworfen.“
Sie sagten zu Beginn dieses Kapitels: „Wer an eine objektive Wirklichkeit glaubt, darf nicht länger mitspielen.“ Selbst diese Formulierung ist also noch zu einschneidend; Sie dürfen sogar an eine objektive irklichkeit glauben.
Nehmen wir als Beispiel das heute herrschende evolutive Weltbild mit Urknall und reinem Physikalismus. Es könnte Ihnen so überzeugend erscheinen, daß Sie sagen: „Das ist es! Ich glaube ganz fest, daß dieses Weltbild die objektive Realität adäquat wiedergibt, und danke den Physikern für ihre großartige Umsicht. Daß J. S. die Existenz dieser objektiven Realität bestreitet, ist mir doch gleichgültig; dann täuscht er sich eben.“
Denken Sie so, kann ich 100%-ig mitgehen: Sie stellen sich eine bestimmte Art von objektiver Wirklichkeit vor und glauben daran. Das ist völlig unproblematisch, denn wir können uns (nahezu) alles Widerspruchsfreie vorstellen und natürlich auch die eigenen Vorstellungen glauben.
Das gilt selbstverständlich auch für die objektive Wirklichkeit; bei ihr kommt sogar noch hinzu, daß wir den Zusammenhang in diesem Fall auch umkehren können:
Sie ist das, was sich nur vorstellen und glauben läßt.
Und damit sind wir wieder bei dem einzigen „Verbot“, dessen Übertretung uns in die Hinterwelt führt:
Sie dürfen nicht behaupten, die objektive Wirklichkeit erkannt bzw. abgebildet zu haben und dadurch von ihr zu wissen; erst durch diese widersprüchliche Zusatzannahme würde sie zu einer Hinterwelt.
Nun also endgültig:
Der postmoderne Spaß endet nicht, wenn Sie (an) eine objektive Wirklichkeit glauben, sondern erst, falls Sie
– diese als adäquat abgebildet,
– somit als erkennbar und
– folglich auch intersubjektiv verbindlich
behaupten.
Damit muß ich auch meine bisherige Ausdrucksweise nachträglich ein wenig relativieren, behalte sie aber der Deutlichkeit halber bei:
Wenn wir keinerlei Zugang zum Außerhalb unserer Psyche besitzen, kann ich natürlich auch nicht erkennen, daß keine objektive Wirklichkeit existiert.
AD: „Also steht es zwischen Ihnen und den modernen Traditionalisten 1 : 1; letztere glauben (an) die objektive Wirklichkeit und Sie nicht.“
Möglicherweise „ja“; das ging aber jetzt etwas zu schnell, denn wir müssen zwei Fälle unterscheiden.
Wenn die modernen Traditionalisten nur sagen, es gäbe eine objektive Wirklichkeit ohne deren Form zu konkretisieren, haben Sie mit Ihrem 1 : 1 theoretisch Recht.
Praktisch erhebt sich in diesem Fall jedoch die Frage, worin eigentlich der Unterschied zwischen der Existenz bzw. Nicht-Existenz einer vollkommen unbekannten objektiven Wirklichkeit bestehen soll. Ist das tatsächlich ein Unterschied, der einen Unterschied macht?
Legen sich die traditionell Denkenden jedoch auf eine spezielle Realität fest, stimmt das 1 : 1 nicht mehr, weil ihr Glaube möglicherweise zu spezifischen Konsequenzen für unser Leben führt. Beispielsweise könnten Kühe heilig, der Koran wörtlich inspiriert und unser Leben durch die Naturgesetze oder den Willen Gottes determiniert sein.
Wer etwas Spezielles oder Konkretes behauptet, steht in der Beweispflicht; nicht der staunende Gesprächspartner.
Daß gerade Kühe heilig sein sollen, müßte von den Gläubigen begründet und braucht nicht von uns Ungläubigen widerlegt zu werden. Es beweist (meines Erachtens) auch niemand, weshalb Flöhe – angeblich – nicht heilig sind.
Unsere Vorfahren haben Wege gefunden, Oliven genießbar zu machen; das ist bei dieser Frucht nicht selbstverständlich, sondern eher ein kleines Wunder. Und das, sagen die Mythen, verdanken wir der Göttin Athene, die uns Menschen gelehrt hat, die Oliven entsprechend aufzubereiten.
Wer diese dem traditionellen Denken entsprechende Erklärung für richtig hält, dem kommt eine Begründungspflicht zu.
Mit dem bloßen Ablehnen dieses Mythos vertreten wir jedoch keine ebenso konkrete gegenteilige Meinung, sondern distanzieren uns lediglich von dem Mythos. Weder bedarf das einer Rechtfertigung, noch bedeutet es, sich um eine andere Erklärung bemühen zu müssen; die Athene-Geschichte interessiert uns doch vielleicht gar nicht.
Solange es, anders formuliert, um unsere subjektive Wahrhaftigkeit und nicht um eine angebliche objektive Richtigkeit geht, sind wir absolut nicht hinterwäldlerisch, wie „hinterwäldlerisch“ auch immer unsere Überzeugungen sein mögen.
Dann sagen wir jedoch auch nicht „so ist es“; diese traditionelle Anmaßung entspricht dem Hinterwäldlerischen.
AD: „Und sie entspricht dem Sein-Wollen-wie-Gott?“
Ich glaube „ja“. Ohne das traditionelle Denken ist ein objektiver Wahrheits- oder Richtigkeitsanspruch gar nicht möglich; es bildet eine notwendige Voraussetzung dafür, muß aber nicht zu ihm führen. Menschen können traditionell denken und sich dennoch ganz bescheiden weit entfernt von jeder Richtigkeit wähnen.
Wer jedoch den Anspruch erhebt, die objektive Wirklichkeit zu kennen,
– will sein wie Gott,
– ist aber hinterwäldlerisch.
2.5.1. Wissenschaft und Hinterwelt
Warum ver(sch)wende ich so viel Zeit und Mühe darauf, Ihnen die objektive Wirklichkeit oder Hinterwelt wegzunehmen, die Sie ohnehin niemals erfahren haben bzw. werden?
Weil dieser traditionelle Glaube zu weitreichenden Konsequenzen führt.
Das gilt nicht zuletzt für die empirischen Wissenschaften. Obwohl in ihnen nur Anschauungen (das heißt, Wahrnehmungen und Vorstellungen) auftreten (können) und noch niemandem Seiende begegnet sind, glauben sehr viele ihrer Vertreter, von deren objektiver Realität zu sprechen.
Warum eigentlich?
Können Wissenschaftler plausibel machen, das Ziel ihrer Forschung bestehe in der neutralen Abbildung der objektiven Wirklichkeit – unabhängig davon, ob sie das nun selbst glauben oder nicht –, läßt sich letztlich jede Forschung rechtfertigen, weil sie dann voraussetzungslos sowie wertfrei sein muß und Wissen stets besser ist als Nicht-Wissen. Allein Lügner, Verführer oder Scharlatane müssen Angst vor der Wirklichkeit haben; die Zunahme des Wissens ist purer Fortschritt und immer gut.
Und außerdem befinden wir uns als diejenigen, die lediglich die objektive Wirklichkeit wiedergeben, in einer beneidenswerten Position: Wie entsetzlich auch immer unsere Ergebnisse sein mögen – „wir sind nicht verantwortlich und finden sie auch einfach nur schrecklich. Beschwert Euch aber bitte an einer anderen Stelle, bei Gott, der Evolution oder wo auch immer, jedenfalls nicht bei uns; wir haben das nicht gemacht, sondern bilden es ganz neutral ab. Wir zeigen Euch nur, wie schlimm alles ist; seid uns bitte dankbar“.
Nun können wir wieder den ersten rot hervorgehobenen Absatz anschließen.
Eine objektive Realität zu behaupten oder eine entsprechende Hinterwelt zu erfinden, ist letztlich die Lüge, es gäbe eine Kotrollinstanz für unsere Forschung:
„Würden wir die Seienden nicht adäquat abbilden oder wären wir nicht auf dem richtigen Wege, träten Widerstände und Widersprüche auf, hätten wir keine technischen Erfolge und es entstünde ein großes Tohuwabohu. All das geschieht nicht; wir befinden uns also auf einem guten Weg, und laßt uns bitte so weitermachen. Wenn wir etwas Unrechtes tun, wird sich die Natur – der Seienden – gewiß zu Wort melden.“
Deswegen sehe ich im traditionellen Denken einen gewichtigen Grund für unsere aktualen Menschheitsprobleme.
Die als Kontrollinstanz behauptete objektive Realität, die dem Forschen eine Richtung vorgeben und es begrenzen oder unseren Eingriffen einen Riegel vorschieben könnte, existiert nicht. Was auch immer geschieht, wir ecken kaum an – weil gar nichts existiert, das sich uns in den Weg zu stellen vermag – und nutzen dieses Gar-nicht-Anecken-Können weidlich aus; entweder naiv oder berechnend, aber gewiß verantwortungslos.
Wir mißbrauchen, mit anderen Worten, den weit verbreiteten Glauben an eine objektive Realität, um unseren bisherigen Weg rückblickend als richtig darstellen zu können – „es hat nicht geknallt“ – und in diesem Sinne weitermachen zu dürfen – „die Seienden werden sich melden, sollten wir tatsächlich einmal danebenliegen“.
So geht unser „Fortschritt“ immer weiter; aber ohne angebbares Ziel können wir nicht sinnvoll von Fortschritt sprechen, denn er wird zu einem bloßen Nur-schnell-weg von diesem Hier und Jetzt.
Natürlich bliebe es ein lohnenswertes praktisches Ziel, allen Menschen ein Leben in Freiheit und Würde zu ermöglichen; aber ich bezweifle ernsthaft, daß diese Intention in der abendländischen Moderne sonderlich stark ausgeprägt war.
Ihr Ziel ist eher ein theoretisches und bestand ursprünglich darin, die objektive Welt zu erkennen. Wenn sich in der Postmoderne der Gedanke durchsetzt, daß es diese gar nicht gibt und wir jahrhundertelang ein Pseudoziel verfolgt haben, besteht vielleicht wieder die Chance, uns den wirklich brennenden Problemen zuzuwenden.
AD: „Wenn die Realität nicht objektiv ist, können die empirischen Wissenschaften es auch nicht sein.“
Stimmt; der Glaube an eine erkenntnis-theoretische Objektivität ist hinterwäldlerisch; davon können wir uns schnell überzeugen:
Es gibt keine voraussetzungslose Wissenschaft – ganz einfach, weil aus nichts auch nichts folgt. Setzen wir keine – mehr oder weniger willkürlichen – Prämissen, fehlen also auch sämtliche Konklusionen; das voraussetzungsfreie Fachbuch bleibt völig leer.
Mit anderen Worten heißt dies, daß die exakten oder Modell-Wissenschaften als Resultate nur die Konseqenzen ihrer eigenen Voraussetzungen enthalten können. Weder die Logik noch das Experiment sind kreativ; sie steuern nichts bei, sondern die Ergebnisse dieser Wissenschaften bestehen lediglich in den – freilich explizierten, ausgefalteten oder entwickelten und dadurch möglicherweise auch sehr überraschenden – Konsequenzen ihrer eigenen Modelle.
Ist die Wissenschaft – durch die Notwendigkeit von Prämissen – jedoch nicht voraussetzungslos, kann sie auch nicht wertfrei sein, denn mit den unabdingbaren Voraussetzungen, ohne die es gar keine Wissenschaft gibt, setzen wir zugleich ganz spezielle Werte.
Das daraus resultierende Ergebnis besteht also nicht in der, sondern in einer Wissenschaft.
So wie es beliebig viele Mathematiken gibt, wären auch die verschiedensten Physiken möglich. Wir haben uns für eine entschieden, mit deren Hilfe sich „phantastisch(e)“ Waffen bauen lassen, und können uns eine andere Physik gar nicht vorstellen. Es bleibt also insbesondere offen, ob die negativen Möglichkeiten unserer Physik zwangsläufig auch jeder anderen angehören würden.
Es gibt natürlich auch eine ethisch-praktische Objektivität der Wissenschaften. Ihr zufolge sollen alle Ergebnisse ehrlich zustandekommen, unabhängig von den Wünschen der Forscher und somit nicht manipuliert sein. Subjektive Interessen dürften keine Rolle spielen; messen wir, was wir nicht wollten, dann messen wir eben, was wir nicht wollten; „schade“!
Eine solche Objektivität wird hoffentlich stets das Ziel der Forschung bleiben, hängt jedoch mit unseren Überlegungen bestenfalls am Rande zusammen.
AD: „Wenn die objektive Wirklichkeit eine Hinterwelt darstellt, können unsere diesbezüglichen Vorstellungen weder richtig noch falsch sein. Warum – und worum – streiten wir dann im Alltag, vor Gericht, in der Industrie oder Wissenschaft eigentlich häufig so erbittert?“
Das ist ganz einfach: Weil es dort niemals um die hinterwäldlerischen Seienden geht – andenfalls dauerte der Streit doch endlos an. Der Meteorologe sagt im Wetterbericht beispielsweise nicht voraus, daß die Ur-Sonne morgen Abend 20:16 Uhr untergeht, sondern welche „Sonnen“-Wahrnehmungen wir um diese Zeit erleben können.
Alltag, Gericht, Industrie und Wissenschaft haben absolut nichts mit einer objektiven Wirklichkeit zu tun, sondern hier werden Vorstellungen mit Wahrnehmungen verglichen und damit auf ihre Richtigkeit überprüft. Sie besteht gegebebenfalls darin, daß jene mit diesen übereinstimmen.
2.5.2. Das moderne Weltbild als Mythos
Wir – das heißt, die erwachsenen und angeblich gesunden Abendländer um die zweite Jahrtausendwende – glauben zumeist, vom physikalischen Kosmos als einer objektiv-wirklichen Realität zu sprechen, während alle anderen Kulturen der Vergangenheit und Gegenwart aus unserer Sicht nur über bloße Weltbilder i. e. S. verfügen. Das sind Vorstellungen, die höchstens irrtümlich als Abbilder geglaubt werden – wovon aber bei vielen, besonders exotischen Weltbildern partout nicht die Rede sein kann. Unser Weltbild ist dagegen weitestgehend adäquat, und die anderen Varianten stellen bestenfalls seine Vorstufen dar oder sollten eher unter „Mythen“ kategorisiert werden.
Diese heute weit verbreitete Einstellung halte ich jedoch selbst für einen Mythos; es ist derjenige vom Fortschritt als der großen modernen „Metaerzählung“ (Jean-François Lyotard), die natürlich – wie könnte es auch anders sein – direkt zu uns als der Krone der Schöpfung Evolution führt und deshalb nur allzugerne geglaubt wird.
Ich halte die kosmische Evolutionstheorie dagegen für den „Weltentstehungsmythos des Atomzeitalters“ (Georg Picht).
Letzteres begann mit dem little bang von Hiroshima und Nagasaki, ist aber auch sonst ein Zeitalter der Explosionen; Bevölkerungszahlen, Wissungen, Informationen, Verfügbarkeiten, Fördermengen, Ansprüche, Geschwindigkeiten, Erwartungen, Produktionsraten usw. schnellen plötzlich in die Höhe. Damit einher gehen Zerstörungen beispielsweise von Lebensgrundlagen, Traditionen, Religionen, Werten, Sprachen, Minderheiten, Tieren oder Pflanzen.
Kann es uns überraschen, daß die Menschen einer solchen Zeit glauben, sich einem großen Knall verdanken zu müssen?
Die Urknalltheorie ist natürlich eine physikalische, aber ihre Akzeptanz wird nicht von einer angeblichen objektiven Realität her verständlich – Physiker sind keine Hinterwäldler –, sondern meines Erachtens allein psychologisch.
Ich bin – gegen den Zeitgeist – fest überzeugt, daß wir keine Ausnahmekultur sind und lediglich über (inter-)subjektive Wirklichkeitsbilder i. e. S. verfügen, wie alle anderen Kulturen auch. Sämtliche Varianten haben ihre Vor- und Nachteile; weder sind sie nahezu gleichwertig im Sinne von Paul Feyerabends „anything goes“, noch befinden sich richtige Wirklichkeitsbilder darunter.
Wir glauben nicht, was richtig ist, sondern was zu glauben wir für richtig halten.
Das stellt fast eine Tautologie dar; alle gehen so vor und müssen so vorgehen. Das ist alternativlos; und ob es tatsächlich richtig war, wird bestenfalls die Zukunft zeigen.
Das gilt also auch für die traditionell Denkenden; sie erzählen ebenfalls nur, was zu glauben sie für richtig halten, und sind dabei überzeugt, uns die objektive Wirklichkeit zu schildern.
Das traditionell verstandene Wirklichkeitsbild verstellt den Blick auf die Wirklichkeit des Lebens, indem es uns eine objektive Realität vorgaukelt,
– die ursprünglich oder primär sein soll und
– der wir unser Leben als sekundär unterzuordnen haben,
– weil wir angeblich in und von dieser Realität leben.
Mit einem solchen Denken belügen wir uns selbst; wir könnten das wissen, wollen es aber nicht wissen, und dafür bestehen mindestens fünf Gründe:
1. Zunächst interessiert uns sehr, „wie es wirklich ist“; postmodern läßt sich diese Sehnsucht jedoch nicht erfüllen.
2. Des weiteren wünschen wir uns Sicherheit, und die scheint nicht zuletzt dadurch gewährleistet zu sein, daß wir auf die uns als wichtig erscheinenden Fragen sowohl eindeutige als auch einfache Antworten geben können.
Es gibt sogar eine „Faszination des Primitiven“, die wir nicht nur bei politischen oder sportlichen Großveranstaltungen, sondern auch im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien mitunter ungeschminkt erleben können.
3. Wir suchen nach wärmender Gemeinschaft und möchten gerne in ihrem Strom mitschwimmen.
Die Mehrheit denkt aber nicht, und zahlreiche Umfragen zeigen, daß sie das auch gar nicht möchte. Selbst in Freiheit zu denken, vermag nur der Einzelne – wenn er denn will und den dafür notwendigen Mut aufbringt.
4. Viele Vorstellungen erscheinen uns als alternativlos, so daß wir scheinbar felsenfest von ihnen überzeugt sein müssen. Aber gegen die Annahme, Denknotwendigkeit hätte etwas mit Richtigkeit zu tun, sprechen zumindest zwei sehr starke Argumente.
Zum einen resultiert die angedeutete „Evidenz“ möglicherweise aus unserer Einseitigkeit, Denkfaulheit, Ignoranz oder mangelnden Phantasie. Wer kreativer ist, intensiver überlegt oder mehr Zeit investiert, findet vielleicht noch ganz andere Antworten.
Zum anderen ist alles Argumentieren, Beweisen oder Widerlegen an unser Wirklichkeits-Bild gebunden; Denken heißt, sich innerhalb von ihm geistig zu bewegen, denn kein einziger Gedanke, der nicht zumindest implizit zum Wirklichkeitsbild gehört und somit aus ihm hergeleitet werden kann, ist uns zugänglich.
Sämtliche Schlüsse, Begründungen oder Widerlegungen, derer wir fähig sind, tragen also den heimlichen Vermerk „im Rahmen meines Wirklichkeitsbilds“, denn sie setzen dieses als unhintergehbares Nonplusultra voraus. Das eigene Wirklichkeitsbild legt, anders formuliert, beispielsweise fest, was – für uns – 100%-ig sicher bzw. absolut unmöglich ist.
„A kann nicht und B muß sein – in meinem Wirklichkeitsbild.“
Letzteres und keine angebliche objektive Wirklichkeit, liefert die einzige Begründung; eine Hinterwelt kann weder etwas rechtfertigen noch anfechten.
5. In unserer Technik werden die exakten Wissenschaften angewandt, und daß wir technisch unglaublich erfolgreich sind, scheint zu beweisen, daß die exakten Wissenschaften die objektive Realität adäquat wiedergeben.
Dem würde ich entgegenhalten, daß andere Kulturen mit ihren – dann natürlich – „falschen“ Wirklichkeitsbildern teilweise sehr lange bestanden; das ägyptische Pharaonentum beispielsweise 3000 Jahre. Unser „richtiges“ modernes Wirklichkeits-Bild stellt uns dagegen bereits nach vier Jahrhunderten vor immer größer werdende Probleme.
AD: „Das mag theoretisch stimmen, praktisch ist aber von keiner anderen Kultur jemand zum Mond geflogen.“
Vielleicht wollte es auch keiner!
Nicht nur, was man tun, sondern auch was man denken und wollen kann, hängt doch vom Wirklichkeitsbild ab. Andere Kulturen strebten vielleicht nach einem Kontakt mit ihren Göttern oder Ahnen; den haben sie möglicherweise erreicht. Wir können ihn nicht einmal wollen, weil das unserem Wirklichkeitsbild zufolge Nonsens wäre.
Wenn die Ägypter beispielsweise unsere Sonne als ihren Gott Re verehrt haben, mußte ihnen der Gedanke hinzufliegen, einfach als absurd erschienen sein – sofern er überhaupt möglich war. Kennen Sie einen Gläubigen, der ernstlich in die Transzendenz fliegen möchte? Wo müßte er dann eigentlich starten und in welche Richtung?
Unsere diesbezügliche „Logik“ ist doch völlig verquer:
Alle wollten das, was wir können, haben es aber nicht geschafft – wodurch der Fortschritt zu und durch uns bewiesen wäre; q. e. d.
Vielleicht ließe sich auch so denken:
Keiner wollte das, was wir können; aber was unsere Vorfahren wollten und vielleicht auch konnten, können wir nicht einmal mehr wollen.
Damit verlängern wir die Liste der allgemein bekannten Kränkungen des Menschen duch die moderne Wissenschaft über Galilei, Darwin, Freud, Turing, Gödel usw. hinaus:
1. Die angebliche objektive Wirklichkeit ist nur eine Hinterwelt.
2. Sämtliche Wissungen sind durch das eigene subektive Wirklichkeitsbild begrenzt, so daß sie mit diesem auch völlig danebenliegen könnten.
3. Was „danebenliegen“ bedeutet, verstehen wir jedoch bereits nicht mehr, weil es sich eo ipso nur „neben“ unserem Wirklichkeitsbild befinden und ihm nicht mehr angehören kann.
4. Dort spielt auch die Wirklichkeit des Lebens, so daß die Helle des Verstandes sie nicht erreicht.
2.5.3. Hinterwäldlerische Moderne
AD: „Auf der einen Seite kann ich Ihre Position, daß die objektive Wirklichkeit wegen ihrer prinzipiellen Unerreichbarkeit lediglich eine willkürlich behauptete Hinterwelt bildet, sehr gut verstehen und finde sie nahezu zwingend.
Auf der anderen Seite will ich aber nicht glauben, daß die überwiegende Mehrzahl der Menschen in Antike, Mittelalter und Moderne das nicht gesehen haben soll und wir letztlich auf die Postmoderne warten mußten, um es zu erkennen. Dann wären die Postmodernen die Krone der Menschheit, und das würde – so wie ich Sie verstehe – Ihren eigenen Intentionen diametral zuwiderlaufen.“
Da gehen wir völlig d’accord, und mir ist es wichtig, jeglichen Verdacht, ich könnte unsere Vorfahren als nicht sonderlich intelligent einschätzen, weit von mir zu weisen. Hiermit gewinnt Ihr Einwand jedoch nochmals an Gewicht:
Wie ist es möglich, daß kritische Geister durch viele Jahrhunderte hindurch eine offensichtliche Hinterwelt nicht als eine solche durchschauen und ablehnen, sondern als objektive Wirklichkeit glauben?
Ich denke, das ist gar nicht so schwer zu verstehen.
Antike und Mittelalter waren zutiefst christlich geprägt und verstanden von daher den Menschen als Ebenbild Gottes. Diese Beziehung führte bei vielen der damaligen Philosophen und Theologen zu der Annahme, daß wir Menschen am unendlichen Geist Gottes teilhaben (können).
Einzelne Denker warnten vor problematischen Vereinfachungen; Blaise Pascal zum Beispiel legte Wert auf die Feststellung, daß es den Nous wohl geben mag, er aber nicht automatisch mit dem Gott des christlichen Glaubens gleichgesetzt werden dürfe.
Ob nun gerechtfertigt oder nicht; es ist nachvollziehbar, daß für unsere Vorfahren, wenn sie sich wie selbstverständlich in einer solchen Unmittelbarkeit zu Gott verstanden, die objektive Wirklichkeit für sie keine Hinterwelt bildete. Sie wußten nicht nur von ihr, sondern wußten zugleich auch, daß sie diese Erkenntnis ihrem Gott verdanken, aber niemals aus eigener Kraft würden erlangen können.
In Antike und Mittelalter
– konnte eine objektive Wirklichkeit also guten Gewissens geglaubt werden,
– denn ihre Erkenntnis bedeutete keinen Widerspruch,
– so daß es sich bei ihr auch nicht um eine Hinterwelt handelte.
In der Moderne verblaßt der christliche Glaube; aber das ist nicht die Ursache unserer Schwierigkeiten, so daß sein Wiedererstarken sie auch nicht lösen würde. Um das deutlich sehen zu können, unterscheiden wir drei Fälle:
1. Es gibt eine objektive Wirklichkeit.
a) Durch den Nous kann sie erkannt werden.
b) Der Nous wird nicht geglaubt, so daß keine Möglichkeit besteht, von der objektiven Wirklichkeit zu wissen.
2. Es gibt keine objektive Wirklichkeit.
Dann stellt sich die Frage nach dem Nous gar nicht.
1. a) steht natürlich für Antike und Mittelalter, aber auch für die traditionell denkenden Gläubigen der Moderne.
1. b) macht die objektive Wirklichkeit zur Hinterwelt; es wird über etwas geredet, wovon man nichts wissen kann. Das Sinnbild für diese widersprüchliche Position stellt der wissenschaftsgläubige Atheist (in) der Moderne dar.
2. entspricht natürlich unserer Position; es gibt keine objektive Wirklichkeit, und jeder glaubt mehr oder weniger subjektiv, was seinem eigenen Wirklichkeitsbild entspricht.
2.6. Philosophisches und alltägliches "Abbilden"
AD: „Ich fürchte, die meisten Menschen lehnen Ihre Überlegungen ab, wei sie – vielleicht recht stringent, aber dadurch auch – sehr kompliziert sind und wir mit dem traditionellen Abbilden ein herrlich einfaches Erklärungsmodell besitzen, so daß sich die notwendige Anstrengung nicht zu lohnen scheint. Das Abbilden ist etwas Alltägliches; denken wir nur an das Photographieren, Malen und Beschreiben, an Landkarten, technische Zeichnungen oder Veranschaulichungen.“
Das stimmt; aber wer do denkt, übersieht, daß wir es hier mit zwei völlig verschiedenen Formen des „Abbildens“ zu tun haben. Das philosophische Abbilden(P), um das es uns geht, hat mit dem von Ihnen gemeinten alltäglichen Abbilden(A) nahezu gar nichts gemein.
Wir stehen – traditionell gedacht – vor dem objektiv-realen Eiffelturm, bilden ihn in unserer Psyche ab und schießen ein Erinnerungsphoto, so daß sich zwei verschiedene Arten von „Abbildern“ ergeben.
Die Anführungsstriche soeben sind wichtig, denn es wäre mehr als verwegen, hierbei Abbilder als gemeinssamen Oberbegriff zu benutzen:
Natürlich ist ein Photo vom Eiffelturm nicht der Eiffelturm, sondern lediglich ein Abbild(A) von ihm. Aber das Photo, das wir in der Hand halten oder auf dem Handy sehen, ist traditionell ebenso real, wie der Eiffelturm selbst. Wenn er ein Urbild sein soll, muß dies für sein Photo also ebenfalls gelten.
In Paris befinden sich folglich an der frischen Luft zwei Urbilder – der Eiffelturm sowie sein Photo – und in unserer Psyche die beiden zugehörigen Abbilder(P).
Wir könnten noch ein Photo vom Photo vom Photo vom . . . machen, aber an deren Abbilder(P) kommen wir natürlich nicht heran.
Seiende oder Urbilder | Eiffelturm | Photo vom Eiffelturm | Photo vom Photo vom . . . |
——— Abbilden(A) ——→ |
|||
| | | | | | |
Abbilden(P) | Abbilden(P) | Abbilden(P) | |
↓ | ↓ | ↓ | |
Abbilder(P) vom . . . |
Eiffelturm | Photo vom Eiffelturm | Photo vom Photo vom . . . |
in der eigenen Psyche |
Abbildung 2.6.-1
Beim Abbilden(A) sind uns sowohl Ur- als auch Abbild(A) gegeben; beim Photographieren können wir beispielsweise die aufgenommene Landschaft unmittelbar mit dem Bild davon vergleichen, und wir sehen – lax ausgedrückt – doppelt; das Original und sein Photo. Dem Künstler steht ein Mensch gegenüber, von dem er ein Porträt malt; wir orientieren uns in der Natur mittels einer Wanderkarte usw.
Mit Ur- bzw. Abbild(P) im traditionell-philosophischen Sinne haben diese Beispiele nicht viel zu tun, denn beim Abbilden(P) ist uns immer nur ein Exemplar gegeben.
Die Tradition behauptet, letzteres sei das Abbild(P); das zugehörige Urbild wird von ihr lediglich als notwendig erschlossen.
Wir halten diesen Schluß für einen Zirkel und glauben die Urbilder nicht, so daß ihre „Abbilder(P)“ nun auch keine Abbilder(P) mehr sind, sondern ganz simpel unsere Wahrnehmungen, wodurch sich die Darstellung von soeben massiv vereinfacht.
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——— Abbilden(A) ——→ |
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Wahrnehmungen |
Eiffelturm | Photo vom Eiffelturm | Photo vom Photo vom . . . |
in der eigenen Psyche |
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Abbildung 2.6.-2
AD: „Wir sehen nicht doppelt; einverstanden. Das Urbild Mond ist natürlich unsichtbar, weil es sich außerhalb der Psyche befindet; aber unsere Vernunft verlangt seine Existenz:
Wir könnten keinen Mond sehen, wenn er sich nicht dort befände.“
Ihr letzter Satz ist zumindest zweideutig.
Er könnte eine Tautologie darstellen: Gäbe es dort nicht den Mond als Sehung, würden wir auch keinen sehen; dem vermag niemand zu widersprechen.
Aber zur Verteidigung der Tradition müßten wir Ihren Satz so verstehen, daß zwei Monde zu unterscheiden sind:
Die Mond-Sehung X in unserer Psyche wäre unmöglich, wenn sich der Ur-Mond Y nicht dort im Weltraum befände.
Ich fürchte, wir haben tatsächlich nur die Wahl zwischen Tautologie und Zirkelschluß.
2.6.1. "Physik des Sehens"
AD: „Ja; aber ich bin noch nicht bereit aufzugeben und versuche es einmal etwas konkreter.
Wir kennen doch alle aus unserer Schulzeit noch die physikalische Theorie des Sehens, derzufolge beispielsweise der Baum am Straßenrand als Urbild dienen kann. Die Lichtstrahlen, die er reflektiert, werden von unseren Pupillen, die als Sammellinsen fungieren, fokussiert, so daß auf der Netzhaut der Augen ein kopfstehendes, verkleinertes Abbild des urbildlichen Baumes von der Sraße entsteht. Das Funktionieren unserer Brillen, Lupen und Fernrohre beweist doch hinreichend, daß wir es hier tatsächlich mit einem – zumindest nicht völlig falsch beschriebenen – Abbilden zu tun haben.
Die Netzhaut mit ihren Stäbchen und Zäpfchen wirkt auf den Sehnerv, und dieser feuert mit einer Frequenz, die bei Erhöhung der Erregung ansteigt. Die dabei gesandten Signale sind jedoch völlig neutral oder sinnesunspezifisch; beispielsweise benutzt der Sehnerv exakt den gleichen Code wie der Hörnerv. Es werden also, einfacher formuliert, nicht hier Bildchen und da Tönchen übertragen, sondern stets einheitliche Weder-Bildchen-noch-Tönchen.
Wir verstehen bisher kaum, wie ein und dieselben Impulse einmal zu Bildern und ein andermal zu Tönen – oder auch Gerüchen, Gefühlen oder Geschmacksvarianten – werden können. Hier besteht zwar noch eine von den meisten Autoren anerkannte ‚Erklärungslücke‘, die aber meines Erachtens den physikalischen Teil unseres Abbildens überhaupt nicht tangiert.“
Ich komprimiere Ihren Einwand auf eine Kurzform, mit der wir besser arbeiten können:
Die physikalische Theorie des Sehens beschreibt sehr gut, wie der Ur-Baum vom Straßenrand auf der Netzhaut abgebildet wird. Den Ur-Baum sehen wir alle, und sein Abbild nimmt der Optiker wahr, der uns in die Augen schaut.
Das war wohl Ihre Intention. Aber dabei übersehen Sie, daß Abbild nicht gleich Abbild ist. Was Sie im Physikunterricht gelernt haben,
– war völlig in Ordnung,
– bezieht sich aber nur auf das alltägliche Abbild(A) und
– hat demzufolge mit dem angeblichen philosophischen Abbild(P) gar nichts zu tun.
Um dem widersprechen zu können, müßten Sie glauben, daß der Optiker uns nicht in die Augen, sondern in die Psyche schaut; bestenfalls hier wäre das Abbild(P) zu finden.
Ich korrigiere also in unserem postmodernen Sinne:
Die physikalische Theorie des Sehens beschreibt sehr gut, wie die Sehung Baum vom Straßenrand auf die Netzhaut abgebildet(A) wird. Die Sehung Baum haben wir alle, und ihr Abbild(A), eine weitere Sehung – wie oben das Foto vom Eiffelturm –, nimmt der Optiker wahr, der uns in die Augen schaut.
Damit sollte deutlich werden, daß die physikalische Theorie des Sehens das philosophische Abbildproblem nicht nur weder löst noch beseitigt, sondern auch nicht im entferntesten tangiert. Von Urbildern und deren Abbildern(P) ist in der Physik gar nicht die Rede; sie kennt lediglich zwei Arten von Sehungen; die jeweils ursprünglichen – Eiffelturm oder Baum am Straßenrand zum Beispiel – und deren Photo bzw. Abbild(A).
Genau dadurch, daß Ihre Beschreibung eine rein physikalische ist und mit unserem philosophischen Abbild-Scheinproblem nichts zu tun hat, wird diese Beschreibung nicht nur sinnvoll und verständlich, sondern kann sogar zum Bau optischer Geräte genutzt werden.
Hier wird nicht erklärt, wie Sehungen zustandekommen, indem angebliche Urbilder abgebildet(P) werden. Vielmehr zeigt diese Theorie, wie – bereits bestehende – Sehungen durch den Raum tranportiert und damit in andere Sehungen transformiert(A) werden können.
AD: „Jein; es stimmt doch sehr vieles von dem, was die physikalische Theorie zum Sehen sagt. Schließen wir beispielsweise die Augen oder unterbricht ein Hindernis unseren Sehstrahl, so sehen wir nichts (mehr); folgt daraus nicht, daß diese Theorie das Sehen einigermaßen richtig darstellt?“
Nein; in keiner Weise!
Wenn eine „Theorie des Sehens“ adäquat beschreibt, unter welchen Bedingungen letzteres nicht gelingt, ist sie noch lange keine Theorie des Sehens, sondern lediglich eine seiner notwendigen Voraussetzungen. Sie beziehen sich auf das Nervensystem, die Augen, den Sehstrahl, die Beleuchtung und noch vieles mehr.
Sind nicht alle notwendigen Voraussetzungen erfüllt – und allein von ihnen spricht diese Seh-Voraussetzungs-Theorie –, sehen wir nichts; das ist die Bedeutung von „notwendig“.
Wir sehen natürlich nicht, wenn unsere Augen geschlossen sind; aber daraus folgt doch absolut nicht, daß wir sehen, weil sie offen sind. Eine Puppe kann ihre Augen noch so weit aufreißen; sie bleibt blind.
Offene Augen sind für das Sehen notwendig; aber das Hinreichende besteht nicht in ihnen, sondern in unserem Leben.
AD: „Aber einen Joker habe ich doch noch, nämlich die vielen Abbildungsfehler, die uns die Physik wunderbar erklären kann.
Wir sehen beispielsweise den urbildlichen geraden Stab, wenn er schräg ins Wasser taucht, als gebrochen; unsere Sehung ist dann ein falsches Abbild, über das die Optik uns aufklärt.“
Nein; der gerade Stab ist kein Urbild, sondern ebenfalls bereits eine Sehung – wie der obige Baum am Straßenrand. Wir sehen ihn doch schon, bevor er in das Wasser eintaucht; also muß er sich da bereits in unserer Psyche befinden. Für die Physiker gibt es nur Abbilder(A); ob sie traditionell oder postmodern denken, spielt überhaupt keine Rolle.
Der „Widerspruch“ gebrochener contra gerader Stab besteht also zwischen zwei Sehungen – Stab im Wasser bzw. nicht im Wasser – und stellt somit wieder ein rein physikalisches Problem dar; das ist kein falsches Abbild(P), sondern ein vielleicht unerwartetes Abbild(A).
Urbilder befinden sich nicht außerhalb des Wassers, sondern (angeblich) außerhalb der Psyche; deswegen sind sie unerreichbar – damit aber auch verzichtbar.
2.6.2. Der Raum entsteht als Zwischen-Raum durch das postmoderne Sehen
Dort steht ein Herd; er befindet sich inmitten des Raumes, ist aus Eisen und heiß, so daß er sich unmöglich in unserer Psyche befinden kann. Das ist traditionell der wirkliche Herd als Urbild oder Seiendes. Nur ein Abbild(P) davon gehört unserer Psyche an und repräsentiert für uns den wirklichen Herd.
Wir laufen unachtsam durch die Küche und stoßen oder verbrennen uns an ihm. Woran genau; am Ur- oder Abbild(P) des Herdes?
Letzteres scheidet sofort aus, weil wir uns an – dem „Inhalt“ – der Psyche weder stoßen noch verbrennen können.
Bleibt nur das Urbild des Herdes, an dem sich – nicht unsere Psyche, sondern – unser Körper stößt und verbrennt.
Aber auch das ist wieder zweideutig; stößt sich das Ur- oder das Abbild(P) unseres Körpers am Urbild des Herdes?
Da sich auch das Abbild(P) des eigenen Körpers nur in unserer Psyche befinden kann, ergibt sich zwingend:
Das Urbild unseres Körpers stößt und verbrennt sich am Urbild des Herdes.
Die beiden zugehörigen Abbilder(P) werden also gar nicht benötigt.
Wir trinken auch kein Abbild(P) des Bieres, riechen kein Abbild(P) des Parfüms, fahren kein Abbild(P) des Autos und bauen kein Abbild(P) des Hauses. Das ist auf der einen Seite alles so selbstverständlich, daß ich mir fast nicht getraue, es hier aufzuzählen.
Und trotzdem beschleicht mich auf der anderen Seite das Gefühl, es tun zu müssen, weil wir (fast) alle überzeugt sind, Abbilder(P) der Seienden in unserer Psyche zu haben.
Wir kommen dem Grund dieses Widerspruchs näher, wenn wir die Bezeichnungen „Ur-“ bzw. „Abbilder“ wörtlich nehmen: Es sind Bilder, und die gibt es nur beim Sehen.
Damit ist unser Problem noch nicht gelöst, aber es wird zunächst einmal nachvollziehbar, daß das Sehen auf der einen Seite ganz allein dem Stoßen, Verbrennen, Trinken, Riechen, Fahren, Bauen usw. auf der anderen Seite gegenübersteht:
Die Unterscheidung zwischen Ur- und Abbildern(P)
– scheint zwar für das Sehen erforderlich zu sein,
– ist aber bei allen anderen Tätigkeiten nicht nur unnötig, sondern sogar irritierend.
Nun müßten wir lediglich noch klären, weshalb es sich so verhält.
Kommen wir dazu auf unseren Herd zurück; wir sehen ihn sowohl traditionell als auch postmodern wirklich dort, und es liegt mir fern, dies zu bestreiten. Ich verstehe diese Sehung lediglich anders als die Tradition:
Sie
– macht den Herd zu einem Seienden,
– das im Sehen abgebildet wird,
– wozu die Psyche erforderlich ist.
Wir
– betrachten den Herd als eine Sehung,
– die sich im Raum befindet,
– weil das Sehen den Raum erzeugt.
Ich wäre überrascht, würde die letzte Zeile Sie nicht arg verwundern; sie ist jedoch ganz ernst gemeint. Deutlich wurde mir diese Erkenntnis erstmals durch einen Artikel von Heinrich Rombach; er schrieb dort unter anderem:
„Wir sehen nicht den Baum dort, sondern
wir sehen dort“ – alles; zum Beispiel auch diesen Baum.
Das Dort-Sein ist
– nicht die Eigenschaft des Baumes, sich im Raum zu befinden, sondern
– die Eigenschaft des Sehens, den Raum mit seinen räumlichen Inhalten hervorzubringen.
Alles, was wir sehen, gehört dadurch, daß wir es sehen – aber auch nur dadurch – dem Raum an.
Die ideellen Seienden sind nur unterschieden, aber nicht getrennt; die materiellen Seienden werden durch den Raum voneinander separiert, weil er – nicht als Behälter, sondern – als Zwischen-Raum fungiert, und es ist das Sehen, das ihn hervorbringt.
Natürlich erscheint uns der letzte Teilsatz als absurd; aber nur, solange wir das Sehen mit dem traditionellen identifizieren. Das erzeugt absolut nichts und insbesondere keinen Raum; es kann bestenfalls völlig Fertiges – wie Seiende – abbilden.
Interessanterweise geht dieser Gedanke zumindest bis auf Aristoteles zurück. Bereits er sah den Raum lediglich als Zwischen-Raum; natürlich nicht postmodern zwischen Sehungen, aber immerhin traditionell zwischen Seienden.
Des weiteren wird diese Idee auch von der Urknalltheorie aufgegriffen. Ihr zufolge expandiert der physikalische Kosmos – nicht innerhalb des Raumes, sondern – in das Nichts hinein und erzeugt dadurch erst den Zwischen-Raum der Galaxien.
AD: „Das ist natürlich ein ganz starkes Argument für Ihren Ansatz:
Wenn der Raum erst durch das Sehen entsteht, kann es vor dem Sehen keine Körper gegeben haben. Das führt die gesamte traditionelle Evolutionstheorie ad absurdum, derzufolge sich erst einmal anorganische und pflanzliche Körper entwickelt haben sollen.
Bei Ihnen besteht die Wirklichkeit dagegen im Leben; dessen Genese führt irgendwann zum Sehen – und damit zu Körpern.
Gewiß gibt es diese – rudimentär – auch durch das Tasten, Greifen oder ähnliches, aber eben niemals ohne das Leben.“
Ja; und so ist es wohl auch kein Zufall, daß Kant den Raum speziell als Anschauungs– und nicht allgemein als Wahrnehmungsform verstanden hat. Dem Sehen kommt unter all unseren Wahrnehmungen sowohl traditionell als auch postmodern eine Sonderrolle zu:
Traditionell leben die Subjekte als Körper im Raum und benötigen für das Sehen – aber eben auch nur für das Sehen – den Nicht-Raum der Psyche, um ihre Abbilder(P) darin unterzubringen.
Postmodern wird der Raum nicht für das Leben benötigt, sondern durch das Sehen – als einer Facette des Lebens – erst erzeugt.
2.7. Exkurs: Markus Gabriel als Naiver Realist
Dieses Kapitel enthält einen (leicht geänderten) Artikel, den ich spontan-verärgert für die „Neue Züricher Zeitung“ geschrieben hatte, um damit einer meines Erachtens grotesken Fehleinschätzung von Bruno Latours Denken durch Markus Gabriel entgegenzutreten. Sollte ich mich darin möglicherweise beleidigend ausdrücken, bitte ich um Entschuldigung; auch Gabriels Mißgriff würde dies nicht rechtfertigen.
Ich drucke die Rezension hier ab; zum einen in der Hoffnung, daß sie Ihrem Verständnis dient, und zum anderen um diesen zweiten Teil mit einem gegenwärtig vielzitierten Naiven Realisten abzurunden.
Gabriel schrieb in der NZZ vom 26. 3. 2020 unter anderem:
„. . . Doch auch progressive Intellektuelle, die sich Wissenschaftlichkeit auf die Fahnen schreiben, haben sich in den letzten Jahren einem heillosen Relativismus verschrieben. Zu ihren prominentesten Vertretern zählt der französische Soziologe Bruno Latour. Er hat sich sogar zu der absurden These verstiegen, Ramses II. könne nicht an der Tuberkulose verstorben sein, weil der Erreger erst im 19. Jahrhundert entdeckt worden sei. Das ist metaphysische Absurdität, wie der analoge Fall der Corona-Krise zeigt:
Hätten wir keine Virologen eingeschaltet, um Covid-19 zu studieren, hätte die Krankheit sich gemäß Latour nicht verbreitet, weil sie nicht einmal existiert hätte. . .“
An dieser Argumentation stimmt absolut nichts; Latour hat 100%-ig Recht, und die „metaphysische Absurdität“ liegt allein bei Gabriel, der den fundamentalen Unterschied zwschen zwei Arten von Wirklichkeit nicht sehen kann – oder will.
Ich werde versuchen, meine Argumentation und Verteidigung Latours – obwohl sie nur rein philosophisch ausfallen kann – ohne Fach-Chinesisch hinzubekommen.
Wir haben alle irgendein spezielles subjektives Welt-Bild. Rein assoziativ beziehen wir das zumeist allein auf die Immanenz; um diese unnötige Vernachlässigung der Transzendenz zu vermeiden, sprechen wir im weiteren besser von unserem Wirklichkeitsbild. Die meisten Menschen sind überzeugt, daß das ihrige wahr oder zumindest richtig ist. Das postmoderne Denken geht hingegen davon aus, daß diese Annahme
– nicht nur nicht überprüfbar, sondern
– völlig sinnleer ist, wei es keine objektive Wirklichkeit und damit auch
– weder ein wahres bzw. unwahres noch ein richtiges resp. falsches Bild von ihr geben kann.
Aber selbst diese Aussage, die Sie gewiß als eine ziemliche Zumutung erfahren, können wir vollkommen auf sich beruhen lassen. Uns genügt als Prämisse,
– daß wir subjektiv über ein bestimmtes Wirklichkeits-Bild verfügen,
– uns an ihm orientieren und
– orientieren müssen, weil die Alternative dazu nur in einem anderen Wirklichkeitsbild bestände.
Wir glauben nicht, was richtig ist, sondern was zu glauben wir für richtig halten.
Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen, die meines Erachtens ebenso weitreichend wie zwingend sind:
Zum einen (I) können wir alles wollen – tun, wissen, sehen, verstehen oder erleben wollen beispielsweise –, was uns im Rahmen des eigenen Wirklichkeitsbilds möglich ist. Hexen oder Schamanen beispielsweise, die ihrem Wirklichkeitsbild zufolge fliegen können, werden das wahrscheinlich auch versuchen.
Die Wirklichkeit selbst bestimmt dann darüber, ob das Wollen zum Erfolg führt – aber das muß uns, wie bereits gesagt, schon nicht mehr interessieren.
Zum anderen (II) können wir nichts wollen – tun, wissen, sehen, verstehen oder erleben wollen beispielsweise –, was in unserem Wirklichkeitsbild gar nicht enthalten ist. Wir können nicht Tolen. „Ich weiß doch gar nicht, was das sein soll“, möchten Sie vielleicht einwenden. Aber genau das meine ich ja: Das Wort „Tolen“ besitzt keine Bedeutung, und deswegen wissen wir alle nicht, „was das sein soll“ – weil es in unserem Wirklichkeitsbild nicht vorkommt.
Bei dieser zweiten Konsequenz spielt die Wirklichkeit gar keine Rolle. Was wir nicht wissen, können wir nicht wollen, denn dazu müßten wir wollen, ohne zu wissen, was.
Nach dieser Theorie zurück zum Thema.
Wir betrachten einen Patienten aus dem Jahre 2018, der sich miserabel fühlt, zum Arzt geht, von diesem untersucht wird und möglichst geholfen bekommen möchte. Das bestreitet Latour nicht; aber (II):
Noch kommt in keinem Wirklichkeitsbild Covid vor, so daß eine entsprechende Diagnose unmöglich ist.
„Der Patient könnte jedoch trotzdem Covid haben„, denken Sie möglicherweise. Das bezweifle ich gemeinsam mit Latour:
Um dies nachvollziehen zu können, unterscheiden wir zwei prinzipiell verschiedene Arten von Wirklichkeit,
– die natürlich nicht unabhängig voneinander sind,
– sich aber dennoch nicht überlappen oder durchdringen, so daß alles Wirkliche sauber entweder der einen oder der anderen Art angehören muß.
Die eine hängt mit unserem Leben zusammen, kann also möglicherweise auch bei Babys oder Tieren vorkommen und hat nichts mit irgendwelchen Theorien zu tun; nennen wir sie deswegen „Lebens-Wirklichkeit“. Damit meine ich, daß es unserem Patienten schlecht geht, Freude und Leid unser Leben prägen, Geburt und Tod fundamental sind, Menschen einander lieben oder hassen und an Götter glauben können – aber all das nicht so, wie es unsere Theorien repräsentieren, sondern so, wie wir es erfahren und insbesondere die Kunst darstellt oder beschreibt.
Alles, was uns hierzu einfällt, gab es natürlich schon zu Zeiten von Ramses II.
Die zweite oder Welt-Wirklichkeit wird von – wissenschaftlichen oder unwisenschaftlichen – Theorien konstruiert, existiert somit erst nach ihrer Erfindung, und wir projizieren sie aus unserem Geist heraus in die – oder besser: als – Welt. Hierzu gehören Latour zufolge das Mycobacterium und Covid 19 mit der gesamten exakten Wissenschaft.
Wir
– unterscheiden also mit Latour zwischen der Leibhaftigkeit unseres Lebens sowie dem bloß – unter anderem auch darüber – Reflektierten und
– setzen nicht wie selbstverständlich voraus, daß sich dieses auf jene bezieht.
Natürlich hängen die beiden Wirklichkeits-Arten voneinander ab; aber auf eine ganz andere Weise:
Ohne unser Leben gäbe es nichts Reflektiertes, und nur an letzterem können wir unser Leben orientieren. Natürlich wäre das Reflektierte, wie alle fremden Kulturen beweisen, auch ganz anders möglich.
Schmerzen und Orgasmen existieren seit Menschengedenken, denn sie gehören zur Leibhaftigkeit unseres Lebens; zehndimensionale Spinor-Räume müssen dagegen erst von Menschen erdacht werden, um vorhanden sein zu können.
Die beiden Wirklichkeits-Sphären gehen zwar kontinuierlich ineinander über, aber es stellt sich niemals die Frage, wohin das Wort „X“ tatsächlich gehört. Vielmehr entscheiden wir darüber, wie „X“ verstanden werden soll: Die Gallenkolik könnte zur Welt gehören, während die Schmerzen einen Teil unseres Lebens bilden, und damit deutlich von jener zu unterscheiden sind; es gibt also gewissermaßen „zwei Arten von Gallenkolik“.
Die weibliche Eizelle wurde erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts entdeckt; zuvor ging der Embryo vollständig aus dem Vater hervor, und die Mutter stellte lediglich den geschützten Raum für seine Entwicklung zur Verfügung. Deswegen stand auch Jesus‘ natürliche Geburt seiner Gottessohnschaft absolut nicht im Wege.
Im Mittelalter hätte ein Priester angesichts unseres sich miserabel fühlenden Patienten – im Rahmen seines Wirklichkeitsbilds – vielleicht von dämonischer Besessenheit gesprochen (I). Die meisten von uns sind sich mit Recht völlig sicher, daß diese Diagnose natürlich nichts mit einer objektiven Wirklichkeit zu tun hat.
Das war im Mittelalter eben noch ganz anders. Damals erwies sich die Erklärung des Priesters wahrscheinlich für die meisten Menschen als hinreichend einleuchtend, stimmig und widerspruchsfrei; deswegen glaubten fast alle die dämonische Besessenheit.
Daraus wurden in der Zwischenzeit zumeist psychische Erkrankungen; was es wirklich ist – die Gabriel-Frage nach der objektiven Wirklichkeit –, stellt ein Scheinproblem dar. Im Mittelalter befriedigten jene Antworten, und in der Moderne finden wir diese; es geht immer nur um das Wirklichkeitsbild, denn mehr können wir gar nicht haben.
Zu Beginn der Moderne wurde das Erd-Scheiben- mit dem Erd-Kugel-Bild verglichen und letzteres favorisert. Mit Recht, weil es praktikabler ist; aber niemand kann Bilder mit der Wirklichkeit vergleichen. Gegenwärtig wechseln wir von sich anziehenden zu anziehungsfreien Massen-Bildern, die unser Raum-Zeit-Bild krümmen.
Bei Hans-Georg Gadamer liest sich diese wichtige Einsicht folgendermaßen:
„Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.“
Ich würde gerne übersetzen:
„Lebens-Wirklichkeit“, die verstanden werden kann, ist keine „ewige“ Lebens-, sondern zeitgebundene Welt-Wirklichkeit.
Das Argument, es gäbe doch offensichtlich einen Fortschritt vom Mittelalter zu uns, denn wir können die Viren unter dem Mikroskop sehen, sticht aus mindestens zwei Gründen nicht:
Zum einen hat man die dämonische Besessenheit im Mittelalter bei geschultem Blick ebenfalls gesehen. Das gelingt uns heute nicht mehr – so wie im MIttelalter auch keiner Corona sah.
Zum anderen (II) waren wir uns oben doch (hoffentlich) bereits einig, daß man nichts sehen oder als existent annehmen kann, was dem eigenen Wirklichkeits-Bild nicht angehört.
„Es gibt etwas, aber ich weiß nicht, was es ist . . .“
3. Tanszendentaler Explikationismus
In diesem dritten Teil beginnen wir endlich mit unseren konstruktiven Überlegungen; bisher habe ich Sie mit meinem „nein“, „aber“ und „so auch nicht“ vielleicht nur frustriert. Bevor wir nach einem Fundament fragen, auf dessen Basis wir den transzendentalen Explikationismus möglichst stringent aufbauen können, dürfte jedoch auch folgender Gedanke wichtig sein:
Zweieinhalb Jahrtausende glaubte die übergroße Mehrzahl unserer Vorfahren (an) den traditionellen Ansatz, und es liegt mir – trotz meiner Kritik – fern, sie für weniger intelligent als uns zu halten. Dann dürften wir aber nicht versuchen, alles neu und anders zu denken, sondern müßten die Nuancen suchen, die an der überkommenen Begrifflichkeit zu korrigieren sind, um sie den neuen Herausforderungen anzupassen.
AD: „Hierzu müßte freilich klar sein, worin diese bestehen und in welche Richtung unsere Korrekturen somit zu erfolgen hätten.“
Sie haben Recht; dazu wäre jedoch ein weiteres Buch erforderlich, und als Kompromiß beschränken wir uns auf die zwei offensichtlichen Punkte, die mir als besonders wesentlich erscheinen.
Der erste besteht in der Bedeutung der Person, des Einzigen oder Selbst; diese Begriffe spielen im traditionellen Denken höchstens eine untergeordnete Rolle, denn das orientiert sich an Was-ist-Fragen, und die sind stets auf das Allgemeine gerichtet. Darin kommt, zielen sie auf uns, kein Individuum vor, sondern sie erfragen, was der – und damit – jeder Mensch ist oder was sämtliche Subjekte charakterisiert.
Moritz ist als Mensch ein Seiendes und besitzt damit eine menschliche Existenz sowie Essenz; allein sie sind traditionell entscheidend.
Natürlich hat Moritz auch zufällige oder kontingente Eigenschaften; vielleicht ist er kräftig, blond, schlau, lebenslustig usw. Allein darin unterscheidet sich Moritz von sämtlichen anderen Subjekten, denn alle besitzen die gleiche Existenz und Essenz; keine moritzsche, sondern die menschliche.
Die Tradition begeht also meines Erachtens den Fehler, dasjenige, was mich zu mir als einem einzigen Selbst macht, gering zu achten und dafür Allgemeinheiten in den Vordergrud zu stellen, die keinen Bezug speziell zu mir haben.
Der menschlichen Seele etwa kommt in traditionell-konservativen Kreisen eine gewaltige Bedeutung zu; man streitet sich beispielsweise – nicht zuletzt wegen der Möglichkeit einer Abtreibung – vehement darüber, wann die Seele nach der Zeugung zum Körper hinzutritt.
Was hat das mit mir zu tun? Worin unterscheidet sich meine Seele von der Ihrigen? Ich möchte nicht über den Menschen, sondern über mich sprechen. Nach christlichem Verständnis liebt Gott mich – nicht die Menschheit.
Natürlich auch Sie – aber nicht uns als „die zwei Menschen“.
Um unsere diesbezügliche „Kehre“ zu verdeutlichen, ersetzen wir Subjekte durch Subjektivitäten.
Letzere lassen sich nicht auf den Begriff bringen; das entspricht dem „individuum est ineffabile“ der Tradition; sie kennt die – Problematik der – Einzigkeit also auch, nimmt sie jedoch kaum ernst.
Eine Subjektivität ist „je-der Selbe“; Heinrich Rombach wollte mit dieser Schreibweise andeuten, daß Je-der stets der Einzige ist; nicht Mensch, Seiender, Christ, Europäer, Geschöpf, Frau oder Mann. Einen Namen kann der Einzige natürlich erhalten, aber Benennungen gehören nicht einmal zur Sprache, sondern lediglich zum Signalsystems wie etwa der Bienentanz.
Namen beziehen sich nicht auf Begriffe, sondern auf Phänomene; Wörter wie „Autsch“, „Oh“, „Wow“, „Heureka“, „CR7“ oder „hast du das gesehen!“ bilden gute Beispiele – weil sie uns nichts sagen.
Der zweite Punkt besteht in der Annahme, daß wir meines Erachtens in einer viel dynamischeren Zeit als unsere Ahnen leben. Gewiß mußten sie schlimme Kriege und Verluste erleiden, aber nichtsdestotrotz spielte ihr Leben auf einer identisch verbleibenden Bühne. ERDE, NATUR, RELIGION und GOTT bildeten einen ewig-beständigen und damit Sicherheit gewähr(leist)enden Rahmen, in dem auch die schlimmsten Veränderungen ruhten und in ihre Grenzen verwiesen wurden.
Deswegen spielt das Sein traditionell so eine große Rolle; alles Wirkliche IST; es gilt als unvergänglich und kann folglich ebenso wenig entstehen wie vergehen.
Heideggers letzter Satz in „Sein und Zeit“ lautet:
„Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?“
Meine Antwort wäre „ja“, aber dann ist es
– nicht mehr der Horizont des Seins, sondern
– derjenige des Werdens in der Einheit von Entstehen und Vergehen.
Der Horizont des Seins besteht in der ewigen Identität – des obigen Rahmens oder Hintergrunds.
Wir ersetzen ihn durch die Zeit und lassen uns von der Idee leiten, daß die immanente Wirklichkeit durch das Explizieren der transzendenten entsteht; sie gab unserem Ansatz seine Bezeichnung
Einen ewig-identischen Rahmen haben wir heute bereits nicht mehr, und sehr viele Menschen vermissen die Gewißheiten, die er einst bot, schmerzlich; das führt zu einer gefärlichen Spaltung der modernen Gesellschaft.
Die konservativ Eingestellten wünschen sich den Erhalt des traditionellen Ansatzes und damit eine Wiederkehr der „goldenen alten Zeiten“, an deren frühere Existenz sie auf der Grundlage dieses Denkens glauben.
Ich kann ihre Sehnsucht nachvollziehen, glaube aber nicht, daß sie sich auf diesem Weg stillen läßt, weil die Zeit irreversibel und damit ein – nicht durch Katastrophen verursachter – Rückfall in die Naivität der Vergangenheit ausgeschlosen sein dürfte. Meine wertenden Begriffe sind mit Bedacht gewählt, weil ich die Zeit als das Werden zu einem Ziel verstehe, das wir hoffentlich alle erreichen.
Nicht zu einem gemeinsamen Telos wie der Vollendung der Menschheit, der Evolution oder ähnlichem, sondern bei je-der Subjektivität zur Fülle ihres einzigen Lebens.
Ein solches Ziel läßt sich meines Erachtens nur postmodern denken, denn aus ihm folgt doch:
Es darf letztlich überhaupt keine Rolle spielen, (an) welche „Wirklichkeit“ eine Subjektivität glaubt; entscheidend ist allein, wie sie lebt. Die Wahrheit kann somit unmöglich die Form von Sätzen oder Aussagen besitzen; die sind bestenfalls richtig.
Allein mein eigenes Leben kann für mich wahr bzw. unwahr und sollte wahr sein; wir entscheiden als Subjektivitäten in Freiheit hierüber und bestimmen uns damit zu je-dem Selbst, das wir in Zukunft sein werden.
AD: „Das würde freilich bedeuten, daß ich niemals über die Wahrheit bzw. Unwahrheit bezüglich des Lebens einer anderen Subjektivität urteilen kann?“
Ja; aber dieses „anderen“ müßten wir noch streichen; ich kann es auch bei mir selbst nicht.
Damit bestreite ich keineswegs, über ein unfehlbares Gewissen oder etwas anderes Unbedingtes zu verfügen, sehr wohl aber die Selbstsicherheit, mit der (zu) viele Zeitgenossen glauben, diese Stimme sauber von allen sonstigen „Einflüsterungen“ unterscheiden zu können.
AD: „Sie akzeptieren also die allgemeinenen Relativismus-Vorwürfe, den Postmodernen seien sämtliche Aussagen gleich-gültig?“
In keiner Weise!
Es is absolut nicht beliebig, wie ich lebe oder was ich sage; aber „Richter ist allein Gott“.
Der Fehler der Traditionell-Konservativen, die den Vorwurf von soeben häufig erheben, besteht nicht darin, die Bedeutung von Wahrheit oder Richtigkeit ernstzunehmen. Das ist mehr als berechtigt, müßte eine Selbstverständlichkeit darstellen, und nur Chaoten, Verführer oder Diktatoren werden dem widersprechen (wollen).
Falsch ist es jedoch,
– die Wirklichkeit oder gar Notwendigkeit der Wahrheit
– mit dem Anspruch auf ihren Besitz zu verwechseln.
Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Ich bestreite
– zum einen, daß überhaupt irgendein Mensch die Wahrheit haben kann, und
– zum anderen, daß dies nötig wäre, um sie wertschätzen und als fundamental erachten zu können.
Auch Romeo und Julia glauben an die Liebe sowie die Opfer von Diktaturen an die Freiheit.
3.1. Formen des Wissens
AD: „Ob die ideellen Seienden wie beispielsweise die Gerechtigkeit oder die Transzendentalien – das Eine, Gute, Wahre und Schöne – nun existieren oder nicht, mag Philosophie-Profis schlaflose Nächte bereiten; mir eher nicht. Aber mit den materiellen Seienden habe auch ich Probleme.
Magenschmerzen, Liebeskummer oder Durst sind rein subjektive Befindlichkeiten, und ihnen entsprechen natürlich auch traditionell keine Seienden.
Daß Sonne, Mond und Sterne ewig sein sollen, kann ich ganz gut nachvollziehen; wieso muß der Kosmos Anfang und Ende besitzen?
Aber es gibt doch auch Blitze, Regenbögen, Tornados und ähnliche kurzlebige Entitäten. Sie sind einerseits keineswegs subjektiv wie mein Fernweh, haben andererseits aber auch gar nichts mit den ewig identischen materiellen Seienden gemein.
Sie wollen sämtliche Seienden streichen; einverstanden; aber was wird mit den Blitzen, Regenbögen und Tornados? Natürlich kann man auch bei ihnen behaupten, sie seien objektiv und würden in unserer Psyche abgebildet; aber daß sie vorhanden sein oder existieren sollen, läßt sich schwer darstellen.“
Ich verstehe Sie und formuliere Ihr Problem einmal in eigenen Worten, damit meine Denkrichtung verständlich wird.
Wir dürfen nicht mit der Frage beginnen, was postmodern aus den traditionellen Seienden wird. Wenn sie bloße Erfindungen sind, muß aus ihnen gar nichts werden; die Nachfoger sind ebensolche Phantasmen wie die Seienden.
Wir verfügen über Wissungen; der Tradition zufolge besitzen sie alle Referenten; die einen sind Wissungen von Seienden, und die anderen von kurzlebigen Entitäten.
Diese Unterscheidung kann uns aber gleichgültig sein, denn wir streichen beide. Wissungen führen nicht aus ihrer eigenen Sphäre oder Gesamtheit heraus; die traditionellen Referenten entfallen, und es gibt nur Wissungen von Wissungen.
Wir unterscheiden im weiteren drei (Haupt-)Arten von Wissungen, nämlich die Erfahrungen, Wahrnehmungen sowie Denkungen.
Was bedeutet es für diese Wissens-Formen, daß sämtliche Referenen gecancelt werden?
Ihnen fehlt nun ihre einzige Gemeinsamkeit; traditionell sind es Erfahrungen, Wahrnehmungen und Denkungen von Referenten; beispielsweise von einem Baum. Der ist nun weg; fallen die Wissensarten damit völlig auseinander, so daß nun drei verschiedene Wissungen vorliegen, die nichts miteinander zu tun haben? Was sollte die Baum-Erfahrung, Baum-Wahrnehmung und Baum-Denkung auch miteinander verbinden, wenn
– „Baum“ nur noch eine Bezeichnung ist, die
– zudem einer überholten Philosophie entstammt?
Dann gibt es postmodern Baum-Erfahrungen, Baum-Wahrnehmungen und Baum-Denkungen – so wie traditionell Sonne, Mond und Sterne.
AD: „Das klingt ziemlich verrückt, aber gute Gegenargumente finde ich nicht:
Ein Kreditinstitut ist keine Sitzgelegenheit.
Dann kann das Kreditinstitut Bank aber auch nicht – nur wegen der bloßen Bezeichnungs-Gleichheit – die Sitzgelegenheit Bank sein.
Warum sollen dann die Erfahrungen, Wahrnehmungen und Denkungen, die – historisch – bedingt die gleiche Bezeichnung ‚Baum‘ tragen, etwas miteinander zu tun haben? Erfahrungen sind weder Wahrnehmungen noch Denkungen.“
Wissungen gibt es ebensowenig von Sternen wie von Blitzen, aber dafür
sowohl Stern- als auch Blitz-Erfahrungen, -Wahrnehmungen und -Denkungen.
Das alles bleibt jedoch völlig leer oder gegenstandslos, solange wir nicht sagen (können), worin Erfahrungen, Wahrnehmungen sowie Denkungen bestehen und damit insbesondere, was sie voneinander unterscheidet.
Um dies zu können, muß ich Ihre letzten Ausführungen ein wenig konkretisieren:
Hunde sind – der Einfachheit halber traditonell gesprochen – keine Katzen und umgekehrt; das könnten wir als beidseitige Andersheit betrachten.
Letztere ist aber auch einseitig möglich:
Hunde sind Säugetiere, aber Säugetiere nicht unbedingt Hunde; es könnten auch Katzen sein. Dem entsprechen mengentheoretisch das Enthalten-Sein oder sprachlich der Oberbegriff. Im Sinne eines solchen Denkmodells stelle ich mir das Zueinander der drei Wissens-Arten vor.
Es ist wahrscheinlich hilfreich, wenn wir unser diesbezügliches Endergebnis, das auf den nächsten Seiten deutlich werden soll, noch unverstanden an den Anfang stellen, damit Sie schon ein wenig sehen, worauf wir zielen.
Wissungen i. w. S. | ||||
Wissungen i. e. S. | ||||
Denkungen | ∈ | Wahrnehmungen | ∈ | Erfahrungen |
Begriffe | { Begriff + Phänomen } | { Begriff + Phänomen } | ||
———— | Bestätigungen der Phänomene | Bestätigungen der Phänomene | ||
———— | ———— | – Erstmaligen der Begriffe | ||
Verlassen der Gegenwart |
||||
———— | ———— | – Wiederholen der Begriffe | ||
Verbleiben in der Gegenwart |
||||
kein Wirklichkeitsbezug | ———————→ | Wirklichkeitsbezug | ||
———— | unverfügbar | verfügbar | ||
———— | Phänomene ändern sich von selbst | Phänomene ändern sich von selbst | ||
———— | ———— | Begriffe werden geandert | ||
∈ | ∈ | ∈ | ||
Sphäre des Denkens |
Sphäre des Wahrnehmens | Sphäre des Erfahrens | ||
Raum-Synchronie | ∈ | Raum-Diachronie | ∈ | Raum-Zeit |
∋ | ∋ | |||
———— | Jetzt | Jetzt |
Abbildung 3.1.
Was alle Wissungen vereint, läßt sich einfacher sagen als das Unterscheidende:
Sie müssen nicht in alle Ewigkeit identisch oder auch in 1000 Jahren noch richtig sein, aber was morgen schon nicht mehr stimmt, war im allgemeinen auch heute bereits falsch. Wissungen benötigen als solche eine gewisse Konstanz; fehlt sie, können wir nicht sinnvoll von Wissungen sprechen.
Für diese notwendige Konstanz stehen die Begriffe, so daß es keine Wissung ohne Begriffe gibt; wir können sie als das – einzige – Konstante definieren.
Denkungen sind diejenigen Wissungen, bei denen den Begriffen nichts hinzugefügt wird. Damit bilden die Denkungen die einzigen Wissungen i. e. S.
Die Wahrnehmungen sowie Erfahrungen stellen dagegen Wissungen i. w. S. dar, weil ihre Begriffe duch die unwißbaren Phänomene ergänzt werden.
Noch ein zweiter wichtiger Punkt ist allgemeingültig.
Wir wissen furchtbar viel; aber niemals alles zugleich, sondern immer schön der Reihe nach, und das führt zu einer Zweiteilung meiner subjektiven Wissungen.
Theoretisch könnte ich sie aufzählen; damit hätten wir auf der einen Seite das, was ich aktual gerade weiß; meine momentanen Erfahrungen, Wahrnehmungen oder Denkungen. Sie sind stets an das Jetzt gebunden, und wir verstehen sie als explizite oder explizierte Wissungen.
Auf der anderen Seite stehen ihnen die nicht-aktualisierten und damit potentiellen bzw. impliziten Wissungen gegenüber.
Alle zusammen gehören der Gegenwart an; zu ihr zählt natürlich auch das Jetzt – ebenso wie das aktuale Wissen zum potentiellen.
AD: „Ich habe vieles noch nicht verstanden, glaube Ihnen aber, daß das allmählich besser wird. Eine Frage müßten Sie jedoch jetzt schon sinnvoll beantworten können:
Wieso fehlen bei den Arten oder Formen des Wissens die Vorstellungen?“
Ihr Einwand ist hilfreich; danke!
Wir gehen mit der Tradition davon, daß sämtliche Wissungen einen Bezug zur Wirklichkeit besitzen müssen.
Im Gegensatz zur Tradition bestreiten wir jedoch, daß dieser notwendige Bezug in einem Wissen von der Wirklichkeit besteht; die „Referenten“ der Wissungen können nur weitere Wissungen sein.
Ausgehend von diesen beiden „Prämissen“ kann ich zunächst Ihre Frage beantworten:
Vorstellungen sind keine Wissungen,
– weil sie keinerlei Bezug zur Wirklichkeit haben – Vorstellunen sind bloße Vorstellungen – und
– stets Referenten besitzen – wir können uns „alles“, das heißt, jeden Referenten vorstellen.
Letzteres ist bei Erfahrungen, Wahrnehmungen sowie Denkungen völlig ausgeschlossen.
En passant ergibt sich noch eine andere Konsequenz:
Wissungen müssen einen Bezug zur Wirklichkeit besitzen – ohne von ihr wissen zu können.
Unsere Abkehr vom Referenten bedeutet, daß die Wissungen selbst – direkt oder unmittelbar – die Wirklichkeit tangieren müssen.
Diese Beziehung nimmt die Tradition von den Wissungen weg, überträgt sie auf die – Vorstellungen der – Referenten und degeneriert sie damit zu einer indirekten oder mittelbaren. Für Martin Heidegger, der die Tradition ob dieses Fehlers sehr massiv kritisiert, besteht das vermittelnde Medium im „Gestell“, das alles nur vor uns hinstellt, aber unwirklich macht.
3.1.1. Denkungen
Unter den Denkungen verstehen wir diejenigen Wissungen, die als explizite oder aktual(isiert)e mit den Begriffen übereinstimmen: Denkungen = Begriffe
Gibt es jedoch nur Begriffe, so wird die unbestreitbar notwendige Konstanz der Begriffe zu einer ewigen Identität. Auf diese Weise müssen wir die Begriffe denken, da sie aus den ewig identischen Essenzen der Seienden hervorgehen.
Die Sphäre der reinen Denkungen oder Begriffe kennt also nur die Identität.
Dann gibt es natürlich keine Zeit; und auch weder Änderungen noch – das war vielleicht nicht selbstverständlich – Nicht-Änderungen.
Letztere haben also nichts mit der Konstanz oder Identität der Begriffe zu tun; Begriffe können sich nicht ändern und eben darum auch nicht unveränderlich sein, denn Nicht-Änderungen sind lediglich ein asymptotischer Grenzfall der Änderungen mit der Variation 0.
Die traditionelle „Zeit“ basiert auf dem antiken Denken, geht somit heute noch von identischen Begriffen aus und ist somit keine Zeit, sondern ihr glattes Gegenteil. Sie wird bei uns zur Synchronie; richtig verstanden als Gleichzeitigkeit.
A. M. Klaus Müller, ein Theoretischer Physiker aus Braunschweig, der leider sehr früh verstarb und bei dem mir dieser Gedanke schon in den 70-er Jahren erstmals begegnete, beschrieb die „Zeit“ als eine „zeitlose“ oder „verräumlichte Zeit“.
Er meinte damit, daß zwischen ihr und dem Raum außer der Dimensionalität kein wesentlicher Unterschied besteht. Der t-Koordinate bei jener stehen die x-, y- und z-Koordinaten von diesem gegenüber; alle vier Pfeile zeigen lediglich in Richtung größer werdender Parameter und haben nichts mit einem Vergehen zu tun, denn die „Zeit“ vergeht ebensowenig wie der Raum.
Bei letzterem unterscheiden wir zwischen „rechts“ und „links“, „oben“ und „unten“ oder „hinten“ und „vorn“; bei der „Zeit“ bzw. Synchronie heißen die entsprechenden Worte „früher“ bzw. „später“.
In allen vier Fällen handelt es sich lediglich um statische Relationen; die Merkur-Denkung ist weiter rechts als die Venus-Denkung, und der Sirius-Begriff weiter hinten als der Sonnen-Begriff; die Erd-Entstehungs-Denkung ist früher als die Lebens-Entstehungs-Denkung angeordnet.
Diese Sphäre entspricht also der vierdimensionalen Raum-„Zeit“ bzw- -Synchronie der Physik, die
– nur Punkte kennt, aber
– keinerlei Dauer und
– vollkommen homogen ist, so
– daß darin weder die Tempi – Früher, Jetzt sowie Später –
– noch ein Entstehen und Vergehen oder
– Ändern bzw Nicht-Ändern
möglich sind.
AD: „Das mit Ihrer Gleichzeitigkeit von Raum und Synchronie kann nicht stimmen. Die Erde muß natürlich früher als das Leben auf ihr entstanden sein und sich in der Zwischenzeit verändert haben; zum Beispiel durfte sie schon in der Blaualgen-Ära mit Sicherheit nicht mehr glühen!“
Sie tragen für mich Eulen nach Athen; selbstverständlich; nur ziehen wir beide daraus sehr unterschiedliche Schlüsse:
Die Ihrigen führen dazu, daß meine Überlegungen falsch sein müssen.
Ich bin dagegen von deren Richtigkeit überzeugt und folgere daraus:
Die Evolution oder Schöpfung des Kosmos
– lassen sich nur zeitlich denken;
– können deshalb in der physikalischen Raum-Synchronie als der Sphäre der Begriffe nicht dargestellt und
– somit überhaupt nicht gedacht werden,
denn das ist unsere einzige Sphäre reinen Denkens.
Ich sage es noch einmal in anderen Worten.
Wir kennen zwei prinzipiell verschiedene Arten von Relationen; zeitlich-wirkliche und zeitlos-unwirkliche. In der vierdimensionalen Raum-Synchronie finden natürlich nur letztere Platz.
Damit müssen wir die Existenz der zeitlich-wirklichen Relationen nicht leugnen, sie aber woanders suchen; uns fehlen doch noch die Sphären der Wahrnehmungen uns Vorstellungen.
AD: „Jetzt mache ich meinem Namen alle Ehre:
Sie hatten oben Wert darauf gelegt, daß die Identität der Begriffe nichts mit Unveränderlichkeit zu tun hat, denn diese bildet lediglich den asymptotischen Grenzfall einer Nicht-Änderung. Wenn Sie hiermit Recht hätten, düften wir auch den im Köcher ruhenden Pfeil nicht denken können.“
Die Antwort ist nicht schwer:
Den ruhenden vom fliegenden Pfeil – grundsätzlich und nicht nur asymptotisch – zu unterscheiden, bedeutet, daß Sie sich bei der Sphäre der Denkungen auf den dreidimensionalen Orts-Raum beschränken. Aber in der vollständigen vierdimensionalen Raum-Synchronie müßten sich beide Pfeile von t(1) nach t(2) „bewegen“, und daß das ausgeschlossen ist, wollte ich oben plausibilisieren.
3.2. Ein grund-legender Anfang
Womit beginnen wir, um hinreichend sicher zu fahren, möglichst nicht gleich in die erste Falle zu tappen und weitere Fettnäpfchen mitnehmen zu müssen? Gibt es etwas Gewisses? Naturgesetze, Materie, Mathematik oder Logik vielleicht?
Der Gedanke, nach einem festen Fundament zu suchen, drängt sich bestimmt den meisten von uns massiv auf. Muß nicht etwas, worauf wir uns tatsächlich verlassen können, die notwendige Basis unseres Vorhabens bilden?
Ich bin jedoch überzeugt, daß eine solche Suche niemals zum Ziel führen wird, weil für uns endliche Menschen ausnahmslos alles kontingent, begrenzt oder (zeitlich bzw. kulturell) bedingt ist, so daß wir nicht über absolute Gewißheiten verfügen (können).
AD: „Also beenden wir das ganze Geistes-Experiment kurzerhand; Versuch durchaus anerkennenswert – aber leider gescheitert!
Es ist sinnlos und macht vor allem auch keinen Spaß, angestrengt über etwas nachdenken zu sollen, wenn die Ausgangsprämissen schwammig sind, so daß man weiß, es kann nichts Gescheites dabei herauskommen.“
Da gehen wir vollkommen d’accord! Aber ich glaube, wir haben die Suche nach einem verläßlichen Fundament soeben noch falsch verstanden:
Es kann doch nicht darum gehen, irgendwelche grund-legenden Seienden zu finden – wenn wir sämtliche Seienden ablehnen. Die Frage nach einem sicheren Ausgangspunkt unseres postmodernen Ansatzes muß doch selbst schon in dessen Sinn und darf nicht traditionell verstanden werden; sie lautet dann:
Gibt es etwas, was
– (normalerweise) je-der Subjektivität zukommt,
– natürlich ihr eigen ist, das heißt, bei allen Subjektivitäten anders ausfallen wird und
– stets als Ausgangspunkt ihres Denkens genutzt werden kann?
Ein solches Fundament existiert natürlich; das sind unsere subjektiven Wissungen.
Die Tradition meint, mit den Seienden zu starten; das ist freilich unmöglich, da diese nicht gegeben sind, sondern erst erkannt werden müssen, so daß niemals bei ihnen begonnen werden kann.
Bildlich gesprochen entspricht ein solches Vorgehen dem Kriminalkommissar, der einen Mord aufklären soll und seine Ermittlungen – hellseherisch – beim Täter beginnt. Auch er muß in Wirklichkeit bei seinen eigenen Wissungen anfangen und den sich daraus ergebenden Spuren folgen – wohin auch immer sie führen mögen.
Dieser traditionell erforderliche „Schritt vor dem Anfang“ entfällt bei uns, wenn wir bei den gegenwärtigen Wissungen starten.
AD: „Die können freilich sehr skurril sein . . .“
Das ist völlig richtig; aber beantworten Sie sich bitte selbst die folgenden beiden Fragen:
1. Wer soll wie darüber entscheiden, ob Ihre Wissungen vernünftig oder verrückt sind?
2. Welche Alternativen bestehen überhaupt, um mit dem Denken zu beginnen – selbst wenn die eigenen Wissungen als überaus bedenklich gelten?
AD: „Ich sehe tatsächlich keine.
Sämtliches Nicht-Wissen scheidet aus, weil sich daran logisch nicht anschließen läßt; welche Konsequenzen sollten sich hieraus ergeben können? Damit entfällt – sofern Sie mit Ihren Überlegungen soeben im Recht wären – die gesamte Wirklichkeit.
Obwohl . . .; die Tradition fängt ja bei ihr an . . .“
Nein; das behauptet sie nur:
Sie beginnt – ganz in unserem Sinne – bei den subjektiven Wissungen und gibt einige von ihnen als adäquate Reapräsentation der erfundenen, angeblich objektiven Seienden aus.
Zusammengefaßt bedeutet dies:
Jede Philosophie kann – wie die traditionelle – nur bei den subjektiven Wissungen je-des Selben beginnen.
Der transzendentale Explikaktionismus gibt dies – anders als die traditionelle Philosophie – für sich selbst auch ehrlich zu.
3.2.1. Mein eigenes Leben als die gesamte Wirklichkeit für mich
Wenn die gegenwärtigen subjektiven Wissungen den grund-legenden Ausgangspunkt des Denkens bilden, müssen sie auch der Plattform angehören, von der aus wir unser Leben immer wieder neu beginnen bzw. selbst in die Hand nehmen können.
Beides setzt freilich voraus, daß nichts Grundsätzlicheres „vor“ den Wissungen kommt oder sich ihnen gegenüber als primär erweist. Unser Einsatz oder Start bei ihnen müßte tatsächlich in jeder Hinsicht der Anfang sein.
Aber ist das überhaupt möglich, wenn wir davon ausgehen, daß keine Wissungen ohne Referenten existieren? Diese müssen doch „vor“ jenen kommen oder fundamentaler sein – wie die traditionellen Seienden. Sind auch Referenten denkbar, die den Wissungen nicht „zuvorkommen“?
Ich sehe nur eine Chance:
Die Referenten müßten selbst Wissungen sein.
AD: „Dann wären Wissungen von Wissungen von Wissungen . . . möglich, und wir bekämen ein Wissens-System, das
– in sich geschlossen ist, das heißt,
– immer nur auf andere Wissungen verweist und
– nirgends aus sich selbst herauszeigt.
Insbesondere gäbe es also kein Wissen von der Wirklichkeit; das würde zu Ihrer obigen Ahnung passen . . .“
„Wissungen von Wissungen von Wissungen . . .“ klingt vielleicht ein bißchen hochgestochen, ist aber recht harmlos:
Daß 2 x 3 = 6 gilt, stellt eine Wissung dar; da 2, 3 und 6 jedoch ebenfalls Wissungen sind, liegt hier breits ein ganz einfaches Beispiel vor. Die Antworten auf die Frage „Was ist A?“, können ebenfalls nur in Wissungen von der Wissung A bestehen.
Das ganze Wissens-Problem wird durchsichtiger, wenn wir zwischen aktualen oder expliziten und potentiellen bzw. impliziten Wissungen unterscheiden:
„Ich weiß, daß 2 x 3 = 6 gilt und der Eiffelturm in Paris steht.“
Beide stellen aktuale Wissungen dar, und sie scheinen gar keine Referenten zu besitzen; aber das täuscht, denn letztere erweisen sich ja immer nur als potentiell. Wir könnten, da sie ebenfalls Wissungen sind, natürlich auch nach ihnen fragen:
„Was sind 2, 3, bzw. 6, und was der Eiffelturm oder Paris?“
Die Antworten erzählen uns möglicherweise etwas von Dedekind oder dem Städtebau; verstehen wir das Gesagte, handelt es sich um aktuale und andernfalls um potentielle Wissungen, die neue Fragen provozieren.
Die aktualen oder expliziten Wissungen sind einfach Wissungen; die beiden Prädikate können entfallen.
Die potentiellen bzw. impliziten Wissungen bilden deren Referenten, aber es läßt sich nicht sagen, worin diese bestehen. Das wäre widersprüchlich; wir können das erst klären, nachdem die Referenten keine „bloßen“ Referenten mehr sind, weil wir diese impliziten Wissungen zu expliziten aktualisiert haben.
AD: „Mir wurde von klein auf gelehrt, Wissungen könnten nur ewig identisch sein; was heute richtig ist, muß auch morgen und in tausend Jahren noch stimmen.
Hat das etwas damit zu tun?“
Ja; genau um diese Stelle geht es; Ihre „Wissungen“ sind unsere potentiellen oder impliziten Wissungen.
Sie können in der Postmoderne natürlich nicht mehr ewig identisch sein; davon muß die Tradition ausgehen, wenn sie die Wissungen als adäquate Abbilder der ewig identischen Seienden interpretiert. Für uns entstehen die potentiellen Wissungen im Verlaufe des Lebens und bilden das Ergebnis einer Genese. Zur Gegenwart gehört stets deren Status quo, und es ist völlig offen, wohin die weitere Genese in der Zukunft führen wird.
Einerseits haben Sie Recht; was alle paar Minuten anders ist, kann kein Wissen darstellen. Wir müssen die potentiellen Wissungen also einigermaßen zuverlässig aktualisieren oder wiederholen können; ist das nicht der Fall, liegen keine Wissungen vor.
Andererseits können die Wissungen natürlich nicht exakt wiedeholbar sein, da sie durch ihre zeitliche Genese kontinuierlich anders werden.
Als Kompromiß bleibt nur die näherungsweise Konstanz für eine bestimmte Dauer; in sie geht die ewige Identität der Tradition über.
Damit können wir zusammenfassen: Die subjektiven Wissungen
– verdanken sich einer Genese, die im Verlaufe unseres Lebens erfolgt,
– sind für eine bestimmte Dauer näherungsweise konstant,
– können in dieser Zeit aktualisiert oder wiederholt werden und
– werden dadurch von potentiellen zu aktualen Wissungen.
AD: „Nun verstehe ich auch, daß unsere Wissungen partiell intersubjektiv sind, obwohl
– Sie Ihr Leben führen und ich das meinige, so daß
– diesbezüglich jegliche Intersubjektivität ausgeschlossen ist.
Wir hängen, anschaulich gesprochen, durch die gemeinsamen Wissugen aneinander, und die ergeben sich aus den ähnlichen Elternhäusern, Bildungswegen oder kulturellen Umfeldern, in denen wir groß geworden sind. ‚Partiell‘ meint ganz einfach, daß ich mit dem einen dieses und mit dem anderen jenes Wissen teile.“
Aber auch zu Ihrem „teile“ sollten wir noch etwas ergänzen:
Wenn zum Geburtstag eine Torte geteilt wird, bekommen alle Gäste um so weniger, je mehr sie selbst sind.
– Das ist beim Teilen des Wissens nicht nur völlig anders, sondern
– Wissen ist immer geteilt; das Allein-Essen entfällt.
Wittgenstein faßt das in die Worte, daß „es keine Privatsprache gibt“.
Bitte machen Sie sich deutlich, welch fundamentale Korrektur an unserem Denken wir durch dieses Drehen an einigen Stellschrauben erzielt haben:
Traditionell stehen – die Körper von – Pünktchen und Anton vor dem Eiffelturm, und es scheint selbstverständlich zu sein, daß ihre Wahrnehmungen übereinstimmen.
Postmodern ist es das keineswegs; die beiden sehen nicht (auf) das gleiche Seiende, sondern haben einen ähnlichen Bildungsweg gemeistert, so daß ein Kernbestand ihrer jeweiligen Wissungen übereinstimmt.
Ein Hopi-Indianer könnte unmöglich den Eiffelturm sehen, wenn er „auf ihn schauen würde“.
Ich gebe Ihnen prinzipiell also Recht, bezweifle aber, daß offene Bildungsangebote ausreichen, um das Maß an Intersubjektivität oder „sozialem Kitt“ zu bewirken, daß wir in einer Gesellschaft benötigen, um einigermaßen friedlich und menschlich zusammenleben zu können.
Wieso hat – ohne (objektive) Wirklichkeit – nicht jeder von uns sein subjektives Wirklichkeitsbild?
Zum einen bin ich überzeugt, daß hierbei auch Anpassung, Denkfaulheit, Gemeinschaftssinn, Autoritätsgläubigkeit, Mimesis, mangelndes Selbstbewußtsein, Verantwortungslosigkeit, freiwilliger Verzicht auf Freiheit und ähnliches eine große Rolle spielen.
Zum anderen verstehen selbst so große Denker wie Ludwig Wittgenstein oder Michel Foucault „das Erziehen und Erklären“ als ein „Abrichten“. Ein wichtiges Buch des letzteren trägt den Titel „Überwachen und Strafen“; darin stellt Foucault die Kultur oder Deutegemeinschaft als „Disziplinargesellschaft“ dar.
Nahezu jeder von uns denkt in diesem Zusammenhang an Politik und Religion; mir wäre es aber sehr wichtig, im gleichen Atemzug auch die exakte Wissenschaft der Moderne zu nennen.
Unabhängig davon, wie die partielle Intersubjektivität nun genau zustande kommt:
Sie bezieht sich in beiden Ansätzen nur auf die Wissungen und damit ausschließlich auf Unwirkliches. Letzteres wird mittels der Wirklichkeit oder von ihr her erklärt, aber in der Form, wie dies geschieht, gehen Tradtion und Postmoderne grundverschiedene Wege:
Erstere erfindet auf der Objektseite der Wissungen Seiende, um sie als deren Referenten behaupten zu können.
Die Postmoderne geht dagegen von der Selbstverständlichkeit aus, daß ich keine Wissungen besitzen könnte, würde ich nicht leiben.
Während die Tradition also auf der Objektseite der unwirklichen Wissungen eine Wirklichkeit erfindet, beachten wir lediglich die evidente Wirklichkeit auf der Subjektseite.
Dabei muß ich allerdings zugestehen, daß „Leiben“ alles andere als selbst-verständlich klingt. Es stellt ein Kunstwort dar, das aber sehr bedacht ausgewählt wurde, denn das Leiben ist – als die einzige postmoderne Wirklichkeit – für unsere weiteren Überlegungen natürlich fundamental.
– Es soll erstens die Nähe zum Leben verdeutlichen; „verbales Leben“ wäre deshalb eine gute Alternative zum „Leiben“.
– Weiterhin wird der erwünschte verbale oder zeitliche Charakter deutlich; Zeitigen käme damit auch infrage.
– Und schließlich wollte ich auf die Nähe unseres Ansatzes zur Leibphänomenologie hinweisen, die das philosophische Denken seit dem Ausgang des 20. Jahrhunderts stark beeinflußt.
postmodernes Denken | |||
traditionelles Denken | |||
Subjektseite | Objektseite | ||
mein Leben | |||
wirklich | unwirklich | wirklich | |
mein Leiben | meine Wissungen | objektive Seiende | |
mein verbales Leben | |||
mein Zeitigen |
Abbildung 3.1.1.
AD: „Aber Ihr postmodernes Auffinden der Wirklichkeit ist teuer erkauft:
Jeder von uns Subjektivitäten müßte sein eigenes Leben für die gesamte Wirklichkeit halten . . .
Mir erscheint das
– inhaltlich absurd und
– ethisch furchtbar egoistisch,
– wenn nicht gar schon sehr nahe am Solipsismus zu sein.“
Ich hatte das befürchtet, stehe aber 100%-ig dazu und würde lediglich Ihre Beschreibung der Konsequenzen etwas umformulieren.
Niemand muß sein eigenes Leben für die gesamte Wirklichkeit halten; das wäre in der Tat Größenwahnsinn. Aber jeder sollte zugeben, daß er nichts anderes als sein eigenes Leben erfahren kann.
Zu ihm gehören auch die partiell intersubjektiven Wissungen, die den Unterschied zwischen Leiben und Leben verursachen. Aber da sie keine Referenten außerhalb der Wissungen besitzen, treten wir auch mit ihnen – zwar aus dem Leiben, aber – nicht aus unserem Leben heraus.
AD: „Zu unserem gegenwärtigen Disput beispielsweise gehöre doch auch ich, so daß er Ihr Leben transzendieren muß.“
Nein; unseren gegenwärtigen Disput gibt es nicht, denn dazu müßte er ein Seiendes darstellen. Vielmehr machen Sie Erfahrungen, die einen integralen Teil Ihres Lebens bilden; Entsprechendes gilt auch für mich.
Sollen traditionell Denkende sagen, worin diese Erfahrungen bestehen, erfinden oder konstruieren sie ein Seiendes mit dem Namen „der gegenwärtige Disput“ und betrachten unsere Erfahrungen als die subjektiven Perspektiven von ihm.
AD: „Ich verstehe; das traditionelle Denken geht von objektiven Seienden aus, welche die Perspektiven der Subjekte ermöglichen. Jene halten diese letztlich immer zusammen, so daß die verschiedenen Sichtweisen eventuell sogar ineinander übersetzt oder umgerechnet werden können.
Sie beginnen dagegen nicht nur bei den „Perspektiven“, sondern haben – durch Ihren Verzicht auf erfundene Seiende – auch nur diese, was natürlich gewaltige Konsequenzen nach sich zieht:
Zum einen sind unsere subjektiven „Perspektiven“ – ohne Zentrum – keine Perspektiven mehr, sondern ganz einfach Wissungen und
zum anderen ist der Blick des Nous von nirgendwo und -wann auch theoretisch unmöglich geworden.“
Damit wird auch einsichtig, weshalb die Tradition die Frage nach der Wirklichkeit nicht beantworten kann:
Weil in ihrem Ansatz gar keine Wirklichkeit existiert!
Wer
– Seiende erfindet und
– diese – seine eigenen Konstruktionen also – zur „Wirklichkeit“ erklärt,
muß sich doch nicht wundern, daß er bei der Frage, was das Wirkliche vom Unwirklichen unterscheidet, in Schwulitäten gerät.
Das läuft postmodern besser:
Wir verfügen – möglicherweise über exakt die gleichen – Wissungen
– begnügen uns mit der Wirklichkeit unseres Lebens und
– müssen daher nichts erfinden oder konstruieren.
Die Tradition hat die Frage nach der Wirklichkeit, mit anderren Worten, im Sinne eines „ja“ zu Feld- und eines „nein“ zu Osterhasen mißverstanden; jene existieren ihr zufolge und diese nicht. Aber da niemand erklären kann, worin, eine solche Wirklichkeit oder Existenz bestehen (sollen), können für uns weder Feld- noch Osterhasen existieren oder nicht-existieren.
Ich als Subjektivität existiere; ich verstehe das auch nicht im tradiionellen Sinne, lebe es aber – wie auch immer.
Daraus folgt, daß meine Worte „Sie als Subjektivität existieren“, die scheinbar meine Anerkennung für Sie ausdrücken, nur in dem Maße Inhalt besitzen, wie ich sie selbst lebe, denn jedes Darüber-Hinaus entspricht lediglich der Konstruktion eines Seienden namens „Sie“.
AD: „Existieren heißt, mit anderen Worten also, selbst zu leben, und darin besteht die Wirklichkeit. Das stimmt jedoch nur in der ersten Person Singular, weil wir nicht von der Existenz oder Wirklichkeit wissen, sondern sie nur leben können; das ist jedoch allein bei der eigenen möglich.“