Gliederung

0.Zitate1.Einleitung1.1.Kopernikanische Wende1.2."Methode"1.3.Igel und Fuchs1.4.Religiöser Hintergrund1.5.Philosophischer Hintergrund1.6.Zusammenfassung I1.7.Wahr oder richtig1.8.Zusammenfassung II2.Das traditionelle Denken in der Moderne2.1.Das Wirklichkeits-Bild als Orientierungsmöglichkeit2.2.Naiver Realismus der Moderne2.3.Kosmos – Welt – Leben2.4."Schwierigkeiten mit den Seienden"2.4.1.Wir wissen nicht, was Sein oder Existenz bedeuten2.4.2.Das Gesamtkonzept der Seienden ist widersprüchlich2.4.3.Es gibt kein Abbilden2.4.4.Mein Leben als Einheit von (Vor-)Gabe und Selbstbestimmung2.4.5.Urbilder und Abbilder – im logischen Zirkel2.4.6.Von objektiv-"wirklichen" Seienden zu subjektiv-unwirklichen Aktanten2.4.7."Physikalisches Sehen" und philosophisches Abbilden2.4.8.Das Sehen erzeugt den Raum2.5.Die objektive Wirklichkeit als Hinterwelt2.5.1.Wissenschaft und Hinterwelt2.5.2.Das moderne Welt-Bild als Mythos2.5.3.Hinterwäldlerische Moderne2.6.ZusammenfassungExkurs: Markus Gabriel als Naiver Realist3.Metaphysischer Explikationismus3.1.Der Ursprung und die Zeit(en)3.1.1.Veranschaulichung der Zeit(en)

0. Zitate

„Der Glaube an den Kausalnexus ist der Aberglaube.

Ich wollte damit keineswegs sagen, der Glaube an den Kausalnexus sei ein Aberglaube unter mehreren, sondern es ging mir darum, daß jeder Aberglaube eben nichts anderes ist als der Glaube an den Kausalnexus.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Es gibt viele Wege, auf denen das, was ich vergeblich zu sagen versuche, vergeblich zu sagen versucht werden kann.«

Samuel Beckett

 

„Ich lerne nur aus Büchern, die ich nicht verstehe. Verstünde ich sie, brauchte ich sie nicht zu lesen.“

Johann Wolfgang von Goethe

 

„Sollten die Gesetze des (bisherigen) Denkens niederbrechen, dann wird es die tiefste Wandlung im intellektuellen Leben des Menschen geben, verglichen mit welcher die Kopernikanische und die Einstein’sche Revolution nur Scheinschlachten sind.“

Oliver Leslie Reiser

 

„Das Gegenteil von Liebe ist nicht Haß, sondern Gleichgültigkeit.“

Elie Wiesel

 

„Die Welt ist ein erstaunlicher Ort, und der Gedanke, daß wir über die wichtigsten Werkzeuge verfügen, die nötig sind, um sie zu verstehen, ist heute nicht glaubwürdiger als zu Aristoteles‘ Zeiten.“

Thomas Nagel

 

„Der vernünftige Glaube weiß, daß er ein Glaube ist.“

Rainer Forst

 

„Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dieses Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.“

Max Weber

 

„Das nicht erforschte Leben ist es nicht wert, gelebt zu werden.“

Sokrates

 

„Es ist eine furchteinflößende, eine ehrfürchtige Wahrheit, daß die Anerkennung der Andersheit der anderen, unserer unausweichlichen Trennung, die Bedingung menschlichen Glücks darstellt. Gleichgültigkeit ist die Verleugnung dieser Bedingung.“

Stanley Cavell

 

„Keiner kann sagen, was er meint, obwohl jeder nur das sagt, was er meint.“

Bruno Liebrucks

 

„Glaube nie, was in den Büchern steht. Selbst sei dir Weiser, selbst Prophet!

Glaubst du, was die Leute glauben, dann glaube nicht, daß du was weißt.

Das Wissen nur kann niemand rauben, das bei den Menschen Glauben heißt.“

Erich Mühsam

 

„Der Perspektivismus bildet keine Relativität des Wahren, sondern ganz im Gegenteil die Wahrheit des Relativen.“

Gilles Deleuze und Felix Guattari

 

„Das Böse in der Welt entspringt beinahe immer dem Unwissen, und der gute Wille kann genauso viele Schäden anrichten wie die Bosheit, wenn er nicht aufgeklärt ist. Die Menschen sind eher gut als schlecht, doch in Wahrheit ist das gar nicht die Frage.“

Albert Camus

 

„Wir müssen entweder lernen, als Brüder miteinander zu leben, oder wir gehen als Narren unter.“

Martin Luther King

 

„Ich suche nicht – ich finde.

Suchen, das ist das Ausgehen von alten Beständen und das Finden-Wollen von bereits Bekanntem.

Finden, das ist das völlig Neue. Alle Wege sind offen, und was gefunden wird, ist unbekannt. Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer. Die Ungewißheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen, die sich im Ungeborgenen geborgen wissen, die in der Ungewißheit geführt werden, die sich vom Ziel ziehen lassen und nicht selbst das Ziel bestimmen.“

Pablo Picasso

 

„Wir sind alle als Originale geboren – wie kommt es, daß so viele von uns als Kopien sterben?“

Edward Young

 

„Ich erkenne meine Verwandtschaft“ (mit allen Wesen), „ich bin nichts als ein Vermögen, ihnen Widerhall zu geben, sie zu verstehen und zu antworten.“

Maurice Merleau-Ponty

 

„Der philosophische Diskurs ist die Musik des Denkens.“

Georg Steiner

 

„Was mich betrifft, so bezweifle ich, daß der Mensch jemals eine völlige religiöse Unabhängigkeit und eine vollkommene politische Freiheit ertragen kann, und ich bin geneigt zu denken, daß er, ist er frei, gläubig sein muß.“

Alexis de Tocqueville

 

„. . . wieder versuchen, wieder scheitern, besser scheitern . . .“

Samuel Beckett

 

„Die Geschichte ist nämlich nicht, wie es die herrschende Ideologie gern sieht, die Hingabe des Menschen an die lineare, kontinuierliche Zeit, sondern die Befreiung des Menschen von ihr.“

Giorgio Agamben

 

„Theologie verliert ihr Thema, wenn sie nicht mit dem völlig Verändernden zu tun hat.“

Gerhard Ebeling

 

„Wir befinden uns in einer summenden Welt, inmitten einer Demokratie von Mitgeschöpfen; wohingegen die orthodoxe Philosophie, in welcher Gestalt auch immer, uns nur zwischen einsame Substanzen stellen kann, die alle scheinhafte Erfahrungen machen.“

Alfred North Whitehead

 

„Das Wahre ist Prüfstein sowohl seiner selbst als auch des Falschen.“

Baruch de Spinoza

 

„Der Mensch ist nicht so sehr von Dämonen besessen als von Automatismen beherrscht. Nicht böse Geister setzen ihm zu, es sind Routinen und Trägheiten, die ihn zu Boden drücken und deformieren. Was seine Vernunft trübt, sind nicht zufällige Irrtümer und okkasionelle Wahrnehmungsfehler – es ist die ewige Wiederkehr der Klischees, die wahres Denken und freies Wahrnehmen verunmöglichen. 

Die alltägliche Meinung ist eine Pest, an der man zwar nicht stirbt, die aber doch von Zeit zu Zeit ganze Gemeinwesen vergiftet. Phrasen, die in den Körper abgesunken sind, erzeugen ‚Charaktere’. Sie formen Menschen zu lebenden Karikaturen der Durchschnittlichkeit, sie machen aus ihnen fleischgewordene Plattitüden.“

Peter Sloterdijk

 

„Der Weg entsteht im Gehen.“

Antonio Machado

 

„Wir fühlen, daß, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Probleme beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. . . Die Lösung des Rätsels von Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Wer wirklich Sehen lernt, nähert sich dem Unsichtbaren.“

Paul Celan

 

„Keine andere Wahrheit ist zeitlicher als die des Religiösen.“

Klaus Hemmerle

 

„Die Entgegensetzung der fest gewordenen Subjektivität und Objektivität ist aufzuheben und das Gewordensein der intellektuellen und reellen Welt als ein Werden, ihr Sein als Produkt, als ein Produzieren zu begreifen. . . Alle Unterscheidungen werden dabei ver-rückt; diese Tätigkeit ist die Kraft und Arbeit des Verstandes, das Fixe zu verflüssigen. . . Es ist aber weit schwerer, die festen Gedanken in Flüssigkeit zu bringen, als das sinnliche Dasein.“

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

 

„Als wir das Ziel aus den Augen verloren, verdoppelten wir die Anstrengung.“

Mark Twain

 

„Je mehr ich den sogenannten Erfolg zu schmecken bekomme, desto gründlicher werde ich mir der Nichtigkeit der eigenen Existenz bewußt. Denn diese wird zu einer Funktion des Erfolgs.“

Theodor Adorno

 

„Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Erlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun.“

Theodor W. Adorno und Max Horkheimer

 

„Bewahre dir in allen Dingen die Freiheit des Geistes und sieh zu, wohin er dich führt!“

Ignatius von Loyola

 

„Die wichtige Frage bezüglich der Tiere ist doch nicht, ob sie denken oder sprechen können; entscheidend ist vielmehr allein, ob sie leiden können.“

Jeremy Bentham

 

„Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen; ein Werdender wird immer dankbar sein.“

Johann Wolfgang von Goethe

 

Das Wie des Lebens ist als der Status quo die notwendige Voraussetzung seines eigenen Warum, der Fülle des Lebens.“

Johannes Soukup

 

„Nicht das Interesse an Wahrheit oder Wissen schwand, sondern die Überzeugung griff um sich, daß Wahrheit sich nur dem Zugreifen und nicht dem Zuschauen erschließen würde.“

Hannah Arendt

 

„Die Wissenschaft versteht es bestens, metaphysische Annahmen zu zerstören; aber sie liefert keinen Ersatz dafür.“

Francisco Varela

 

„Ein frommes und gottgefälliges Leben besteht darin, sich der wahren menschlichen Weisheit, das heißt, des Nichtwissens im Wissenmüssen des Guten bewusst zu sein.“

Hans-Georg Gadamer

 

„Ein Wort muß man nicht ‚verstehen‘. Man kennt es, oder man kennt es nicht.“

Philipp Wegener

 

„Wir müssen uns wohl von dem naiven Realismus, nach dem die Welt an sich existiert, ohne unser Zutun und unabhängig von unserer Beobachtung, irgendwann verabschieden.“

Anton Zeilinger

 

„Sprechen wir sinnvoll von Realität, so sprechen wir von Realität; spricht niemand von Realität, so ist von Realität nicht die Rede.“

Carl Friedrich von Weizsäcker

 

„In dem Maße, wie wir uns bemühen zu verstehen, um weniger glauben zu müssen, vertieft sich der Glaube.“

Johannes Soukup

 

„Ich möchte ein Buch schreiben, das die Menschen verwirrt, . . . und das sie dahin führt, wo hinzugehen sie niemals eingewilligt hätten.“

Antonin Artaud

 

„Ich beginne zu glauben, daß die einzige wirkliche Sünde der Selbstmord ist oder das Faktum, nicht wir selbst zu sein.“

George Tyrell

 

„Man sollte die Wahrheit dem anderen wie einen Mantel hinhalten, daß er hineinschlüpfen kann – und nicht wie ein nasses Tuch um den Kopf schlagen.“

Max Frisch

 

„Die Welt bietet nicht Wahrheiten, sondern Liebesmöglichkeiten.“

Albert Camus

 

„Glaube, der nicht Erkenntnis ist, aus Erkenntnis kommt und auf Erkenntnis beruht, ist ohne Kontakt zur Wirklichkeit. Glaube ohne Kontakt zur Wirklichkeit ändert an der Wirklichkeit des Glaubenden nichts. Er ist ohne soteriologische Kraft.“

Johannes Fischer

 

„Jeder tue das Seine, der Leser aber das Meiste.“

Søren Kierkegaard

 

„Welchen Sinn hätte unser ganzes Sein, wenn nicht den, daß in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst als Problem zum Bewußtsein gekommen wäre? An diesem Sich-bewußt-werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an – daran ist kein Zweifel – die Moral zugrunde: jenes große Schauspiel in hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten Europas aufgespart bleibt, das furchtbarste, fragwürdigste und vielleicht auch hoffnungsreichste aller Schauspiele.“

Friedrich Nietzsche

 

„Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Physikalische Objekte sind gelegen kommende Vermittler – nicht durch Definition aufgrund von Erfahrung, sondern einfach als nicht reduzierbare Setzungen, epistemologisch den Göttern Homers vergleichbar. . . . Der Mythos der physikalischen Objekte ist den meisten anderen Mythen darin überlegen, daß er sich als wirksamer erweist, dem Fluß der Erfahrungen eine handliche Struktur aufzuprägen.“ 

Willard Van Orman Quine

 

„Denken ist Schöpfung, nicht Wille zur Wahrheit.“

Gilles Deleuze

 

„Die Welt ist ein sehr labiles Gebilde, abhängig . . . von der satzförmigen Rede des Menschen.“

Hermann Schmitz

 

„‚Alles klar‘ oder ‚kein Problem‘ – beide Formeln sind zutiefst unwahr . . .

   Die Rätselhaftigkeit ist unsere fundamentale Wahrheit; alles übrige ist Interpretation . . .

   Zu wissen, was man nicht wissen kann, ist ein bedeutendes Stück Erkenntnis – denn es ermöglicht Toleranz, Kommunikation und Frieden.“

Heinz Robert Schlette

 

„Nichts fordert so viel Treue wie lebendiger Wandel.“

Johann Baptist Metz

 

„Die Sprache ‚vermittelt‘, wenn man so sagen will, zunächst nur in dem Sinne zwischen dem Menschen und seiner Welt, daß sie diese seine Welt überhaupt erst als eine solche für ihn entstehen läßt. In diesem Sinne ist die ‚Welt‘ immer schon sprachlich vermittelte Welt.“

Theodor Bodammer

 

Existieren heißt Differieren; die Differenz ist in gewissem Sinne das Wesen der Dinge.“

Gabriel Tarde

 

„Wer existiert, ist beständig im Werden und versetzt sein Denken ins Werden. . .  Wer ein objektives Christentum und nichts anderes hat, der ist eo ipso ein Heide, denn das Christentum ist gerade eine Sache des Geistes, der Subjektivität und Innerlichkeit.“

Søren Kierkegaard

 

„Definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat.“

Friedrich Nietzsche

 

„Die Lehre vom Gottsein Jesu würde nicht angetastet, wenn Jesus aus einer normalen menschlichen Ehe hervorgegangen wäre.“

Joseph Ratzinger

 

„Freiheit ist heute die Aufgabe und Chance der Kirche.“

Hermann Krings

 

„Es gibt keinen Rückzugsort des Christen von der Welt, weder äußerlich noch in der Sphäre der Innerlichkeit. Jeder Versuch, der Welt auszuweichen, muß früher oder später mit einem sündigen Verfall an die Welt bezahlt werden.“

Dietrich Bonhoeffer

 

„Man vergisst immer wieder, auf den Grund zu gehen, und setzt die Fragezeichen nicht tief genug.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Christlicher Glaube richtet sich nicht auf Sätze und Lehren, sondern auf die Wirklichkeit, von der Sätze und Lehren handeln.“

Thomas von Aquin

 

„Kunst ist Magie – befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.“

Theodor Adorno

 

„Das Eigenartige am Schicksal ist, daß es auf keine Seite der Trennung zwischen Ich und Nicht-Ich richtig paßt.“

Jonathan Lear

 

„Je begreiflicher uns das Universum wird, um so sinnloser erscheint es auch.“

Steven Weinberg

 

„Leuten, die an Esoterik glauben, sage ich: Studiert Quantenmechanik, das ist noch viel seltsamer, aber im Gegensatz zu euren Behauptungen experimentell bewiesen!“

Anton Zeilinger

 

„Ich glaube keiner Theorie, sondern ich benutze sie nur. Ich benutze von der Theorie jeweils das Teilstück, das mir hilft, . . . solange es mir hilft.“

Eckard Sperling

 

„Glauben heißt nicht Propaganda betreiben; es heißt auch nicht schockieren.

Es heißt so leben, wie es unerklärlich wäre, wenn es keinen Gott gäbe.“

Emmanuel Célestin Suhard

 

„Die gegenwärtige, weit verzweigte Realismus-Debatte wirft manche Rätsel auf, deren größtes sein könnte, warum sie überhaupt geführt wird.“

Peter Janich

 

„Um der Zukunft willen vernichten wir alles, was der Zukunft eine Chance ließe.“

Friedrich-Wilhelm Marquardt

 

„Nicht nur Gott kennen wir allein durch Jesus Christus, auch uns selbst kennen wir nur durch ihn. Ohne Jesus Christus wüßten wir weder, was unser Leben noch was unser Tod noch was Gott ist noch was wir selber sind.“

Blaise Pascal

 

„Die Kunst gibt nicht das Sichbare wieder, sondern macht sichtbar,“

Paul Klee

 

„Es ist immer etwas Lächerliches im philosophischen Diskurs, wenn er von außen den anderen vorschreiben und vorsagen will, wo ihre Wahrheit liegt und wie sie zu finden ist.“

Michel Foucault

 

„Das Wort ist ans Wort gebunden; niemals jedoch an Dinge.“

Edmond Jabès

 

„Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“

William Faulkner

 

„Es gehört schon zu den Widersprüchen des Menschen, daß er welche zu haben glaubt.“

Jean Paul

 

„Das Bild des Menschen, das wir für wahr halten, wird selbst ein Faktor unseres Lebens. Er entscheidet über die Weisen unseres Umgangs mit uns selbst und den Mitmenschen, über Lebensstimmung und Wahl der Aufgaben.“

Karl Jaspers

 

„Der Auferstehungsglaube ist nicht die ‚Lösung‘ des Todesproblems.“

Dietrich Bonhoeffer

 

„Eines Tages wird man offiziell zugeben müssen, daß das, was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch größere Illusion ist als die Welt des Traumes“

Salvador Dali

 

„Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen.“

Friedrich Nietzsche

 

„Wer mehr sieht, hat Recht; . . . aber nur der, der mehr sieht, sieht, daß er mehr sieht.“

Heinrich Rombach

 

„Hoffnung ist nicht die Überzeugung, daß etwas gut ausgehen wird, sondern daß es Sinn hat – unabhängig davon, wie es ausgehen wird.“

Václav Havel

 

„Meine Philosophie lautet, daß alles viel komplizierter ist, als man gemeinhin glaubt.“

Kwame Anthony Appiah

 

„Ich bin kein Revolutionär, aber ich bin der Meinung, daß die Kirche im besten Sinne des Wortes unterwandert werden muß, und zwar durch eine größere Wahrheit, durch die ursprüngliche Wahrheit, und daß das Gebäude der Kirche, um dieser Wahrheit Rechnung zu tragen, irgendwann nachgeben muß, um so diese Wahrheit zur Geltung kommen zu lassen.

  Das kann keine andere als die Wahrheit Jesu Christi sein.“ 

Eugen Biser

 

„Ein Zyniker ist ein Mensch, der von allem den Preis und von nichts den Wert kennt.“

Oscar Wilde

 

„Ohne Mythus aber geht jede Kultur ihrer gesunden schöpferischen Kraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Kulturbewegung zur Einheit ab.“

Friedrich Nietzsche

 

„Wo man der Zweifel nicht fähig ist, ist man auch der Wahrheit nicht fähig.“

Fulbert Steffensky

 

„In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt. . . Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sünden unserer Väter und Vorväter. Wir sind nur noch Kindeskinder. Das ist unser Pech, nicht unsere Schuld.“

Friedrich Dürrenmatt

 

„Kommunikation ist ein produktives Mißverständnis.“

Jacques Lacan

 

„Die Philosophie besteht gerade in der Anstrengung, das zu sagen, was sich nicht sagen läßt.

Philosophie ließe, wenn irgend, sich definieren als Anstrengung, zu sagen, wovon man nicht sprechen kann; dem Nichtidentischen zum Ausdruck zu helfen, während der Ausdruck es immer doch identifiziert.“

Theodor Adorno

 

„Um die Menschen zu lieben, muß man sehr stark hassen, was sie unterdrückt.“

Jean-Paul Sartre

 

„Unsere Kultur ermutigt uns nicht, Philosophen zu sein, und dies ist vielleicht die verheerendste Verneinung von Freiheit in unserem Leben.“

William Warren Bartley

 

„Nein; gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen.“

Friedrich Nietzsche

 

„Die großartigste Lehre in beiden Religionen, der jüdischen wie der christlichen, ist – ich berufe mich hier auf ein Wort Schopenhauers – die Lehre von der Erbsünde. Sie hat die bisherige Geschichte bestimmt und bestimmt heute für den Denkenden die Welt. Möglich ist sie nur unter der Voraussetzung, daß Gott den Menschen mit einem freien Willen geschaffen hat.“

Max Horkheimer

 

„Wir verstehen nicht einmal das Leben – wie können wir den Tod verstehen?“

Konfuzius

 

„Die meisten Menschen, die sich schämen, mit einem abgelegten Hut oder Mantel zu gehen, laufen freudig mit abgelegten Meinungen herum.“

Sören Kierkegaard

 

„Wie kann der Mensch sich verstehen, wenn er den Tod nicht versteht?“

Karl Rahner

 

„Daß es dieser Arbeit in ihrer Dürftigkeit und der Finsternis dieser Zeit bschieden sein sollte, Licht in das eine oder andere Gehirn zu werfen, ist nicht unmöglich; aber freilich auch nicht wahrscheinlich.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Glaube nicht alles, was Du denkst; aber bedenke alles, was Du glaubst.“

Johannes Soukup

 

„Der fundamentale Widerspruch unserer Existenz . . . ist die gleichzeitige Notwendigkeit der Hierarchie, die Athen lehrt, einerseits, und des abstrakten und in gewisser Weise anarchischen ethischen Individualismus, den Jerusalem zur Aufhebung der Gewalt lehrt, andererseits.“

Emmanuel Levinas

 

„Man muß die Erklärung geben, die akzeptiert wird. Darauf kommt es beim Erklären an.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Die Götter anderer Menschen zu verachten, bedeutet, diese Menschen selbst zu verachten, denn sie und ihre Götter gehören zusammen.“

Sarvepalli Radhakrishnan

 

„Grundlagenreflexion ist unverzichtbar, solange wir uns selbst fudamental verstehen wollen.“

Uwe Meixner

 

„Entfremdung ist die freiwillige Unterwerfung unter eine angebliche Objektivität.“

Johannes Soukup

 

„Wenn ich mich nicht täusche, ist die Innenseite dieser äußeren Reserviertheit nicht nur Gleichgültigkeit, sondern, häufiger als wir es uns zum Bewußtsein bringen, eine leise Aversion, eine gegenseitige Fremdheit und Abstoßung, die in dem Augenblick einer irgendwie veranlaßten nahen Berührung sogleich in Haß und Kampf ausschlagen würde.“

Georg Simmel

 

„Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens“ . . . und . . . „Denken ist Danken“.

Martin Heidegger

 

„Die Macht des Menschen, aus sich zu machen, was ihm beliebt, bedeutet . . . die Macht einiger weniger, aus anderen zu machen, was ihnen beliebt.“

Clive Staples Lewis 

 

„Achtung ist Beachtung der Andersheit . . . Ohne diese Achtung versteht man nichts.“

Josef Simon

 

„Schließlich geht es in der Offenbarung Gottes gerade darum, daß er, der Lebendige und Wahre, in unsere Welt einbricht und so auch den Kerker unserer Theorien aufbricht, mit deren Gitterstäben wir uns selbst gegen dieses Kommen Gottes in unser Leben absichern wollen.

Jede – auch die frömmste – Theorie entspricht einem Kerker, weil sie die (Wirklichkeit der) Zeit leugnet und damit die Offenbarung oder eine neue Fülle des Lebens verunmöglicht.“

Joseph Ratzinger

 

„Exaktheit ist ein Schwindel.“

Alfred North Whitehead

 

„Ich möchte nicht mit meiner Schrift Anderen das Denken ersparen, sondern, wenn es möglich wäre, jemand zu eigenen Gedanken anregen.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Freiheit ist das Wahrheitskriterium des Christentums.“

Eberhard Jüngel

 

„Es ist schwer, jemandem etwas auseinanderzusetzen, wenn er dafür bezahlt wird, es nicht zu verstehen.

Upton Sinclair

 

„Glaube ist die Unmöglichkeit, unbedeutend zu sein.“

Peter Sloterdijk

 

„Was ist das Allgemeine? Der einzelne Fall.

Was ist das Besondere? Millionen Fälle,“

Johann Wolfgang von Goethe

 

„Kurz: ‚Substanz‘ ist ein metaphysischer Irrtum, der dadurch entsteht, daß die Struktur von Subjekt-Prädikat-Sätzen auf die Struktur der Welt übertragen wird.“

Bertrand Russel

 

„Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind. Wir sehen die Dinge, wie wir sind.“

Talmud

 

„Viele Bewunderer der Wissenschaft meinen, sie unterscheide sich gerade darin von der Religion, daß sie Glauben durch Vernunft ersetzt. Eben diese Meinung ist nach meiner Ansicht eine Äußerung ihres Glaubens. Wir dürfen nur den Begriff des Glaubens nicht zu eng fassen.“

Carl Friedrich von Weizsäcker

 

„Nicht behaupten ’so ist es‘, sondern leben, als wäre es so.“

Johannes Soukup

 

„Die Religionen, . . . die diesen freiwilligen Abstand begriffen haben, dieses freiwillige Verschwinden Gottes, seine scheinbare Abwesenheit und seine verborgene Anwesenheit hienieden, – diese Religionen sind wahre Religionen, die Übersetzung der großen Offenbarung in unterschiedliche Sprachen.

Die Religionen, welche die Gottheit überall dort, wo sie die Macht dazu haben, als befehlend darstellen, sind falsch. Selbst wenn sie monotheistisch sind, sind sie Götzendienst.“  

Simone Weil

 

„Wir ertrinken in Informationen, aber uns dürstet nach Wissen.“

Paul Nurse

    

„Der Szientismus fügt zur Wissenschaft zwei Begleitsätze hinzu:

Erstens, daß die wissenschaftliche Methode, wenn nicht die einzige, so doch zumindest die am meisten verläßliche Methode ist, zur Wahrheit zu gelangen.

Und zweitens, daß die Dinge, mit denen sich die Wissenschaft beschäftigt – materielle Entitäten –, die grundlegendsten Dinge sind, die existieren.“

Huston Smith 

 

„Gott kannst du nicht mit einem anderen reden hören, sondern nur, wenn du der Angeredete bist.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Wir haben nicht zu viel Verstand und zu wenig Seele, sondern wir haben zu wenig Verstand in den Fragen der Seele.“

Robert Musil

 

„In einer werdenden Welt ist ‚Realität‘ immer nur eine Simplifikation zu praktischen Zwecken oder eine Täuschung aufgrund grober Organe oder eine Verschiedenheit im Tempo des Werdens.“

Friedrich Nietzsche

 

„Wir glauben – nicht, was richtig ist, sondern – was zu glauben wir für richtig halten.“

Johannes Soukup

 

„Philosophen sind Gewalttäter, die keine Armee zur Verfügung haben und sich deshalb die Welt in der Weise unterwerfen, daß sie sie in ein System sperren.“ 

Robert Musil

 

„Nur Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden.“

Heinz von Förster

 

„Der entscheidende Punkt ist, daß nur der Verzicht auf eine Erklärung des Lebens im üblichen Sinne uns die Möglichkeit schafft, den charakteristischen Merkmalen des Lebens Rechnung zu tragen.“

Niels Bohr

 

„Glaube ist das Denken eines religiösen Geistes.“

John Henry Newman

 

„Das schlechthin Unvernünftige – wir zerstören unsere Welt – tritt ein, weil alle vernünftig handeln.“

Thomas Ruster

 

„Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, aber bei Gruppen Parteien, Kirchen oder Völkern die Regel.“

Friedrich Nietzsche

 

„Unablässig versucht der moderne Mensch, die Welt in Reichweite zu bringen.

Dabei droht sie uns jedoch, stumm und fremd zu werden.

Lebendigkeit entsteht nur aus der Akzeptanz des Unverfügbaren.“

Hartmut Rosa

 

„Nichts ist stärker als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“

Victor Hugo

 

„Möglicherweise hat nicht die Gesellschaft Gott vergessen, sondern wir Christen haben verlernt, richtig über Gott zu reden.“

Manfred Lütz 

 

„Wir brauchen ein Ministerium für Ruhestörung, das kalkuliert Ärger erzeugt; die Routine zerstört und die Selbstzufriedenheit untergräbt.“

Cyril Dean Darlington

 

„Du und ich, wir sind nicht zwei.“

Emmanuel Levinas

 

„Wirklich ist das, wovon wir ausgehen, selbst wenn wir es im einzelnen bezweifeln.“

Bernhard Waldenfels

 

„Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind, – oder doch ähnliche Gedanken – schon selbst einmal gedacht hat.

Es ist also kein Lehrbuch.

Sein Zweck wäre erreicht, wenn es einem, der es mit Verständnis liest, Vergnügen bereitete. . .

Denn wenn ich auch nur selten ins Schwarze getroffen habe, wird der aufmerksame Leser doch erkennen, nach welchen Zielen ich unablässig geschossen habe.“

Ludwig Wittgenstein.

1. Einleitung

Das waren sehr viele Zitate; sie sollten die Richtung andeuten, in die wir uns bewegen werden, und Ihnen damit eine Entscheidung ermöglichen, ob es sich für Sie eventuell lohnen könnte, mein Buch zu lesen.  

Haben Sie keine Sorge, daß es in diesem Sinne – also auch ein wenig langweilig und ermüdend – weitergehen könnte. Ganz im Gegenteil; ich versuche, selbst zu denken, finde das unheimlich spannend – es ist mein Hobby – und lade Sie dazu ein.

Wenn Sie mitspielen und Fehler finden, hat sich das Thema für Sie höchstwahrscheinlich erledigt. Sympathisch und hlfreich wäre es freilich, mich kurz auf die entsprechenden Schwachstellen hinzuweisen. Ich danke Ihnen schon im Voraus und bitte um Entschuldigung für meine Versehen.

 Unter Fehlern verstehe ich insbesondere logische Widersprüche, fehlende Denkmöglichkeiten und ungerechtfertigte Annahmen jeglicher Couleur, also nicht nur weltanschaulich-religiöse, sondern auch wissenschaftliche oder alltägliche.

 

Kein Fehler ist es freilich, gegen den Strich zu denken, vom Zeitgeist mit seinen Selbstverständlichkeiten und Plattitüden abzuweichen, von dem also, was „man sagt“ oder „jeder weiß“. Dabei darf es natürlich nicht um das Widersprechen als Selbstzweck gehen, wie wir es heute in unserer Gesellschaft tagtäglich – mit nahezu beliebigen „Begründungen“ und „Argumenten“ oder auch ganz ohne sie – erleben.

Entscheidend ist vielmehr, daß insbesondere logische Widersprüche, fehlende Denkmöglichkeiten und ungerechtfertigte Annahmen jeglicher Couleur auch dann zu vermeiden sind, wenn sie von vielen Menschen geteilt werden und somit dem Zeit- oder einem beliebigen Gruppen- bzw. Korpsgeist entsprechen.

Bloße Meinungen interessieren mich nicht, und eine „Meinungsfreiheit“, derzufolge doch schließlich jeder sagen dürfen muß, was er „denkt“, ist keine Errungenschaft der Demokratie, sondern arbeitet an deren Zerstörung. Meinungs-Freiheit setzt Meinungs-Bildung im engeren Sinne voraus, und ohne diese wäre es häufig besser, auf jene zu verzichten.

 

Die meisten von uns können es sich heute kaum leisten, Zeit und Mühe in die Auseinandersetzung mit einem Buch zu investieren, die sie anschließend bereuen würden, weil sich sein Inhalt rückblickend als oberflächlich, uninteressant oder sinnleer herausstellt.

Mit dem letzten Prädikat meine ich nicht die übliche Frage „Was bringt mir das?“, weil sie selbst oberflächlich, uninteressant und sinnleer ist. Wer dergleichen sucht, ist hier falsch und sollte besser Ratschläge zur Selbstverwirklichung, Anleitungen zur Erbauung oder Tips vom Baumarkt und Finanzberater lesen.

(„Tips“ stimmt; ich halte mich an die alte Rechtschreibung, denn sie wurde gerade geändert, als ich endlich einigermaßen sicher darin war. Die vorreformerische Orthographie ist offiziell auch für Bücher gestattet; sie muß nur konsequent „von gestern sein“, und das versuche ich zu befolgen.) 

 

Das Buch will Ihnen unter anderem helfen,

selbst zu denken und

– hierbei einzusehen, daß

  — Aussagen oder Sätze niemals wahr sind, sondern sich höchstens zwischen richtig und falsch bewegen,

  — Überzeugungen und Wahrheit dadurch zwei völlig verschiedene Dinge sind,

  — niemand die Wahrheit haben kann, weil

  — sie nicht die Form von Aussagen bzw. Sätzen besitzt,

  — eigene Überzeugungen sowohl für ein erfülltes Leben wichtig als auch für fruchtbare Gespräche notwendig sind und

  — ernstliche Schwierigkeiten erst dort beginnen, wo diese Überzeugungen als wahr betrachtet werden.

 

Ich möchte Ihnen möglichst deutlich aufzeigen, daß wir alle nur einen Zugang zum eigenen subjektiven Leben besitzen und unser Weltbild oder Wissen nicht darüber hinausreicht. Sämtliche weitergehenden Theorien über die Welt an sich und ihre Rettung oder Transzendenz sind reine Illusionen; die Geschichte zeigt uns im Übermaß, daß sie häufig ins Unglück führen – privat wie  gesellschaftlich.

Unsere Wahrheit ist bestenfalls die subjektive Wahrheit des eigenen Lebens – denn nur letzteres ist uns gegeben – und niemals diejenige irgendwelcher angeblich objektiver Theorien. Naturgesetze beispielsweise funktionieren nicht nur nachweislich, sondern sind unvorstellbar hilfreich und wichtig; aber das ist etwas ganz anderes als „wahr“ oder auch nur „richtig“. Zwischen diesen beiden Begriffe – sowie „wirklich“ als einem dritten Kandidaten – zu unterscheiden, wird sich als wesentlich herausstellen:

 

Allein mein eigenes Leben ist für mich wirklich; zu dem Ihrigen habe ich keinen Zugang.

Nur was für mich wirklich ist, kann auch für mich wahr oder unwahr sein.

Sätze – oder besser: Aussagen – sind richtig, wenn sie einen bestehenden Sachverhalt adäqut wiedergeben; im gegenteiligen Fall erweisen sie sich als falsch oder unrichtig.

Einigen wir uns auf dieses Sprachspiel, sind wahre Aussagen unmöglich, weil kontradiktorisch; das heißt, sie entsprechen einem schwarzen Schimmel oder verheiratetem Junggesellen..

Zu meinem wirklichen Leben gehören natürlich sowohl wahres als auch unwahres Handeln und damit auch das Denken oder Sagen von richtigen sowie falschen Sätzen. Aber es kann ohne weiteres wahr sein, eine falsche Aussage zu treffen; beispielsweise um einen Unschuldigen zu schützen.

 

Das bedeutet des weiteren, daß wir auch „die Welt nur retten können“, indem wir bei uns selbst bzw. dem eigenen Leben beginnen – und verbleiben. Verinnerlichen wir diese Einsicht, führt sie vielleicht dazu, ein wenig bescheidener, offener, gelassener und toleranter zu werden. François Jullien nennt dies „unser zweites Leben“ – natürlich hier und jetzt im Diesseits –, in dem wir „an keiner Idee hängen“ sollten, weil sämtliche Ideen bestenfalls richtig, aber niemals wahr sein können.

Ich vermag niemandem zu sagen, was – für ihnwahr ist, sondern kann lediglich versuchen, ihm meine Wahrheit als attraktive Wirklichkeit vorzuleben.

 

AD:  „Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle, bevor ich Ihnen ins Wort falle:

Mein Name ist ‚Advocatus Diaboli‘, kurz ‚AD‘ genannt; ich vertrete Ihre Leser und versuche, ihnen ein wenig zu helfen, wenn Sie etwas – nennen wir es einmal vorsichtig – ‚Befremdliches‘ zum Ausdruck bringen.“

Sie haben uns noch gefehlt . . .; aber trotzdem: „Herzlich willkommen!“

AD: „Daß Sie sich von vornherein auf das eigene Leben beschränken und dieses als die einzige und gesamte Wirklichkeit überhaupt darstellen, ist schon mehr als nur befremdlich. Wo bleibt denn die gesamte ‚restliche‘ Welt – also eigentlich alles? Nehmen Sie sich dabei nicht selbst zu wichtig? Und welcher Leser sollte Ihnen darin folgen; Sie interessieren sich ja gar nicht für ihn?“  

 

Könnte ich Ihre Fragen kurz und bündig beantworten, bräuchten wir das Buch nicht. Aber mit ein paar einführenden Gedanken lassen sich vielleicht die schlimmsten Vorbehalte etwas abschwächen:

 

1. Es geht natürlich nicht um mich; ich bin eine Subjektivität wie Sie, und für alle Subjektivitäten besteht die gesamte, vollständige Wirklichkeit in ihrem eigenen Leben. 

(„Subjektivität“ ist ein vorübergehender Hilfsbegriff, den ich als Notlösung einführe, weil „Subjekt“ noch irreführender wäre.)

 

2. Ist die Wahrheit daran gebunden, der Wirklichkeit zu begegnen, so bedeutet dies lediglich die Selbstverständlichkeit, daß wir sie nur im eigenen Leben, das heißt, allein in unseren subjektiven Erfahrungen finden können.

 

3. Die Ihrigen weichen von den meinigen ab, weil wir differente Leben führen; also müssen auch unsere Wahrheiten nicht übereinstimmen.

 

4. Natürlich bekommen wir auch vieles gsagt; zum Beispiel Märchen, Fußballergebnisse, das Wetter auf Tasmanien, daß die 13 eine Primzahl ist und wieviele Monde der Jupiter besitzt. Derartige Informationen befinden sich nicht außerhalb unseres Lebens oder transzendieren es nicht, sondern gehören ihm als Wissungen integral an.

Manche von ihnen ignorieren wir einfach als belanglos oder glauben sie nicht.

Halten wir unsere Wissungen dagegen für interessant und ihre Überbringer für vertrauenswürdig, so lassen wir uns vielleicht darauf ein:

Könnten sie etwas mit meinem Leben zu tun haben oder dafür irgendwie relevant sein? Ist dies der Fall, überprüfen wir, ob die entsprechenden Wissungen durch unsere eigenen Erfahrungen bestätigt werden; wenn nicht, sind auch sie hinfällig.

 

5. Wissungen sind also entweder belanglos, oder sie gehören zu unserem Leben.

Es existiert folglich keine zweite Quelle der Wahrheit neben den eigenen Erfahrungen. Insbesondere bestreite ich damit, daß es irgendwelche Einsichten, Erkenntnisse oder Wissens-Fundamente gibt, die unabhängig von allen Erfahrungen und uns damit bereits vor ihnen zugänglich sind. (Die Philosophen nennen das „a priori“.)

Mehr behaupte ich nicht mit meiner Überzeugung, daß für jeden von uns die gesamte Wirklichkeit in seinem eigenen Leben besteht.

 

En passant hatte ich jetzt das Wort „Wissungen“ eingeführt; wir brauchen es erstens aus grammatischen Gründen; zum einen um gegebenenfalls den substantivischen oder nicht-verbalen Charakter des Wissens anzuzeigen und zum anderen auch als Plural von „das Wissen“.

Ein zweiter, inhaltlicher Grund für diese vielleicht gekünselt wirkende Wortbildung besteht darin, daß Paare der Form „Wahrnehmungen – Wahrgenommene“ oder „Vorstellungen – Vorgestellte“ bei uns eine sehr exakte Bedeutung erhalten werden und ich diese, um eine möglichst konsistente Systematik entwickeln zu können, auf das Paar „Wissungen – Gewußte“ ausweiten möchte.

 

Wir benötigen die subjektive Wahrheit unseres Lebens allein für dieses Leben selbst, nämlich um wahr-haft leben zu können. Das ergibt sich meines Erachtens daraus, daß der Sinn unseres Lebens allein in dessen Fülle besteht; mehr als sie oder ein wahres Leben ist gar nicht möglich. Als wirklich erweist es sich in jedem Fall; auch ein unwahres oder furchtbares Leben – fernab von jeder Fülle – ist wirklich.

Der Glaube kann meines Erachtens und sollte die Freiheit schenken, die wir benötigen, um das Leben in Fülle zu erreichen. 

Wenn Theodor W. Adorno mit seinem Bonmot „Es gibt kein wahres Leben im falschen“ Recht hat, führen wir notwendigerweise ein unwahres Leben bis zu unserem Tod. Das wahre Leben im wahren erhoffen sich die Gläubigen von der Zukunft im Anschluß daran.

Ich widerspreche dem nicht, sondern ergänze lediglich:

Und zuvor, das heißt, hier und jetzt haben wir die Aufgabe, uns im falschen Leben um ein wahres zu bemühen.

 

Daß die Wahrheit „nur“ subjektiv ist, merken wir gar nicht, weil sie dem eigenen Innen angehört und uns andere Innen – mit ihren differenten Wahrheiten – prinzipiell nicht begegnen können. Wir treffen lediglich auf uns fremde Verhaltenweisen, Handlungen oder Aussagen, aber die sind ohnehin bestenfalls richtig.

Und allein ihnen gegenüber benötigen wir auch Toleranz, so daß sich die Frage „Wahrheit oder Toleranz?“ (Klaus von Stosch) niemals stellt.

Letztere bedeutet keineswegs, das Tolerierte zu achten oder gar zu bewundern; wir lehnen es ab – andernfalls wäre keine Toleranz nötig. Aber das liegt alles nicht auf der Ebene der Wahrheit und hat folglich insbesondere nichts damit zu tun, daß wir der Toleranz wegen unsere eigene Wahrheit aufgeben oder opfern müßten.

„Das Ziel der Toleranz ist nicht die Wahrheit, sondern die Wahrung des Friedens“ (John Gray). 

 

Da wir von der Richtigkeit unserer eigenen Gedanken, Verhaltenweisen, Handlungen oder Aussagen überzeugt sind – und wohl auch sein müßten, denn sonst wären es nicht die unseren –, bedeutet Toleranz zwar nicht den Verzicht auf die eigene Wahrheit, sehr wohl aber auf Rechthaberei.

Selbst unsere tiefsten Überzeugungen können prinzipiell nicht wahr sein – ganz einfach weil es in ihrer Sphäre keine Wahrheit gibt –, so daß wir sie, ohne uns selbst untreu zu werden oder verraten zu müssen, problemlos relativieren können: 

 

Warum denke ich so, wie ich denke?

Weshalb bin ich sogar überzeugt, so denken zu müssen?

Welche Scheuklappen versperren mir den Blick auf andere Möglichkeiten?

Glaube ich ernstlich, weiser zu sein als Karl Jaspers‘ „maßgebliche Menschen“ – Sokrates, Buddha, Nagarjuna, Jesus oder Konfuzius –, so daß ich deren Gedanken einfach ignorieren könnte?

Muß ich nicht selbst über diese Einschätzung lachen? Wieso soll gerade ich über einen heißen Draht zu Gott oder Hegels „Weltgeist“ verfügen?

Woraus resultiert überhaupt Descartes‘ Überzeugung, daß ich denken würde?

Könnte es nicht auch sein, daß es in mir bzw. durch mich (hindurch) denkt; so wie „es regnet“, „blitzt“ (Georg Christoph Lichtenberg) oder – mir – dämmert?

Kann es überhaupt denken? „Ja“; denn wer vermag abzuschätzen, wie stark ein spezieller Gruppengeist an seiner Stelle denkt oder gar „die Sprache spricht“ (Martin Heidegger)?

Ist meine „ewige Wahrheit“ vielleicht nur ein alter Zeitgeist und die angeblich „großartige Idee“ lediglich der neue?

 

Sich derartige Fragen nicht zu stellen und damit die eigenen Überzeugungen als wahr zu verabsolutieren, bedeutet, sein zu wollen wie Gott.

Wer die Wahrheit verteidigen und kein Relativist sein will, darf nicht auf den Tisch pochen und seine Überzeugung – welche auch auch immer es sein mag – als Wahrheit behaupten. Genau das ist Relativismus, denn jede solche „Wahrheit“ steht neben 1000 differenten „Wahrheiten“, die völlig analog von anderen behauptet werden.

Das nicht zu sehen, ist naiv; wer es sieht, ist kein Relativist, sondern Realist und erhält sich damit die Chance, weiterhin nach der Wahrheit streben zu können:

„Ich tue letzteres, weil ich an die Wahrheit glaube; werde sie aber nie erreichen, weil ich nicht Gott bin.“ 

 

AD: „Ich fürchte, mit Ihrer Behauptung, wir könnten keine Wahrheit besitzen, widersprechen Sie sich selbst, denn das soll doch auch eine Wahrheit sein, die Sie bereits kennen und uns – Ihren noch unwissenden Lesern – vermitteln möchten.“

Nein; das stellt einen alten Einwand dar, der an dieser Stelle häufig wiederkehrt. Aber er ist trotzdem falsch, denn ich erhebe keineswegs den Anspruch, daß mein Satz „Niemand kann die Wahrheit habenwahr sein soll; natürlich nicht; Aussagen sind niemals wahr, hatten wir doch bereits festgestellt. 

Ich bin lediglich überzeugt, daß

– der Satz „Niemand kann die Wahrheit habenrichtig ist und

– es zu meinen Aufgaben gehört, ihn in diesem Buch zu verteidigen,

– um für meine Wahrheit Zeugnis abzulegen.

 

AD: „Ist das nicht ganz schön spitzfindig oder haarspalterisch? Sie unterscheiden zwei Begriffe, um richtig formulieren zu können, daß niemand die Wahrheit besitzt. Ich vernachlässige diesen ‚Unterschied‘ einfach – und schon haben Sie sich widersprochen!“

Stimmt; aber damit würden Sie auch unsere oben angedeutete Verantwortung leugnen, daß wir mitunter um der Wahrheit unseres Lebens willen falsche Aussagen formulieren oder lügen zu sollen. Dieser Unterschied zwischen Sagen und Gesagtem spielt philosophisch bei Emmanuel Levinas eine große Rolle.

 

Wahr sein kann allein unser Leben. Das enthält aber keine Sätze – Behauptungen, Versprechen, Befehle, Entschuldigungen, Dogmen, Gesetze, Bitten, Appelle und dergleichen –, sondern höchstens das Äußern bzw. Ausdrücken – Denken, Sagen oder Schreiben – von ihnen. Es gibt also insbesondere weder wahre Naturgesetze noch wahre Dogmen – jeglicher Couleur –; aber meine Aufgabe im situativen Hier und Jetzt kann sehr wohl darin bestehen, derartige Aussagen zu treffen

In Abhängigkeit davon, ob und wie ich das tue, wird mein Leben – im Sinne einer Verantwortungs- oder Situationsethik – wahr bzw. unwahr; das betrifft jedoch nur mein Sagen, während das Gesagte richtig, falsch oder keines von beiden  ist:

Ich halte es unter anderem für meine Aufgabe, hier den meines Erachtens richtigen Satz „Niemand kann die Wahrheit haben“ zu schreiben. Für Christen dürfte das eine Selbstverständlichkeit sein, denn da sie glauben (sollten), daß Gott die Wahrheit ist,  hätten sie mit deren Besitz auch Gott selbst vereinnahmt. 

 

AD: „Das war etwas kompliziert; hätten Sie vielleicht noch ein verständliches Beispiel zu der von Ihnen offensichtlich favorisierten Verantwortungs- oder Situationsethik?“

Ja; natürlich:

„1 + 1 = 2“ kann unmöglich wahr sein, weil es nichts mit meinem Leben zu tun hat. Mathematische Laien würden also wahrscheinlich annehmen, diese Gleichung wäre richtig; aber nicht einmal das stimmt; sie ist weder richtig noch falsch  – sondern lediglich (sehr) nützlich.

 

Es gibt nicht nur die – eine – Mathematik, die wir in der Grundschule kennengelernt haben, sondern (beliebig) viele Mathematiken.

Die „normale“ Mathematik von damals wird nach dem italienischen Mathematiker Giuseppe Peano benannt. Sie beginnt mit seinen fünf Axiomen; das sind mehr oder weniger willkürlich gewählte Sätze, die sich nicht beweisen lassen – ganz einfach weil sie am Anfang stehen und zunächst nur sie allein vorhanden sind. Es gibt einfach noch nichts, mit dessen Hilfe wir sie beweisen könnten; wir beginnen erst, Mathematik zu betreiben. Die Konsequenzen, die sich aus diesen Axiomen ziehen lassen, bilden in ihrer Gesamtheit die Peanosche Mathematik oder Algebra, und dazu gehört beispielsweise auch, daß „1 + 1 = 2“ gilt.

 

Völlig analog kann George Boole zeigen, daß unter anderem  „1 + 1 = 1“ stimmt.

Das ist nicht falsch, und das „normale“ Ergebnis nicht richtig, vielmehr ist beides ableit- oder „beweisbar“. Bei differenten Voraussetzungen – den Peanoschen bzw. Booleschen Axiomen – stellt es weder einen Widerspruch noch eine Überraschung dar, daß die beiden Summen verschieden ausfallen.

Mathematik studieren heißt, möglichst viele Mathematiken kennenzulernen und ein Fingerspitzengefühl dafür zu entwickeln, bei welchen Problemen man welche Mathematik benutzen muß, um sie lösen zu können. Deswegen sind viele der von uns erdachten oder konstruierten Mathematiken nützlich, und andere werden es vielleicht noch.

 

Mit ein wenig Phantasie finden wir auch zahlreiche Beispiele, bei denen die Boolesche Algebra die angemessene ist: Zwei Wolken, zwei Geschichten, Wahrheiten, Leerstellen, Tropfen . . . Das wichtigste Beispiel bilden natürlich die Digitalrechner; es gäbe sie nicht ohne die Boolesche Mathematik.

(Natürlich auch nicht ohne duale Zahlen; ich schreibe das jedoch nur, um darauf hinzuweisen, daß das etwas ganz anderes ist – nämlich lediglich eine Darstellungsweise innerhalb der peanoschen Algebra – und mit unserem Thema aber auch gar nichts zu tun hat. Hier gibt es selbstverständlich auch die 2; sie wird lediglich als „10“ geschrieben; in der Boolschen Mathematik existiert dagegen keine 2; nur 0 sowie 1. Und eben deswegen mußte Boole sich entscheiden, ob 1 + 1 nun 0 oder 1 sein soll; möglich gewesen wäre beides.) 

 

Wird mir also die Frage gestellt, ob „1 + 1 = 2“ stimmt, hängt meine Antwort von der jeweiligen Situation und insbesondere von den Fragestellern ab.

Sind letztere unsere Enkel aus der Kita, kann meine Antwort nur „ja“ lauten; ich will ihnen doch keine Schwierigkeiten in der Schule bereiten.

Würde ich das Gleiche jedoch zu Ihnen sagen, wäre es unwahrhaftig und damit eine Lüge, weil ich mit dieser Aussage – nicht der Wahrheit, aber – meiner eigenen Überzeugung widersprechen würde; ganz abgesehen von der Beleidigung, Sie wie unsere Enkel zu behandeln.

Wahrhaftigkeit kann ja unmöglich bedeuten, die – prinzipiell unwiß- und unsagbare – Wahrheit auszudrücken; sie bedeutet vielmehr, der eigenen Überzeugung zu folgen. Der Lügner sagt nichts Unwahres, sondern etwas, was er selbst nicht glaubt.

 

Damit sollte meine Unterscheidung zwischen „wahr“ und „richtig“ schon verständlicher werden:

Die Gleichungen „1 + 1 = 1“ oder „1 + 1 = 2“ sind – wie alle Sätze bzw. Aussagen – natürlich weder wahr noch unwahr und in diesem speziellen Fall nicht einmal richtig oder falsch.

Unser verbales Denken, Sprechen oder Schreiben gehört dagegen zum Leben, und das allein kann bzw. sollte wahr sein. Dafür müssen wir freilich – je nach Situation – das eine Mal „ja“ und das andere Mal „nein“ sagen, wenn wir nach der Gültigkeit der (ersten bzw.) zweiten Gleichung gefragt werden.

Deswegen ist allein eine Verantwortungs- oder Situationethik möglich, denn sich um ein wahres Leben zu bemühen, bedeutet, im Hier und Jetzt jeweils das zu tun, worin wir unsere Aufgabe oder Verantwortung sehen. Ohne das eigene, prinzipiell unkontrollierbare Gewissen als Letztinstanz gibt es also auch keine – eo ipso subjektive und situative – Wahrheit.

Das Gewissen bietet uns eine Orientierung für das Leben, zu dem auch das Sagen gehört – aber nicht das Gesagte. Ersteres ist wichtiger oder primär, denn falls das Sagen fehlt, existiert auch kein Gesagtes, während die Umkehrung nicht stimmt, weil das Sagen immer über das Gesagte hinausgeht.

 

AD: „Wer dagegen die Verantwortungs- bzw. Situationsethik ablehnt, an ewige Wahrheiten glaubt und diese in Sätzen oder Aussagen sucht, muß mitunter böse sein. Das wird bei Kant, den ich ansonsten sehr verehre, überaus deutlich; seiner Auffassung nach dürften wir zum Beispiel niemals lügen.

Wir müßten also beispielsweise dem Nazi-Soldaten, wenn er uns fragt, ‚ehrlich‘ antworten, wo sich der versteckte Jude aufhält; oder dem labilen Patienten seine Diagnose mitteilen – wie schlimm auch immer sie ausgefallen sein mag. Und wenn das diesbezüglich noch unwissende adoptierte Nachbarkind uns nach seinen Eltern fragt, . . .“

Ja; es mag übertrieben fromm klingen, wenn wir sagen „Alles, was zählt, ist die Liebe“ oder mit Augustinus „Liebe und tu, was Du willst“, aber ich bin überzeugt, daß uns schwerlich etwas viel Besseres einfallen wird.

Natürlich läßt sich das subjektive Gewissen als unhintergehbarer Gradmesser für unser Handeln nicht kontrollieren. Aber das ist kein Gegenargument, sondern höchstens ein Ärgernis – leider für sehr viele Menschen.

 

Wir dürfen, anders formuliert, die Leibhaftigkeit unseres Lebens – die in der Sphäre von wahr und unwahr spielt – nicht durch eine bloße Reflexion darüber ersetzen – die bestenfalls richtig sein kann –; die Praxis durch eine Theorie oder die Wirklichkeit durch eine Abstraktion. Derartige Substitutionen sind verführerisch, weil sie die prinzipiell unkontrollierbare Leibhaftigkeit des Lebens auf den Begriff bringen und damit partiell verfügbar machen.

Es ist völlig belanglos, ob zum Beispiel Christen bekennen äußern, Gott sei dreifaltig; das ist – wenn es hochkommt – vielleicht Reflexion, Theorie oder Gesagtes; kann aber auch bloßes, papageienhaftes Gerede darstellen.

Wichtig könnte höchstens sein, ob die Dreifaltigkeit Gottes in ihrem Leben zum Ausdruck kommt; wenn „ja“, wäre dies ein Bekenntnis.

Und sofort wird es spannend:

Wie müßte denn ein Leben aussehen, in dem die Dreifaltigkeit Gottes zum Ausdruck kommt?

Wie hängt sie überhaupt mit meinem Leben zusammen?

Wie läßt sich das verstehen, wenn wir Gott nicht verstehen können?

 

AD: „Demzufolge kann Glauben nicht darin bestehen, einfach die Existenz Gottes zu bejahen?“

Möglicherweise gab es Zeiten, in denen es selbstverständlich war, was der Name „Gott“ bedeutet; aber das ist bei uns gewiß nicht (mehr) der Fall. Hat Gott jedoch seine Offensichtlichkeit verloren, werden sowohl die Frage nach als auch das Bekenntnis zu seiner Existenz gegenstandslos; wir müßten erst einmal klären, wovon überhaupt die Rede sein soll.    

Selbst ein Schöpfer-Gott wäre auch teuflisch, gemein und hinterhältig möglich; er könnte zum Beispiel völlig sinnlos einen sehr schönen Baum in seinem Garten pflanzen und uns bei Strafe verbieten, davon zu essen.

Daß sich die Frage, zu welchem Gott wir „ja“ bzw. „nein“ sagen, nicht durch das Nennen eines Namens beantworten läßt – „JHWH“, „Baal“, „Allah“, „Re“ oder „Zeus“ beispielsweise –, versteht sich gewiß von selbst, denn Namen sagen nichts, das heißt, sie enthalten nichts Gesagtes und können damit weder richtig noch falsch sein.

Namen sind nur Schall und Rauch; sie gehören gar nicht zur Sprache, sondern entsprechen bloßen Signalen. Höre ich den Ruf „Johannes“, fühle ich mich angesprochen; aber sein Absender muß mit diesem Namen keinerlei Wissen oder Gesages verbinden können.

 

Wir müssen bezüglich Gott also mindestens drei Fragen unterscheiden:

1. Wer oder was ist der wahre Gott – sofern es ihn überhaupt gibt?

2. An welchen Gott glaube ich gegebenenfalls?

3. Wie wirkt sich dieser Glaube bzw. Nicht-Glaube auf mein Leben aus?

 

AD: „Jetzt verstehe ich auch, weshalb Sie oben so locker und – wie – selbstverständlich von Gott sprechen konnten:

Damit legen Sie nicht – in vorauseilendem ‚frommen Gehorsam‘ – bereits fest, daß es Gott gibt, sondern verbieten sich lediglich, etwas auszuschließen, von dem Sie gar nicht wissen, worum es sich handelt. Das ist dann keine unhinterfragte Vorentscheidung zugunsten des Glaubens, sondern gehört zu den notwendigen Voraussetzungen kritischen Denkens – wie sehr auch immer es dem Zeitgeist widersprechen mag.“

1.1. Kopernikanische Wende

Die Denkrichtung unserer Überlegungen können wir in einfachen Worten anhand von vier für die betreffenden Philosophen charakteristischen Fragen andeuten:

George Berkeley: „Verursacht ein fallender Baum Lärm, wenn es niemand hört?“

Martin Heidegger: „Waren die Gesetze Newtons schon vor Newton wahr?“

Thomas S. Kuhn: „Lebten Aristoteles und Galilei in derselben Welt?“

Max Black: „Existierte die Rückseite des Mondes, bevor wir sie gesehen haben?“

Wohl viele von uns dürften sich ob solch naiver Fragen fast beleidigt fühlen und sie natürlich alle mit einem glatten „ja“ beantworten.

Ich will Ihnen dagegen zeigen, daß manches für das ebenso eindeutige „nein“ der genannten Denker spricht, dem wir uns 100%-ig anschließen.

 

Mir ist bewußt, daß diese „Kopernikanische Wende“ (Kant) natürlich „keineswegs eine Empfehlung für mein Buch darstellt, sondern eher das Gegenteil. Denn Neues will weder der Fachmann noch der Laie. Jener ist froh, wenn er so weitermachen kann, wie er es gelernt hat, . . . und dieser will auch nicht eine neue und revolutionäre Philosophie vorgesetzt bekommen, sondern – wenn überhaupt eine Philosophie, dann schon – die richtige oder die Philosophie der Gegenwart.“ (Franz Rosenzweig)

Bei beiden Wünschen des Laien muß ich Sie allerdings enttäuschen:

Die richtige Philosophie kann es nicht geben, weil philosophische Fragen keine endgültigen Antworten kennen – genau das macht sie zu philosophischen Fragen: Was einmal definitiv beantwortet sein wird, war schon zuvor keine philosophische Frage.

„Die Meinung, die sich am Ziel glaubt, blockiert das Verstehen“ (Josef Simon) „und damit die zukünftige Wahrheit“, würde ich gerne ergänzen.

Und ob mein Denken gegenwärtig en vogue ist – der zweite Wunsch –, interessiert mich nicht. Ich möchte, soweit dies überhaupt möglich ist, jeglichen Zeitgeist hinter mir lassen; freilich denjenigen, der zur Zeit des Sokrates, Jesus, Thomas oder Newton herrschte, ebenso wie den heutigen.

 

Das Buch basiert auf der Annahme, daß ein Bewußtseinswandel hin zu den negativen Antworten auf die obigen Fragen bei hinreichend vielen Menschen gegenwärtig wichtiger wäre als alle pragmatischen Fortschritte, auf die wir in den letzten vier Jahrhunderten ebenso einseitig wie stolz gesetzt haben und in denen noch immer viele die Lösung unserer stetig zunehmenden Probleme sehen – anstatt ihrer Ursache.

Dieser moderne Irrglaube ist freilich nicht nur nachvollziehbar, sondern sogar nahezu zwingend, solange wir glauben, in den exakten Wissenschaften den Königsweg – vielleicht nicht nur zur Richtigkeit, sondern sogar – zur Wahrheit gefunden zu haben.

Die exakten Wissenschaften – für mich persönlich insbesondere die Theoretische Physik und Mathematik – sind großartig und eine unglaubliche Kulturleistung sowie ein Segen für uns alle. Aber zum einen haben sie nichts mit der Wahrheit zu tun, und zum anderen gibt es sehr viele bewundernswerte kulturelle Errungenschaften.

Die heute weit verbreitete Annahme, deren Krönung bestände in den exakten Wissenschaften, teile ich nicht. Das bezieht sich insbesondere auf den Reduktionismus, der davon ausgeht, daß sich nahezu alles – Leben, Bewußtsein, Kunst, Sprache, Religion usw. – auf Physik als die fundamentale Naturwissenschaft zurückführen lasse.

Bevor Sie mein Buch jetzt endgültig als „unwissenschaftlich“ beiseite legen, sollten Sie vielleicht einmal in „Geist und Kosmos“ von Thomas Nagel schauen. Obwohl dieses Buch den Untertitel trägt „Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist“, dürfte es kaum Kenner der Materie geben, die Nagel vorwerfen, er sei unwissenschaftlich. 

 

AD: „Das verstehe ich nicht; wenn die exakte Wissenschaft richtig ist, muß die Nicht-Wissenschaft als ihre Negation falsch sein.“

Nein; zum einen wissen wir noch gar nicht, ob die exakte Wissenschaft überhaupt richtig ist; erinnern Sie sich bitte an unser obiges Beispiel mit der Peanoschen sowie Booleschen Mathematik.

Und zum anderen ist Ihre Argmentation zu simpel gedacht. Wir werden ausführlich darauf zurückkommen, so daß ich Sie bitte vorerst mit einem Beispiel, das auf Ernst von Glasersfeld zurückgeht, abspeisen darf:

Um den vor ihm liegenden Wald zu duchqueren, tastet sich ein Blinder Schritt für Schritt mühsam vorwärts. Auf der Gegenseite angekommen hat er einen Weg gefunden, um sein Ziel zu erreichen. So, wie der Blinde gelaufen ist, geht es also – auch. Es paßte; aber nicht wie der Schlüssel zum Schloß, sondern wie einer von 1000 Dietrichen. Dieser Weg war möglich – 999 andere wären es freilich auch gewesen.

 

Ihr Fehlschluß besteht also in Folgendem:

Natürlich gilt „Wenn A richtig ist, muß non-A als seine Negation falsch sein“; aber um Logik geht es an dieser Stelle gar nicht:

Wenn A geeignet ist, um ein davon unabhängiges Ziel B zu erreichen, folgt daraus doch keineswegs, daß non-A dafür ungeeignet sein muß. Was hat ein von A unabhängiges B mit dem Negieren von A zu tun?

 

Verstehen Sie mein Nicht-Verabsolutieren der exakten Wissenschaften bitte nicht falsch; das ist keine Ungerechtigkeit; ich bin dankbar und froh, heute hier in Mitteleuropa zu leben, und genieße die abendländischen Errungenschaften der Moderne. Den meisten von uns geht es zum Glück besser als vielen mittelalterlichen Fürsten. Das betrifft nahezu alle Bereiche unseres Lebens; selbst die relative Anzahl der Menschen, die gewaltsam umkommen, nimmt – allem Augenschein zum Trotz – wohl stetig ab (Thomas Piketty). 

Das entspricht dem Wie unseres Lebens.

Ich habe in diesem letzten Satz ganz bewußt kein einschränkendes „aber“ bzw. “ jedoch nur“ eingefügt, weil derartige Ermahnungen meiner Überzeugung zutiefst widersprechen würden. Wir wollen und – dürfen nicht nur, sondern – sollen das Leben genießen. Der Sinn des Lebens besteht in seiner eigenen Fülle oder Tiefe; das Leben ist letzte Wirklichkeit, Selbstzweck und kein bloßes Mittel – wofür auch immer.

Es geht „nur“ um unser Leben – weil das unüberbietbar ist!

 

Das bezieht sich keineswegs allein auf ein „Jenseits“, sondern beginnt – wenn wir diesen unseligen Dualismus vorerst einmal beibehalten – im „Diesseits“; im Falschen des Lebens sollten wir uns um sein Wahres bemühen. Das „Diesseits“ ist weder Prüfungs- noch Bewährungsort und dürfte auch kein Jammertal sein, denn die Lust am Leben bildet nach meinem Dafürhalten das ent- und unterscheidend Christliche. Jesus wurde unter anderem bekanntlich vorgeworfen, er sei ein „Säufer und Fresser“.

Der katholische Dominikaner-Theologe Marie-Dominique Chenu sagte zu Maria Caterina Jacobelli, der Autorin von „Ostergelächter. Sexualität und Lust im Raum des Heiligen“:

„Sprechen Sie niemals von der Freude, Madame, sprechen Sie immer von der Lust, sonst wird man Sie spiritualistisch mißverstehen“ (wollen).

 

Trotz dieser positiven Wertung von Lust und Genuß ist das freilich – jetzt kommt das bereits befürchtete „aber nur“ also doch noch – lediglich die halbe Wahrheit, denn es gibt neben dem Wie des Lebens auch sein Warum, seinen Inhalt oder Sinn.

Viktor E. Frankl – der „dritte Wiener Psychotherapeut“ – faßte seine Lebenserfahrungen in dem Leitsatz der Logotherapie zusammen, daß „wer ein Warum zum Leben besitzt, nahezu jedes Wie erträgt“. Aus seinem Munde hat eine solche Überzeugung meines Erachtens Gewicht, denn Frankl überlebte Dachau sowie Auschwitz, wo sein Bruder, seine Frau und Eltern ermordet wurden.

Selbstverständlich können wir das Warum unseres Lebens – seine mögliche Tiefe also – völlig ignorieren und mit ungezügeltem Prassen, seichter Unterhaltung bzw. langweiligem Zeitvertreib oder Nicht-Denken in seinem Wie aufgehen.

Aber dieses Wie ist doch nichts anderes als der Status quo unseres Lebens auf dem Weg zu seiner Fülle, seinem Warum oder Telos; es ist also weder sekundär noch vermeidbar, sondern notwendig. Ein Warum des Lebens ohne Wie würde erfordern, daß ersteres einfach so vom Himmel fiele.   

 

Ich bleibe also – mit der Tradition – dabei, zwischen dem Wie und Warum des Lebens zu unterscheiden, weigere mich aber – entgegen der Tradition –, die beiden voneinander zu trennen oder gar gegeneinander auszuspielen:

Das Wie des Lebens ist – als der Status quo des letzteren – die notwendige Voraussetzung seines eigenen Warum, der Fülle des Lebens; ohne Wie kein Warum; ohne Status quo kein Telos.

In unserem Buch geht es also um beides; deswegen mein obiges Plädoyer für Lust und Genuß. Wer das Leben will oder wem es gar – Schiller zum Trotz – als „der Güter höchstes“ gilt, kann das Wie nur als den Übergang des Lebens zu seinem Warum verstehen.

 

AD: „‚Ein Warum des Lebens ohne Wie würde erfordern‘, haben Sie gerade gesagt, ‚daß ersteres einfach so vom Himmel fiele‘. Warum sollte das Telos dies nicht tun? Spricht irgendetwas dagegen?“

Traditionell spricht nichts dagegen; die Fülle des Lebens könnte von Anfang an bereits bestehen; wir könnten direkt in sie hineingeboren werden, so daß das unbefriedigend Wie oder der unglückliche Status quo des Lebens völlig entfallen. 

Daß es sich bei unserem Ansatz völlig anders verhält, kann ich Ihnen nur schrittweise im Verlaufe unserer gemeinsamen Überlegungen zeigen. Meine Begründung läuft darauf hinaus, daß wir die „Schöpfung durch das Wort“ ernstnehmen. Nicht weil sie biblisch ist, sondern weil ich philosophisch keine andere Möglichkeit sehe; Hans-Georg Gadamer hat diese Einsicht auf die Formel gebracht: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“.

 

Aber ein Stück weit verstehen können wir das Gemeinte bereits:

Jedes Baby liebevoller Eltern „lebt im Paradies“, freilich ohne es zu wissen. Was wir nicht wissen, existiert für uns aber gar nicht; es kann keine Wirklichkeit sein oder nicht unserem Leben angehören. Dann vermögen jedoch auch die Babys liebevoller Eltern nicht im Paradies zu leben.

Ebensowenig wie Adam und Eva; sie mußten erst vom Baum der Erkenntnis essen, um wissen zu können, wie gut es ihnen geht. Ich verstehe dieses Essen als Symbol für unser Leben; die Fülle des letzteren besteht in unserer Erkenntnis, daß wir immer schon im Paradies gelebt haben und nie vertrieben wurden.

Wir haben nur furchtbar lange gebraucht, um das einzusehen und wollten es nicht glauben. In dieser Situation galt es „natürlich“, die Verbesserung des Wie oder Status quo selbst in die Hand zu nehmen; die „Vertreibung“ war ein selbst gewähltes Verlassen des Paradieses.

 

Zahlreiche prominente Wissenschaftler deuten unser Zeitalter als das Anthropozän, weil erstmals auch wir Menschen über das Schicksal des Lebens auf der Erde (mit)bestimmen – nicht mehr Sonneneruptionen, tektonische Verschiebungen, Meteoriteneinschläge, Seebeben oder Vulkanausbrüche allein. Für Ernst Ulrich von Weizsäcker ist es „das Zeitalter, in dem der Mensch das gesamte Geschehen dominiert, bis hin zur bio-geochemischen Zusammensetzung der Erde“. Man muß weder Apokalyptiker oder Weltuntergangs-Prophet noch Verschwörungstheoretiker sein, um derartige Szenarien ernstnehmen zu können, sondern nur die täglichen Nachrichten verfolgen.

Gemessen an den Privilegien, die ich angesichts der bisherigen Menschheitsgeschichte genieße, indem ich hier und jetzt leben darf, tue ich nahezu nichts. Das Schreiben dieses Buches ist mein Versuch, mit oder trotz dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit leben zu können.

 

Obwohl ich seit bald 50 Jahren über seinen Inhalt nachdenke, gelingt mir leider immer noch keine leicht verständliche Darstellung, so daß Ihnen die vorliegende gewiß einige Mühe abverlangen wird. Dahinter steckt jedoch nicht die mitunter anzutreffende Wichtigtuerei, die eigenen Ausführungen unnötig verkomplizieren zu wollen.

Die Schwierigkeit besteht vielmehr darin, daß meine Gedanken zum einen recht ungewohnt sind und es zum anderen absolut keinen Sinn hätte, wenn Sie mir glauben würden. Das sollen und „dürfen“ Sie nicht; vielmehr müßten Sie sich bemühen,

– entweder möglichst jeden Schritt als folgerichtig zu erkennen und – wenn es sein muß auch zähneknirschend – mitzugehen

– oder ihn – mit guten Gründen – abzulehnen.

Ein „ja, aber . . .“ hilft beim Denken nicht weiter.

 

Um Ihnen das Lesen zu erleichtern, versuche ich, alle Gedankengänge möglichst vollständig wiederzugeben. Bei einem Geflecht von Überlegungen ergeben sich daraus zwangsläufig viele Überschneidungen, das heißt, redundante Wiederholungen. Die nehme ich bewußt inkauf, um Ihnen laufendes Grübeln oder Blättern zu ersparen; aber vielleicht sind Ihnen die Wiederholungen mitunter sogar ganz recht.

Hinter mir liegt ein Denkweg, für den ich, wie schon gesagt, Jahrzehnte benötigt habe. Wenn Sie immer noch ein Stückchen brauchen, um meine Überlegungen nachvollziehen zu können, ist das also nicht sonderlich schlimm, denn Sie haben trotzdem noch erheblich Zeit eingespart. Mein Buch kann in diessem Sinne als eine „Abkürzung“ verstanden werden, mit der ich dem einen oder anderen Leser erfreulicherweise bereits helfen konnte. 

 

Ich antworte Ihnen auf jede Kritik, die sich sachlich auf den Ansatz einläßt und meine darin enthaltenen Fehler, Lücken bzw. Unsauberkeiten im Auge hat. Daß man auch anders denken oder es ganz unterlassen kann, weiß ich bereits, und bloße Meinungen interessieren mich nicht – völlig unabhängig davon, wer sie äußert.

„Herr Müller sagt aber . . .“

Na und? Frau Meier meint auch etwas.

 

Winston Churchill schrieb: „Eine gute Rede soll das Thema erschöpfen, nicht die Zuhörer.“

Bezüglich des Themas habe ich kein ganz schlechtes Gefühl . . .

Den tapferen Lesern wünsche ich die Erfahrung, daß letztlich nur eigene Anstrengungen vor Langeweile bewahren, zur Sinnfindung in Julliens zweitem Leben beitragen und zu einer inneren Erfüllung führen oder glücklich machen können. Ich hoffe, daß Sie am Ende nicht das Gefühl haben, um Ihre Zeit betrogen worden zu sein.

Aber vielleicht ist es auch nur halb so schlimm, weil irgendwann der flow einsetzt, und dann wollen oder können Sie gar nicht mehr aufhören – so wie es auch mir erging.

1.2. "Methode"

Unsere „Methode“ ist so denkbar einfach, daß ich den Titel mit Anführungszeichen versehen mußte; eine (wirkliche) Methode ist etwas anderes, aber für unser Ziel (zum Glück) meines Erachtens auch gar nicht erforderlich.

Wir versuchen einfach, Kants „sapere aude“ zu befolgen: „Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen“ und dabei auch gegen scheinbare Selbstverständlichkeiten der Zeit anzudenken, wenn Du sie vor Deiner Vernunft nicht rechtfertigen kannst. Plappere nicht einfach leere Begriffshülsen nach, nur weil man – in Deiner Kommunität – so redet, sondern „versuche zu verstehen, was Du selbst sagst“.

In diesem Bemühen sah Georg Picht den Sinn des Philosophierens.

 

Ich glaube nicht an die eine objektive Vernunft, die der Tradition zufolge für alle Menschen die gleiche – und womöglich auch noch „die bestverteilte Sache der Welt“ (René Descartes) – ist.

Es gibt jedoch unsere subjektive Vernunft, die auf den eigenen Lebenserfahrungen beruht. Ein objektiverer oder „höherer“ – vielleicht gar absoluter – Maßstab ist uns nicht zugänglich, denn wir sind Menschen, die stets an ihr singuläres Hier und Jetzt gebunden bleiben – ohne Kontakt zu einem angeblichen „Weltgeist“ (Hegel) oder „transzendentalem Subjekt“ (Kant).

Dem widerspricht nicht, daß in allen Bereichen des Lebens „Wahrheitspraktiken“ (Michael Hampe) – ich würde gerne korrigieren: „Richtigkeitspraktiken“ – bestehen, die uns zumeist deutliche Kriterien dafür liefern, was wir in der betreffenden Sphäre als richtig anerkennen sollten. Das sind natürlich in der Pathologie ganz andere Praktiken als in der Ornithologie, der Physik und Religion, dem Sport, Alltagspragmatismus oder Sprachverständnis.

 

Sowohl vor als auch in der Moderne ging man zumeist davon aus, daß – im Sinne unseres Bildes mit dem Blinden – der eine richtige Weg durch den Wald existiert.

Bis zum Mittelalter kannten ihn zumeist nur die jeweiligen Autoritäten; sie galten als Garanten der Richtigkeit, so daß letztere diesen Autoritäten in einem profanen Sinne geglaubt werden mußte.

Die Aufklärung wandte sich mit Recht gegen ein solch naives Nicht-Denken und setzte auf die eine objektive Vernunft. Jeder gesunde Erwachsene sollte sich aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien und mittels der einheitlichen Vernunft selbst erkennen, verstehen sowie argumentieren.

Der aufklärerische Traum von einer entsprechenden fundamentalen Wahrheitstheorie erwies sich jedoch als überzogen und wird von der Postmoderne nicht mehr geteilt. Ihr zufolge gibt es 1000 mögliche Wege, Dietriche oder Richtigkeitspraktiken. Wer sie ausschlägt, stößt sich die Nase an den Bäumen wund und fällt hinter das Niveau der Aufklärung zurück.

 

Wir sind folglich nicht nur für das, was wir tun oder sagen, sondern auch für unser Denken, Glauben und Wissen selbst verantwortlich. Wer die Bestimmung hierüber anderen anvertraut, entmündigt sich an dieser Stelle selbst und scheidet damit als ernstzunehmender Gesprächspartner aus.

Reinhard Kreissl fragt in seinem Buchtitel spitz: „Wo lassen Sie denken?“

Ich wollte es vor der Wende nicht in Ost-Berlin oder Moskau, will es aber auch heute weder in Rom bzw. Riad noch im Silicon Valley.

 

Besonders bei denjenigen weltanschaulich-religiösen Fragen, die schwerlich durch Erfahrungen entschieden werden können, ist das eigene Denken überaus wichtig. Der Verzicht auf letzteres entspricht sonst dem Freifahrtschein, jede (widerspruchsfreie) willkürliche Aussage – und natürlich auch ihr glattes Gegenteil – behaupten zu können, weil eine Überprüfung ausgeschlossen ist.

Wegen eines solchen Fehlens der Falsifizierbarkeit wurden beispielsweise viele Schulen der Tiefenpsychologie von ihren Gegnern nicht als seriös oder gar wissenschaftlich anerkannt. Das gilt natürlich auch für jede „Theologie“, die sich auf fromme Formulierungen, blinden Glauben, bloße Textstellen oder andere unbegründbare Äußerungen beruft.   

 

Das Denken bedingt unter anderem, sich im Streitgespräch „dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Jürgen Habermas) zu beugen. Das bringt beide Seiten weiter; unabhängig davon, welcher von ihnen es entstammt. Der damit einhergehende Verzicht auf willkürlich-beliebige Meinungen bringt zugleich einen Gewinn an Freiheit mit sich, denn letztere besteht

– nicht im Umfang des wählbaren Angebots, sondern

– in der Möglichkeit einer gerechtfertigten, weil wohlüberlegten Wahl. 

Freiheit bedeutet, argumentativ sauber – nicht kausal verursacht – entscheiden zu können, und unsere Fähigkeit dazu ist die Vernunft. Sie führt zu einem „Müssen“; „ich ‚muß‘ das jetzt zugeben, sagen, tun oder überdenken.“

Friedrich Nietzsche konnte deswegen formulieren „Ich habe nie eine Wahl gehabt“ und meinte damit, daß stets zwingende Gründe für seine Freiheitsentscheidungen vorlagen. Begründung und Entscheidung bilden die beiden notwendigen Seiten der Freiheit, von denen es die eine niemals ohne die andere gibt, so daß jegliche „freie Wahl“ entfällt.

Wählen können wir zwischen Schoko- und Himbeereis oder Lamm- und Rindfleisch; aber zumindest letzteres tun vielleicht auch die Katzen.

 

Da wir über keinen höheren Maßstab als unsere subjektive Vernunft verfügen, kann es mir auch nicht um eine angeblich aus uns selbst kommende Autonomie gehen. Wir stehen – nur optisch, aber – nicht wirklich auf eigenen Beinen; mit der gleichen Überzeugung wie oben setze ich Kants Zitat also fort:

Ignorare aude; habe zugleich auch den Mut, Deine Verwundbarkeit, Endlichkeit, Kontingenz, Grenzen usw. anzuerkennen. Du hast Dich nicht selbst hervorgebracht, bleibst damit abhängig, und die Wirklichkeit geht nicht nur über Dich hinaus, sondern ist letztlich auch unverfügbar. Deine Selbstbestimmung bedeutet damit keine Autonomie, sondern besteht lediglich in geschenkter Freiheit.

 

Wir bestimmen uns selbst in Freiheit zu dem, der wir dann sein werden; nur so ist ein – mit sich selbst übereinstimmendes, das heißt – kongruentes Selbst möglich. Kein Gott kann das schaffen; das können wir nur selbst – aber eben nicht autonom, aus eigener Kraft oder aus uns selbst heraus, sondern allein, weil uns die Freiheit zur Selbstbestimmung ermöglicht wird.

Diese Ermöglichung der Freiheit entspricht meines Erachtens der Schöpfung, die traditionell zumeist als ein Machen oder Herstellen von Seienden – insbesondere von uns Subjekten – mißverstanden wird.

Wir können nur mit dem kongruent sein, wozu wir uns selbst bestimmt haben. Ein von Gott geschaffenes „Selbst“ wäre als ein fremdbestimmtes „Selbst“ kein Selbst; es müßte etwas sein, was es vielleicht gar nicht sein will und wozu es sich niemals bestimmt hätte; dann ist dieses „Selbst“ jedoch nicht mit sich kongruent.

 

Beide Aussagen zusammengenommen – Kants Zitat und seine Fortsetzung durch uns – bedeuten, daß uns eine Freiheit auszeichnet, die wir einem oder einer Ganz-Anderen verdanken.

Viele „Atheisten“ lehnen dieses Ganz-Andere aus gut nachvollziehbaren Gründen ab, weil sie eine hinterwäldlerische Vorstellung davon haben, zu der ich ebenfalls nur „nein“ sagen könnte.

Viele „Rechtgläubige“ wissen dagegen nicht nur genau, daß das Andere existiert, sondern kennen es auch sehr gut und können uns viel darüber erzählen; zum Beispiel, daß es „der Andere“ heißen muß. Völlig unabhängig von den konkreten Inhalten glaube ich das jedoch ebenfalls nicht; es gibt kein Wissen von dem oder der Anderen.

Wir bemühen uns um einen Mittelweg zwischen Skylla und Charybdis, der aus dem Willen resultiert, das Ganz-Andere zugleich

– sowohl in seiner unbedingten Notwendigkeit

– wie auch als absolutes Geheimnis

deutlich werden zu lassen.

 

Nichtsdestotrotz ist dieses Buch ein rein philosophisches – auch wenn Gott darin eine wesentliche Rolle zukommt. Er ist freilich nicht der traditionelle (Lückenbüßer-)Gott, mit dem wir aufgrund seiner Allmacht sämtliche „Probleme lösen“ und „Fragen beantworten“ können. Mit einem Allmächtigen dieser Art läßt sich denkerisch natürlich gar nichts anfangen:

„Kann Gott einen runden Würfel herstellen?“

„Natürlich; was fragst Du überhaupt? Er kann doch alles; daß wir nicht verstehen, wie er das in seiner unendlichen Weisheit macht, liegt an unserer Endlichkeit, in der wir die großartigen Handlungen Gottes niemals erfassen werden. Das betrifft insbesondere auch sein Dulden des Leids in der Welt, die Theodizee-Frage oder den ‚Fels des Atheismus‘ (Georg Büchner). Wir werden in der Ewigkeit (hoffentlich) einmal sehen, daß Gott alles herrlich für uns gefügt und wahrscheinlich sogar ‚die beste aller möglichen Welten‘ (Lebniz) geschaffen hat.“

Ein runder Würfel ist logisch widersprüchlich und damit ein Unding, das natürlich auch Gott nicht zu schaffen vermag. Damit haben jedoch nicht seine Allmacht widerlegt, sondern lediglich den Bereich vernünftigen Denkens begrenzt.

Aber beispielsweise erscheint mir die Frage bedenkenswert, ob Gott, der nach christlichem Verständnis selbst die Liebe ist, auch hassen kann oder trotz seiner Allmacht lieben muß? Gilt letzteres, dürfte es meines Erachtens definitiv keine Hölle geben.

 

Natürlich kann uns die subjektive Vernunft nahelegen, bei speziellen Fragen bestimmte Autoritäten anzuerkennen, weil diese ihre Kompetenz auf dem betreffenden Gebiet – wie wir meinen – deutlich nachgewiesen haben. Aber weder kann eine Autorität diesen Anspruch von sich aus erheben oder blindlings unser Vertrauen einfordern, noch delegieren wir damit unsere Verantwortung an sie; es war doch gegebenenfalls unsere Entscheidung, die jeweilige Autorität für uns denken, glauben oder wissen zu lassen.

Diese unübertragbare Verantwortung bildet gemeinsam mit der subjektiven Vernunft meines Erachtens den Kern der Menschenwürde; letztere entspricht einer Medaille mit jenen beiden als ihren zwei Seiten. Sprechen wir einem Menschen – durch Indoktrination – seine Verantwortung oder subjektive Vernunft ab, so berauben wir ihn seiner Würde und machen ihn zu einer Marionette an den Fäden unserer Macht.

 

„Niemand hat das Recht zu gehorchen“ (Hanna Arendt) und sich damit hinter anderen zu verstecken. Es gibt nach der Aufklärung – über die „Aufklärung“ – keine Ausrede mehr. Jean-Paul Sartre mag damit Unrecht haben, daß wir „zur Freiheit verdammt“ seien; aber richtig bleibt hieran, daß auch das „Nicht-Entscheiden-Wollen“ – demzufolge andere für uns denken, glauben oder wissen – ein freies Entscheiden darstellt, für das wir selbst verantwortlich sind.

Die meisten von uns würden bei größeren Geldgeschäften keinem Fremden blind vertrauen, sondern versuchen, sich möglichst selbst kundig zu machen. Ich schließe mich dem 100%-ig an – und ergänze lediglich, daß mir grundlegende existenzielle, religiöse oder weltanschauliche Fragen wichtiger sind als finanzielle.  

 

Schlußendlich nimmt meine „Methode“ die Selbstverständlichkeit ernst, daß wir über Dinge, die uns prinzipiell unzugänglich sind, auch weder sinnvoll nachdenken noch sprechen können. Natürlich läßt sich alles Mögliche vorstellen bzw. behaupten; aber Meinungen bezüglich eines Bereichs, der uns grundsätzlich verborgen bleibt, erweisen sich als unkontrollierbar und damit als willkürlich oder beliebig.

Das bedeutet freilich nicht, daß ein derartiges Gedöns belanglos sei oder keine Konsequenzen hätte. Wäre dem so, könnten wir es generös auf sich beruhen lassen; aber alle politischen, religiösen, wirtschaftlichen oder sonstigen Diktaturen zeigen, daß zwischen diesem und jenem Blablabla ein himmelweiter Unterschied bestehen kann

 

Mit dem für uns Unerreichbaren meine ich natürlich keine Tabus, Denkverbote oder von irgendwelchen „Experten“ zu Geheimnissen erklärte Bereiche. Soetwas gibt es für mündige Menschen meines Erachtens nicht; nur Scharlatane, Lügner, Karrieristen oder Despoten benötigen dergleichen.

Damit entzaubere ich die Wirklichkeit nicht; ganz im Gegenteil; sie ist ambig und voller Geheimnisse. Aber worin diese bestehen, vermag uns niemand zu sagen, sondern das können wir nur selbst erfahren, indem wir uns ernstlich um die Aufhellung der Geheimnisse bemühen.

Tun wir das nicht, liegen auch keine Geheimnisse vor, sondern an deren Stelle treten bloße Worte; „Gott“, „Transzendenz“, „Dreifaltigkeit“, „Subjekt“, „Leben“, „Tod“ und „Teufel“ oder „das Böse“ beispielsweise. Wer sagt, sie würden Geheimnisse bezeichnen, mag für sich persönlich Recht haben, kann dies aber nicht wie selbstverständlich auf andere übertragen:

Ein objektives Geheimnis ist ein Widerspruch in sich, denn was mich gar nicht interessiert, ist mir kein Geheimnis, sondern Peanuts. Die einzige Wirklichkeit, die es für uns gibt, hatten wir oben gesagt, besteht im eigenen Leben.

Die Existenz einer so oder so geformten objektiven Wirklichkeit außerhalb meiner Psyche läßt sich dagegen nur behaupten, so daß wir sämtliche Konsequenzen, die sich aus ihr ergeben, ignorieren können. Der eine behauptet dieses, und der andere jenes; beides braucht uns nicht zu interessieren.

 

Geheimnisse unterscheiden sich gewaltig sowohl von Rätseln als auch von Geheimlehren.

Letztere bilden Märchen für Erwachsene; versuchen wir ihnen auf die Spur zu kommen, verflüchtigen sie sich zumeist sehr schnell und wir schämen uns vielleicht der Aufmerksamkeit, die wir dem Unsinn zunächst geschenkt hatten.

Geheimnisse sind dagegen umso größer, phantastischer, umwerfender – eben geheimnisvoller –, je intensiver wir uns mit ihnen beschäftigen; sie werden niemals gelöst, und das unterscheidet sie von bloßen Rätseln.

Die exakten Wissenschaften lösen lediglich Rätsel, kennen aber keine Geheimnisse, denn sie – sowohl die Wissenschaften als auch die Rätsel – sind nur (von uns) konstruiert.

 

Geheimnisse gehören jedoch zur Wirklichkeit und sind keine bloßen Konstruktionen. Insbesondere das Leben stellt für mich persönlich ein Geheimnis dar, so daß ich unter anderem die Biologie und Medizin nicht als Wissenschaften vom Leben betrachten kann. Wer es tut, verwechselt meines Erachtens die Leibhaftigkeit des Lebens mit bloßen Modellen oder die wirklichen Geheimnisse mit konstruierten Rätseln.

Die Hüter von ersteren müssen keine Angst um ihren Schatz haben; je offener sie ihn präsentieren, desto mehr werden sie ihrer Aufgabe gerecht, das Geheimnis als solches zu (be)wahren und weder zu einem leeren Wort noch zur Geheimniskrämerei verkommen zu lassen.

Geheimnisse verteidigen sich selbst gegen ihre „Entzauberung“ (Max Weber), weil sie bei jedem ernsthaften Versuch, sie aufzudecken, tiefer werden. 

 

AD: „Also bestreiten Sie, daß wir in den letzten 300 Jahren – oder vielleicht auch schon viel länger – die Wirklichkeit entzaubert haben?“

Ja; das tue ich!

Wir haben die Wirklichkeit bzw. das Leben nicht entzaubert – was uns auch gar nicht möglich wäre, da sie unverfügbar sind –, sondern vergessen, ignoriert und teilweise sogar bestritten. Das wahre Leben oder seine Fülle interessieren weitestgehend nicht mehr; statt danach zu fragen, uns danach zu sehnen und darum zu bemühen, perfektionieren wir selbstzufrieden den Status quo zum komfortablen Luxus im falschen Leben.   

 

AD: „Selbst wenn alles, was Sie in diesem Kapitel gesagt haben, richtig wäre, fürchte ich, daß einige Leser mit Ihrer „Methode“ unzufrieden sind. Es gibt doch beispielsweise ganz verschiedene Denkrichtungen innerhalb der Philosophie; sollten Sie Ihre – wirkliche – Methode darin nicht ein wenig einordnen?“

Ich glaube nicht; eher hätten wir auf die gesamte Methodendiskussion verzichten können, denn sie übersieht, daß das Erkennen des Erkennens auch bereits Erkennen – und damit Philosophie – ist. Friedrich Nietzsche verspottete die Denker, die das übersehen, indem er sie mit Menschen vergleicht, die ein Streichholz prüfen wollen, bevor sie es benutzen:

„Es ist das Streichholz, das sich selber prüfen will, ob es brennen wird.“

Ohne Bild gesprochen:

Von den Begriffen können wir uns nicht befreien; sie lassen sich nicht zum Gegenstand einer Betrachtung machen, ohne sie dafür im gleichen Moment in Anspruch zu nehmen, so daß in der Philosophie Inhalt und Methode zusammenfallen.

Sie können also, mit anderen Worten, auch das gesamte Buch als eine Methodendiskussion verstehen.

 

AD: „Das leuchtet mir ein; aber darf ich bitte noch einmal zurückgreifen:

Mir ist noch nicht klar geworden, was es bedeutet, daß Ihr Buch, obwohl Gott darin eine große Rolle spielt, rein philosophisch sein soll, wie sie oben gesagt hatten.“

Daß (angebliche) Offenbarungen darin keine Rolle spielen.

Ich sage also nur das von Gott, was sich durch unser Denken, das heißt, ohne alle Glaubensbekenntnisse im engeren Sinne, begründen läßt. Der Versuch, Offenbarungen logisch herleiten zu wollen, ist selbstwidersprüchlich, denn wenn er gelänge, handelte es sich eben deswegen gerade nicht um eine offenbarte, sondern um eine vernünftige Erkenntnis.

 

Zum Beispiel können wir es – nahezu der gesamten christlichen Tradition zum Trotz – logisch ausschließen, daß Gott sowohl allmächtig wie auch allwissend ist.

Vermag er jederzeit zu tun, was er will, kann Gott nicht schon im Voraus wissen, was geschehen wird; er disponiert ja vielleicht noch um.

Weiß Gott dagegen, was kommen wird, muß er es dabei belassen und kann nichts mehr verändern.

AD: „Das überzeugt mich nicht; Gott weiß doch auch schon immer, wann und wie er eingreift.“

Dann muß er sich als Allwissender aber auch an dieses Wissen halten – und ist folglich nicht allmächtig.

Für mich ergibt sich Gott allein aus dem Bemühen, stringent zu denken, das heißt, möglichst

– nichts zu sagen, was ich selbst nicht verstehe, und

– keine logischen Fehler zu begehen.

Der hieraus resultierende denk-notwendige – und wenn Sie wollen: postmoderne – Gott unterscheidet sich dann erheblich von dem traditionellen.

 

AD: „Nein; so geht das nicht. Es gibt weder einen traditionellen noch einen postmodernen Gott, sondern – wenn überhaupt einen, dann  – nur den wirklichen oder richtigen; allein von ihm können wir sinnvoll sprechen.“

Ich fürchte, das ist zu simpel gedacht: Der Gott, den Sie als den gegebenenfalls wirklichen oder richtigen bezeichnen, ist bei mir exakt derjenige der Tradition.

Letztere erhebt den Anspruch, „natürlich“ vom einzigen wahren Gott zu sprechen.

Ihm stehen traditionell zahllose falsche Götter gegenüber. Zu ihnen zählen jedoch nicht nur die offiziellen wie beispielsweise Baal, Wotan oder Hermes, sondern auch sämtliche Bilder oder begrifflichen Konstruktionen, die sich Subjekte von Gott machen.    

Hierzu gehört auch mein postmoderner Gott.

 

Aber das ist nur die halbe Geschichte; ihr zweiter Teil ist noch wichtiger:

Der traditionell denkende Christ hat ein bestimmtes Bild von der Wirklichkeit, und zu dieser gehört für ihn auch Gott. Erzählt uns der Gläubige von ihm, so erfahren wir bruchstückhafte Teile oder Vorstellungen seines zugrundeliegenden Wirklichkeits-Bilds.

Ich fasse in letzterem das Welt- und Gottesbild zusammen:

Wirklichkeits-Bild   =   { Weltbild + Gottesbild }

(Die geschwungenen Klammern bedeuten im weiteren stets die Einheit dessen, was zwischen ihnen steht.)

 

Wortwörtlich das Gleiche gilt aber auch bei einem postmodernen Christen.

Was unterscheidet die zwei – abgesehen von den differenten Wirklichkeits-Bildern – eigentlich voneinander? 

Der Grad an Bescheidenheit bzw. ihres Sein-Wollens-wie-Gott!

 

Beide denken oder sagen, was sie aufgrund ihres Wirklichkeits-Bilds von Gott wissen; das ist alternativlos, denn niemand kann, ohne zu lügen, etwas anderes vorbringen als Ausschnitte seines Wirklichkeits-Bilds.

Der traditionell Denkende ergänzt seine Schilderung dann lediglich noch – vielleicht nicht ex-, mit Sicherheit aber implizit – durch den mehr als unbescheidenen Zusatz, mit ihr den einen wirklichen oder richtigen Gott zu beschreiben; . . .

. . . und dem Postmodernen bleibt der Mund offen: „Woher weiß der das?“   

„Ich“, ergänzt er vielleicht kleinlaut, „spreche nur von dem, was mir tatsächlich gegeben ist; das sind meine Wissungen – in diesem Fall die Gottes-Vorstellungen meines Wirklichkeits-Bilds. Aber ob die im traditionellen Sinne stimmen, kann ich prinzipiell nicht wissen, denn ihr (eventuelles) Wovon ist mir nicht gegeben.“

 

Wir müssen die Wissungen also deutlich von ihren – nur möglicherweise existierenden – Referenten unterscheiden.

Erstere stehen nur für sich und sind in diesem Sinne rein oder beziehungslos; uns ist zum Beispiel recht klar, was Marsmenschen, der größte Primzahlzwilling (3/5, 5/7, 11/13, 17/19, 29/31, 41/43 . . .?) oder Higgs-Teilchen sind; einfacher formuliert: was die entsprechenden Worte bedeuten.

Bei vielen Wissungen drängt sich freilich die Frage auf, ob ihnen in der Wirklichkeit etwas entspricht, worauf sie sich beziehen. Gibt es Marsmenschen, einen größten Primzahlzwilling bzw. Higgs-Teilchen – also die Referenten – überhaupt?

Derartige Fragen können wir natürlich nur stellen, wenn uns die Wissungen selbst vorliegen oder gegeben sind. Deswegen bilden

die Wissungen postmodern das Primäre, und

– ihre möglichen sekundären Referenten sind akzeptierte, anerkannte oder als vorhanden geglaubte Wissungen.

 

Die Tradition sieht das natürlich anders, weil sie überzeugt ist, bei – den prinzipiell unerreichbaren Bestandteilen – der objektiven Wirklichkeit beginnen zu können und wohl auch zu müssen. Davon wissen wir, so daß die Referenten

– primär sind und

– das Wovon der sekundären Wissungen bilden.  

 

AD: „Ich verstehe; der Eiffelturm beispielsweise ist eine reine Wissung von uns; sie besitzt zwar stets ein und denselben Referenten, der sich in Paris befindet, aber Referent ist nicht gleich Referent:

Traditionell ist er das Wovon der Wissung, und postmodern die geglaubte  Wissung.

  Nun wird mir allmählich auch das Gadamer-Zitat ‚Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache‘ verständlich, das Sie oben erwähnt hatten: 

Erst und nur wenn ich über die Wissung namens „A“ verfüge, kann ich fragen, ob A-s existieren, und dies gegebenenfalls auch zum Referenten A bejahen.

Dann gibt es ohne alles Wissen also keine A-s, B-s, C-s . . . – und damit gar nichts.“

 

Sehr schön! „Irgendetwas kann ja trotzdem existieren“ führt uns nicht weiter, denn ohne Wissen ist auch „irgendetwas“ nur ein bedeutungsloses oder sinnleeres Geräusch bzw. Gekritzel.

Somit kann es auch höchstens den Gott geben, den wir wissen, weil er unserem Wirklichkeits-Bild angehört; christlich kann das zum Beispiel der traditionelle oder der postmoderne sein.

AD: „Aber wir können doch die Exisenz Gottes nicht von unserem Wirklichkeits-Bild abhängig machen!“

Doch; das können wir nicht nur, sondern müssen wir meines Erachtens sogar:

 

Es gibt mich nicht ohne Gott, weil er der Schöpfer ist.

Das ist ganz traditionell formuliert; ich schließe mich dem an und würde lediglich „Schöpfer“ mit Anführungszeichen versehen wollen, weil noch völlig offen ist, worin seine „Schöpfung“ postmodern bestehen könnte.

Aber nahezu ebenso sicher bin ich mir auch der Umkehrung dieses Satzes:

Es gibt Gott nicht ohne mich, weil ich

– ihn – im Rahmen meines Wirklichkeits-Bilds – wissen und

– zu dieser Wissung „ja“ sagen müßte,

– denn ein anderer Gott kann für mich gar nicht existieren.

 

(Ich wechsle mitunter zur ersten Person Singular, ohne nochmals darauf hinzuweisen. Darin kommt keine Egomanie zum Ausdruck, sondern mein Bemühen, mich möglichst verständlich und eindeutig auszudrücken, was mitunter in der Ich-Form besser gelingt.

Sie müßten die entsprechenden Sätze für sich selbst lediglich wörtlich aussprechen.)

 

Traditionell Denkenden wird das als absurd erscheinen, weil sie von dem einen objektiven, wirklichen oder richtigen Schöpfer-Gott ausgehen.

Wenn Gott die Liebe ist, vermag er möglicherweise nur zu lieben und nicht zu hassen.

Seine Schöpfung – so ganz pauschal – kann er jedoch unmöglich lieben, denn zu ihr gehören auch Auschwitz und Hiroshima, Naturkatastrophen, Hunger und Elend, Mord und Totschlag; der Gedanke, daß Gott dies liebt, erscheint mir als absurd.

Aber ich gehöre auch selbst zu dieser traditionell verstandenen, nicht liebbaren Schöpfung . . .

Will ich als Christ glauben, von Gott geliebt zu werden,

– darf ich ihn somit nicht als den Gott der Schöpfung, sondern

– muß ich ihn als meinen ganz persönlichen oder subjektiven Gott und „Schöpfer“ verstehen:

 

Er liebt unmittelbar mich – und nicht seine Schöpfung, der ich ebenso glücklicher- wie zufälligerweise angehöre.

Und daß es diesen Gott nicht ohne mich geben kann, scheint mir kaum absurd, sondern sogar recht zwingend zu sein.

1.3. Igel und Fuchs

Von Archilolos ist das Fragment „Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel kennt eine große Sache“ überliefert.

Ich behaupte keineswegs, ein Igel zu sein, aber es ist letztlich eine einzige Idee, die mich seit fast 50 Jahren umtreibt. Provoziert wurde sie nicht zuletzt durch meine berufliche Arbeit an Grundfragen der Quantentheorie, und das vor Ihnen liegende Buch stellt im Kern den Status quo dar, den die (nicht-physikalische) Entfaltung dieser Idee bisher angenommen hat.

 

Wer sich intensiv mit der Quantentheorie beschäftigt, wird meines Erachtens vor die Alternative gestellt, ob er weiterhin an die Existenz einer objektiven Welt glaubt oder die millionenfachen phantastischen experimentellen Bestätigungen der Quantentheorie ernstnimmt. Beides zusammen scheint nicht möglich zu sein; entweder objektive Welt oder Quantentheorie.

(Wenn Sie sich selbst ein Bild davon machen wollen, ob ich das richtig sehe, wären vielleicht die Bücher von Anton Zeilinger sehr empfehlenswert. Insbesondere „Einsteins Spuk“ und „Einsteins Schleier“ schrieb er für Laien. Zeilinger bekam 2022 immerhin den Physik-Nobelpreis; ich empfehle Ihnen also keinen Autor, den Sie als „Bruder im Geiste“, der mit mir gemeinsam spinnt, leicht abtun können.)

 

Albert Einstein hatte sich bekanntlich dafür entschieden, den traditionellen Glauben an die objektive Realität beizubehalten, und leider bis zu seinem Lebensende versucht, Fehler oder widersprüchliche bzw. absurde Konsequenzen der Quantentheorie aufzuspüren.

Ich habe mich als Student auf die Gegenseite geschlagen und gedacht:

Unsere Physik ist die grundlegende Naturwissenschaft, die in der Moderne mit dem Ziel antrat, die objektive Realität der Welt zu erkennen. Wenn selbst sie zu dem Ergebnis kommt, daß keinerlei Objektivität existiert, dann gibt es in den anderen wissenschaftlichen Disziplinen oder sonstigen Sphären unseres Lebens erst recht keine.

 

Wieso sind sich die meisten von uns mit Einstein der objektiven Welt so sicher?

Weil wir überzeugt sind, problemlos über das Außerhalb unserer Psyche – wo sich die objektive Welt ja befinden müßte – nachdenken und sprechen zu können.

 

Damit sind wir bereits bei meiner Grundidee; sie ist nicht sonderlich schlau, pfiffig, spitzfindig oder ausgefallen, sondern ich empfinde sie eher als selbstverständlich:

„Außerhalb meiner Psyche“ bedeutet, daß mir dieser Bereich nicht zugänglich oder gegeben ist.

Dann vermag ich jedoch absolut nicht(s) davon zu wissen und kann folglich auch keinen einzigen sinnvollen Gedanken darüber denken oder Satz dazu sagen. Sämtliche diesbezüglichen Annahmen sind willkürlich oder beliebig – weil nicht kontrollierbar –, könnten ebenso völlig widerspruchsfrei durch ihr Gegenteil ersetzt werden und entsprechen somit einem bloßen, sinnleeren Blablabla.

 

Positiv formuliert lautet meine Grundidee also:

Alles sinnvoll Gedachte, Vorgestellte, Erlebte, Geglaubte oder Gesagte gehört notwendigerweise der eigenen Psyche an. Wer von ihrem Außerhalb zu handeln meint, gibt lediglich seine Vorstellungen von diesem Außen wieder, und auch die müssen sich natürlich innerhalb der eigenen Psyche befinden.

„Außen ist die Materie“ stellt also lediglich die – innerhalb seiner Psyche befindliche – Vorstellung oder Überzeugung eines naiven Physik-Gläubigen dar; wissen kann das natürlich niemand – selbst wenn es so wäre.

Moritz behauptet dagegen, außerhalb seiner Psyche lebe der grasgrüne Steinbeißer. Natürlich ist das Quatsch; deswegen hat Moritz auch weniger Fans als unser Physik-Gläubiger. Aber seine Überzeugung ist keinen Deut intelligenter, aufgeklärter oder vernünftiger, denn wenn wir Moritz‘ grasgrünen Steinbeißer gegen die Materie der Physiker austauschen, ändert sich absolut nichts – außer den Glaubensbekenntnissen innerhalb der Psychen.

 

Natürlich kann sich der Inhalt unserer Psyche vergrößern; dann sprechen wir von einer umfangreicheren Psyche. Aber die Annahme, daß sich dieser Zuwachs zuvor Außerhalb von ihr befunden haben muß,

– gehört selbst zum prinzipiell Unwißbaren und

– ist auch keineswegs logisch zwingend.

AD: „Doch; das ist sie!

Wenn ich jetzt etwas weiß, was mir gestern noch unbekannt war, muß es notwendigerweise in den letzten 24 Stunden vom Außen meiner Psyche in sie hineingekommen sein.“ 

 

Nein; das kann schwerlich stimmen.

Beethoven hatte irgendwann die großartige Intuition, die zu seiner „Ode an die Freude“ führte. Ist sie in den Tagen zuvor von außen in seine Psyche eingedrungen? Wenn „ja“ – was bedeutet dann „außen“? Wo befand sich die Ode zuvor? Im Musik-Himmel?

Newton griff eines Tages den Gedanken auf, Massen würden sich gegenseitig anziehen. Das war und bleibt eine geniale Idee, auch wenn sich heute praktisch alle Physiker einig sind, daß es keine drartige Gravitationskraft gibt, so daß Newton seinen Gedanken unmöglich der Natur abgelauscht haben kann – wie  er wohl selbst glaubte.

Die Massenanziehung existierte nicht bereits außen, so daß Newton sie erkennen, das heißt, irgendwie von außen nach innen transportieren konnte. Er hat diese Idee vielmehr in seiner Psyche erzeugt, generiert oder konstruiert.

Wie anders hätten auch die Imaginationen der Märchenfiguren, Romanhelden, Götter oder Unterwelten entstehen sollen? Sie wurden alle in geeigneten Psychen geboren. Psychen sind kreativ; sie haben es nicht nötig, ihre Produkte einem angeblichen Außen abzuschauen.

 

Das wäre meine erste Entgegnung auf Ihren Einwand, neues Wissen könne nur durch den Übergang von außen nach innen entstehen; eine zweite dürfte jedoch ebenso wichtig sein: 

Sie stellen sich die Psyche wahrscheinlich ganz traditionell als in Ihrem Körper befindlich vor. Er ist außen oder im Raum; deswegen können wir ihn zum Beispiel sehen; die zugehörige Psyche jedoch nicht, weil sie per definitionem innen bzw. nicht im Raum ist.

Aber diese Überlegung ist falsch, denn nur von räumlichen oder ausgedehnten Dingen können wir sinnvoll sagen, sie befänden sich innen; der Kern in der Kirsche, der Käfer in der Schachtel oder das Gehirn im Kopf. Beide Bestandteile eines solchen Ineinanders müssen räumlich sein; das Innere ist natürlich kleiner – aber nicht unräumlich.

Die Psyche befindet sich dagegen nicht im Raum; dann kann sie aber auch nicht innen und der Körper nicht relativ dazu außen sein; ein „unräumliches Innen im räumlichen Außen“ ist widersprüchlich.

 

Obwohl mir das alles als sehr zwingend erscheint, sehen es viele Menschen offensichtlich ganz anders. Sie

– haben sehr bestimmte Vorstellungen vom Außerhalb ihrer Psyche,

– sind von deren Richtigkeit felsenfest überzeugt und

– möglicherweise sogar bereit, Andersdenkende für deren widersprechende Annahmen zu töten; Inquisition, real existierender Sozialismus, Islamischer Staat . . . 

Die abstrusesten Bekenntnisse können also, wenn sie fanatisch als „wahr“ geglaubt werden, sowohl bei den „Gläubigen“ als auch bei den „Ungläubigen“ (über) das Leben entscheiden. Viele Menschen sind leider überzeugt, das eine richtige Blablaba von jedem falschen unterscheiden zu können. Hierbei ist es natürlich völlig belanglos, ob es sich dabei um religiöse, wissenschaftliche, politische, esoterische, verschwörungstheoretische oder sonstige Willkürlichkeiten handelt.

 

Das muß man sich einmal ernsthaft durch den Kopf gehen lassen – 300 Jahre nach der „Aufklärung“:

Eine willkürlich-leere Annahme, die bzw. deren Richtigkeit durch absolut nichts zu rechtfertigen ist und völlig widerspruchsfrei durch ihr glattes Gegenteil ersetzt werden könnte, kann weitreichende bis verheerende Folgen nach sich ziehen, wenn sie fanatisch geglaubt wird!

Was wir vom Außerhalb unserer Psyche denken, kann zwar keinen nachweisbaren Anspruch auf seine Richtigkeit erheben, sich aber nichtsdestotrotz ganz massiv auf ihr Innerhalb, das heißt, auf unser Leben auswirken.

Wer annimmt, außerhalb seiner Psyche befinde sich ein Schwarzes Loch, daß uns am 29. Februar 2028 alle verschlingen wird, lebt höchstwahrscheinlich anders als „Ungläubige“.

 

AD: „Natürlich; aus tiefster Überzeugung tut er das – und seiner Überzeugung zufolge auch vollkommen zu Recht. Damit habe ich auch keinerlei Schwierigkeiten, denn das ist unser aller Situation, in der wir uns ständig befinden. Problematisch wird dieses selbstverständliche Verhalten aber doch erst, wenn der Gläubige seine subjektive Überzeugung für allgemeinverbindlich erklärt, so daß ich in seinen Augen dumm, böse, ungläubig oder stur sein muß, wenn ich ihm nicht nachfolge.  

Diese Schwierigkeit lösen Sie mit einem Handstreich, indem jegliches Außerhalb der Psyche und damit sämtliche Objektivität entfällt. Mit der fehlenden Natur würden unter anderem auch gleich noch unsere ökologischen Probleme hinfällig. Das klingt genial, setzt aber entweder bei mir den Glauben an Zauberei oder bei Ihnen einen Denkfehler voraus, denn daß alles so einfach gehen soll, glauben Sie ja wahrscheinlich selbst nicht.“

 

Ich nehme den Denkfehler als Lösungsvorschlag, suche ihn jedoch nicht bei mir, sondern bei der Tradition, weil sie unser ökologisches Fehlverhalten fälschlicherweise als ein Vergehen an der Natur interpretiert. Daß letztere postmodern entfällt, bedeutet nicht, daß es kein Fehlverhalten gibt, sondern daß die Tradition dieses als ein Versagen gegenüber der inexistenten Natur mißverstanden hat

Meines Erachtens handeln wir nicht an der Natur, Realität oder Welt sträflich, sondern an den Natur-, Realitäts bzw. Welt-Erfahrungen anderer, insbesondere zukünftiger Generationen. Erfahrungen sind unbestreitbar, denn wir erleben sie in unserer Psyche; ich wende mich nur gegen die traditionelle Erklärung ihres Zustandekommens aus deren Hinterwelt.

 

AD: „Einverstanden; aber ich habe noch eine zweite kritische Anfrage:

Solange wir ernstlich miteinander diskutieren, treffen Argumente – Konsequenzen, Begründungen oder Widerlegungen – aufeinander. Hierfür kann es keine Rolle spielen, ob im Außerhalb angeblich eine objektive Wirklichkeit existiert oder nicht, denn argumentativ erreichen wir sie ja ohnehin niemals.

Tangiert diese Welt unsere Gespräche dann überhaupt? Wie soll die willkürliche Antwort auf eine prinzipiell unentscheidbare Frage jemals in einem vernünftigen Diskurs virulent werden können?“

Das ist eine berechtigte Frage, denn in vernünftigen Diskursen ist das in der Tat unmöglich. Aber diese enden ganz schnell, wenn (auch nur) ein Teilnehmer sich auf eine objektive Wirklichkeit beruft. Denn seine leeren Worte ermöglichen ihm das Totschlag-Argument den Totschlag-Satz „So ist es – basta!“, der jedes fruchtbare Gespräch zum Erliegen bringt.

Allein die Tatsache, daß der Knalleffekt dieses Satzes völlig unabhängig davon ist, welche Art von Wirklichkeit als angeblich objektiv behauptet wird, müßte uns alle überzeugen, daß es sich bei ihm nicht um ein Argument, sondern wiederum nur um Blablabla handeln kann.

 

Daß meine an Holzschnitt- oder eher noch Kettensägekunst erinnernde Darstellungsweise sinnvoll sein kann, versucht Heinzpeter Hempelmann – in einem anderen Zusammenhang, aber ganz in meinem Sinne – zu verdeutlichen:

„Ich rechne damit, daß dieser Text auf ebenso energischen, teilweise empörten Widerspruch stoßen wird wie auf dankbare Zustimmung. Möglicher Hauptangriffspunkt ist die notwendige flächige, weit ausgreifende und nicht um tausend Differenzierungen bemühte Darstellung, die auch als gewalttätig, unfair und ungerecht empfunden werden kann.

Der moderne Diskurs ist gekennzeichnet durch das Bemühen um Differenzierungen. So notwendig diese an ihrem Ort sind, so sehr kann der Diskurs eine im Endeffekt lähmende Wirkung entfalten. Schlicht formuliert: Man sieht vor lauter Bäumen, Ästen und Zweigen den Wald nicht mehr.

Es fehlt zumeist das Gesamtbild, das letztlich handlungsleitend und zielgebend sein muß.

Mein Resultat ist ein Wucht-, aber kein Wut-Text; apodiktisch im Ton, ohne Ausreden und Schminke, sicherlich korrektur- und ergänzungsbedürftig, mindestens aber ein Versuch, verschiedene Gründe zu benennen, warum . . .“

. . . wir uns vom traditionellen Denken mit seiner objektiven Wirklichkeit verabschieden sollten.

 

Das tun auch die verschiedenen Spielarten des Radikalen Konstruktivismus. Mit ihnen hat unser Ansatz aber kaum etwas gemein, und es hilft vielleicht manchem Leser, von vornherein deutlich zu sehen, weshalb wir einen anderen – wenn auch noch nicht erkennbaren – Weg einschlagen werden.

Die einzige Übereinstimmung zwischen unserem Ansatz und dem Radikalen Konstruktivismus besteht im Verzicht auf die objektive Wirklichkeit. Aber daraus resultieren bei letzterem zwei Probleme, die der Radikale Konstruktivismus meines Erachtens nicht lösen kann.

 

Das erste betrifft die Stellung oder Rolle des Gehirns.

Wenn die gesamte Wirklichkeit nur eine Konstruktion darstellen würde, hätten wir keinen Konstrukteur, denn dieser kann nicht seiner eigenen Konstruktion angehören; das wäre widersprüchlich. 

Der Radikale Konstruktivismus „löst“ dieses Problem mit sehr viel unsauberem Gerede, indem er das Gehirn zum Konstrukteur erklärt. Als Rechtfertigung dient ihm hierbei zumeist die angebliche  „neurophilosophische Erkenntnis“, unser Ich sei das Gehirn.

Das ist natürlich ganz großer Humbug; die unbestreitbare Aktivität bestimmter Gehirnareale beim Sehen beispielsweise lehrt uns – so gut wie gar nichts über das Sehen, sondern lediglich –, daß es höchstwahrscheinlich nicht funktioniert, wenn die entsprechenden Regionen ausfallen.

Viele „Neurophilosophen“ kennen unsere Geistesgeschichte kaum, argumentieren treuherzig-naiv und legen zumeist nur Glaubenbekenntnisse ab, so daß ihre „schlechte Wissenschaft zu einer schlechten Religion“ (Guido Rappe) wird.

 

Abgesehen von der grundlegenden Frage, woher die Vertreter des Radikalen Konstruktivismus von dem prinzipiellen Unterschied zwischen dem Gehirn als Konstrukteur und der gesamten „restlichen“ Welt als dessen Konstruktion wissen (wollen), entstehen natürlich zahllose weitere Probleme.

Eines davon resultiert ganz simpel daraus, daß es zwar sehr viele Gehirne gibt, aber jeder von uns nur sein eigenes als Konstrukteur – für alles andere – benötigt. Das bedeutet beispielsweise, daß Ihr Konstrukteur den Konstruktionen meines Konstrukteurs angehören müßte und umgekehrt; ich bezweifle sehr stark, daß sich dies sauber denken läßt.

Der Radikale Konstruktivismus ist, mit anderen Worten, nicht radikal genug, weil er das eigene Gehirn ganz traditionell als Seiendes denkt und wohl auch denken muß, um einen Konstrukteur für alles andere, das heißt, für die subjektive Differenz „Welt minus Gehirn“ bei jedem Subjekt zu gewinnen.

 

Wir denken zum einen radikaler; bei uns spielt das Gehirn keine Sonderrolle, sondern stellt lediglich eine der ganz normalen Wissungen dar. Zumeist handelt es sich nur um eine Vorstellung; insbesondere beim Chirurgen kann das Gehirn jedoch auch eine Wahrnehmung sein.

Zum anderen distanzieren wir uns ganz massiv von der „Neurophilosophie“. Ich bin ein freies Selbst – oder könnte es zumindest sein –, und mein Gehirn ist lediglich eine Wissung, die von mir abhängt; ohne mich, mein Leben oder meine Psyche kein Gehirn.

 

Meine zweite Schwierigkeit mit dem Radikalen Konstruktivismus besteht darin, daß der Übergang von einer angeblichen objektiven Welt zu bloßen Konstruktionen den gewaltigen Unterschied zwischen Wahrnehmungen und Vorstellungen nicht einfach ignorieren kann. Vor der Wahrnehmung „Krokodil im Swimmingpool“ erschrecken wir – mit Recht –, während die entsprechende Vorstellung bestenfalls ein wohliges Gruseln hervorruft.

Im Radikalen Konstruktivismus habe ich – sehr interessiert, aber – leider vergebens nach einer befriedigenden Aufarbeitung dieses Problems gesucht:

Was unterscheidet die Krokodil-Wahrnehmung von der Krokodil-Vorstellung, wenn beide – und hierin stimmen wir mit dem Radikalen Konstruktivismus überein – konstruiert sind?

 

AD: „Sie hatten soeben gesagt ‚ohne Psyche kein Gehirn‘. Das war wohl ein Versprecher und sollte ‚ohne Gehirn keine Psyche‘ heißen?“

Nein; meine Umkehrung ist beabsichtigt und fundamental für unseren Ansatz.

 

Traditonell existiert eine objektive Wirklichkeit, so daß es ein richtiges Wirklichkeits-Bild gibt – die adäquate Abbildung, Wiedergabe oder Repräsentation dieser objektiven Wirklichkeit – und zahllose falsche Wirklichkeits-Bilder.

Unter dieser Voraussetzung hätten Sie natürlich Recht, und ich befände mich im Irrtum.

 

Bei unserem postmodernen Ansatz ist das ein wenig komplizierter. Ohne eine existierende oder vorhandene objektive Wirklichkeit lassen sich die widerspruchsfrei denkbaren Wirklichkeits-Bilder nicht in richtige oder falsche aufteilen; es gibt weder die einen noch die anderen.

Aber vollkommen unabhängig davon ließe sich folgendermaßen argumentieren:

„Ich sehe natürlich ein, daß niemand eine objektive Wirklichkeit außerhalb seiner Psyche zu erkennen vermag. Auf der einen Seite brauchte also die Behauptung, die objektive Wirklichkeit

– würde existieren und

– besäße diese oder jene Form

gar nicht ernstgenommen zu werden.

Auf der anderen Seite lebe ich aber seit meiner Schulzeit mit der festen Überzeugung, es gäbe eine objektive Wirklichkeit. Hier besteht offensichtlich ein Widerspruch . . .“

 

Nein; nur scheinbar:

Jeder Postmoderne besitzt ein Wirklichkeits-Bild – jenseits von richtig und falsch. Das glaubt er oder entspricht seiner Überzeugung und dient der notwendigen Orientierung. Nichts spricht dagegen, daß ein Postmoderner annimmt, es gäbe eine objektive Wirklichkeit und dementsprechend lebt. Das ist auch keineswegs hinterwäldlerisch; jedes widerspruchsfreie Wirklichkeits-Bild ist theoretisch möglich und kann in das Außen der eigenen Psyche projiziert werden.

Der Widerspruch entsteht erst, wenn

– ein Wirklichkeits-Bild, zu dem eine objektive Wirklichkeit gehört, als richtig, das heißt,

– als erkannt oder abgebildet – statt projiziert – behauptet und damit

– von der postmodernen zur traditionellen Denkweise übergegangen wird.

Die beiden unterscheiden sich darin, daß letztere den unbescheidenen Anspruch erhebt, „wahr“ bzw. richtig zu sein – und damit jeden venünftigen Diskurs beendet. 

 

Diese Stelle ist sehr wichtig:

Die traditionell Denkenden tun exakt das Gleiche wie die Postmodernen, die an eine objektive Wirklichkeit glauben.  Sie geben es nur nicht zu und flunkern:

Ihr Projizieren erfolgt heimlich und wird als Abbilden verkauft, wodurch die Referenten von geglaubten projizierten Wissungen – die sie immer sind – zum angeblich erkannten Wovon der Wissungen werden.

 

Aber der traditionelle „Wahrheits-“ oder Richtigkeits-Anspruch ist nicht die einzige wichtige Differenz. Zudem ist postmodern das Wirklichkeits-Bild in der Psyche primär und unabhängig von der unbekannten objektiven Wirklichkeit. Vielleicht stimmt es mit letzterer überein, aber das läßt sich ja nicht feststellen und wäre somit rein zufällig.

Mit Sicherheit läßt sich also nur sagen, daß sich das eigene Gehirn in unserem subjektiven Wirklichkeits-Bild befindet; postmodern ist – auch beim Glauben an eine objektive Wirklichkeit – der Rückschluß auf diese selbst nicht gerechtfertigt.

Was nicht meinem Wirklichkeits-Bild angehört und sich damit auch nicht in meiner Psyche befindet, gibt es für mich nicht. Das gilt ganz allgemein und betrifft natürlich insbesondere auch mein Gehirn:

Ohne Psyche kein Gehirn.  

 

AD: „Ihr Resultat, daß es das, ‚was nicht meinem Wirklichkeits-Bild angehört und sich damit auch nicht in meiner Psyche befindet, für mich nicht gibt‘, sollten wir noch etwas verallgemeinern:

Was für andere existiert, weiß ich nicht, weil mir ihre Psyche nicht zugänglich ist.

Was an sich existiert, ist die objektive Wirklichkeit, die ich ebenfalls nicht kenne.

Daraus resultiert postmodern sehr übersichtlich:

Was sich nicht in meiner Psyche befindet, existiert für mich nicht.“

 

Ich stimme Ihnen 100%-ig zu, finde die Überlegung aber ganz schön mutig!

Wären Ihnen die Saurier niemals begegnet – in Gesprächen, Geschichten, Bildern, dem Jurassic Park oder der Werbung –, hätte es sie also auch nicht gegeben?

AD: „Nicht ganz; ich muß Ihre Fragestellung ein wenig korrigieren, weil sie zu einseitig ausfällt:

Wir wissen beide nicht, was Kollenzen sind. Dann ist der Nicht-Gedanke, daß es Kollenzen gegeben hat bzw. gibt, ebenso sinnleer wie seine – formale oder rein grammatische – Negation.

Sind mir die Sauriere unbekannt, stellen sich die Fragen sowohl nach ihrer Existenz wie auch ihrer Nicht-Existenz also gar nicht.“ 

 

Sehr schön; und wir können diesen Gedanken sogar noch einmal weiterführen:

Postmodern bestehen die Referenten in den geglaubten oder für richtig gehaltenen und deswegen in das Außerhalb der Psyche projizierten Wissungen. Dort könnten also Sauriere sein, aber niemals Kollenzen; keine Nicht-Wissung kann sich unserem Ansatz zufolge außerhalb der Psyche befinden – weil wir selbst verstehen wollen, was wir sagen.

Dort kann unser Gehirn sein – aber es ist notwendigerweise dasjenige, das sich als Wissung innerhalb unserer Psyche bfindet.

Dort kann Gott sein – aber es ist notwendigerweise derjenige, der sich als Wissung innerhalb unserer Psyche bfindet.

Der „eine wahre oder wirkliche Gott“ muß also unserem Wirklichkeit-Bild angehören; lehnen wir diese Konsequenz ab, wissen wir nicht, wovon die Rede sein soll.

1.4. Religiöser Hintergrund

Ich bin zufällig katholisch, aber das ist völlig belanglos für dieses Buch. Letzteres scheint mir dagegen sehr wichtig zu sein: Wir müssen verstehen, wieso der religiöse und auch jeder andere Glaube für das Philosophieren irrelevant zu sein hat.

Es gibt ebensowenig ein christliches oder gar katholisches Philosophieren wie ein islamisches, kapitalistisches oder nationalistisches: Wir haben nur die Alternative zwischen einem ergebnisoffenen Denken – dem Streben nach Wahrheitoder dem Vertreten einer Ideologie – dem angeblichen Besitz der Wahrheit. Jeder, der – völlig unabhängig von der Farbe – zu Beginn schon weiß, wohin sein „Denken“ führt bzw. was „wahr“ ist, versteht nicht, was es bedeutet zu denken, und ist Ideologe.

 

Mich interessiert demzufolge auch absolut nicht, wer irgendwas sagt, sondern lediglich, welche grundlegenden Antworten irgendwer vernünftig begründet. Würde die Relativitätstheorie von Adolf Hitler stammen, wäre sie keinen Deut weniger genial als die Einsteinsche.

Ich lese also keine Bücher katholischer Autoren, nur weil sie katholisch sind, sondern solche jeglicher couleur, sofern ich hoffen kann, daß sie mir helfen, selbst zu denken und damit meiner eigenen Wahrheit näher zu kommen. Das ist diejenige meines Lebens, und die kann natürlich in keinem Buch stehen; dort gibt es bestenfalls richtige oder hilfreiche Sätze.

Auch bei meinem eigenen Schreiben versuche ich stets, mir dessen bewußt zu sein. Weder will ich Ihnen etwas mitteilen, noch sollen Sie mir glauben; vielmehr möchte ich Sie anregen zum eigenen Fragen, Sich-Orientieren und Weiterdenken.

 

Hochkomplexe bzw. abstrakte Objekte – wie Liebe, Demokratie, Freiheit oder Recht – können wir als solche nicht erfahren; das ist nur möglich, wenn sie eine konkrete Gestalt annehmen, sich verleiblichen, ausdrücken oder darstellen.

Sage ich beispielsweise zu einem Menschen „Ich liebe Dich; das haben wir damit für ein und allemal geklärt“, und er erfährt dann diesbezüglich tatsächlich nichts mehr, war es gelogen. Eine „Liebe“, die sich nicht ausdrückt oder verleiblicht, ist keine Liebe; sie bedarf notwendigerweise irgendwelcher Darstellungsformen; Zärtlichkeit, Schutz, Einsatz, Verständnis, Verantwortungsgefühl, Hilfsbereitschaft, Sexualität, Geborgenheit usw.

Kein Ausdruck ist die Liebe, aber ohne Ausdruck ist auch keine Liebe.

 

Das können wir nahezu wörtlich auf den Glauben übertragen. Auch er kann nicht als solcher oder rein erfahren werden, sondern nur in seinen Ausdrucksformen bzw. durch diese. Sie können zum Beispiel in der Kunst oder Lebensführung bestehen, in Gebet, Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Verkündigung, gesellschaftlichem Engagement und Meditation, in Geschichten oder Theologie. Ein „Glaube“ ohne alle Verleiblichungen, ist kein Glaube; er ist auch nicht rein, sondern rein gar nichts.

Auf der einen Seite darf keine einzelne Darstellungsform mit dem Glauben identifiziert werden; Sex allein ist auch keine Liebe. Der Glaube kann also beispielsweise nicht mit dem Für-wahr-Halten irgendwelcher Geschichten gleichgesetzt werden – welcher auch immer –, obwohl er sich natürlich auch in ihnen ausdrücken kann; bei einem Kind beispielsweise in der Schöpfungs-, Weihnachts- oder Ostergeschichte. 

Auf der anderen Seite ist natürlich auch niemand gezwungen, seinen Glauben auf eine ganz bestimmte Art zu leben.

 

Wer dies jedoch in Form der Theologie tun möchte, muß sich notwendigerweise den Maßstäben unterordnen, die auch sonst mit Recht an eine Wissenschaft gestellt werden – andernfalls ist es keine Theo-Logie. Das bedeutet insbesondere, daß der Theologie sich möglichst exakt ausdrücken sowie logisch sauber denken sollte und in seiner Argumentation nicht auf Zitate als Beweise, Prämissen oder gar Letztbegründungen zurückgreifen kann.

„Heilige“ Schriften sind dabei nicht bessergestellt als profane, weil ihre angebliche Heiligkeit – vielleicht nicht für den Glauben, gewiß aber – theologisch ebenfalls auf dem Prüfstand steht. So wenig sich ein guter Physiker auf Werner Heisenberg oder Nils Bohr berufen wird, darf dies ein passabler Theologe mit Jesus oder Paulus tun – völlig abgesehen von allen damit verbundenen exegetischen, hermeneutischen und sprachlichen Problemen.

Im Zen-Buddhismus „sind die Heiligen Schriften nichts anderes als schmutzige Papierabfälle“ (Shizuteru Ueda), in denen zum Beispiel bezogen auf das Meditieren steht: „Wenn Du den Buddha siehst, töte ihn.“

 

Theologisch sind die Aussagen des Lehramts für mich ebenfalls nur Meinungen; einen Mehrwert würden auch sie erst durch eine originelle Sichtweise, ihre integrierende Kraft oder Fruchtbarkeit, saubere Begründung, Kreativität, Zeitgemäßheit und ähnliches erhalten.

Wenn Johannes Paul II beispielsweise höchst offiziell die Meinung vertritt, Frauen könnten nicht zu Priestern geweiht werden – „Basta!“ –, dann bereitet er vielleicht einigen gutgläubigen Christen größere Probleme, aber nicht einer denkenden, das heißt, freien Theologie, denn der können meines Erachtens sämtliche bloßen, das heißt, schlecht oder gar nicht argumentierenden Meinungen gleichgültig sein.

Um sie ernstnehmen zu können, müssen Stellungnahmen so begründet werden, daß ich ihre Rechtfertigung verstehen und dieser guten Gewissens zustimmen kann. Eine „Begründung“, die mir nicht einleuchtet, ist keine Begründung, denn im Verstanden-Werden und Nachvollziehen-Können besteht der Sinn aller Erklärungen oder Rechtfertigungen – nicht im bloßen Beteuern ihrer angeblichen Richtigkeit oder gar Wahrheit.

Bleibt es bei einem solchen Beteuern, interessiert mich die Meinung nicht.

 

Wie anders wollen wir den Glauben von jeglichem Aberglauben unterscheiden?

AD: „Müssen wir das tun? Gott ist in seiner Schöpfung – als Heiliger Geist – gegenwärtig; und ich dachte immer, es sei seine Aufgabe, für den wahren Glauben zu sorgen.“

Vielleicht tut er es auch; aber es gibt das Gotteswort ausschließlich in dem und durch das Menschenwort, denn sonst würden wir absolut nichts davon verstehen.

Der Glaube läßt sich nicht mittels des Verstandes oder seiner Logik und nicht einmal aus der Vernunft herleiten, sondern verdankt sich nach christlichem Verständnis der Offenbarung als Selbstmitteilung Gottes. In dem Maße, wie sie durch das Wirken des Heiligen Geistes – im Menschenwort – bei uns ankommt, sprechen wir vom – eo ipso subjektiven – Glauben.

Er folgt zwar nicht aus dem Verstand oder der Vernunft, widerspricht ihnen aber auch nicht. Jeden „Glauben“, der letzteres tut, weist der Heilige Geist dadurch als Aberglauben aus.

 

Die Ergebnisse, zu denen die Theologen gelangen, sollten ihnen helfen, ihren Glauben besser zu verstehen. Das Verstehen kommt – sofern wir uns für die Theologie als Ausdrucksweise entscheiden – natürlich stets vor dem Glauben bzw. Nicht-Glauben, denn diese bestehen darin, verstandene – und damit insbsesondere auf ihre Widerspruchsfreiheit geprüfte – Inhalte anzunehmen und zu leben resp. abzulehnen und zu ignorieren. 

Was wir nicht verstanden haben, können wir theologisch weder glauben noch nicht-glauben; wir wissen doch gar nicht, worum es geht. Wer „glaubt“, ohne zu verstehen, glaubt nicht, sondern wiederholt lediglich leere Worte; entsprechend lehnt natürlich auch nur leere Worte ab, wer ohne zu verstehen „nicht-glaubt“.

Deswegen gibt es heute theologisch relativ selten nicht nur Gläubige, sondern auch Nicht-Gläubige; es wird wenig gedacht, aber viel geredet, geeifert und vor allem gefühlt. Der weltweite Aufschwung der Evangelikalen oder Pfingstkirchen bestätigt letzteres meines Erachtens.

Damit sage ich nichts gegen deren Gläubige, sondern lediglich wertfrei, daß ihre Ausdrucksform des Glaubens nicht die theologische ist – aber natürlich auch nicht sein muß.

 

AD: „Von meinem Bauchgefühl her mißfällt mir, daß das Verstehen theologisch so eindeutig vor dem Glauben kommen soll. Tertullians ‚Ich glaube, weil es absurd ist‘ erscheint auch mir als eine sehr schwache Argumentation; aber beispielsweise mit Anselm zu glauben um zu verstehen, dürfte ebenfalls wichtig sein.“

Gut, daß Sie anhand Ihrer Emotionen argumentieren; da kann ich problemlos mitgehen:

Meine Favorisierung des Verstehens bezieht sich ja nur auf die Theologie; hier halte ich sie jedoch für fundamental, weil die Wissenschaftlichkeit der letzteren daran gebunden ist. Aber außerhalb der Theologie gilt mit Sicherheit auch, daß der Glaube zum Verstehen führen kann.

 

Das entspricht dem Vertrauensvorschuß, den wir dem Überbringer einer Information stets gewähren müssen, um uns überhaupt auf sein Projekt einlassen zu können. 

Diese Notwendigkeit ist aber nicht glaubensspezifisch; auch Liebe und Freundschaft, Bildung und Erziehung, Wirtschaftskontakte oder Urlaubsreisen gelingen nicht ohne einen Vertrauensvorschuß, der sich bestenfalls im Nachinein als berechtigt erweisen kann.

Wir müssen uns immer erst auf Versprechungen oder Zusagen einlassen, um ihre Zuverlässgkeit überprüfen zu können. Aber in der Theologie geht es nicht um die Zuverlässigkeit der Offenbarung, sondern erst einmal um ihr Verständnis

 

Nur wer selbst denkt, kann sich irren; dies zu können, ist eine Auszeichnung.

Wer nicht denkt, irrt zwar nicht, besitzt aber auch keine Überzeugung – sondern höchstens eine „Autorität“, der er blind und kindisch folgt. Das Irren macht den Denkenden auch niemals zum Häretiker oder Ketzer, denn dazu wird man nicht durch Denken, sondern allein durch das Häretiker- bzw. Ketzer-Sein-Wollen.

AD: „Das kann nicht stimmen; wozu brauchten wir überhaupt Religionen, wenn sich jeder selbst überlegen könnte, was er glauben will?“   

 

Zunächst einmal erscheint es mir als selbstverständlich, nur allein entscheiden zu können, was ich glaube, und mir diesbezüglich von niemandem Vorschriften machen zu lassen; das gilt um so mehr, je existenzieller die jeweiligen Fragen sind. Zum einen kann doch nur eine tiefe Überzeugung, die wirklich Herzenssache ist, als religiöser Glaube ernstgenommen werden. Und zum anderen bin ich selbst für meinen Glauben verantwortlich; „Herr Müller hat aber gesagt“ wirkt in diesem Zusammenhang sehr unglücklich.

Ich denke, daß Sie so weit mitgehen; dann wird aber recht deutlich, wie unsinnig die Aufforderung ist:

„Jetzt sage ich Dir, welche Bekenntnisse Du aus tiefstem Herzen zu glauben hast.“

So geht es doch nicht; das, wofür ich brenne, muß aus mir selbst kommen, denn Glauben läßt sich ebensowenig anordnen wie Lieben, Glücklich-, Spontan-, Frei- oder Dankbar-Sein.

 

Traditionell denkende Christen würden Ihrem Einwand wahrscheinlich beipflichten und als „Argument“ vielleicht das Zitat „Der Glaube kommt vom Hören“ aus dem Römerbrief bemühen. 

Ich stimme Paulus 100%-ig zu und ergänze lediglich, daß es in unserem Leben sehr viel Verschiedenes zu hören gibt und wir deshalb bereits denken müssen, um vernünftig auswählen zu können, worauf wir hören wollen, das heißt, was wir möglicherweise glauben könnten.

 

Es wäre die eminent wichtige Aufgabe eines postmodernen Lehramts, durch sauberes Argumentieren – und nicht durch leeres Machtgehabe – auf eventuelle Denkfehler hinzuweisen, damit sie gegebenenfalls korrigiert werden können. Ein so verstandenes Lehramt wäre nicht nur kein unnötiger Stein des Anstoßes und damit kein Handicap der katholischen Kirche (mehr), sondern eine höchst willkommene, weil wirkliche Lebenshilfe für alle Menschen; und als eine solche verstehe ich den Glauben ganz allgemein:

Er ist meines Erachtens weder eine Theorie noch ein Ge- oder Verbotssystem, sondern Unterstützung und Ansporn, um die Fülle eines wahren freiheitlichen Lebens zu erreichen.

Ohne eine objektive Wirklichkeit kann niemand sagen, was im traditionellen Sinne wahr ist; von dieser (angemaßten) Aufgabe ist das Lehramt in der Postmoderne also entbunden.

Aber um Denkfehler zu erkennen, benötigen wir keine objektive Wirklichkeit; dafür genügen möglichst vorurteilsfreie Gespräche.  

 

AD: „Ich staune, wie Sie als Katholik das traditionelle Lehramt abkanzeln. Woraus resultiert Ihre diesbezügliche Sicherheit?“

Drei Punkte dürften in meiner Antwort besonders wichtig sein:

 

1. Ich glaube, daß Gott in seiner „Schöpfung“ anwesend ist; diese Präsenz wird „Heiliger Geist“ genannt.

Zum einen weht er dem Johannes-Evangelium zufolge, „wo er will“, und zum anderen bin ich überzeugt, daß Gott trotz seiner Selbstmitteilung oder Offenbarung ein Geheimnis bleibt. Dann ist es ebenso absurd wie widersprüchlich, den Heiligen Geist an das Lehramt zu binden. Das läßt sich meines Erachtens weder vor der Vernunft noch aus dem Glauben rechtfertigen.

Ich habe, anders formuliert, keinerlei Schwierigkeiten damit, die Kirche als Leib Christi zu verstehen. Da dieser aber – wie jeder sogar rein menschliche  Leib – nur von innen erkannt werden kann, besteht keinerlei Möglichkeit, die Grenzen der Kirche von außen zu bestimmen. Wir können also weder sagen, Kardinal M. gehöre ihr an, noch daß der Religionskritiker N. nicht dazuzählt.

 

2. Ich halte es für unmöglich, Sinn, Bedeutungen, Inhalte, Werte, Ge- oder Verbote unverändert durch eine Geschichte hindurch tragen oder bewahren zu wollen, in der sich alles andere verändert.

Meine Begründung ist denkbar einfach:

Unsere Wissungen bilden eine integrale Einheit; wir hatten sie als Wirklichkeits-Bild eingeführt. Darin ist jede Wissung mit allen anderen verbunden, so daß es auch keinen Teilbereich des Glaubens-Wissens geben kann, der konstant bleibt, während sich alles sonstige im Verlaufe der Geschichte andert.

Der traditionelle Versuch, die gewünschte Konstanz durch das Wiederholen der alten Worte zu garantieren, dürfte angesichts der Situation unserer Kirchen als gescheitert gelten. Wenn Jesus von Schafen oder Königen sprach, hat er kaum etwas gemeint, was unseren heutigen Assoziationen bei diesen Worten entspricht. 

 

3. Wir hätten uns den zweiten Punkt sogar sparen können, denn

– weder ist der Glaube eine Lehre,

– noch geht es darum, das, was sich vor 2000 Jahren in Galiläa ereignete – insbesondere vielleicht die Worte, die Jesus gesprochen hat –, möglichst genau wiederzugeben. Auch das tollste Wissen über den historischen Jesus führt nicht zum Glauben.

Letzterer bedeutet vielmehr, das eigene Leben im Licht der Möglichkeiten zu betrachten, die die Selbstoffenbarung Gottes uns zur Verfügung stellt; hierdurch wird „das gleiche Leben ein ganz anderes“.

Das Glauben, ist damit gemeint, kommt nicht additiv zu meinen anderen Tätigkeiten – Essen, Arbeiten, Spielen, Leiden, Feiern, Denken – hinzu; jetzt glaube ich also zusätzlich auch noch. Vielmehr entspricht der Glaube einem anderen Vorzeichen (∠) vor der Klammer, die meine sonstigen Tätigkeiten zusammenfaßt:  ∠ (Essen, Arbeiten, Spielen, Leiden, Feiern, Denken, . . .)

 

Mit den nachfolgenden drei Zitaten von Hans-Joachim Höhn kann ich mich voll identifizieren:

„Wer Theologie studiert, muß lernen, daß Frömmigkeit nicht vor Leichtgläubigkeit schützt. Wer nur etwas bezeugt, ohne davon auch überzeugen zu können, hat ein Glaubwürdigkeitsdefizit. Den Glauben zu festigen, vermag keine Theologie, der die Frömmigkeit ihres Anstrichs wichtiger ist als ihre wissenschaftliche Redlichkeit.“

„Wie man durch das Medizinstudium nicht gesünder wird, sondern am Ende weiß, was Gesundheit und Krankheit sind – wie man durch ein Jurastudium nicht gerechter wird, sondern am Ende Recht und Unrecht zu unterscheiden weiß, so wird man durch ein Theologiestudium nicht gottesfürchtiger, sondern lernt zu unterscheiden, wer oder was es in Wahrheit nicht verdient, ‚Gott‘ genannt zu werden, und auf wen man sich stattdessen im Leben und Sterben verlassen sollte.“

„Die Theologie ist nicht dazu da, ihre Adressaten gläubiger zu machen. Sie hat vielmehr jenes Wissen über und vom christlichen Glauben zu vermitteln, das zugleich nachdenklich und hoffnungsvoll macht. Sie hat zu zeigen, daß man nicht an Gott glauben kann, ohne dabei auf neue Weise ins Nachdenken zu kommen, und daß man beim Nachdenken über erste und letzte Fragen mit guten Gründen auf den Gedanken kommen kann, dabei an Gott zu denken.“ 

 

Was Höhn nach meinem Dafürhalten damit meint, „an Gott zu denken“, können wir uns am Beispiel der Dreifaltigkeit Gottes gut verdeutlichen.

Ich bestreite sie in keiner Weise, sondern ergänze wiederum nur, was an dieser Stelle zumeist vergessen wird; nämlich, daß ein solcher Glaube unter anderem die Behauptung impliziert, Gott sei weder zwei- noch vierfaltig.

Das sind drei verschiedene Möglichkeiten, von denen nur die „mittlere“ stimmen soll.

Wem die Dreifaltigkeit wichtig ist, der müßte also erklären können, was bei einem zwei- bzw. vierfaltigen Gott anders wäre. Wenn wir das nonchalant übergehen oder keine vernünftige Antwort auf diese Frage finden, sagt die Aussage, Gott sei dreifaltig, nichts, denn bei einem zwei- oder vierfaltigen Gott wäre alles ebenso.

Gregory Bateson sprach diesbezüglich von „einem ‚Unterschied‘, der keinen Unterschied macht“. Können wir nicht angeben, zu welchem abweichenden Ergebnissen ein zwei- oder vierfaltiger Gott führen würde, macht der Glaube an den dreifaltigen keinen Unterschied, und wir reden nur, ohne etwas zu sagen.

 

Die philosophisch denkenden Theologen, denen ich am meisten zu verdanken habe, sind vielleicht Kurt Appel, Eugen Biser, Dietrich Bonhoeffer, Ingolf U. Dalferth, Georg Essen, Klaus Hemmerle, Hans-Joachim Höhn, Gregor Maria Hoff, Hans Joas, Gordon D. Kaufman, Peter Knauer, Jörg Lauster, Meister Eckhart, Eduard Prenga, Willibald Sandler, Hartmut von Sass, Thomas Schärtl, Klaus von Stosch, Magnus Striet, Miroslav Volf und Jürgen Werbick.

Würden Sie mir die Pistole auf die Brust setzen „Nur einer!“, wäre dies wohl Hartmut von Sass mit seiner „Hermeneutischen Theologie“.

 

Auf die Frage, ob Menschen, denen mein Verständnis des Glaubens, zu komplex ist, auf „die liebe alte Art weiterglauben“ dürften, antworte ich mit Stefan Schütze:

„Sehr gerne; ich habe doch nicht die Absicht, jemandem seinen Glauben wegzunehmen“, mit dem er glücklich und in Frieden leben kann. „Das wäre furchtbar überheblich und absolutistisch. Nur erwarte ich von diesen Gläubigen, daß sie ebenfalls andere Einstellungen akzeptieren und auch ihre Glaubensweise nicht fanatisch, unhinterfragbar oder gar gewalttätig vertreten.“     

 

Ich schreibe dieses Buch nicht für die fraglos Glücklichen, um ihnen völlig unnötige Probleme einzureden, sondern für diejenigen, die Schwierigkeiten mit ihrem Glauben oder Wirklichkeits-Bild haben und nach intellektuell redlichen Antworten suchen.

Vielleicht ist es hoffnungslos naiv von mir anzunehmen, das gegenwärtige Verdunsten des christlichen Glaubens in Mitteleuropa hätte etwas mit der Form unserer Verkündigung zu tun. Noch gehe ich aber davon aus und suche folglich nach einer Sprache, die Außenstehende bei ihren Lebensproblemen  voller Spannung und Neugierde fragen lassen könnte:

„Welche konstruktive Idee würde wohl gläubigen Christen in meiner Situation einfallen? Die müßten theoretisch mehr als ich sehen können, denn, wie wir oben erfahren haben, besteht der Glaube darin, das Leben im Licht der Möglichkeiten zu betrachten, die die Selbstoffenbarung Gottes ihnen zur Verfügung stellt.“

Entweder die Christen sehen mehr – oder es ist nichts mit ihrem Glauben. Das Überheblichkeits- oder Hurrah-Gefühl „Wir haben die Wahrheit“ ist jedenfalls nicht nur unangemessen, sondern zeugt von Unglauben.

 

Der Gott des Lebens muß Freiheit wollen, weil nur mit ihr ein erfülltes Leben möglich ist. Dann existieren jedoch notwendigerweise so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt, und wir sollten einander helfen, daß möglichst jeder von uns den seinen findet.

AD: „Besteht hier nicht ein Widerspruch? Können Sie sich zum Christentum bekennen und gleichzeitig zugestehen, es gäbe so viele Wege zu Gott wie Menschen?“

Ich bin überzeugt, daß sich diese beiden Seiten ergänzen.

Christ-Sein ist eine intersubjektive Lebensform und zwar meines Erachtens eine solche, in der

der Sinn, das Ziel, Wozu oder Warum des Lebens – wie bereits ausgeführt – in dessen Fülle bzw. Tiefe gesucht und dabei

Jesus Christus als unüberbietbarer Fixpunkt betrachtet wird. Er schlägt uns einen Weg vor, auf dem wir dieses Ziel velleicht am besten erreichen können. 

 

Zum einen bleibt innerhalb dieses Rahmens unendlich viel Raum für die persönliche Lebensgestaltung als Christ.

Ich veranschauliche mir dieses Zusammenspiel von intersubjektiver Vorgabe und subjektiver Freiheit, Miroslav Volf folgend, an der musikalischen Improvisation; etwa beim Jazz:

Jeder Musiker spielt zwar frei seine persönliche Musik, aber letztlich macht keiner hemmungslos, was er will, sondern die Einzelinstrumente fügen sich wie von selbst zu einer Harmonie.

Jeder spielt bzw. glaubt anders – vor dem gleichen Hintergrund oder im Bemühen um das gleiche Ziel, das wahre Leben im wahren.

 

Und zum anderen bildet der chrisliche Rahmen kein Gefängnis; ich muß nicht Christ bleiben, sondern sollte meinem Gewissen folgen – auch wenn es mir beispielsweise rät, Atheist oder Buddhist zu werden.

1.5. Philosophischer Hintergrund

Mir liegt sehr daran, daß dieses Buch allen Lesern zugänglich ist, die meine Intention annähernd teilen und bereit sind, gegen jeden Strich zu denken. Deshalb setze ich keinerlei explizites Wissen der Philosophie voraus und mache einen möglichst großen Bogen um ihre Geschichte.

Gilles Deleuze schreibt ganz in meinem Sinne: „Ich gehöre zu einer Generation, einer der letzten Generationen, die man mehr oder weniger mit der Philosophiegeschichte umgebracht hat. Die Philosophiegeschichte übt in der Philosophie eine ganz offenkundig repressive Funktion aus.“

Das entspricht zudem meiner festen Überzeugung, daß es Philosophie als Lehrfach (wie Mathematik oder Ökonomie beispielsweise) ohnehin nicht gibt, sondern nur (eigenständiges) Philosophieren im Sinne von Selbst-Denken.

Gelegentliche Angaben von Namen setzen also kein anderweitig erworbenes Wissen voraus, sondern sollen auf eventuell bekannte hilfreiche Zusammenhänge oder Möglichkeiten zu einer gründlicheren Auseinandersetzung hinweisen bzw. auch einfach nur andeuten, daß wir beide nicht allein sind, wenn Sie inhaltlich mitgehen.

Bemerkungen der Form „wie man weiß . . .“, „es ist allgemein bekannt, daß . . .“ oder „. . . im Sinne von X. Y.“ sind nach meinen Erfahrungen ebenso leserunfreundlich wie mathematische Zusammenhänge. Derartige „Hinweise“ deuten einen Unterschied zwischen uns an, auf den ich gerne verzichten möchte.

 

„Jede philosophische Abhandlung muß in gewissem Sinne eine ‚Einführung in die Philosophie‘ sein, denn dadurch bewahrt sie sich vor der Gefahr, bloße Lehrmeinungen, die doch zumeist nur Leermeinungen sind, zu reproduzieren“ (Leo Dümpelmann und Rafael Hüntelmann). (Ich will Sie nicht auf den Arm nehmen; die beiden Autoren heißen wirklich so.)

Das versuche ich zu beherzigen und schreibe das Buch für Nachdenkliche oder Suchende; weder für Ignoranten noch für Alles- oder Besserwisser. Als sein Motto wäre auch dasjenige Michel Foucaults möglich: „Ich denke gern!“ Wer das von sich ebenfalls sagt, ist herzlich zum Dialog eingeladen.

Meine wichtigsten Gewährsleute bei den Philosophen sind Georg Bertram, Ernst Cassirer, Isolde Charim, Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Paul Feyerabend, Michel Foucault, Hans-Georg Gadamer, Gotthard Günther, Michael Hampe, Michel Henry, François Jullien, Carl Gustav Jung, Matthias Jung, Immanuel Kant, Julia Kristeva, Bruno Latour, Emmanuel Levinas, Christoph Menke, Josef Mitterer, A. M. Klaus Müller, Friedrich Nietzsche, Kitarō Nishida, Keiji Nishitani, Corine Pelluchon, Charles Sanders Peirce, Georg Picht, Paul Ricœur, Heinrich Rombach, Richard Rorty, Hartmut Rosa, Franz Rosenzweig, Josef Simon, George Spencer-Brown, Georg Steiner, Gianni Vattimo, Carl Friedrich sowie Viktor von Weizsäcker und Ludwig Wittgenstein.

Müßte ich mich wieder auf einen einzigen Autor beschränken, wäre dies wohl Ernst Cassirer.

 

Ich entschuldige mich nicht, daß sich unter all meinen „Kronzeugen“ mit Isolde Charim, Julia Kristeva sowie Corine Pelluchon nur drei Frauen befinden; es hat sich ganz einfach so ergeben. Hanna Arendt, Judith Butler oder Natalie Depraz beispielsweise sind für mich phantastische Denker, die ich auch sehr gerne lese, es aber eben nicht in meine Top-40 geschafft haben.

Ich gendere nie und tangiere dieses Thema auch nicht nochmals – weil wir meines Erachtens vor wirklichen Problemen stehen und keine erfinden müssen –, sondern versichere hiermit allen Frauen, keinerlei Schwierigkeiten mit ihrem Geschlecht zu haben; im Zweifelsfalle fragen Sie bitte meine Gattin.

 

Vor 15 Jahren habe ich mit dem Buch „Ursprüngliche Wirklichkeit“ die Hinführung zu einem etwas avantgardistischen, das traditionelle Denken sprengenden Ansatz vorgelegt, die insbesondere wissenschaftsgläubigen Lesern helfen sollte, Michel Henrys „Philosophie des Johannesevangeliums“ ernstnehmen zu können.

Die ersten 100 Seiten davon würde ich Ihnen heute noch guten Gewissens empfehlen, den Rest nicht mehr; an seine Stelle tritt das vorliegende Buch.

 

Das Philosophieren oder Theologisieren darf bei keinerlei unhinterfragbaren Zitaten beginnen, hatte ich oben geschrieben.

Das ist aber nur die eine Seite, von der ich auch nichts zurücknehme.

Auf der anderen Seite können wir jedoch nur hoffen, daß die Ergebnisse, die wir durch unser eigenes Nachdenken erzielen, einer möglichst großen Tradition entsprechen. Sie sollen diese freilich nicht einfach wiederholen – für bloßes Nachplappern ist kein Denken erforderlich –, sich jedoch als ihre zeitgemäße Interpretation verstehen lassen.

Denn wäre dies nicht der Fall und wir würden ohne alle Berührungspunkte etwas völlig Neues finden, blieben dafür wohl nur zwei Erklärungsvarianten:  

Theoretisch könnten wir Genies sein; praktisch liegt aber die Vermutung wesentlich näher, daß unsere in der Geschichte erstmaligen „Denkergebnisse“ nur Unsinn darstellen, der so absurd ist, daß kein Mensch vor uns jemals auf dergleichen kommen konnte

Ich nenne bereitwillig Namen, um mich nicht mit fremden Federn zu schmücken, „erhebe aber überhaupt nicht den Anspruch auf Neuheit; und darum gebe ich auch keine Quellen an, weil es mir gleichgültig ist, ob das, was ich gedacht habe, vor mir schon ein anderer gedacht hat“ (Wittgenstein). 

 

Damit läßt sich ein wichtiger Bogen zum Beginn des vorigen Kapitels schlagen:

Erst im Nachhinein ist feststellbar, in welcher Tradition wir philosophisch oder theologisch wirklich stehen, das heißt, welche wir – weiter – interpretieren. Und so kann ich auch als offizieller Katholik erkennen, daß mein Denken beispielsweise (zen-)buddhistischen, jüdischen oder atheistischen Ansätzen teilweise sehr nahesteht.

Bei letzteren denke ich freilich an einen „anderen, das heißt, durchdachten Atheismus“ (Gregor Maria Hoff), wie wir ihn etwa von Albert Camus, Gilles Deleuze, Martin Heidegger, François Jullien, Bruno Latour, Richard Rorty, Jean-Paul Sartre, Peter Sloterdijk, Martin Walser oder Slavoj Zizek kennen.

Aber unser Wirklichkeits-Bild wird natürlich erst deutlich, indem wir selbst denken, und steht nicht auf unserer Taufurkunde, die zumeist vor allem eigenen Denken ausgestellt wird, dieses aber zum Glück nicht festlegt.

 

Daß wir inmitten eines fundamentalen Bewußtseinswandels leben, dürften wohl die Wenigsten von uns bestreiten; weder seine Protagonisten noch die Skeptiker. Ich hatte versprochen, daß die Philosophiegeschichte für unsere Überlegungen nicht relevant wird, aber wir sollten diese wenigstens in jene einordnen können:

Meines Erachtens geht das traditionelle Denken im Zuge des gegenwärtigen Bewußtseinswandels in das postmoderne über.

Ersteres unterteilen wir in das antike, mittelalterliche und moderne Denken, so daß sich auch vom Übergang des letzteren in das postmoderne Denken sprechen läßt.

 

Die Postmoderne stellt einen schillernden Begriff mit 1000 verschiedenen Bedeutungen dar. Ich spreche aber dennoch zumeist einfach von der Postmoderne und beziehe mich damit, soweit nichts Gegenteiliges vermerkt ist, stets auf meine spezielle Interpretation.

Andere Varianten der Postmoderne spielen in unseren Überlegungen praktisch keine Rolle. Sie stehen zumeist dem Poststrukturalismus nahe, von dem mir Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Michel Foucault und Bruno  Latour die wichtigsten Autoren sind.  

 

Mein persönlicher Ansatz, den ich Ihnen hiermit anbiete, könnte sinnvoll als „metaphysischer Explikationismus“ bezeichnet werden.

Explikationismus bedeutet, wie sich noch ausgiebig zeigen wird, daß unsere Erkennungen nicht – etwa durch Abbilden – von einer angeblichen objektiven Wirklichkeit herrühren, sondern aus dem subjektiven Leben expliziert werden.

„Explikationismus“ allein würde als Kennzeichnung aber nicht genügen, weil wesentliche Teile von Hegels recht anderer Philosophie unter der Überschrift „Erkenntnistheoretischer Explikationismus“ kursieren.

Da die Ontologie die Lehre von der objektiven Wirklichkeit darstellt und ich deren Existenz bestreite, kommt „ontologisch“ als ergänzendes Prädikat nicht infrage, so daß sich die gewählte Bezeichnung als „metaphysischer Explikationismus“ recht geradlinig ergab.

„Philosophie der Orientierung“ hätte ebenfalls sehr gut gepaßt, aber den Namen nutzt (leider) bereits Werner Stegmaier für seinen eigenen, dem unsrigen teilweise recht nahestehenden Entwurf.

 

Metaphysik ist keine Physik der Hinterwelt, sondern ich verstehe sie als den Versuch, die unbestreitbaren Grenzen des eigenen Denkens, so weit wie möglich auszudehnen, um – ohne hinterwäldlerisch zu werden – nicht nur mehr als Physik, sondern im Sinne von Ernst Cassirer letztlich unsere gesamte Kultur verstehen zu können. 

1.6. Zusammenfassung I

In einem Lehrbuch werden die wichtigsten Punkte zusammenfassend wiederholt, damit die Studenten sich das neue Wissen gut einprägen können.

Bei uns geht es jedoch nicht um das Lernen von Sachverhalten, sondern um ein Überarbeiten von Denkformen. Dann hat eine Zusammenfassung meines Erachtens eine völlig andere Aufgabe; nämlich die, ausgehend von dem neu erreichten Reflexionsniveau den bereits zurückgelegten – aber erst jetzt sichtbar gewordenen – Weg verständlich zu machen:

Wo befinden wir uns, und weshalb sind wir überhaupt hierher gegangen? Was erweist sich aus dieser neuen Perspektive als falsch an dem alten Weg? Welche überraschenden Möglichkeiten eröffnet der neue?

 

Wir haben das (charakteristische) philosophische Denken in Antike, Mittelalter sowie Moderne als traditionelles zusammengefaßt und durch das gemeinsame Fundament charakterisiert, das im Glauben an eine objektive Wirklichkeit besteht. Sie setzt sich aus der immanenten Welt und gegebenenfalls einer transzendenten „Überwelt“ – zumeist „Gott“ genannt – zusammen.

„Hinterwelt“ wäre falsch, denn hinterwäldlerisch ist die gesamte objektive Wirklichkeit, weil sie

– sich außerhalb unserer Psyche befindet, somit

– prinzipiell unerreichbar ist, aber dennoch

– angeblich irgendwie abgebildet und somit auch

– gewußt werden kann. 

 

Unser Pendant zur Tradition bildet die Postmoderne, und ich verstehe den gegenwärtigen, wohl weitgehendst unbestrittenen Bewußtseinswandel als Übergang zwischen diesen beiden Denkformen. Er scheint mir dringend notwendig zu sein, um unsere politischen, wirtschaftlichen, weltanschaulichen, religiösen, ökologischen . . . Probleme zu lösen und insbesondere die  divergierenden Kräfte der Gesellschaft zu verringern. 

Dieser Wechsel zur Postmoderne besteht im Kern darin, daß die immanente Wirklichkeit geandert wird; sie geht meines Erachtens von der objektiven Welt außerhalb zum subjektiven Leben innerhalb der eigenen Psyche über, so daß der hinterwäldlerische Charakter der Immanenz verschwindet.

 

Dieser Übergang bedeutet nicht, daß wir unsere Grundlagenwissenschaft austauschen; von der Physik etwa zur Psychologie.

Vielmehr gilt es, alle Wissenschaften von ihrem hohen Roß in der Moderne herunterzuholen und gleichwertig neben die anderen „Formen der Kultur“ (Ernst Cassirer) Kunst, Mythos, Religion . . . – zu stellen. Es gibt nicht nur keine fundamentale Einzelwissenschaft, sondern auch keine grund-legende Kulturform; höchstens in ihrer Gesamtheit können unsere Errungenschaften der Wirklichkeit des Lebens gerecht und damit wahr werden.

 

Ich muß unseren Gedankengang an dieser Stelle kurz unterbrechen und auf mein „geandert“ im vorletzten Absatz eingehen. Das war keinen Schreibfehler, sondern dieses Kunstwort ist neben dem „geändert“ erforderlich, weil wir auch zwei Zeiten unterscheiden müssen:

Die Anschauungen – Wahrnehmungen oder Vorstellungen also – gehören der vergehenden Zeit bzw. Chronologie an; das ist die (einzige) traditionelle Zeit, und sie wird zumeist durch einen Strahl mit dem Parameter t veranschaulicht. In ihr sind sowohl Änderungen als auch Nicht-Änderungen möglich, wobei letztere natürlich nur den asymptotischen Grenzfall einer Änderung vom Wert 0 entsprechen und damit absolut nichts Besonderes sind.

Paradigmatisch gehört Zenons „fliegender Pfeil“ hierher, den es für uns aber natürlich – nicht als Seiendes, sondern – nur als Anschauung gibt. Er müßte auch gar nicht fliegen; der ruhende Pfeil, der irgendwo herumliegt, entspricht dem asymptotischen Grenzfall. 

 

Das traditionelle Denken geht notwendigerweise davon aus, daß wir in der vergehenden Zeit leben, da es ihm zufolge gar keine andere gibt; bei uns heißt sie auch „Chronos“.

Wir unterscheiden dagegen diffiziler und führen hierzu mit der Modal- oder wirklichen Zeit die Zeit ein, in der wir wirklich leben.

Unser Leben

enthält keine Anschauungen,

orientiert sich jedoch an ihnen.

Diese fallen nicht vom Himmel, sondern

– verdanken sich einer Genese, in deren Verlauf

– die Anschauungen – mehr oder weniger – kontinuierlich anders werden.

 

Wir unterscheiden also zusammengefaßt die

chronologischen Änderungen innerhalb der Anschauungen,

  die unser Leben nicht korrigieren, von den

(modal-)zeitlichen Anderungen der Anschauungen selbst,

  die unser Leben umstülpen können.

 

Zum Beispiel altern wir; das ist eine chronologische Änderung, die nicht unser Leben, sondern lediglich seine Beschreibung – etwa in einer Biographie – betrifft. „Mit 90 Jahren wirst du wahrscheinlich nicht mehr Auto fahren“; das wußten wir theoretisch schon als Jugendliche.

Eine (modal-)zeitlich Anderung, die unser Leben umkrempelt, wird daraus jedoch erst, wenn wir diese „Änderung“ nicht nur theoretisch wissen, sondern am eigenen Leibe als Anderung praktisch erfahren, so daß plötzlich alles anders ist.

Das kann uns veranlassen, das bisherige Wirklichkeits-Bild durch ein altersgemäßeres zu ersetzen. Hier erfolgt ein Bruch; keine bloß chronologische Änderung führt vom alten zum neuen Wirklichkeits-Bild; es beginnt eine andere Lebens-Zeit. Ebenso führte doch auch in unserer Vergangenheit keine Kontinuität vom kindlichen zum jugendlichen oder dann studentischen Wirklichkeits-Bild.

Wir leben mit den Brüchen, ohne die eine Genese unseres Wirklichkeits-Bilds gar nicht möglich wäre. Ohne Anderungen gäbe es keine Anschauungen, und sie bilden das Medium, innerhalb dessen die Änderungen erfolgen.   

 

Zurück zum Roten Faden:

Wieso bin ich mir eines Übergangs von der Tradition zur Postmoderne so sicher?

Zwei Jahrtausende lang haben unsere abendländischen Vorfahren akzeptiert, daß

– eine objektive Wirklichkeit, die ihnen absolut verborgen ist,

– als Fundament ihres Wirlichkeits-Bilds und

– Grundlage allen Denkens dient.

Wie ist es möglich, daß die allermeisten Menschen einer Kultur zu einer prinzipiell unentscheidbaren Frage

– nicht 1000 verschiedene Meinungen äußern, sondern

– darauf eine weitestgehend übereinstimmende gemeinsame Antwort geben?

Das läßt sich meiner Meinung nach nur so erklären, daß sie gutgläubig und autoritätshörig den „höher Gestellten“ folgen, „die es ja wissen müssen“; „ich bin nur ein einfacher Mensch“. Diese „Autoritäten“ stehen nicht nur für totalitäre Staaten oder Religionen, sondern ebenso für eine weit überschätzte exakte Wissenschaft.

 

Geistige Ketten machen ebenso unfrei wie materielle, aber geistige Freiheit führt niemals zu der grotesken traditionellen Übereinstimmung der Wirklichkeits-Bilder. Sie kann vielmehr bewirken, daß wir Menschen

– selbst denken und dadurch

– zu eigenen subjektiven Ergebnissen gelangen.

Das wird von der Postmoderne ermöglicht, weil sie keine willkürliche, aber allen Menschen gemeinsame objektive Wirklichkeit erfindet und damit nicht vorgibt, was angeblich richtig oder sogar wahr zu sein hat. Damit müssen wir uns nicht länger als Sklaven einer „objektiven Wirklichkeit“ um deren angebliche Erkenntnis bemühen. 

 

AD: „Wir befinden uns Ihren Überlegungen zufolge gegenwärtig in der Übergangsphase zur Postmoderne. Aber wenn ich die Medien auch nur ein bißchen verfolge, scheint mir wenig Anlaß für Ihren diesbezüglich Optimismus zu bestehen . . .“

Ich behaupte keineswegs, daß unser Leben zukünftig einfacher wird, glaube aber fest, daß es sich ehrlicher oder authentischer gestalten könnte.

AD: „Etwa weil jeder entsprechend seinem Wirklichkeits-Bild sagen kann, was auch immer er will, und keine objektive Wahrheit oder auch nur Richtigkeit mehr existiert . . .?“

Ihre Entgegnung zeigt mir, daß wir uns gewaltig mißverstanden haben müssen. Ich würde deshalb vorschlagen, daß wir diese Zusammenfassung nochmals unterbrechen, um ein Kapitel zum Thema „Wahr oder richtig“ einzuschieben.

1.7. Wahr oder richtig

Wenn postmodern nur mein eigenes Leben wirklich ist, wie wir nun schon des öfteren betont haben, müssen selbst die Wahrnehmungen unwirklich sein, denn sie gehören nicht zu meinem Leben.

AD: „Daß Sie jetzt Ihren Laptop sehen, stellt also keine Facette an Ihrem Leben dar?“

Doch; aber wir müssen hier sehr pingelig sein und sauber zwischen der Wahrnehmung und meinem Wahrnehmen (der Wahrnehmung) unterscheiden. Jenes gehört natürlich zu meinem Leben, diese – der Laptop in Ihrem Beispiel – aber nicht.

 

AD: „Einverstanden; zum Leben gehören mein Freuen und Leiden, Genießen oder Erdulden, Vorstellen und Wahrnehmen, jedoch weder die Vorstellungen noch die Wahrnehmungen.

Aber wenn schon die letzeren unwirklich sein sollen, was ist denn dann mit unseren Vorstellungen? Sie müssen doch „noch unwirklicher“ als die Wahrnehmungen sein . . .“ 

Nein; das müssen sie nicht. Ihre diesbezügliche Annahme folgt allein aus dem traditionellen Denken, demzufolge hinter den Wahrnehmungen unmittelbar das Wahrgenommene oder Abgebildete steht, während diese Stelle bei den Vorstellungen leer bleibt. Deswegen geht die Tradition von wirklichen Wahrnehmungen und unwirklichen Vorstellungen aus, während bei uns beide unwirklich sind.

 

Unabhängig von den gewählten Prädikaten werden Wahrnehmungen und Vorstellungen traditionell zumeist – einander gegenübergestellt oder besser: – gegeneinander gestellt. Ich habe das oben (notgedrungen, weil noch traditionell argumentierend) auch getan: Das Krokodil im Swimmingpool ist als Vorstellung harmlos, aber als Wahrnehmung ein einziger Schreck.

Das sehen wir postmodern nicht mehr so, denn

beide „Krokodile“ sind unwirklich und

das Vorstellen ist ebenso wirklich wie das Wahrnehmen, denn das eine gehört ebenso zum Leben wie das andere.

Wir dürfen sowohl die Wahrnehmungen und Vorstellungen als auch das Wahrnehmen und Vorstellen nicht gegeneinander ausspielen; die beiden bedürfen einander und ergänzen sich wechselseitig:

 

Auf der einen Seite gäbe es ohne Wahrnehmungen auch keine Vorstellungen, denn letztere bilden potentielle Wahrnehmungen.

Natürlich können wir uns nahezu alles „vorstellen“; aber genau deswegen sind die entsprechenden „Vorstellungen“ für unsere Überlegungen auch nicht sonderlich hilfreich; aus „anything goes“ resultiert nichts.

Für uns bestehen Vorstellungen per definitionem in potentiellen Wahrnehmungen. Und ob Wahrnehmungen möglich oder unmöglich sind, hängt nicht von praktischen Hindernissen ab; wir können uns also beispielsweise den Erdmittelpunkt (sinnvoll) vorstellen, aber keinen Engel.

Der Kriminalkommissar hat ein Problem, weil er nicht über die Mord-Wahrnehmung verfügt. Er besitzt Mord-Vorstellungen als potentielle Mord-Wahrnehmungen, aber ob sich überhaupt eine Täter-Vorstellung darunter befindet und welche von den vielen Mord-Vorstellungen es gegebenenfalls ist – genau darin besteht sein Problem.

 

Auf der anderen Seite gilt die Umkehrung, daß ohne Vorstellungen auch keine Wahrnehmungen existieren, ebenfalls.

Bei einer Baum-Wahrnehmung zum Beispiel sind wir uns 100%-ig sicher, daß der Baum nicht soeben vom Himmel fiel, und wenn wir die Augen schließen, wieder verschwindet. Wenn er das täte, wäre er kein Baum, sondern ein Wunder.

Zur Baum-Wahrnehmung gehört also unbedingt die Verlängerung ihres Jetzt durch zwei Vorstellungen in das Früher bzw. Später hinein

 

Wenn Wahrnehmungen und Vorstellungen so eng zusammengehören und sich gegenseitig bedingen, sollte das der Einfachheit und Deutlichkeit halber auch begrifflich zum Ausdruck kommen.

Wir fassen deshalb die beiden ebenso wie das Wahrnehmen und Vorstellen als Anschauungen bzw. Anchauen zusammen. Nur letzteres gehört zu unserem Leben und ist dadurch wirklich.

 

Nach dem langen Vorspann erreichen wir endlich das Thema dieses Kapitels.

Es gibt zig Arten von Sätzen; Fragen, Warnungen, Befehle, Drohungen, Gebete, Ermahnungen usw., aber sie müssen uns alle nicht interessieren; wir benötigen für alles weitere nur zwei Sorten davon, nämlich die Aussagen und die Beschreibungen.

 

Aussagen

beziehen sich ausschließlich auf Anschauungen und

sind richtig genau dann, wenn sie diese Anschauungen adäquat wiedergeben.  

Ob letzteres tatsächlich der Fall ist, läßt sich häufig – mit mehr oder weniger hohem Aufwand – überprüfen. 

 

Beschreibungen

hätten keinen Sinn ohne unsere Anschauungen,

– beziehen sich aber nicht auf sie, sondern auf das eigene Leben.

Betrachten wir als Beispiel: „Mir ist das Herz vor Schreck in die Hose gerutscht.“

Diese Beschreibung bliebe völlig unverständlich, wären uns nicht die Anschauungen namens „Herz“, „Schreck“ sowie „Hose“ bekannt. Aber es geht nicht um sie, sondern um eine Beschreibung unserer Erfahrungen.

Wer die Formulierung als Aussage versteht, das Herz vergeblich in der Hose sucht und den Satz deshalb für „falsch“ erklärt, hat ihn offensichtlich mißverstanden. 

Eine Beschreibung kann für ihren Autor wahr oder unwahr, jedoch niemals richtig bzw. falsch sein. Das heißt insbesondere, daß sie für ihren Empfänger möglicherweise nachvollziehbar ist – sofern er in seinem Leben ähnliche Erfahrungen gemacht hat –, aber niemals verifiziert bzw. falsifiziert werden kann.

 

AD: „Sie bestreiten die Existenz einer objektiven Wirklichkeit. Ich weiß noch nicht, wie das alles weitergeht; aber Stand jetzt gehören folglich sowohl die Beschreibungen und Aussagen als auch die traditionelle Innen-Außen-Differenz meiner Psyche an. Das klingt ein bißchen verrückt, aber – entgegen der Tradition – müßten wir also innerhalb der eigenen Psyche zwischen Innen und Außen unterscheiden.

Überraschenderweise paßt das sogar gut:

Die Aussagen über Anschauungen können (teilweise) verifiziert bzw. falsifiziert werden – weil sie sich in meiner Psyche außen befinden – und sind dementsprechend richtig resp. falsch.

Die Beschreibungen des Lebens – wie sie uns paradigmatisch in guter Belletristik begegnen – sollten aus Sicht ihres Autors wahr sein und lassen sich vom Hörer oder Leser möglicherweise nachvollziehen. Mehr ist jedoch nicht möglich – weil sie sich in meiner Psyche innen befinden.“

 

Im wesentlichen stimme ich Ihnen zu; lediglich Ihre saubere Trennung zwischen Innen und Außen bzw. den Beschreibungen und Aussagen gefällt mir nicht. Ich glaube vielmehr, daß das Leben kontinuierlich in seine Anschauungen übergeht, so daß mir zwei horizontale Ebenen ein besseres Bild zu sein scheinen als Ihr Innen-Außen-Dualismus:

Oben stelle ich mir die Anschauungen vor, die nach unten hin immer stärker vom Leben durchdrungen werden, so daß aus dem Richtigen allmählich das Wahre hervorgeht. Sauber denken läßt sich dieser Übergang natürlich nur als asymptotischer, der weder das wahre Leben noch die ganze Wahrheit erreicht, weil uns Menschen beides unmöglich ist.   

1.8. Zusammenfassung II

Ich hatte unsere Zusammenfassung wegen Ihrer ironischen Spitze abgebrochen. Zu der von mir geäußerten Hoffnung auf mehr Ehrlichkeit oder Authentizität in der Postmoderne, hatten Sie keck geantwortet:

„Etwa weil jeder entsprechend seinem Wirklichkeits-Bild sagen kann, was auch immer er will, und keine intersubjektive Wahrheit oder Richtigkeit mehr existiert . . .?“

 

Natürlich stimmt es, daß jeder entsprechend seinem Wirklichkeits-Bild sagen kann, was auch immer er will. Damit geht notwendigerweise die traditionelle Einheit der rein äußerlichen Bekenntnisse verloren.

Bei Jean-François Lyotard – einem der Väter der Postmoderne – bedeutet dies das „Ende der großen Erzählungen“. Schöpfung, Evolution, Geschichte oder Fortschritt waren kürzlich noch Paradebeispiele dafür, und werden gegenwärtig immer stärker hinterfragt. 

Alle erzählen nur noch ihre eigenen kleinen Geschichten, und so entsteht ein einziges Tohuwabohu, in dem keine sichere Orientierung mehr möglich ist. Ein solches Chaos bereitet vielen Menschen Angst; sie sehnen sich nach durchschaubaren Verhälnissen, und das spielt schwarz-weiß malenden Extremisten und Verschwörungstheoretikern in die Karten. 

 

Aber wer sagt denn, daß wir uns innerhalb dieser Spekulationen einigen müssen? Wo steht denn, daß die für eine Kultur als ihr „sozialer Kitt“ unbedingt notwendige Intersubjektivität sich

– auf der Ebene befinden muß, wo die Tradition sie lokalisiert,

– auf der Ebene rein äußerlicher Bekenntnisse,

– auf der Ebene der Anschauungen sowie ihrer Aussagen und damit

auf der Ebene, die höchstens Richtigkeit aber keine Wahrheit kennt?

 

Unsere unbestreitbar notwendige Intersubjektivität müßte nicht richtig, sondern wahr sein. In den Worten des letzten Kapitels legen wir sie also eine Ebene tiefer als die Tadition dies tut:

Mehr als ein wahres Leben zu führen, vermag niemand.

Und wenn jemand dies tut, ist es – da er gar nicht  mehr tun kann – völlig gleichgültig,

– wie sein Wirklichkeits-Bild beschaffen ist,

– welchen Geboten er folgt,

– warum er so lebt,

– welchen Gott er anbetet – oder ob überhaupt einen –

– worin das Ziel seines Lebens besteht und

– welchen Sinn er ihm beimißt.

 

Deswegen bedeutet es auch keinen Kritikpunkt an unserem Ansatz, daß ihm zufolge die Wahrnehmungen ebenso unwirklich sein sollen wie die Vorstellungen.

Wahrnehmungen, die wir gar nicht haben, gibt es für uns nicht.

Wahrnehmungen, die wir haben, führen gegebenenfalls zu Reaktionen in unserem Leben. Aber es geht nur um die Wirklichkeit von diesen und nicht um die Unwirklichkeit von jenen

 

Unsere Zusammenfassung sollten Sie vor dem Lesen des zweiten Teils möglichst gut verstanden haben. Aber auch wenn das der Fall ist, beschleicht Sie hoffentlich noch ein mulmiges Gefühl:

„Wie könnte ich die Sonne wahrnehmen, wenn es angeblich gar keine gibt?

Woher sollte – ohne objektive Immanenz – die zeitliche Stabilität der Wirklichkeit kommen?

Wer soll ich sein, wenn auch mein Körper – als Teil der objektiven Immanenz – gecancelt wird?“

Dieser Mißmut ihrerseits ist völlig gerechtfertigt und sogar erwünscht, denn falls er nicht bestände, wäre das Buch für Sie unnötig.

Im konstruktiven dritten Teil biete ich Ihnen eine Lösung der genannten und weiterer Probleme an, die im Kern auf Ernst Cassirer zurückgeht, mich pesönlich sehr überzeugt und vielleicht sogar ein wenig optimistisch in die Zukunft schauen läßt.  

 

Zuvor steht jedoch unter der Überschrift „Das traditionelle Denken in der Moderne“ noch eine Kritik des alten, aber außerhalb der Philosophie und Kunst immer noch quasi allgegenwärtigen Abbild-Modells im Vordergrund.

Mir erscheint es sowohl unverständlich als auch widersprüchlich zu sein, und ich will versuchen, Ihnen dies mittels möglichst starker Argumente nachzuweisen.     

2. Das traditionelle Denken in der Moderne

Traditionell existiert eine objektive Wirklichkeit, an die sich unser Wissen immer besser oder weiter annähern soll. Ihre Bestandteile werden in der Philosophie als „Seiende“ bezeichnet. Vor diesem Wort muß man nicht erschrecken; es klingt sehr hochtrabend, ist aber völlig normal:

Was – beim Bäcker –  gebacken wird, bildet Gebäck; was – von Archäologen – gefunden wird, gilt als Fundstück; und was – für traditionelle Philosophen – ist, stellt ein Seiendes dar. Sie könnten also problemlos Tausende von Seienden nennen und müßten dazu lediglich die Dinge aufzählen, von deren Existenz oder Sein sie überzeugt sind; Gebäck, Fundstücke, Ihr Körper, Sonne, Mond und Sterne . . .

Sie gehen höchstwahrscheinlich immer schon von – einer Existenz der – Seienden aus und haben bisher lediglich das Wort nicht gekannt oder zumindest kaum benutzt.

 

Die Tradition setzt wie selbstverständlich voraus, daß wir von ihren Seienden nicht nur wissen können, sondern sogar müssen, um unser Leben daran zu orientieren. Sie sind also – vielleicht von wenigen Ausnahmen wie Gott einmal abgesehen – prinzipiell wißbar oder bilden das potentiell Gewußte.

Zum aktual oder wirklich Gewußten werden die Seienden dadurch, daß wir sie abbilden, erkennen, darstellen oder repräsentieren; das führt zu (adäquaten) Abbildern in unserer Psyche, die – wegen der objektiv vorgegebenen Seienden – intersubjektiv übereinstimmen (müssen).

Die inadäquaten „Abbilder“ sind zwar keine Ab-, sondern Trugbilder, gehören aber natürlich dennoch unserer Psyche an.

Das führt wieder zu meinem Igel-Problem:

Wie sollen wir die Ab- von den Trugbildern unterscheiden, wenn sich die Seienden außerhalb der Psyche befinden und uns dadurch prinzipiell nicht zugänglich sind?

 

Natürlich existieren ungezählte „Zwischenbereiche“, denn selbstverständlich werden sich nicht alle Wahrnehmungen auf Seiende beziehen und dadurch entweder Ab- oder Trugbilder darstellen. Wir haben beispielsweise Tinnitus und Schmerzen oder verspüren Fernweh. Die wenigsten Menschen werden Lichtreflexe, Regenbogen oder Wahnvorstellungen als Abbilder verstehen und hinter ihnen Seiende vermuten.

Aber behaupten läßt sich deren Existenz natürlich immer; weshalb soll ausgerechnet hinter dieser Spiegelung dort kein Urbild stehen?

 

Diesen Gedanken nehmen wir in unserem Ansatz konstruktiv auf:

Die Existenz von Seienden hinter unseren Wahrnehmungen

läßt sich nicht nur stets behaupten – auch wenn sie nicht vorliegt –, sondern

ist immer lediglich behauptet – und liegt nie vor.

Es gibt keinerlei Seiende; hinter Baum-Wahrnehmungenen ebensowenig wie hinter ihren Schatten-Wahrnehmungen.

 

Die traditonellen Seienden (in) der Moderne setzen sich aus Objekten und Subjekten zusammen; zu letzteren gehören natürlich auch wir selbst.

Die Objekte lassen sich als physikalische Körper im weitesten Sinne verstehen; zu den natürlichen – leblosen, pflanzlichen, tierischen und menschlichen – Körpern kommen noch die künstlichen hinzu. Alle zusammen bilden die (physikalische oder) objektive Realität.

Die gesamte Tradition geht fast immer davon aus, daß auch wir Subjekte im wesentlichen unser Körper sind und somit dieser Realität angehören. „Ich bin mein Körper“ ist für viele von uns eine Selbstverständlichkeit; daß der Satz – völlig unabhängig von seinem philosophischen Inhalt – schon rein logisch falsch sein muß, ändert daran nichts:

Die Formulierung „mein Körper“ setzt einen Besitzer dieses Körpers voraus, der nicht mit dem Körper zusammenfällt und allein dadurch – als Ich – von seinem Körper sprechen kann. Andernfalls müßte der Körper selbst „mein Körper“ sagen.

 

Viele Philosophen und die allermeisten Theologen der Moderne haben sich zwar gegen einen solchen Materialismus oder Physikalismus gewandt, dies jedoch zumeist lediglich sehr halbherzig getan:

„Natürlich sind die Subjekte im wesentlichen ihr Körper“, wurde nahezu ausnahmslos zugestanden; „aber doch nicht nur. Wir müssen dem Körper noch ein Innen hinzufügen, das aus ihm als Objekt ein Subjekt macht: Subjekte sind Körper mit Innen.“

Letzteres kann freilich die verschiedensten Formen annehmen und zum Beispiel im Geist, in einer Seele oder in einer Kombination beider als unsterbliche Geist-Seele bestehen. Wir können das völlig offenlassen, weil ich dieses gesamte Konzept aus tiefster Überzeugung als unsinnig erachte und in ihm einen der Hauptgründe unserer heutigen Schwierigkeiten sehe:

Es muß doch zu Problemen führen, wenn wir von uns selbst falsch denken.

Was auch immer unserem Körper hinzugefügt werden mag, es wandelt ihn nicht in ein Subjekt um; kein Innen, kein Odem, Hauch oder Pneuma könnte dieses Wunder bewirken. Wir dürfen also (im dritten Teil) nicht bei unseren Körpern beginnen, um zu verstehen, was mit „Subjekt“ gemeint sein könnte. 

 

Belassen wir es also neutral beim Innen, so daß die traditionellen Subjekte in der Einheit von Körper und Innen bestehen.

Die Psyche, von der bisher schon laufend die Rede war, bildet den einzigen für unsere Kritik am traditionellen Denken wichtigen Teil dieses Innen:

Sie enthält sowohl die (adäquaten) Abbilder der seienden Urbilder als auch die (inadäquaten) Trugbilder.

Natürlich ist dieses „enthält“ unsauber formuliert. Die Psyche bildet kein Gefäß, sondern bei ihr fallen „Inhalt“ und „Gefäß“ zusammen, was wir uns leicht an einer Analogie verdeutlichen können: Jede einzelne Zahl gehört – als „Inhalt“ – der Menge aller Zahlen – dem „Gefäß“ – an.

 

Spätestens an dieser Stelle wird überdeutlich, daß das (traditionelle) Denken der Moderne streng dualistisch ist; die Cartesische Philosophie bildet lediglich ein charakteristisches Aushängeschild dafür:

Der objektiven Realität oder den objektiv-wirklichen Seienden im Außen stehen die subjektiv-unwirklichen Psychen im Innen gegenüber.

Dieser Dualismus stellt die Wirklichkeit meines Erachtens jedch auf den Kopf:

Ist es nicht einfach irre, daß in diesem modernen Wirklichkeits-Bild unser Innen mit seiner Psyche als unwirklich betrachtet und dem als wirklich behaupteten physikalischen Kosmos untergeordnet wird?

 Für mich sind meine Wünsche, Sorgen, Hoffnungen oder Freuden wesentlich entscheidender als alle Schwarzen Löcher, Roten Riesen, Weißen Zwerge und farbigen Quarks zusammen.    

Wir kehren dieses Verhältnis jedoch nicht nur um, sondern bestreiten die Existenz der gesamten objektiven Wirklichkeit vollkommen. Sie ist lediglich eine Konstruktion von uns; neben ihr wären – wie fremde Kulturen beweisen – auch ganz andere möglich, aber sie alle bedingen unser Leben als ihre notwendige Voraussetzung.

 

Der philosophische Mainstream (in) der Moderne ist zar noch vollkommen traditionell, gegenüber der Antike und dem Mittelalter aber in zweifacher Weise simplifiziert.

 

Zunächst betrifft dies die objektive Wirklichkeit bzw. ihre Seienden selbst.

In Antike und Mittelalter wurden auch geistige Seiende vorausgesetzt; wir kennen sie am ehesten in Form der Platonischen Ideen; diejenigen des Guten, der Gerechtigkeit und Wahrheit bilden wohl ihre bekanntesten Beispiele. Hinter diesem Gedanken der geistigen Seienden oder Platonischen Ideen stand damals ein recht einleuchtender Gedanke:

Um Sokrates als gerecht und Protagoras als ungerecht beurteilen zu können, müssen wir wissen, worin die Gerechtigkeit besteht, oder eine wahre Idee von ihr haben. Fehlt uns dieser objektive Maßstab,

– sagen wir entweder gar nichts Inhaltsvolles oder

– werten nach unserer eigenen Façon.

In beiden kommen wir nicht über unsere eigene Subjektivität hinaus und machen uns somit selbst zum Maßstab.

 

Sokrates stellte für Platon die personifizierte Gerechtigkeit dar, weil sie in ihm Gestalt annahm oder sich verleiblichte.

Geistige Ideen waren jedoch auch für materielle Körper nötig. Ohne die Idee des Planeten beispielsweise konnte es keine Planeten geben; jene nahm in diesen Gestalt an oder verkörperte sich in ihnen.

Platon war diesbezüglich so konsequent, daß er auch eine Idee des Schmutzes, Kots oder Bettgestells annahm; andernfalls könnten diese Dinge in unserem Leben ja seines Erachtens gar nicht existieren. 

 

In der Moderne benötigt der materielle Kosmos die geistige Idee des Planeten ebensowenig wie wir diejenige der Gerechtigkeit. Aus den Platonischen Ideen werden allmählich unsere Begriffe.

Daraus resultiert die zweite Vereinfachung des traditionellen Denkens in der Moderne:

Um geistige Ideen muß gerungen werden; entfallen sie, so daß nur noch materielle Seiende vorliegen, genügt ein ganz simples Abbilden: „Schau doch einfach hin – dann siehst du es selbst!“ Eine ernstliche Auseinandersetzung scheint nicht mehr nötig zu sein.

 

Traditionell denkende Gläubige erweitern diese materiell-(immanent)e Wirklichkeit um eine „immateriell-transzendente“, indem sie Gott zwar als reinen Geist behaupten, sich ihn aber dennoch nach dem Modell der Körper vorstellen. Er gehört dann zwar offiziell dem „Jenseits“ an, aber die Frage, worin sich das eigentlich vom Diesseits unterscheiden soll, wird zumeist überspielt.

Es gibt das eine wie das andere; der transzendente Gott existiert neben dem immanenten Kosmos, beide sind vorhanden und wechselwirken sogar miteinander

Hermann Schmitz kritisierte des öfteren, daß sich die traditionelle Philosophie der Moderne an der Physik fester Körper orientiere und die Wirklichkeit im Sinne eines Lego-Baukastens verstehe. Alles, was sich in der Kiste befindet, gehört dazu – kann zusammengebastelt und in unserer Psyche abgebildet werden.

Mit meiner Kritikt bestreite ich wohlgemerkt nicht die Transzendenz an sich, sehr wohl aber die gesamte Wirklichkeit als Einheit von Immanenz und Transzendenz in ihrer traditionellen Denkform.

 

Ich versuche, mich noch ein wenig vor den schlimmsten Einwänden ihrerseits zu schützen:

Sie sehen im Moment Ihren Laptop. Ich bezweifle dies nicht im geringsten und bitte Sie, von meinem gesunden Menschenverstand ähnlich positiv zu denken. Ich lehne lediglich die Theorie ab, die Ihrem Sehen traditionell zugrundeliegt und letzteres als das Abbilden eines seienden oder urbildlichen Laptops erklärt.

Allein um dessen Existenz geht es mir; Ihre unbestreitbare Laptop-Sehung ist kein Abbild eines Ur-Laptops.

Der einzige Laptop, der tatsächlich irgendwie oder irgendwo vorkommt, befindet sich – als Wahrnehmung – in Ihrer Psyche. Pardon; das war nicht ganz richtig; natürlich – als Vorstellung – auch in der meinigen.

Da es ohne objektive Wirklichkeit keinen Laptop außerhalb sämtlicher Psychen geben kann, läuft auch Ihre Katze nicht über den Laptop – wenn sie dies zu tun scheint –, denn in ihrer Psyche befindet sich ebenfalls keiner

2.1. Das Wirklichkeits-Bild als Orientierungsmöglichkeit

Wenn Menschen sich als unglücklich erleben, hängt das natürlich eng mit ihren persönlichen Lebensumständen zusammen. Aber es scheint mir unbestreitbar zu sein, daß auch das eigene Wirklichkeits-Bild uns massiv zusetzen kann.

Wir haben in der Moderne darauf gesetzt, dem angeblich richtigen Welt-Bild immer näherzukommen, und uns vom Erreichen dieses Zieles letztendlich die Lösung all unserer Probleme versprochen. Ich halte das nicht nur für falsch, sondern schlechthin für unmöglich, weil es keine objektive Welt gibt.

Konnten Sie schon einmal das Welt-Bild mit ihr vergleichen? Wenn „ja“, wie haben Sie das gemacht? Wo befindet sich die objektive Welt? Wohin muß man schauen, um sie selbst und keine bloßen Wahrnehmungen von ihr zu sehen?

 

Die Wirklichkeits-Bilder haben meines Erachtens eine ganz andere Aufgabe; sie handeln nicht von einer angeblichen objektiven Wirklichkeit, sondern dienen als Richtschnur für das eigene Leben. Wir orientieren uns an ihnen und müssen dies tun, weil es alternativlos ist; ausnahmslos all unsere Wissungen oder Anschauungen gehören dem eigenen Wirklichkeits-Bild an.

Wer ein „falsches“ besitzt, hat, mit anderen Worten, keine unrichtigen Vorstellungen von einer angeblich objektiven Wirklichkeit, sondern könnte – durch ein besseres Wirklichkeits-Bild – wesentlich wahrer, tiefer oder erfüllter und in diesem Sinne „mehr“ leben.

Wir leben zu wenig, weil uns die unsinnige Suche nach einem Phantasma in ihren Bann gezogen hat.

 

Die Postmoderne stupst uns durch ihr Streichen der objektiven Wirklichkeit mit der Nase auf die Lebens-Funktion der Wirklichkeits-Bilder, die in der Moderne weitgehend übersehen wurde.

„Hurra; wir haben bald die Weltformel gefunden!“

Na und?

 

Michel Henry spricht von uns als den „verlorenen Menschen“, die sich durch „ihr einseitig objektivistisches Denken in eine Masse von geistig Behinderten verwandeln“ werden, denn „jeder reine Objektivismus ist eine Philosophie des Todes“.

„Masse von geistig Behinderten“ und „Philosophie des Todes“ klingen nicht sehr ermutigend. Aber wenn wir uns umschauen – bis in die Universitäten und Kirchen hinein –, wo heute noch

– konsequent und grund-legend nachgedacht,

– das Erbe der Aufklärung hochgehalten,

– die Subjektivität ernstgenommen und

– nach der Wirklichkeit des Lebens gefragt wird,

werden wir vielleicht doch erschrecken und Henry stillschweigend-verzweifelt ein wenig Recht geben.

 

AD: „Daß würde aber doch bedeuten, daß unser Wirklichkeits-Bild mehr mit Philosophie, Theologie und Ethik zu tun hätte als mit Physik?“

Selbstverständlich; würden Sie beispielsweise glauben, daß die Erdscheibe von einem Elefanten getragen wird, der auf einer Schildkröte steht, während diese im Ozean des Nichts schwimmt, würde ich mich gewiß sehr wundern und vielleicht nachfragen, wie Sie davon überzeugt sein können.

Daß diese Sichtweise „von gestern“ oder „unwissenschaftlich“ sein soll, ist dabei völlig belanglos; es geht nicht um Modetrends bzw. den Zeitgeist, sondern um unser  Leben. Als entscheidend kann somit immer nur die Frage gelten, ob und gegebenenfalls wie Ihr Wirklichkeits-Bild Ihnen bei der Suche nach dessen Gelingen dient.

Wenn Sie mit Ihrem Tier-Wirklichkeits-Bild glücklich und zufrieden sind, ziehe ich den Hut und mich diskret zurück, weil ich Ihnen dann nichts Konstruktives zu sagen hätte. Niemand kann mehr, als seinen eigenen Weg zur Fülle des Lebens finden. Ich möchte denen helfen, die intellektuell redlich danach suchen, ihren Weg aber noch nicht gefunden haben und leere Worte nicht mehr hören wollen.

 

Meine Argumentation – im gesamten Buch und speziell in diesem zweiten Teil – richtet sich folglich absolut nicht gegen irgendwelche Wirklichkeits-Bilder, sondern allein gegen die traditionelle Behauptung, mit ihnen die objektive Wirklichkeit erkannt zu haben, so daß alle anderen hinreichend schlauen Menschen zustimmen müßten.

Postmodern sollten diese ein bestimmtes Wirklichkeits-Bild jedoch nur dann und in dem Maße übernehmen, wie sie es als Hilfe für ihr eigenes Leben erkennen

Daß ich das Gleiche auch sagen würde, wenn wir Ihr Tier-Fundament durch den Kreationismus oder einen evolutiven Kosmos mit Urknalltheorie und Zufallsmutationen ersetzen, bedürfte wohl kaum noch der Erwähnung. Es gibt natürlich keine wahren und nicht einmal richtige Wirklichkeits-Bilder, sondern höchstens hilfreiche oder lebensdienliche.

 

Traditionell-modern sagt man:

Unsere Vorfahren haben beispielsweise eine Himmelsglocke, Götter und Dämonen wahrgenommen – als wahr (an)genommen –, die natürlich alle nicht existieren. Wir sind dagegen aufgeklärt und bilden die objektive Wirklichkeit (im wesentlichen) so ab, wie sie wirklich ist.

Den zweiten Satz müßten wir erheblich korrigieren: 

Wir sind nicht aufgeklärt in dem Sinne, daß etwas grundsätzlich anders geworden wäre, sondern haben lediglich, wie dies immer geschieht, die Anschauungen unserer Vorfahren – vor allem mittels der exakten Wissenschaften – uminterpretiert, aufgehoben oder überformt und sind so zu unserem modernen Wirklichkeits-Bild gelangt. 

 

Aus den Göttern wurden vielleicht „Zufall und Notwendigkeit“ (Jacques Monod), aus der Himmelsglocke ein potentiell unendlicher Kosmos und aus den Dämonen psychische Störungen.

All das – Zufall und Notwendigkeit, einen unendlichen Kosmos oder psychische Störungen – gibt es jedoch objektiv-wirklich ebensowenig wie Götter, eine Himmelsglocke oder Dämonen. Wir haben die Konstruktionen unserer Vorfahren duch unsere eigenen ersetzt – und nicht durch eine vorgefundene Wirklichkeit.

Unsere Wissungen haben sich geandert, so wie das in allen Kulturen kontinuierlich geschehen muß, um ein hinreichend gemeinsames Wirklichkeits-Bild aufrechtzuerhalten, das die Menschen der jeweiligen Deutegemeinschaft zusammenleben läßt. Wir merken doch gerade überdeutlich, wie die Gesellschaft dissoziiert, wenn zu viele verschiedene und einander widersprechende Wirklichkeits-Bilder fest geglaubt oder als „Wahrheit“ behauptet werden.

Dann fehlt der gesellschaftliche Zusammenhalt, den gemeinsame Wirklichkeits-Bilder ebenso ermöglichen können wie die subjektive Sinnfindung. 

 

Traditionell Denkende halten unseren Bewußtseinswandel – vom Abbilden der angeblich objektiven zum Konstruieren einer tatsächlichen subjektiven Wirklichkeit – natürlich für unsinnig.

Gäbe es uns nicht, wäre die objektive Wirklichkeit ihrem Denken zufolge exakt die gleiche; jede leicht abschwächende Formulierung – „natürlich ohne unsere Körper“ – würde zwar theoretisch stimmen, grenzte aber angesichts der praktischen Unendlichkeit dieser objektiven Wirklichkeit an Größenwahn.

Anders herum bedeutet das freilich, daß wir im physikalischen Kosmos pure Nichtse sind; jede Ameise ist für ihren Haufen millionenfach wichtiger als wir für die traditionelle Welt.

 

Jacques Monod schrieb in seinm Bestseller „Zufall und Notwendigkeit“ ganz in diesem Sinne:

„Das Universum trug weder das Leben, noch trug die Biosphäre den Menschen in sich. Unsere ‚Losnummer‘ kam beim Glücksspiel heraus.

Der Mensch weiß endlich, daß er in der teilnahmslosen Unermeßlichkeit des Universums, aus dem er zufällig hervortrat, allein ist. Wir sind Zigeuner am Rande eines Universums, das taub ist für unsere Musik und unempfindlich für unsere Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.

Nicht nur sein Los, auch seine Pflicht steht nirgendwo geschrieben. Es ist an ihm, zwischen dem Reich und der Finsternis zu wählen.“

Monod ist nicht zynisch oder verletzend, sondern einfach nur geradlinig und bereit, konsequent traditionell-modern zu denken; allein seine diesbezügliche Ehrlichkeit unterscheidet ihn von den meisten der heutigen Traditionalisten. Monod ist bereit, das zu sehen und auszusprechen, was nahezu alle Menschen heute glauben, aber selbst nicht wahrhaben wollen, so daß sie sich selbst belügen müssen.

 

Ich kann mir kaum vorstellen, wie sich die Fragen nach Sinn, Liebe, Wahrheit, Glück, Leben und Sterben in einem solchen Wirklichkeits-Bild befriedigend beantworten lassen sollen. Wir Menschen werden ihm zufolge einmal ausgestorben sein – und weder ist dann im Kosmos etwas Entscheidendes geschehen, noch wird uns jemand vermissen.

Robert Spaemann und Reinhard Löw hatten gewiß Recht damit, daß wir „Die Frage Wozu?“ subjektiv gar nicht ernst genug nehmen können. Aber müßte dies nicht auch für den Kosmos gelten? Wozu der Aufwand mit den unermeßlichen Dimensionen – wenn es dem christlichen Glauben zufolge doch allein um uns als die Krone der Schöpfung geht?

 

Schon Blaise Pascal konstatierte:

„Ich sehe diese entsetzlichen Weiten des Weltalls, die mich einschließen, und ich finde mich an einen Winkel dieses gewaltigen Raums gefesselt, ohne daß ich weiß, warum ich an diesen Ort und nicht vielmehr an einen anderen gestellt bin und warum diese kurze Frist, die mir zu leben gegeben ist, mir gerade zu diesem Zeitpunkt und nicht vielmehr zu einem anderen der ganzen Ewigkeit, die mir vorausgegangen ist, und der ganzen Ewigkeit, die auf mich folgt, bestimmt ist . . . 

Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume und Zeiten erschreckt mich.“

 

Veranschaulichen wir uns die gewaltige Differenz zwischen dem traditionellen und dem von uns angezielten postmodernen Denken noch an einer einfachen, aber sehr deutlichen Konsequenz:

Wenn ein Subjekt stirbt, gibt es traditionell einen lebenden Körper weniger im Kosmos, was darin freilich auch nicht die geringste Rolle spielt. Selbst wenn wir Menschen vollständig ausstürben, hätte dies für den Kosmos keine Konsequenzen, würde von ihm gar nicht bemerkt und noch weniger betrauert.

Bei unserem Ansatz ohne Realität können keine objektiven Körper verschwinden; dazu hätten sie ja erst einmal vorhanden sein müssen. Die Verstorbenen entziehen sich aber trotzdem; wo?

Natürlich allein dort, wo sie sich auch zuvor schon befunden haben, nämlich in den subjektiven Psychen derjenigen zurückbleibenden Subjekte, denen die Verstorbenen nahestehen.

Damit läßt sich möglicherweise auch eine positive Antwort auf die Frage nach dem Wozu, Warum oder Sinn unseres subjektiven Lebens finden. In einer objektiven Realität ist das mit Sicherheit ausgeschlossen, weil Sinn keine physikalische Kategorie darstellt und somit im modernen Wirklichkeits-Bild gar nicht vorkommen kann; Henry muß nicht übertrieben haben.

 

AD: „Aber wäre es nicht auch denkbar, daß dieser ganze Aufwand mit seinen Wahnsinns-Ausdehnungen notwendig ist, damit wir überhaupt existieren können? Dann sind wir vielleicht doch sogar die ‚Krone der Schöpfung‘, weil Gott all das um unseretwegen schaffen ‚mußte‘?“

Natürlich darf man das nicht ausschließen; diese Idee allein genügt jedoch ebensowenig wie die eigene Überzeugung davon. Auch mit dem festesten Glauben an das Absurde dienen wir niemandem; das wirkt – mit Recht – lediglich als dickköpfig, stur oder beratungsresistent.

Wer etwas Altes glaubt, ohne zeigen zu können, daß es auch heute noch sinnvoll gedacht werden kann, ist nicht rechtgläubig-treu, sondern „von gestern“. Die Denkbarkeit ist ein wesentliches Kriterium des Glaubens; Martin Seel konkretisiert sie sehr schön:

Denkbar ist bekanntlich vieles,

konsistent denkbar schon erheblich weniger und  

plausibel denkbar– das heißt, in Einklang mit unserem übrigen Wissen von der Welt – gar nicht mehr so viel.“

 

Vielleicht darf ich Sie auch nochmals an das obige Zitat von Höhn erinnern:

„Wer Theologie studiert, muß lernen, daß Frömmigkeit nicht vor Leichtgläubigkeit schützt. Wer nur etwas bezeugt, ohne davon auch überzeugen zu können, hat ein Glaubwürdigkeitsdefizit. Den Glauben zu festigen, vermag keine Theologie, der die Frömmigkeit ihres Anstrichs wichtiger ist als ihre wissenschaftliche Redlichkeit.“

Ihr Gedanke kann also, mit anderen Worten, allein dann von Interesse sein, wenn

– zum einen die entsprechende Denk-Möglichkeit ersichtlich und

– zum anderen deren Realisierung nicht völlig ausgeschlossen ist.

Erst und allein dann läßt sich mit dieser Idee argumentieren; ein vernünftiger Glaube entspricht keinem Wunschkonzert – obwohl er „nur“ Glaube ist.

 

Man nennt den Gedanken, daß alles so beschaffen sein müsse, wie es ist, damit – physikalisch formuliert – im Kosmos Beobachter auftreten können, für die es diesen Kosmos gibt, das („starke“ oder „schwache“) „anthropische Prinzip“. Auf einem enorm hohen Reflexionsniveau wurde es beispielsweise von John Archibald Wheeler, dem letzten großen Schüler Albert Einsteins, bearbeitet. Aber selbst sein Versuch – nachzuweisen, daß der traditionelle Kosmos für unsere Existenz erforderlich ist, – scheiterte.

Anton Friedrich Koch unternimmt gegenwärtig einen neuen Anlauf in diese Richtung; sein Ergebnis ist wohl noch offen, aber leider auch nicht besonders leicht nachvollzieh- oder gar überprüfbar.

2.2. Naiver Realismus der Moderne

In der Moderne, hatten wir bereits ausgeführt, werden die immanenten Seienden  weitestgehend zu den Bausteinen der Physik, so daß die objektive Welt letztlich in den Kosmos der Naturwissenschaften übergeht.

Das ist aber nur die eine Veränderung; eine zweite, ebenso fundamentale besteht im Wechsel der Art und Weise, wie oder woher wir von den immanenten Seienden wissen können.

In Antike und Mittelalter war dies ein kompliziertes theoretisches Problem, über das sich die Philosophen und Theologen mit Recht den Kopf zerbrochen haben, das aber die meisten Menschen natürlich kaum interessierte und von ihnen weder gesehen noch verstanden wurde.

Die Moderne schließt sich weitgehendst dieser Mehrheit an und simplifiziert das traditionelle Erkenntnisproblem entsetzlich:

„Dort ist die – an sich – seiende objektiv-reale Sonne; schau einfach hin, dann siehst Du sie.“

Dieser Satz klingt  wie selbst-, ist aber absolut unverständlich und voller Widersprüche.

 

Das Ergebnis der beiden soeben angedeuteten Veränderungen innerhalb des traditionellen Denkens fassen wir als Naiven Realismus zusammen:

– Die immanenten Seienden nehmen die Form physikalischer Bausteine an, das heißt, sie bestehen in Körpern (oder Strahlungen) aller Art sowie deren mikroskopischen Bestandteilen.

– Durch (adäquates) Abbilden erlangen wir Wissen von diesen Seienden.

Ich wiederhole nochmals:

Der Naive Realismus darf keinesfalls auf die gesamte Tradition übertragen werden; Antike und Mittelalter waren nicht naiv-realistisch – nur die Moderne ist es zum übergroßen Teil. Aber das traditionelle Denken mit seinem Glauben an eine objektive Wirklichkeit umgreift alle drei Perioden, so daß sein Ende mit dem der Moderne zusammenfällt.

Damit läßt sich unsere Gegenwart als Übergang nicht nur von der Tradition, sondern auch vom Naiven Realismus zur Postmoderne verstehen. Das ist ein Paradigmenwechsel sowohl im Alltag als auch in Philosophie und Theologie, dessen Konsequenzen wir wohl noch nicht einmal erahnen können.

 

AD: „Haben Sie bewußt nur von Philosophie und Theologie gesprochen oder lediglich die anderen Wissenschaften nicht erwähnt?“

Das war Absicht!

Wenn die Wirklichkeit in der Postmoderne von der anonymen objektiven Realität der Tradition in mein subjektives Leben übergeht, müssen Philosophie und Theologie sich natürlich mächtig andern, denn sie bilden (im Prinzip) die beiden einzigen – eo ipso nicht-exakten – Wissenschaften, deren Gegenstand in der Wirklichkeit besteht.

AD: „Die anderen Wissenschaften handeln nicht von ihr als Einheit, sondern nur von Teilen der Wirklichkeit. Aber wenn letztere anders wird, muß das doch auch für ihre Teile gelten?“

 

Ihr abschließender Satz scheint auch mir zwingend zu sein; deswegen kann das mit den „Teilen der Wirklichkeit“ nicht stimmen.

Den exakten Wissenschaften ist die Wirklichkeit mit all ihren Teilen – kraß formuliert – gleichgültig; die Physik beispielsweise spricht nicht von der unbelebten Wirklichkeit, sondern, wie alle anderen exakten Wissenchaften auch, nur über ihre Modelle. Und das sind keine von der Wirklichkeit, so daß die Physik als solche von unserem postmodernen Wechsel gar nichts bemerkt.

Auch das komplizierteste oder schönste Modell besitzt keinen Wirklichkeitsbezug. Der Apfel fällt nicht vom Baum, weil die Erde ihn anzieht, wie es uns wahrscheinlich allen in der Schule gelehrt wurde. Vielmehr haben wir mit Newtons Gravitationskraft ein physikalisches Modell erfunden, mit dessen Hilfe sich die Bewegung des Apfels phantastisch genau darstellen und damit auch vorhersagen läßt; mehr kann, soll und „darf“ die Physik nicht.  

 

Die Frage, ob Einsteins Raum-Zeit-Krümmung die Wirklichkeit besser beschreibt als Newtons Gravitationskraft, ist völlig unverständlich. Weder kommen Modelle der Wirklichkeit nahe, noch sind sie von ihr entfernt.

Wir erreichen mit unseren Modellen

– eine partielle Verfügbarkeit für chronologische Ziele; aber

– diese bleibt eingebettet in die prinzipielle Unverfügbarkeit unseres (modal-)zeitlichen Lebens.

 

Innerhalb der Philosophie wurde der Naive Realismus bereits von Kant sowie dessen unmittelbaren Nachfolgern – Fichte, Schelling, Hegel – kritisch infragegestellt, und später nicht zuletzt von Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein oder Alfred North Whitehead immer skeptischer betrachtet. Diese Diskussion, der sich insbesondere zahlreiche Künstler angeschlossen haben, ist wohl noch lange nicht beendet.

Außerhalb von Philosophie und Kunst – nicht zuletzt in den Naturwissenschaften, der Theologie sowie im Glaubensleben und Alltagsdenken – ist das freilich ganz anders. Dort wird der physikalische Kosmos als – scheinbar – offen-sichtliche und selbst-verständliche objektive Realität kaum hinterfragt, da man ja angeblich nur hinschauen muß, um die Seienden abzubilden.

 

Der physikalische Kosmos merkt nicht, wenn wir ihn erkennen, so daß nur eine einseitige Wirkung von ihm auf uns existiert, die sich wohl tatsächlich am besten – und sehr anschaulich – als ein Abbilden verstehen läßt:

Wir erkennen den physikalischen Kosmos, indem wir Abbilder von ihm in unserer Psyche produzieren, was die Seienden zu den entsprechenden Urbildern werden läßt. Dort befindet sich zum Beispiel das Urbild namens „Sonne“; es ist abbildbar, und durch das Hinschauen erhalten wir ein Abbild von ihm in unserer Psyche.

 

Wer so, naiv-realistisch denkt, braucht natürlich keine Philosophie und staunt nur, wie man sich mit deren „absurden Hirngespinsten“ beschäftigen kann, obwohl doch „in Wirklichkeit alles so einfach und selbstverständlich ist“:

„Was wollen diese Philosophen eigentlich? Sie konstruieren nur sinnlose Schein-Probleme an Stellen, wo es keine tatsächlichen gibt. Wirkliche Schwierigkeiten bereiten die ‚harten Fakten‘ des Alltags sowie der Wissenschaft und Technik. Wozu überhaupt noch Geisteswissenschaften? Die lösen keine Probleme, sondern erzeugen sie nur unnötig.“

 

Im Sinne von Wittgenstein würde ich einer solchen Stammtisch-Philosophie etwa Folgendes entgegnen:

1. Die Philosophen konstruieren keine Schein-Probleme, sondern versuchen, wirkliche Probleme auf-scheinen zu lassen, indem sie angebliche Selbstverständlichkeiten der Wissenschaft, des Alltags oder Glaubens infrage stellen.

2. Daß die Philosophen keine Probleme lösen, sieht der Naive Realist freilig richtig; darin besteht die Aufgabe der Wissenschaft.

3. Die Philosophie ist keine Wissenschaft, sondern eine Therapie, die  „die Probleme wie eine Krankheit behandeln“, das heißt, nicht lösen, sodern zum Verschwinden bringen soll.

„Die ‚Lösung‘ der Probleme des Lebens merkt man am Verschwinden dieser Probleme.“

„Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat.“

4. Das setzt allerdings ein möglichst offenes und sauberes Denken voraus, aber „die Wissenschaft denkt nicht“ (Martin Heidegger).

5. Diese „Verleumdung“ läßt sich recht gut verstehen:

Um die Probleme oder „Rätsel der normalen Wissenschaft“ (Thomas S. Kuhn) zu lösen, stehen Denkwerkzeuge – Begriffe, Paradigmen, Theorien, Modelle und Techniken – zur Verfügung, die nur angewandt werden müssen. Das erfordert mehr Routine durch Üben oder Lernen als Denken und ist ein geistiges Handwerk.

Das pflegen die „normalen“ Wissenschaftler, die mit den bereits bestehenden Denkwerkzeugen operieren.

6. Zur „wissenschaftlichen Revolution“ als einem „Paradigmenwechsel“ (Kuhn) gehört dagegen grund-legendes Denken.

7. Das ist aber auch schon der Bereich der Philosophie, weil dadurch die Probleme des alten Paradigmas – nicht wissenschaftlich gelöst werden, sondern – durch das Erfinden oder Schaffen neuer Denkwerkzeuge therapeutisch verschwinden.

8. Diese Probleme bestanden also nicht an sich, sondern wurden lediglich durch unser unzureichendes Denkwerkzeug – das alte Paradigma mit seinen unfruchtbar gewordenen Begriffen – erzeugt.

9. Als Therapie kann und soll die Philosophie uns helfen zu leben, aber sie hat nicht – wie die Tradition häufig meint – die Aufgabe, ewig wahre Antworten auf die letzten, größten oder allgemeinsten Fragen der Menschheit zu finden und endlich zu klären, worin Sein oder Sinn, das Eine, Wahre, Gute und Schöne  bzw. Gott nun wirklich bestehen.

10. Das sind für die Postmoderne keine besonders tiefen, sondern überholte, weil heute falsch gestellte Fragen. Uns interessiert auch nicht mehr, wie der Rand der Erdscheibe beschaffen ist.

11. Sinnvoll könnten die traditionellen Fragen bestenfalls sein, wenn die Wirklichkeit in einer objektiv-zeitlosen Welt und nicht im subjektiv-zeitlichen Leben bestände. Aber was hat ein einzigartiges Subjekt bzw. sein unaustauschbares Leben mit einer angeblichen Objektivität und Zeitlosigkeit zu tun? 

12. Die philosophische Tradition sucht ewig-wahre Antworten; die Postmoderne erkennt, daß nicht einmal unsere Fragen diese Eigenschaft besitzen.

13. Der Postmoderne geht es um „das Andere der Vernunft“ – das Irrationale, Irreale, Unschickliche oder Alogische; den Leib, das Begehren, die Phantasie, Triebe und Gefühle –, das die Tradition unter den Tisch fallen läßt, weil sie es nicht denken kann.

14. Wir versuchen es trotzdem und betrachten das Andere der Vernunft als die Leibhaftigkeit oder Wirklichkeit unseres Lebens. Sie spielen jenseits der Logik und sind damit a- oder unlogisch, können aber niemals logisch widersprüchlich sein.

2.3. Kosmos – Welt – Leben

Möglicherweise wundern Sie sich die ganze Zeit schon, weshalb ich zumeist zwischen der objektiven Welt und dem physikalischen Kosmos unterscheide. An Ihrem Erstaunen zeigt sich gegebenenfalls, wie massiv wir uns im Verlauf der letzten drei Jahrhunderte an das Denken der exakten Wissenschaften angepaßt haben.

In vielen Büchern und Artikeln wird gegenwärtig spekuliert, daß wir Menschen möglicherweise gar nicht nur in unserem physikalischen Kosmos als einem Universum leben, sondern in einem Multiversum – in Kosmen gewissermaßen. Das geschieht teilweise auf einem sehr hohen intellektuellen Niveau, etwa im Zusammenhang mit Hugh Everetts „Quantentheorie der vielen Welten“.

Ich meine jedoch etwas völlig anderes und in gewissem Sinne sogar das glatte Gegenteil.

 

Der physikalische Kosmos stellt nur einen winzigen Teil der Welt dar.

Überlegen Sie bitte einmal, was Ihnen in Ihrem Leben besonders wichtig ist. Befindet sich darunter – bei Nicht-Physikern – etwas Physikalisches? Vielleicht denken Sie an Liebe und Freundschaft, bestimmte Menschen, Lebensziele und Selbstverwirklichung, Hobbys, Handwerk, Bücher, Kunst, Bildung oder einfach nur gutes Essen und Trinken.

All das sind keine Gegenstände der Physik – und sie können somit in deren Welt, dem Kosmos, auch nicht vorkommen. Darin gibt es keine Sprachen oder Gedichte, keine Gemälde oder Bierdeckel, weder Schön- noch Gemeinheit, weder Geld noch Armut, keine Verbrechen oder Fußballspiele, keine Staaten mit Flaggen und Hymnen, keine Bedürfnisse und kein Begehren.

Im physikalischen Kosmos existiert fast nichts; zu ihm kann nur das Wenige gehören, das sich vollständig mittels der Physik beschreiben läßt. Das ist bereits bei Reißzwecken, Sicherheitsnadeln und Büroklammern nicht mehr möglich, weil sie einen Zweck besitzen, dieser aber keine physikalische Kategorie darstellt, das heißt, daß der Physiker als Physiker nicht verstehen kann, was ein Zweck – und damit auch eine Reißzwecke – sein soll.

Es verbleiben somit nur die traditionellen primären Qualitäten Anzahl, Größe, Masse, Form, Ort, Geschwindigkeit usw.

 

AD: „Wieso sollen Reißzwecken, Sicherheitsnadeln und Büroklammern keine physikalischen Gegenstände und somit auch nicht im Kosmos enthalten sein?“

Entschuldigung; mein „nicht“ war falsch; sie befinden sich auch, aber nicht nur im Kosmos.

Reißzwecken, Sicherheitsnadeln und Büroklammern haben eine bestimmte Größe, Form, Masse, Festigkeit sowie weitere Eigenschaften, für die die Physik zuständig zeichnet, und hierdurch gehören diese Gegenstände natürlich dem Kosmos an – pardon.

Das wollte ich keineswegs bestreiten; aber damit handelt es sich noch nicht um Reißzwecken, Sicherheitsnadeln bzw. Büroklammern, denn das sind sie erst durch ihren jeweils noch hinzukommenden Zweck. Und mit ihm transzendieren sie den Kosmos und reichen in andere Dimensionen der Welt hinein.

Ich korrigiere mich also; sämtliche Dinge, die physikalische Aspekte besitzen, gehören auch dem Kosmos an, gehen aber zumeist weit über ihn hinaus; er ist – anschaulich gesprochen – zu eng für sie.

Unbestreitbar bedeutet unser Rendezvous auch eine Ortsveränderung, aber daß es nur das sein soll, können hoffentlich auch die dreistesten Physikalisten selbst nicht glauben.

 

Viele Menschen finden in ihrem Leben keinen Sinn und haben damit auch vollkommen Recht, wenn sie ihre Welt auf die physikalischen Komponenten reduziert haben. Darin kann es natürlich keinen Sinn geben, weil er ebenfalls keine physikalische Kategorie darstellt. Auch Physiker finden keinen Sinn im Kosmos; hoffentlich bei ihrer Arbeit, aber die erfolgt nicht im Kosmos, sondern handelt nur von ihm.

Wir können nicht unsere Wohnung schwarz überstreichen und dann klagen, daß die Farben fehlen. Doch; natürlich können wir es; wir tun es ja weitestgehend, indem wir die wirkliche (moralisch-)praktische Wahrheit unseres Lebens durch eine angeblich (erkenntnis-)theoretische Richtigkeit des Weltbilds ersetzen – und dann vielleicht unglücklich sind:

„Was sollen wir eientlich damit?“

 

AD: „Die nicht-physikalischen Partial-Welten, die Sie andeuten, spielen aber doch wirklich nur eine untergeordnete Rolle . . .“

Das ist richtig; aber nicht weil es sich objektiv so verhält, sondern weil wir uns in der Moderne einreden lassen haben, allein die physikalische Partial-Welt sei entscheidend. Überlegen Sie bitte einmal, was wir alles über unseren Kosmos erzählen könnten, und wie rudimentär sich daran gemessen – bei den meisten von uns – das musische oder poetische Vokabular ausnimmt, wie beschränkt unsere Partial-Welten beispielsweise des Schönen, Guten, Religiösen und der Gabe oder Stille entwickelt sind.

Bei dem Wort „Krieg“ beispielsweise assoziieren die meisten Menschen heute physikalisch-elektronische Waffen(-Systeme) und deren Abwehr. Aber müßte uns nicht als erstes das Leid der Betroffenen – Menschen, Tiere und vielleicht sogar Pflanzen – in den Sinn kommen?

 

Nun sollte verständlich sein:

Die Welt besitzt nicht nur die vier Dimensionen der physikalischen Raum-Zeit, sondern potentiell unendlich viele und ist unabsehbar reichhaltig oder mannigfaltig. Der Kosmos mit seinen armseligen Inhalten nimmt sich daran gemessen entsetzlich provinziell aus. Auch wenn er räumlich sowie chronologisch praktisch keine Grenzen besitzt, bleibt der Kosmos gegenüber dem Reichtum, der Vielfalt und Faszination der Welt, die ihn umgreift, nahezu vernachlässigbar.  

Allein das traditionelle Denken im modernen Abendland glaubt, mit der Physik den Nabel oder die Einheit der Welt gefunden zu haben, so daß die physikalische Weltformel als das angeblich letzte noch zu lüftende Rätsel gehandelt und als Endlösung verkauft wird.

 

Wir setzen diese Horizonterweiterung vom Kosmos zur Welt fort und gehen mit der Postmoderne zum eigenen Leben über:

objektiver Kosmos   →   objektive Welt   →  subjektives Leben

 

AD: „Und wo spielt sich dieses subjektive Leben ab, wenn es keine objektive Welt (mehr) gibt? Wo leben wir dann?“

Diese Frage hatte ich erwartet – aber sie stellt sich für uns gar nicht, sondern ergibt sich nur aus dem traditionellen Subjekt-Verständnis:

Wenn wir unser Körper sind – gleichgültig ob mit oder ohne Innen –, ist ein Lebens-Raum erforderlich, so daß Ihre Frage nach einem Wo zwingend wird.

Postmodern haben wir den Körper jedoch nur; er gehört der subjektiven Welt an, die wir – als Ergebnis unseres bisherigen Lebens – ebenfalls haben, lebt aber nicht.   

Das Leben ist das eigene und besteht in unserem (modal-)zeitlichen Darstellen, Erfahren, Leiden, Hoffen, Freuen, Sich-Ängstigen usw. Das ist alles nichts Räumliches, so daß wir gar nicht sinnvoll fragen können, wo es sich abspielt.

 

Wir leben und orientieren uns dazu notwendigerweise innerhalb der eigenen Psyche an unserer subjektiven Wirklichkeit. Letztere enthält mit dem physikalischen Kosmos einen räumlichen Anteil – geht aber in ihren unräumlichen Komponenten weit darüber hinaus.

Innerhalb des Raumes befinden sich alle Körper; der unsrige ebenso wie die fremden.

Steht ersterer vor einem Abgrund, gehen wir nicht weiter. Aber keineswegs weil der Körper – wie die Tradition meint – sonst sterben oder kaputt gehen würde, sondern weil wir absolut nicht wissen, was im Falle eines Weitergehens mit uns selbst geschehen würde.      

 

AD: „Ihre Antwort hat mich jetzt überrascht; ich war auf die fromme Variante ‚Wir leben in Gott‘ vorbereitet.“ 

Die will ich Ihnen nicht wegnehmen, und ich könnte diese Antwort auch selbst unterschreiben; hier wäre sie jedoch fehl am Platze. Mir geht es nicht um Erbauung, sondern um eine möglichst saubere philosophische Argumentation. Dann darf ich nicht Gott aus dem Hut zaubern, wenn und weil mein Grips versagt.

Aber ein Zusammenhang zwischen unseren beiden Denkmöglichkeiten besteht natürlich:

Meine Antwort ermöglicht die Ihrige erst.

Wären wir unser Körper, müßte Gott ein großer Raum sein (und vielleicht zusätzlich noch anderes), damit wir in Gott leben könnten. Das erscheint mir jedoch nicht sehr glaubwürdig.

 

AD: „Das war hilfreich.

Ich kann also nicht beispielsweise vor dem Eiffelturm stehen und ihn bewundern. Dort befindet sich gegebenenfalls mein Körper, und ich bin das Subjekt, das diese Gesamtsituation – mein Körper vor dem Eiffelturm mit allem Drumherum – sieht. 

Aber ein Problem habe ich trotzdem noch:

Unser tägliches Leben beweist, daß unsere Anschauungen oder Wissungen intersubjektiv weitgehend übereinstimmen.

Wie wollen Sie das ohne eine objektive Wirklichkeit erklären? Meines Erachtens geht es nur mittels der Annahme, daß diese von den betreffenden Subjekten in hinreichender Näherung adäquat und damit einheitlich erkannt wird.“

 

Nein; es gibt noch andere Erklärungsmöglichkeiten; eine von ihnen besteht darin, daß wir manipuliert werden.

Erschrecken Sie bitte nicht; ich bin kein Verschwörungstheoretiker. Es sind unter anderem so große Denker wie Ludwig Wittgenstein oder Michel Foucault, die das Erziehen und Erklären als ein „Abrichten“ verstehen. Ein wichtiges Buch von Foucault trägt den Titel „Überwachen und Strafen“; darin stellt er die Kultur oder Deutegemeinschaft als „Disziplinargesellschaft“ dar.

Das erscheint Ihnen wahrscheinlich als sehr negativ, meint aber eine notwendige Manipulation, weil wir die dadurch erreichte Intersubjektivität als gesellschaftlichen Kitt benötigen. Keine Kultur kann ohne eine hinreichende Übereinstimmung ihrer Mitglieder leben.

Das ist die konstruktive Seite, gegen die sich meines Erachtens nicht viel einwenden läßt:

„So sehen wir das als Deutegemeinschaft und bitten alle, die dazugehören (möchten), um ein entsprechendes Verständnis, die notwendige Toleranz oder Loyalität und ausreichende Empathie bzw. um konstruktive Kritik mit dem Ziel, unsere intersubjektive Einigung im Sinne der Gemeinschaft zu verbessern.“

 

Da Intersubjektivität prinzipiell nicht kontrolliert werden kann, bleibt allein ein solches Appellieren an den guten Willen. Um ihn zu unterstützen und zu steigern, wird die gewünschte Intersubjektivität gegebenenfalls als

– Abbild

– einer objektive Wirklichkeit ausgegeben:

„So ist es; wir haben die Wahrheit gefunden – also richtet euch bitte alle danach.“

Natürlich kann das mitunter auch gelogen und bösartig sein; aber bei den allermeisten Mitgliedern der Deutegemeinschaft wird es sich wohl eher um Gutgläubigkeit oder Unterordnung im positiven (?) bzw. Denkfaulheit im negativen Fall handeln.

2.4. "Schwierigkeiten mit den Seienden"

Dieses Kapitels brauchte es eigentlich gar nicht, denn wir können keine Schwierigkeiten mit etwas Inexistentem haben.

Die meisten Menschen sehen das jedoch ganz anders, und wissen komischerweise nicht nur, daß es Seiende gibt, sondern auch noch recht genau, worin diese angeblich bestehen (müssen); allein daraus resultieren unsere „Schwierigkeiten mit den Seienden“.

 

Ich biete Ihnen darin noch ein paar Argumente an, die Sie in der Einsicht bestärken sollen, daß unser Übergang von der Tradition zur Postmoderne

– recht zwingend und

– sowohl für ein aufgeklärtes Denken

– als auch für unsere Zukuftsfähigkeit notwendig ist .

Meine Hinweise entsprechen Wittgensteins Leiter. Vielleicht benötigen Sie diese noch als Hilfe; aber nachdem Sie auf ihr emporgestiegen sind und die nächste Reflexionsebene erreicht haben, können Sie die Leiter getrost wegwerfen und tatsächlich mit dem nächsten Kapitel beginnen.   

2.4.1. Wir wissen nicht, was Sein oder Existenz bedeuten

Die abendländischen Philosophen versuchen seit zweieinhalb tausend Jahren zu klären, was wir mit „Existenz“ meinen. Andere Namen – wie „Sein“, „Bestehen“, „Gegeben-“ oder „Vorhandenheit“ – liefern keine Antworten, sondern benennen das Fragliche nur um.

Ich bin überzeugt, daß diese Worte philosophisch keine Begriffe darstellen, weil sie nichts Verständliches besagen. Bei unseren Alltagsproblemen verhält sich das natürlich anz anders; Butter zum Beispiel ist vorhanden, wenn sie im Kühlscharnk steht und ich mir damit eine Schnitte schmieren kann.

Aber wenn wir beispielsweise von der Existenz Gottes oder einer unsterblichen Geist-Seele, von dem Sein Platonischer Ideen oder der Seienden sprechen, helfen uns keine hausbackenen Erklärungen; nur um diese philosphische (Nicht-)Bedeutung von Existenz geht es mir natürlich.

 

Neben dieser Vielfalt der Verwendungsweisen gibt es noch einem zweiten Grund, der das Thema schwierig zu behandeln macht:

Wenn Sie zu wissen glauben, was Existenz meint, und überzeugt sind, damit einen relativ sauber defiierten Begriff anzuzielen, kann ich Ihnen unmöglich widersprechen. Nur Sie selbst vermögen doch zu wissen, was Sie wissen.

Ich will Ihnen in diesem Abschnitt also nichts ein- bzw. ausreden, sondern lediglich plausibel machen, daß meine Überzeugung vielleicht auch nicht völlig aus der Luft gegriffen ist.  

 

Da die meisten Philosophen in Antike und Mittelalter überzeugt waren, unser Denken würde irgendwie eine Einheit mit dem Sein bilden – „Denken ist Sein“ war seit Parmenides ein geflügeltes Wort unter ihnen –, haben sie die Existenz oder das Sein als eine Eigenschaft verstanden.  

Krokodile haben 1000 Eigenschaften; eine von ihnen besteht in ihrer Existenz und dadurch gibt es sie.

Drachen besitzen ebenfalls 1000 Eigenschaften, aber die Existenz befindet sich nicht darunter; deswegen sind sie nicht vorhanden.

Ein solches Denken ist uns kaum noch möglich. Es gibt weder existierendes noch nicht-existierendes Geld; das wollte Kant mit seinem Beispiel der „100 Taler“ zeigen. Geld ist Geld – unabhängig davon, ob wir es besitzen oder vermissen; das ist unser Problem, und nicht das des Geldes.

 

Damit entfällt auch eine – vielleicht etwas simple, aber wohl gerade dadurch – weit verbreitete Interpretation des „ontologischen Gottesbeweises“ (Anselm von Canterbury):

Ein vollkommener Gott, der existiert, hat mit seiner Existenz eine positive Eigenschaft mehr, als exakt dieser gleiche „fast vollkommene“ Gott, der lediglich nicht existiert.

Anselm definierte Gott „als das vollkommenste aller Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann„.

Angenommen wir denken uns ein großartiges und absolut perfekteses Wesen, das (nahezu) keinen Makel besitzt – bis auf einen einzigen: Es existiert leider nicht.

Dann ist es jedoch nicht das vollkommenste Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann, denn das gleiche Wesen wäre auch als existent denkbar.

Gott – als das vollkommenste Wesen, über das hinaus gar nichts Vollkommeneres gedacht werden kann – muß also notwendigerweise existieren, denn ansonsten wäre er nicht das vollkommenste Wesen.

 

Natürlich ist das für mich kein Beweis; aus einer Definition oder Wissung kann niemals folgen, daß ein Wovon oder Referent dazu existieren muß. Hier wird – gemäß der oben erwähnten, für uns jedoch völlig unbegründeten Identität von Denken und Sein – fälschlicherweise von der Logik auf die Wirklichkeit geschlossen.

Außerdem mißfällt mir Anselms Definition:

Gott ist nicht „das vollkommenste aller Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann“, sondern bestenfalls ein „Wesen“, das vollkommener ist als alles, was gedacht werden kann – und genau deswegen ist er überhaupt kein Wesen.

Das erweist sich jedoch für unsere Überlegungen als völlig belanglos; mir ging es bei den Beispielen allein darum, Ihnen ein wenig plausibel zu machen, daß die Existenz in der Vormoderne scheinbar recht problemlos als eine Eigenschaft verstanden werden konnte.

Kant zeigte später, meines Erachtens recht unmißverständlich, daß dies nicht (mehr) möglich ist, weil „die Existenz kein Prädikat darstellt“ – und läßt uns damit einigermaßen ratlos zurück:

Wir benutzen „Existenz“ und seine oben angegebenen Umbenennungen nahezu ununterbrochen – und niemand versteht sie . . .

 

Natürlich nicht; wie soll man denn eine Wirklichkeit verstehen können, die angeblich objektiv ist, sich aber – dummerweise – vollkommen unabhänging und damit getrennt von uns außerhalb der Psyche befindet?

AD: „Das leuchtet mir nicht ganz ein; wieso folgt aus der Unabhängigkeit von uns eine Trennung?

Die objektive Wirklichkeit

– existiert unabhängig von uns und

– befindet sich außerhalb der Psyche,

– kann aber von uns beobachtet bzw. abgebildet werden und

– ist folglich mit uns verbunden und

nicht von uns getrennt.“

 

Dieser Schilderung von Ihnen werden vermutlich die meisten Leser gerne zustimmen; ich glaube aber dennoch, daß sie falsch ist.

Um dies verständlich begründen zu können, müssen wir ein wenig ausholen und wechseln deswegen zu einem eigenen Abschnitt.

2.4.2. Das Gesamtkonzept der Seienden ist widersprüchlich

Wir stellen uns die traditionellen Seienden wie die Elemente einer (mathematischen) Menge vor; sie sind getrennt, unabhängig oder isoliert voneinander und könnten folglich alle einzeln aufgezählt werden; es gibt Sonne, Mond und Sterne, Zahlen, Subjekte, . . .

Daß wir dabei niemals fertig würden, ist natürlich richtig, für unsere Überlegungen aber nicht von Belang. Die (mengentheoretische) „Mächtigkeit“ der objektiven Wirklichkeit, das heißt die Frage, ob sie endlich oder unendlich viele Elemente bzw. Seiende umfaßt, können wir auf sich beruhen lassen, da uns der ganze Ansatz widerspricht.

Als Subjekte gehören wir selbst den Seienden an, was weitgehend übersehene Problemen mit sich bringt:

 

Stellen wir uns die objektive Wirklichkeit vor, so führt dies zu einer Menge – nicht Gesamt- oder Einheit – aller Seienden.

Ihre Trennung entspricht einer 100%-igen Isolation jedes Seienden von allen anderen. Bei uns Subjekten würde dies bedeuten, daß wir uns als blind, taub und gefühllos vorstellen müßten, damit für uns kein einziges anderes Seiendes existiert.

Somit werden wir freilich zum Solipsisten, denn selbst wenn an sich noch andere Seiende außer uns existieren würden, wären sie für uns nicht vorhanden:

Wir sind ganz allein, denn zwischen

– der Inexistenz der anderen Seienden und

– unserer Trennung oder Isolation von ihnen

besteht kein Unterschied, der einen Unterschied macht.

 

Damit ging freilich bereits der Beginn des letzten Abschnitts daneben; als ihr selbst Angehörende können wir uns die objektive Wirklichkeit nicht vorstellen, weil sie uns durch die Trennung aller Seienden verborgen bleibt. 

 

AD: „Nein; irgendwo muß in Ihrer Argumentation ein Fehler stecken:

Hier bin ich; dort ist die Sonne; hübsch getrennt voneinander – und trotzdem sehe ich sie.“

Nein; jetzt haben Sie sogar zwei Denkfehler begangen:

Zum einen hat Ihr räumlicher Abstand von der Sonne nichts mit einer Trennung zu tun.

Und zum anderen können Sie die Sonne nur sehen, weil eine Wechselwirkung und damit eben keine Trennung besteht; das Licht der Sonne erreicht Ihre Augen.

 

AD: „Wechselwirkung und Trennung widersprechen sich doch nicht:

Erde und Sonne beispielsweise sind zwei getrennte Seiende, obwohl sie durch die Gravitationskraft aufeinander wirken.“

Nein; wenn Seiende getrennt sind, wirken sie nicht aufeinander, und umgekehrt; entweder . . ., oder . . .!

Schließen sich diese beiden Möglichkeiten jedoch aus, müssen wir sie einzeln betrachten:

 

1. Die Seienden sind getrennt

Wir haben mit Sonne, Erde und Gravitationskraft drei Seiende vorliegen. Der Gedanke, daß die Gravitationskraft irgendwie Sonne und Erde miteinander verbinden könnte, ist widersprüchlich, denn dann wäre die Gravitatonskraft kein Seiendes mehr, sondern eine Relation.

Das wäre mir persönlich völlig gleichgültig; aber der traditionelle Ansatz, der von Seienden und nur von Seienden ausgeht, steht im Widerspruch zu einer relationalen Gravitationskraft.

 

2. Die „Seienden“ wirken aufeinander

Meine Anführungstriche deuten bereits an: . . . und sind dadurch keine Seienden mehr.

Wenn die „Gravitationskraft“ „Sonne“ und „Erde“ verbindet, existieren nicht die drei, sondern lediglich deren Einheit  – { Sonne + Gravitationskraft + Erde }.

Wo soll die Erde enden und die Sonne beginnen? Denken Sie zum Verdeutlichen beispielsweise an Siamesische Zwillinge.

Wenn eine Wechselwirkung zwei „Seiende“ verbindet“, haben wir nicht zwei oder drei Seiende, sondern nur noch ein einziges Seiendes.

 

Nehmen wir die traditionellen Überzeugungen ernst, daß

– es eine objektive Wirklichkeit gibt,

– diese in Seienden besteht und

– wir als Subjekte ihr angehören,

so sind wir notwendigerweise immer allein;

ob tatsächlich oder nur scheinbar als Solipsisten, ließe sich für uns nicht entscheiden.

 

AD: „Vorstellen kann sich die objektive Wirklichkeit also höchstens, wer ihr nicht selbst angehört?“

Theoretisch „ja“; aber im Widerspruch zu ihrem eigenen Wirklichkeits-Bild tun es die traditionell Denkenden natürlich ebenfalls.

Um dies zu bemänteln, haben sich schon die alten Griechen des Nous bedient. Er ist ein außerhalb der objektiven Wirklichkeit stehender – und damit natürlich göttlicher – Betrachter, der widerspruchsfrei alles zugleich, das heißt, unabhängig von Raum und Chronos schauen kann; der Nous ist allgegenwärtig.

Aus ihm wird etwa bei Pascal der „Gott der Philosophen“ oder bei Thomas Nagel der „Blick von nirgendwo“ – „und nirgendwann“, würde ich gerne ergänzen. Traditionelle Subjekte, die über einen heißen Draht zum Nous verfügen, können damit ihren Solipsismus überwinden und sich die objektive Wirklichkeit adäquat vorstellen. 

 

AD: „. . . aber ohne den Nous ist das prinzipiell unmöglich. Das bedeutet doch,

– daß traditionell Denkende,

– welche die von ihnen selbst vorausgesetzte Wirklichkeit beschreiben (wollen),

an den Nous und ihre eigene Verbindung mit ihm glauben müssen

– um sich nicht selbst zu widersprechen.

Ansonsten müßten sie zugeben, lediglich Märchen zu erzählen.“

Und wenn ihre Verbindung zum Nous selbst nur eine Märchenfigur darstellen würde, stimmt nichts mehr.“

2.4.3. Es gibt kein Abbilden

Sie hatten am Ende des vorletzten Abschnitts eingewandt, daß wir als Subjekte die anderen Seienden – trotz unserer Unabhängigkeit von ihnen – doch beobachten oder abbilden könnten und wir somit nicht voneinander getrennt, sondern miteinander verbunden seien.

Wahrscheinlich ahnen Sie jetzt bereits, weshalb ich den Exkurs zur „Kosmologie“ soeben eingeschoben habe:

Die dort angedeutete logische Struktur entspricht genau dem von Ihnen vorgeschlagenen Beobachten bzw. Abbilden. 

Aus der Erde werden wir als Subjekte; die Sonne geht in die anderen Seienden über, und die verbindende Gravitationskraft entspricht dem uns gemeinsamen Raum (I). Die Analogie, hoffe ich, ist perfekt.

 

 

    I
II
III
Seiende Seiende Seiende Seiende Seiende
         
Sonne andere Seiende  
Gravitationskraft   Raum „Abbilden“ Abbilden
Erde wir als Subjekte | |  

Abbildung 2.4.3.

 

AD: „Und im nächsten Schritt (II) ersetzen wir den Raum durch unser Abbilden.“

Das geht leider nicht, weil das Abbilden – im Unterschied zur Gravitationskraft und zum Raum – beim traditionellen Denken gar nicht existiert. Wir können doch, um die Funktionsweise dieses Modells zu verstehen, keine Entitäen benutzen, die uns zwar als sehr einleuchtend oder sogar selbstverständlich erscheinen, darin aber gar nicht vorkommen.

Die Tradition

– kennt Seiende oder Urbilder in der objektiven Wirklichkeit,

– deren Abbilder in den Psychen,

– nennt den Übergang von jenen zu diesen „Abbilden“ (II),

– versteht ihn aber nicht,

denn das Abbilden ist weder Ur- noch Abbild – und kann somit gar nicht existieren; tertiun non datur (III).   

 

AD. „Ich verstehe Sie; das Abbilden als Ur- sowie Abbild einzuführen – um den ganzen Ansatz zu retten – hilft auch nicht, denn wir benötigen ja den Übergang, und der kann weder Ur- noch Abbild sein

Aber welche Konsequenzen sich daraus ergeben, ist mir völlig schleierhaft. Wir können doch nachweißlich beobachten; Sonne, Mond und Sterne . . .“

Natürlich können wir das; aber das traditionelle Denkmodell

– macht einerseits das Beobachten notwendigerweise zum Abbilden,

– kann aber andererseits das Abbilden nicht verstehen,

  weil es nur äußere Ur- und innere Abbilder kennt, jedoch keinen Übergang von jenen zu diesen.

 

Daraus ergeben sich meines Erachtens relativ zwingend zwei Schlußfolgerungen:

Das Beobachten

– Ist kein Abbilden, und

– wir müssen das traditionelle Denkmodell aufgeben, denn darin

  — müßte das Beobachten zwar ein Abbilden sein,

  — kann aber als solches gar nicht gedacht werden.

2.4.4. Mein Leben als Einheit von (Vor-)Gabe und Selbstbestimmung

Zu Beginn dieses Kapitels ging es darum, daß wir nicht wissen, was Existieren oder Wirklich-Sein bedeuten. Ich konnte nur versuchen, Ihnen das plausibel zu machen, denn wie soll man ein Nicht-Wissen als solches nachweisen?

Der vorliegende Abschnitt handelt dagegen nicht vom Verstehen der Wirklichkeit, sondern von ihrem Erkennen als Wirklichkeit bzw. vom Umterscheiden vom Unwirklichen:

Damit meine ich, anders gesagt, die Frage nach einem Kriterium, an dem sich erkennen läßt, ob eine uns gegebene Entität X wirklich ist. Woran machen wir das fest?

Bei der ersten Problemstellung kam kein Kriterium für Wirklichkeit vor, und bei dieser zweiten brauchen wir nicht zu wissen, worin die Wirklichkeit besteht.

 

Die beiden Ergebnisse passen gut zusammen:

Wir haben nicht nur kein solches Kriterium, sondern es kann auch keines geben; meine Begründung ist nicht schwer:

Das Kriterium für Wirklichkeit müßte ja selbst wirklich sein, so daß wir die Frage nach ihm notwendigerweise ohne ein Kriterium beantworten müßten. Das ist kein logischer Zirkel, sondern bedeutet, daß ein solches Kriterium gar nicht existiert:

Um nach ihm suchen zu können, müssen wir bereits wissen, woran wir die Wirklichkeit als solche erkennen.

 

Damit stehen wir vor zwei Problemen:

Ohne ein Kriterium für die Wirklichkeit, verstehen wir nicht, worin sie besteht.

Ohne zu verstehen, worin die Wirklichkeit besteht, finden wir kein Kriterium für sie.

Das ist ein Gordischer Knoten, denn ohne das Blaue ergibt sich das Rote nicht und umgekehrt. Auf den ersten Blick würden wir wohl sagen, daß er sich ohne Gewalt schwerlich lösen lassen dürfte.

 

Also soll er gewaltsam mit dem Schwert zerschlagen werden; ohne Bild gesprochen heißt das:

Wir geben entweder das Blaue oder das Rote willkürlich vor, und erhalten dann automatisch das jeweils andere. Erklären wir beispielsweise die Seienden zur Wirklichkeit, ergibt sich als ihr Kriterium die Abbildbarkeit.

Das entspricht dem Vorgehen der Tradition, und seine Gewaltsamkeit besteht darin, daß wir Menschen bestimmen, definieren oder festlegen, worin die Wirklichkeit besteht. Das ist völlig absurd, denn sie ist uns vorgegeben. Wir sind nicht die Herren, sondern von Gnaden der Wirklichkeit; wir hängen von ihr ab.

 

Aber wir hatten uns soeben getäuscht; wider dem ersten Anschein läßt sich unser Gordischer Knoten – unter Verzicht auf jegliche Gewalt – auch aufdröseln.

Dazu dienen uns die beiden Ergebnisse, daß wir

– weder die Wirklichkeit verstehen

– noch ein Kriterium für sie haben:

 

A   Wir wissen nicht, worin die Wirklichkeit besteht, weil sie als das uns Vorgegebene nicht eingesehen werden kann; wir können nicht in sie hinein sehen. Alles Nachfragen – ist kein Rück-, sondern – ein Vorwärts- bzw. Weiterfragen und kommt damit „immer schon“ oder „ursprünglich zu spät“ (Jacques Derrida). 

 

B   Wir besitzen kein Kriterium für die Wirklichkeit, weil wir in unserer Freiheit selbst über sie bestimmen und die Wirklichkeit somit immer anders ist.

 

Müssen sich diese beiden Forderungen widersprechen? Oder gibt es etwas, das

– sowohl uns vorgegeben

– als auch durch uns bestimmt ist?

Ich glaube „ja“: Mein eigenes Leben.

Ich habe es mir nicht selbst gegeben, sondern verdanke es einem Anderen; es ist (Vor-)Gabe.

Trotzdem bestimme ich selbst darüber und gestalte es in Freiheit zu meinem Leben.

Ich mache immer (irgend)etwas aus meiner (Vor-)Gabe – weil Nicht-Machen unmöglich ist.

 

AD: „Und mein eigenes Leben ist die einzige Entität überhaupt, bei der sich Ihre zwei Prämissen nicht widersprechen . . .

Deshalb schlagen Sie als Eintritt in die Postmoderne einen Wechsel der Wirklichkeit von der widersprüchlichen objektiven Wirklichkeit zum widerspruchsfreien subjektiven Leben vor.

2.4.5. Urbilder und Abbilder – im logischen Zirkel

Ein Kind sieht zum ersten Mal in seinem Leben den Mond. Der merkt natürlich nichts von seinem Bestaunt-Werden, so daß wir es mit einem völlig einseitigen Verhältnis zu tun haben. Das scheint sich zwar am besten durch ein Abbilden beschreiben zu lassen – geht aber nicht.

 

AD: „Wieso soll das unmöglich sein? Das Abbilden ist doch etwas ganz Alltägliches; denken wir nur an das Photographieren, Malen und Beschreiben, an Landkarten, technische Zeichnungen oder Veranschaulichungen.“

Das stimmt; Sie übersehen aber, daß wir es hier mit zwei völlig verschiedenen Formen des „Abbildens“ zu tun haben. Das philosophische Abbilden(P) hat mit dem von Ihnen gemeinten alltäglichen Abbilden(A) nahezu gar nichts gemein.

 

Wir stehen – traditionell gedacht – vor dem objektiv-realen Eiffelturm, bilden ihn in unserer Psyche ab und schießen ein Erinnerungsphoto, so daß sich zwei verschiedene Arten von „Abbildern“ ergeben.

Die Anführungsstriche soeben sind wichtig, denn es wäre mehr als verwegen, hierbei Abbilder als gemeinssamen Oberbegriff zu benutzen: 

 

Natürlich ist ein Photo vom Eiffelturm nicht der Eiffelturm, sondern lediglich ein Abbild(A) von ihm. Aber das Photo, das wir in der Hand halten oder auf dem Handy sehen, ist ebenso real, wie der Eiffelturm selbst. Wenn er ein Urbild sein soll, muß dies für sein Photo also ebenfalls gelten.

In Paris befinden sich folglich an der frischen Luft zwei Urbilder und in unserer Psyche die beiden zugehörigen Abbilder(P).

Wir könnten noch ein Photo vom Photo vom Photo vom . . . machen, aber an die Abbilder(P) kommen wir natürlich nicht heran.

 

 

Seiende oder Urbilder Eiffelturm Photo vom Eiffelturm Photo vom Photo vom . . .
  ——— Abbilden(A) ——
  | | |
  Abbilden(P) Abbilden(P) Abbilden(P)
 
Abbilder(P) vom . . .
Eiffelturm Photo vom Eiffelturm Photo vom Photo vom . . .
in der eigenen Psyche
     

Abbildung 2.4.5.-1

 

Beim Abbilden(A) sind uns sowohl Ur- als auch Abbild(A) gegeben; beim Photographieren können wir beispielsweise die aufgenommene Landschaft unmittelbar mit dem Bild davon vergleichen, und wir sehen – lax ausgedrückt – doppelt; das Original und sein Photo. Dem Künstler steht ein Mensch gegenüber, von dem er ein Porträt malt; wir orientieren uns in der Natur mittels einer Wanderkarte usw.

 

Mit Ur- bzw. Abbild(P) im traditionell-philosophischen Sinne haben diese Beispiele nicht viel zu tun, denn beim Abbilden(P) ist uns immer nur ein Exemplar gegeben.

Die Tradition behauptet, dies sei das Abbild(P), das jedoch ohne sein Urbild(P) nicht existieren könnte.

Wir glauben diese Urbilder(P) nicht, so daß die „Abbilder(P)“ nun auch keine Abbilder(P) mehr sind, sondern ganz simpel unsere Wahrnehmungen, wodurch sich die Darstellung von soeben massiv vereinfacht.

 

 

————– ————– ————– ————–
  ——— Abbilden ——
  ————– ————– ————–
  ————– ————– ————–
  ————– ————– ————–
Wahrnehmungen
Eiffelturm Photo vom Eiffelturm Photo vom Photo vom . . .
in der eigenen Psyche
      

Abbildung 2.4.3.-2

 

AD: „Wir sehen nicht doppelt; das Urbild(P) Mond ist natürlich unsichtbar, weil es sich außerhalb der Psyche befindet; aber unsere Vernunft verlangt seine Existenz:

Wir könnten keinen Mond sehen, wenn er sich nicht dort befände.“

Ihr letzter Satz ist zumindest zweideutig.

Zum einen stellt er eine Tautologie dar: Gäbe es dort nicht den Mond als Sehung, würden wir auch keinen sehen; dem vermag niemand zu widersprechen.

Zum anderen – und nur das können Sie zur Verteidigung der Tradition gemeint haben – läßt sich Ihr Satz auch so verstehen, daß zwei Monde unterschieden werden müssen: 

Die Mond-Sehung X in unserer Psyche wäre unmöglich, wenn sich der Ur-Mond Y nicht dort im Weltraum befände.

 

In diesem Fall erfinden Sie einen unsichtbaren Ur-Mond Y im Außerhalb der Psyche, um Ihre Mond-Sehung X darin erklären zu können. Ich bezweifle jedoch sehr stark, daß es sich hierbei um eine Erklärung, das heißt, um etwas Akzeptables handelt:

1. Gegeben ist die Mond-Sehung X.

2. Deren Zustandekommen möchten Sie verstehen.

3. Dazu erfinden Sie einen unsichtbaren Ur-Mond Y.

4. Der einzige Hiinweis auf ihn, besteht in unserer Mond-Sehung X.

5. Sie interpretieren letztere als Abbild(P) des erfundenen Ur-Monds Y.

 

Damit

– leiten Sie aus der Mond-Sehung X den Ur-Mond Y – als eine mögliche Erklärung – ab und

– schließen zugleich aus der Existenz der Mond-Sehung X auf deren Richtigkeit.

 

Kann ein logischer Zirkel perfekter sein?

Sie erklären die Mond-Sehung X mittels des Ur-Monds Y, von dem Sie nur durch die Mond-Sehung X wissen:

Von den Urbildern wissen wir allein durch ihre Abbilder(P).

Die Urbilder machen uns die Abbilder(P) verständlich.

→   Es gibt Urbilder.

 

Diese „Logik“ kannten schon die alten Germanen:

Von Donar wissen wir allein durch den Donner.

Donar macht uns den Donner verständlich.

→   Es gibt Donar.

 

Rein logisch besteht zwischen diesen beiden Zirkelschlüssen auch nicht der geringste Unterschied:

Das Wissen, das sich aus den Abbildern(P) ergibt, macht uns die Abbilder verständlich(P).

Das Wissen, das sich aus dem Donner ergibt, macht uns den Donner verständlich.

Nicht nur Donar, sondern auch die Urbilder sind meiner tiefsten Überzeugung zufolge pure Erfindungen, mit denen wir uns selbst belügen, solange wir glauben, etwas erklärt zu haben.

Es handelt sich bei diesen zwei Beispielen um einen (relativ weit verbreiteten) logischen Fehlschluß, den wir rein formal folgendermaßen darstellen können:

 

Prämisse 1 p → q Regnet es, wird die Straße naß. Das Urbild(P) erklärt das Abbild(P).
Pränisse 2 q Die Straße ist naß. Das Abbild(P) liegt vor.
falsche Konklusion → p Also hat es geregnet. Also existiert das Urbild(P).

Die erste Schlußfolgerung – „Also hat es geregnet“ – ist offensichtlich nicht zwingend, weil zum Beispiel auch Schnee geschmolzen, ein Wasserrohr geplatzt oder der Sprengwagen gefahren sein könnte. Die Prämisse lautete nicht „Wenn es regnet, aber auch  nur dann, wird die Straße naß“.  

Da die Logik nicht vom Inhalt abhängt, kann die zweite Konklusion – „Also existiert das Urbild“ – ebenfalls nicht zwingend sein. Natürlich wäre das eine mögliche Lösung dieses traditionellen Problems; aber daß wir uns gegenwärtig gar keine andere vorstellen können, beweist nicht ihre Richtigkeit, sondern unsere mangelnde Phantasie (oder Denkfaulheit).

Sowohl Donar als auch die Urbilder stellen Versuche dar, etwas zu erklären; sie mögen vielleicht ihre Zeit und ihr Recht gehabt haben; das muß uns nicht interessieren. Aber wenn wir ihre Schwachstellen kennen und die traditionellen Schlüsse nicht mehr intellektuell redlich nachvollziehen können, müssen wir nach etwas Konsistenterem Ausschau halten

 

AD: „Also hatte Feuerbach mit seinen Projektionen doch Recht?“

Natürlich; wir hatten im ersten Teil die Wahrnehmungen sowie Vorstellungen zu den Anschauungen zusammengefaßt und den Begriff des Referenten als ihrem Wovon eingeführt.

Traditionell sind die adäquten Anschauungen solche von den Seienden, so daß die Referenten oder Wovons in den Seienden bestehen. Sie werden als Abbilder behauptet, sind aber notwendigerweise Projektionen, denn – wie wir uns oben überzeugt haben – kann man nichts aus dem Außerhalb der Psyche abbilden, aber natürlich alles aus ihr hinausprojizieren.  

Da es Feuerbach jedoch im wesentlichen um seine Religionskritik ging, war er allein auf Gott fixiert, obwohl seine logisch saubere Argumentation auch nicht das Geringste mit Gott zu tun hat und sich damit wortwörtlich auf sämtliche Seienden überträgt.

Wieso soll die Materie keine Projektion sein, wenn Gott eine sein muß?

 

Feuerbach wollte mit seinen Überlegungen plausibel machen, wie die Traditionell-Gläubigen auf die Idee kommen, es gäbe einen Gott, der zwar als „transzendent“ bezeichnet, aber völlig immanent vorgestellt wird. Diese naiv-realistische Position in Bezug auf Gott nennt man „Theismus“; sie entspricht Bonhoeffers „Gott, den es gibt“.

Theisten haben eine Vorstellung von Gott, projizieren diese aus ihrer Pyche heraus und glauben (an) ihre eigene Projektion. Folglich hat dieser Gott nicht die Menschen nach seinem Bild, sondern sie haben ihn nach ihren Vorstellungen erschaffen – was die Gläubigen, die so denken, natürlich massiv bestreiten und völlig anders sehen werden.

 

Mir geht es, anders als Feuerbach, nicht um eine Kritik der Religion, sondern um eine solche des traditionell-philosophischen Aberglaubens, und deswegen wende ich mich zwangsläufig auch gegen den Theismus.

Überzeugte Christen können nicht nur „a-theistisch glauben“ (Hartmut von Sass), sondern müßten es sogar, um intellektuell redlich zu sein.

Eine außerhalb meiner Psyche vorgestellte Materie ist genau so naiv wie ein dort lokalisierter und damit theistischer Gott.

2.4.6. Von objektiv-"wirklichen" Seienden zu subjektiv-unwirklichen Aktanten

Der Naive Realismus geht davon aus, unsere Wahrnehmungen mittels der entsprechenden Urbilder vernünftig erklären zu können. Wir bestreiten das wegen des logischen Zirkels, der in dieser „Erklärung“ notwendigerweise enthalten ist.

Um einen Schritt weiterzukommen und unsere eigene Position besser zu verstehen, lassen wir uns aber nochmals auf das angebliche Abbilden ein. Dann bestehen hinsichtlich unserer Wahrnehmungen theoretisch zwei Möglichkeiten; sie könnten selbst die Urbilder(P) oder bereits deren Abbilder(P) sein. 

 

Wenn uns die Urbilder(P) selbst in Form der Wahrnehmungen gegeben sind, benötigen wir weder ein Abbilden noch Abbilder(P); beide sind völlig überflüssig.

Bestehen die Wahrnehmungen dagegen in den Abbildern(P), liegt das Abbilden bereits hinter ihnen. Weder wissen wir etwas davon, noch haben wir abgebildet, denn die Wahrnehmungen sind diesbezüglich das Erste, das uns begegnet.

Bei beiden Denkmöglichkeiten – Wahrnehmungen sind Ur- bzw. Abbilder(P) – gibt es also kein Abbilden. Das eine Mal entfällt es gemeinsam mit den Ab- und das andere Mal gemeinsam mit den Urbildern(P). Das paßt genau; eine Bild-Sorte fehlt immer, denn wir sehen nie doppelt.

 

Üblicherweise wird argumentiert:

Weil der Naive Realismus das Abbilden erforderlich macht – denken Sie an unser Baby, das erstmals den Mond sieht –, muß es irgendwie vonstatten gehen.

Wir kehren die Logik um:

Weil das Abbilden niemals vorkommt, muß der Naive Realismus, der es unbedingt benötigt, falsch sein.

 

AD: „Wenn die Wahrnehmungen keine Abbilder(P) sind, die sich von ihren Urbildern(P) her verstehen lassen, fallen sie also vom Himmel?“

Natürlich nicht:

Die Tradition versucht, unsere Wahrnehmungen von einer objektiven Welt her zu erfassen. Ohne letztere wollen wir die – unbestreitbaren und natürlich zugegebenen oder anerkannten – Wahrnehmungen dagegen von unserem subjektiven Leben her verstehen.

 

Es gibt demzufolge . . .

. . . keinen Regenbogen, ohne daß wir ihn sehen.

. . . keine Festigkeit, ohne daß wir sie fühlen.

. . . keine Anzahl, ohne daß wir sie zählen oder berechnen.

. . . keine Materie, ohne daß wir sie messen.

. . . keine Seele, ohne daß wir sie fühlen.

. . . keinen Geist, ohne daß wir ihn erfahren.

. . . keine Offenbarung, ohne daß wir sie glauben.

 

AD: „Traditionell gedacht leben wir im Jetzt der vergehenden Zeit. Aber ich war früher schon im Urlaub auf der Insel Hiddensee, und werde dies hoffentlich auch später noch wiederholen können. Wenn sie ein Seiendes darstellt, das sich lange andauernd in der vergehenden Zeit erstreckt, besteht darin für das traditionelle Denken überhaupt kein Problem.

Nun schaffen Sie die Seienden ab – und ich finde mein Hiddensee nicht wieder.“ 

Ich schaffe die Seienden nicht ab, sondern will lediglich klarstellen, daß es sich

niemals um Seiende, sondern

– immer nur um Projektionen handelt.

Projizieren läßt sich alles, Abbilden nichts.

Wir tun also exakt das Gleiche wie die Tradition und unterscheiden uns nur dadurch von ihr, daß wir unser Projizieren ehrlich zugeben. Es ist also nicht unser Ansatz eigenwillig, sondern der traditionelle unseriös.

 

Das hat freilich Konsquenzen:

Wer nicht flunkert, sondern eingesteht, nur zu projizieren,

– kann seine Ergebnisse nicht als wirklich verkaufen und

– besitzt ein Wirklichkeits-Bild, das sich jenseits von richtig und falsch befindet.

 

AD: „Rein intuitiv widerspricht mir das ziemlich:

Zum einen verstehe ich Ihre Formulierung ‚jenseits von richtig und falsch‘ nicht, und

zum anderen muß ich doch von der Richtigkeit meiner Orientierungsgrundlage überzeugt sein.“

Letzteres nehme ich Ihnen ab, aber Überzeugung ist etwas Graduelles. Sie kaufen Aktien, vertrauen einem Menschen oder lassen sich operieren – alles, weil Sie von der Richtigkeit Ihres Wirklichkeits-Bilds überzeugt sind. Ob es tatsächlich richtig war, so zu handeln, wissen Sie jedoch immer erst im Nachhinein.

Genau das meine ich mit dem „jenseits von richtig und falsch“. Wir besitzen kein richtiges Wirklichkeits-Bild; natürlich auch kein falsches, aber an dem würden wir uns ohnehin nicht orientieren wollen. Wir entscheiden gegenwärtig, leben weiter innerhalb der Modal-Zeit, und möglicherweise werden wir in der Zukunft erfahren, ob unsere vergangenen Entscheidungen richtig waren oder falsch.

 

Was Projizieren genau bedeutet, veranschaulichen wir uns zunächst an den Wahrnehmungen. Sie sind nicht wirklich, aber – im Unterschied zu den Vorstellungen – unbestreitbar; Wittgenstein nennt sie deswegen „gewiß“.

Wir können keine Wahrnehmung von einem Baum besitzen – denn dazu müßte er ein Seiendes darstellen. Aber nicht einmal eine Baum-Wahrnehmung ist uns möglich, was ich bisher – eines verständlichen Übergangs wegen – immer noch zugegeben hatte.

Tatsächlich kann es nur „Baum“-Wahrnehmungen geben, denn Baum und Wahrnehmung widersprechen sich: Jener erstreckt sich in der vergehenden Zeit und diese ist an deren Jetzt gebunden.

 

Einen Baum wahrzunehmen heißt also, ihn zu projizieren, und das bedeutet, daß

– wir im Jetzt eine „Baum“-Wahrnehmung haben,

– nicht glauben, sie sei vom Himmel gefallen, sondern

– ihr eine (mehr oder weniger) stabile „Eigenexistenz“ zuschreiben,

– sie deshalb mittels unserer Vorstellungen sowohl in das Früher als auch in das Später hinein extrapolieren und

– damit damit für die dauernde „Existenz“ des Baumes in der vergehenden Zeit sorgen.

 

Der Baum ist nicht wirklich, sondern nur eine Projektion; wir behaupten also keineswegs seine Existenz – wobei ja ohnehin unverständlich bliebe, was damit gesagt sein sollte.

Was wir auf diese Weise projizieren oder konstruieren, sind – in Anlehnung an Bruno Latour – Aktanten:

früher:     Vorstellung

jetzt:         Wahrnehmung

später:     Vorstellung

Hier wird nichts abgebildet, sondern die Wahrnehmung ist der Jetzt-Zustand des Aktanten; oder besser:

Der Jetzt-Zustand des Aktanten besteht in der Wahrnehmung.

Akanten ersetzen die Seienden. Aber dieses „ersetzen“ trifft nicht ganz:

Aktanten sind „ehrliche Seiende“, und Seiende „geflunkerte Aktanten“.

 

AD: „Dann ist unser Begriff des Wirklichkeits-Bildes ein bißchen unglücklich. Wir assoziieren mit ihm ein Bild von der Wirklichkeit – und tatsächlich handelt es nur von unwirklichen Aktanten.“

Sie dürfen diesen Begriff nicht so engführen. Traditonell bezieht sich das Wirklichkeit-Bild doch auch sowohl auf die Seienden wie auch auf die Nicht-Seienden. Daß es Hiddensee gibt, gehört ebenso dazu wie die Inexistenz von Einhörnern, Marsmenschen, Drachen oder Teufeln.

Aus ihnen werden bei uns Nicht-Aktanten; nur die – eo ipso geglaubten, akzeptierten oder für wahr gehaltenen – Aktanten bilden unsere subjektive Welt. Da aber beide unwirklich sind, muß das zugehörige Welt-Bild jenseits von richtig und falsch sein. Aber wir orientieren uns trotzdem daran und besitzen keine Alternative, denn für alle differenten Welten bzw. Welt-Bilder, die wir theoretisch – im Falle eines anderen Lebens – haben könnten, gilt exakt das Gleiche.

 

Jetzt habe ich absichtlich von der Wirklichkeit zur Welt und vom Wirklichkeits- zum Welt-Bild gewechselt, weil Aktanten bzw. Nicht-Aktanten ebenso wie Seiende resp. Nicht-Seiende nur die Welt betreffen. Abgesehen von einer eventuellen Transzendenz gibt es für die Tradition auch nichts anderes, weil das Leben ihrzufolge dasenige von Subjekten oder speziellen Seienden ist und somit der Welt angehört. 

Das ist postmodern jedoch ganz anders:

Das Leben bildet die – einzige – Wirklichkeit, und die unwirkliche Welt dient ihm lediglich zur Orientierung.

Dann ist das Welt-Bild bei uns natürlich nicht das Gesamt-Bild, so daß es diesbezüglich beim Wirklichkeit-Bild bleibt.

 

Während die unbestreitbaren oder gewissen Wahrnehmungen immer zu Aktanten führen (müssen), können wir bei bestreitbaren bzw. ungewissen Vorstellungen wählen, ob sie zu den Aktanten unserer subjektiven Welt hinzukommen oder nicht.

 

Da aus den traditionellen Seienden oder Nicht-Seienden – wenn wir ehrlich sind – Aktanten bzw. Nicht-Aktanten werden, gibt es für uns nur noch die letzteren beiden. Sie sind keine Referenten oder Wovons der Anschauungen, so daß wir diese Begriffe völlig streichen können.

Damit andert sich nichts an den Anschauungen; wir haben lediglich ihr Zustandekommen (wie ich hoffe) verständlich erklärt. 

Den Weg, der von ihnen zu den Aktanten führt, haben wir oben beschrieben; er besteht im Projizieren oder Konstruieren. Das kommt nicht von der Welt her, sondern geschieht aus dem Leben heraus – durch unser Anschauen. Die Aktanten werden also zur Orientierung durch uns als „Gegen-Stände“ vor uns hin-gestellt; sprachlich schließen wir uns hier Heidgger an:

Durch das Anschauen werden die Aktanten als Gegen-Stände „gestellt“; unsere subjektive Welt ist als gestellte ein unwirkliches „Gestell“.    

 

Um mich möglichst konkret ausdrücken zu können, hatte ich zunächst das wahrnehmende Stellen gewählt. Beim vorstellenden andert sich jedoch kaum etwas daran; lediglich der Start, weil wir es nun auch im Jetzt und damit in allen drei Tempi allein mit Vorstellungen zu tun haben. 

2.4.7. "Physikalisches Sehen" und philosophisches Abbilden

AD: „Daß es kein Abbilden(P) geben soll, will ich immer noch nicht glauben. Ihre Argumentation war stark, und ich finde keinen Fehler darin – aber:

Wir kennen doch alle aus unserer Schulzeit noch die physikalische Theorie des Sehens, derzufolge beispielsweise der Baum am Straßenrand als Urbild dienen kann. Die Lichtstrahlen, die er reflektiert, werden von unseren Pupillen, die als Sammellinsen fungieren, fokussiert, so daß auf der Netzhaut der Augen ein kopfstehendes, verkleinertes Abbild des urbildlichen Baumes von der Sraße entsteht. Das Funktionieren unserer Brillen, Lupen und Fernrohre beweist doch hinreichend, daß wir es hier tatsächlich mit einem – zumindest nicht völlig falsch beschriebenen – Abbilden zu tun haben.

Die Netzhaut mit ihren Stäbchen und Zäpfchen wirkt auf den Sehnerv, und dieser feuert mit einer Frequenz, die bei Erhöhung der Erregung ansteigt. Die dabei gesandten Signale sind jedoch völlig neutral oder sinnesunspezifisch; beispielsweise benutzt der Sehnerv exakt den gleichen Code wie der Hörnerv. Es werden also, einfacher formuliert, nicht einmal Bildchen und einmal Tönchen übertragen, sondern stets einheitliche Weder-Bildchen-noch-Tönchen.

Wir verstehen bisher kaum, wieso ein und dieselben Impulse einmal zu Bildern und ein andermal zu Tönen – oder auch Gerüchen, Gefühlen oder Geschmacksvarianten – werden. Hier besteht zwar noch eine von den meisten Autoren anerkannte ‚Erklärungslücke‘, die aber meines Erachtens den physikalischen Teil unseres Abbildens überhaupt nicht tangiert.“

 

Ich komprimiere Ihren Einwand auf eine Kurzform, mit der wir besser arbeiten können:

Die physikalische Theorie des Sehens beschreibt sehr gut, wie der Ur-Baum vom Straßenrand auf der Netzhaut abgebildet wird. Den Ur-Baum sehen wir alle, und sein Abbild nimmt der Optiker wahr, der uns in die Augen schaut.

Das war wohl Ihre Intention. Dabei übersehen Sie jedoch, daß wir unseren obigen Überlegungen zufolge zwei Formen des „Abbildens“ unterscheiden müssen; das philosophische und das alltägliche. Was Sie gesagt bzw. im Physikunterricht gelernt haben,

– war völlig in Ordnung,

– bezieht sich aber nur auf das alltägliche Abbilden(A) und

– hat demzufolge mit dem angeblichen philosophischen Abbilden(P) gar nichts zu tun.

Um dem widersprechen zu können, müßten Sie behaupen, daß der Optiker uns nicht in die Augen, sondern in die Psyche schaut; bestenfalls hier wäre das Abbild(P) zu finden.

 

Ich korrigiere also in unserem postmodernen Sinne:

Die physikalische Theorie des Sehens beschreibt sehr gut, wie die Sehung Baum vom Straßenrand auf die Netzhaut abgebildet(A) wird. Die Sehung Baum haben wir alle, und ihr Abbild(A), eine weitere Sehung – wie oben das Foto vom Eiffelturm –, nimmt der Optiker wahr, der uns in die Augen schaut.

(Straßenrand, Netzhaut, Optiker und Augen sind natürlich ebenfalls Sehungen im Sinne unserer neuen Vorstellungen; sie stehen bei diesem Beispiel lediglich nicht im Zentrum.)

 

Damit sollte deutlich werden, daß die physikalische Theorie des Sehens das philosophische Abbild-Scheinproblem nicht nur weder löst noch beseitigt, sondern auch nicht im entferntesten tangiert. Von Urbildern(P) und deren Abbildern(P) ist in der Physik gar nicht die Rede; sie kennt lediglich zwei Arten von Sehungen; die jeweils ursprünglichen – Eiffelturm oder Baum am Straßenrand zum Beispiel – und deren Photo bzw. Abbild(A).

Genau dadurch, daß Ihre Beschreibung eine rein physikalische ist und mit unserem philosophischen Abbild-Scheinproblem nichts zu tun hat, wird diese Beschreibung nicht nur sinnvoll und verständlich, sondern kann sogar zum Bau optischer Geräte genutzt werden.

Hier wird nicht erklärt, wie Sehungen zustandekommen, indem angebliche Urbilder(P) abgebildet werden. Vielmehr zeigt diese Theorie, wie – bereits bestehende – Sehungen durch den Raum tranportiert und damit in andere Sehungen transformiert werden können.

 

AD: „Jein; es stimmt doch sehr vieles von dem, was die physikalische Theorie zum Sehen sagt. Schließen wir beispielsweise die Augen oder unterbricht ein Hindernis unseren Sehstrahl, so sehen wir nichts (mehr); folgt daraus nicht, daß diese Theorie das Sehen einigermaßen richtig darstellt?“

Nein; in keiner Weise!

Wenn eine „Theorie des Sehens“ adäquat beschreibt, unter welchen Bedingungen letzteres nicht gelingt, ist sie noch lange keine Theorie des Sehens, sondern lediglich eine seiner notwendigen Voraussetzungen. Sie beziehen sich auf das Nervensystem, die Augen, den Sehstrahl, die Beleuchtung und noch vieles mehr.

Sind nicht alle notwendigen Voraussetzungen erfüllt – und allein von ihnen spricht diese Seh-Voraussetzungs-Theorie –, sehen wir nichts; das ist die Bedeutung von „notwendig“.

Wir sehen natürlich nicht, wenn unsere Augen geschlossen sind; aber daraus folgt doch absolut nicht, daß wir sehen, weil sie offen sind. Eine Puppe kann ihre Augen noch so weit aufreißen; sie bleibt blind.

Offene Augen sind für das Sehen notwendig; aber das Hinreichende besteht nicht in ihnen, sondern in unserem Leben.

 

AD: „Ich verstehe; und deswegen möchten Sie die Darstellungen von unserem Leben her erklären . . .

Aber einen Joker habe ich doch noch, nämlich die vielen Abbildungsfehler, die uns die Physik wunderbar erklären kann.

Wir sehen beispielsweise den urbildlichen geraden Stab, wenn er schräg ins Wasser taucht, als gebrochen; unsere Sehung ist dann ein falsches Abbild, über das die Optik uns aufklärt.“

Nein; der gerade Stab ist kein Urbild, sondern bereits eine Sehung – wie der obige Baum am Straßenrand. Wir sehen ihn doch auch, bevor er in das Wasser eintaucht; also muß er sich da bereits in unserer Psyche befinden.

Der „Widerspruch“ gebrochener contra gerader Stab besteht also zwischen zwei Sehungen – Stab im Wasser bzw. nicht im Wasser – und stellt somit wieder ein rein physikalisches Problem dar; das ist kein falsches Abbild(P), sondern ein unerwartetes Abbild(A).

Urbilder(P) befinden sich nicht außerhalb des Wassers, sondern (angeblich) außerhalb der Psyche; deswegen sind sie unerreichbar – damit aber auch verzichtbar.

2.4.8. Das Sehen erzeugt den Raum

Dort steht ein Herd; er befindet sich inmitten des Raumes, ist aus Eisen und heiß, so daß er sich unmöglich in unserer Psyche befinden kann. Natürlich nicht; das Problem haben wir ja schon lange gelöst:

Das soeben Angedeutete ist traditionell der wirkliche Herd als Urbild(P) oder Seiendes. Nur ein Abbild(P)  davon gehört unserer Psyche an und repräsentiert den wirklichen Herd.

 

Wir laufen unachtsam durch die Küche und stoßen oder verbrennen uns an ihm. Woran genau; am Ur- oder Abbild(P) des Herdes? 

Letzteres scheidet sofort aus, weil wir uns an – dem „Inhalt“ – der Psyche weder stoßen noch verbrennen können.

Bleibt nur das Urbild(P) des Herdes, an dem sich – nicht unsere Psyche, sondern – unser Körper stößt und verbrennt.

 

Aber auch das ist wieder zweideutig; stößt sich das Ur- oder das Abbild(P) unseres Körpers am Urbild(P) des Herdes? 

Da sich auch das Abbild(P) des eigenen Körpers nur in unserer Psyche befinden kann, ergibt sich zwingend:

Das Urbild(P) unseres Körpers stößt und verbrennt sich am Urbild(P) des Herdes.

 

Die beiden zugehörigen Abbilder(P) werden also gar nicht benötigt.

Wir trinken auch kein Abbild des Bieres, riechen kein Abbild des Parfüms, fahren kein Abbild des Autos und bauen kein Abbild des Hauses. Das ist auf der einen Seite alles so selbstverständlich, daß ich mir fast nicht getraue, es hier aufzuzählen.

Und trotzdem beschleicht mich auf der anderen Seite das Gefühl, es tun zu müssen, weil wir (fast) alle überzeugt sind, Abbilder der Seienden in unserer Psyche zu haben

 

Wir kommen dem Grund dieses Widerspruchs näher, wenn wir die Bezeichnungen „Ur-“ bzw. „Abbilder“ wörtlich nehmen: Es sind Bilder, und die gibt es nur beim Sehen.

Damit ist unser Problem noch nicht gelöst, aber es wird zunächst einmal nachvollziehbar, daß das Sehen auf der einen Seite ganz allein dem Stoßen, Verbrennen, Trinken, Riechen, Fahren, Bauen usw. auf der anderen Seite gegenübersteht:

Die Unterscheidung zwischen Ur- und Abbildern 

– scheint zwar für das Sehen erforderlich zu sein,

– ist aber bei allen anderen Tätigkeiten nicht nur unnötig, sondern sogar irritierend.  

Nun müßten wir lediglich noch klären, weshalb es sich so verhält.

 

Kommen wir dazu auf unseren Herd zurück; er steht in beiden Denkmodellen wirklich dort, und es liegt mir fern, dies zu bestreiten. Ich verstehe ihn lediglich anders als die Tradition:

 

Sie

– macht den Herd zu einem Seienden,

– das im Sehen abgebildet wird,

– wozu die Psyche erforderlich ist.

 

Wir

– betrachten den Jetzt-„Herd“ als eine Sehung,

– die sich im Raum befindet,

– weil das Sehen den Raum erzeugt.

 

Ich wäre überrascht, würde die letzte Zeile Sie nicht arg verwundern; sie ist jedoch ganz ernst gemeint. Deutlich wurde mir diese Erkenntnis erstmals durch einen Artikel von Heinrich Rombach; er schrieb dort unter anderem:

„Wir sehen nicht den Baum dort, sondern

wir sehen dort“ – alles; zum Beispiel auch diesen Baum.

 

Das Dort-Sein ist

– nicht die Eigenschaft des Baumes, sich im Raum zu befinden, sondern

– die Eigenschaft des Sehens, den Raum mit seinen räumlichen Inhalten hervorzubringen.

Alles, was wir sehen, gehört – dadurch, daß wir es sehen – dem Raum an.

 

Traditionell stellt man sich den Raum als ein leeres Seiendes vor, in dem sich die physikalischen Seienden befinden.

Entsteht der Raum jedoch erst durch das Sehen, müssen wir diese Sichtweise korrigieren; dann ist der Raum lediglich der Zwischen-Raum, der unsere Sehungen voneinander auf Abstand hält.

Wenn Sie große Probleme haben, mir das abzunehmen, kann ich Ihnen noch ein wenig helfen:

Zum einen sah – für mich persönlich sehr übrraschend – bereits Aristoteles den Raum lediglich als einen Zwischen-Raum an; natürlich nicht zwischen Sehungen, aber immerhin zwischen den Seienden.

Und zum anderen wird dieser Gedanke durch die Urknalltheorie bestätigt. Ihr zufolge expandiert der physikalische Kosmos – nicht in den Raum, sondern – in das Nichts hinein und erzeugt dadurch erst den Raum als den Abstand oder das Zwischen der Materie.

 

AD: „Das wäre natürlich ein ganz starkes Argument für Ihren Ansatz:

Wenn der Raum erst durch das Sehen entsteht, kann es vor dem Sehen keine Körper gegeben haben. Das führt die gesamte traditionelle Evolutionstheorie ad absurdum, derzufolge sich erst einmal anorganische und pflanzliche Körper entwickelt haben sollen.

Bei Ihnen besteht die Wirklichkeit dagegen im Leben; dieses führt irgendwann zum Sehen – und damit zu unwirklichen Körpern.   

Gewiß gibt es diese – schemenhaft – auch als Tastungen, Greifungen oder ähnliches, aber eben niemals ohne das Leben.“

 

Ja; und so ist es wohl auch kein Zufall, daß Kant den Raum speziell als Anschauungs– und nicht allgemein als Wahrnehmungsform verstanden hat. Dem Sehen kommt unter all unseren Wahrnehmungen sowohl traditionell als auch postmodern eine Sonderrolle zu:

Traditionell leben die Subjekte als Körper im Raum und benötigen für das Sehen – aber eben auch nur für das Sehen – den Nicht-Raum der Psyche, um ihre Abbilder(P) darin unterzubringen.

Postmodern wird der Raum nicht für das Leben benötigt, sondern durch das Sehen – als einer Form oder Facette des Lebens – erst erzeugt.

 

AD: „Aber das Hören oder Schnuppern erfolgen doch ebenfalls räumlich, und Schmerzen können ziehen, pochen, stechen, ausstrahlen, in die Tiefe gehen usw.“

Sie haben nicht nur Recht, sondern intuitiv meine Antwort schon vorweggenommen.

Ich bleibe dabei: nur das Sehen erzeugt den Raum, weil sich allein die Sehungen dort befinden; alle anderen Wahrnehmungen – Hörungen, Tastungen, Schmeckungen . . . – sind notwendigerweise hier.

Nichtsdestotrotz können auch sehr viele andere Formen des Wahrnehmens räumlich erfolgen.

Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn wir uns klarmachen, daß hier von zwei sehr unterschiedlichen Eigenschaften die Rede ist und für das Räumliche kein Raum benötigt wird.

 

Die einfachste Begründung besteht vielleicht in der Einsicht, daß der Raum, aber nicht das Räumliche Dimensionen besitzt und die beiden folglich unabhängig voneinander sind.

Haben wir gestern zu viel getrunken, umhüllt heute möglicherweise eine räumliche, jedoch nicht dreidimensionale bleierne Schwere unseren Kopf. Lehnen wir uns an einen Baum, stößt sie nicht an, sondern geht problemlos hindurch.

Analoges gilt auch für Phantomschmerzen. Schieben wir einen Amputierten mit seinem Rollstuhl so an die Wand, daß das räumlich gefühlte, im Raum aber fehlende Bein sie durchdringen müßte, merkt der Kranke die Wand gar nicht.

Beide Effekte wären nicht möglich, würde sich das Räumliche in den Dimensionen des Raumes erstrecken.

Was sich darin befindet, können wir sehen, weil der Raum durch das Sehen zustande kommt, während das Räumliche unsichtbar bleibt, weil es mit dem Sehen nichts zu tun hat.

2.5. Die objektive Wirklichkeit als Hinterwelt

Die objektive Wirklichkeit bildet eine Hinterwelt, weil traditionell Denkende mit ihr etwas zu wissen behaupten, was – da außerhalb der Psyche befindlich – prinzipiell niemand wissen kann und sich damit in einen Widerspruch verwickeln.

AD: „Also kann es auch kein Unbewußtes geben?“

 

Doch; ganz im Gegenteil; das muß sogar existieren:

Sowohl Begriffe als auch Anschauungen und Aktanten werden gewußt, während unser Leben „nur“ bewußt erfolgt; jene sind diskret und dieses ist kontinuierlich. Etwas Bewußtes kann jedoch nicht bei irgendeiner Stärke plötzlich in der Psyche beginnen, sondern nur kontinuierlich aus dem Un-Bewußten heraufdämmern.

Der entscheidende Fehler der Tradition besteht also nicht bereits darin, eine Existenz im Außerhalb der Psyche anzunehmen, sondern erst in der widersprüchlichen Annahme, von ihr wissen zu können.

 

AD: „Die Vertreter der Postmoderne setzen sich überall für Toleranz, Vielfalt, Harmonie, Pluralismus, Gesprächsbereitschaft und dergleichen ein. Das geht soweit, daß ihnen von traditionell-konservativer Seite ein ‚Abschied von der Wahrheit‘ oder eine ‚Diktatur des Relativismus‘ vorgeworfen werden.

Da überrascht mich Ihre Überschrift trotz der Klärung soeben doch ein bißchen: Wenn Sie die objektive Wirklichkeit als Hinterwelt betrachten, bedeutet dies doch, daß der postmoderne Spaß spätestens hier endet. Wer daran glaubt, darf nicht länger mitspielen.“  

 

Nein; das wäre ein völliges Mißverständnis:

Die Toleranz der Postmoderne allen – (natürlich) menschlichen, freiheitlichen, demokratischen, friedlichen . . . – Weltbildern oder Religionen gegenüber, ist nur möglich, wenn wir auf sämtliche – Behauptungen von – Hinterwelten verzichten. Was Sie als leidige Grenze der postmodernen Offenheit geschildert haben, bildet also in Wirklichkeit ihre notwendige Voraussetzung und ermöglicht erst die Freiheit als Verantwortung, die nach meinem Dafürhalten im Zentrum der Postmoderne steht.

Meine Begründung erweist sich als denkbar einfach:

Wenn es eine objektive Wirklichkeit gäbe, sollten sich unsere Wirklichkeits-Bilder auf diese beziehen, so daß letztere mehr oder weniger richtig und sogar völlig falsch sein könnten. Wer sich im Besitz eines adäquaten Abbilds(P) wähnt, wird kaum sonderlich tolerant sein und die ihm vielleicht unverständliche Selbstbestimmung seiner anders – und somit eo ipso falsch – abbildenden Mitmenschen achten (können). Die Andersgläubigen müssen ja entweder naiv bzw. dumm oder böse sein.

Toleranz bedeutet dann nicht, sie mit ihren Überzeugungen als gleichwertige Subjekte anzuerkennen, sondern ihnen auf Teufel komm raus zur richtgen Einsicht zu verhelfen.

 

Das Fehlen einer objektiven Wirklichkeit beendet also nicht den postmodernen Spaß, um Ihre Formulierung aufzugreifen, sondern ermöglicht ihn erst.

Er endet dort, wo irgendwelche Menschen der postmodernen Offenheit widersprechen und hinterwäldlerisch beanspruchen, über richtiges Wissen von einer angeblichen objektiven Wirklichkeit zu verfügen, dem sich alle anderen unterzuordnen haben.

Beweist die Geschichte nicht hinreichend deutlich, daß ein solcher angemaßter Besitz der „Wahrheit“ immer wieder die schlimmsten Verbrechen – in der Politik, Wirtschaft, Religion, im Alltag oder wo auch immer – zu rechtfertigen scheint?

Wir können und sollen die Wirklichkeit verbessern; aber diese besteht im Leben, und nicht in einer Welt. Dadurch kann ausnahmslos jeder von uns in seinem eigenen Leben damit beginnen, und keiner muß auf die Wissenschaft oder eine Offenbarung warten, um erst einmal die Welt richtig zu verstehen.

 

Die objektive Wirklichkeit bildet eine Hinterwelt, und das völlig unabhängig von ihrer konkreten Gestaltung.

In Antike und Mittelalter bestand sie in der Einheit von Immanenz und Transzendenz.

Während der Moderne setzte sich immer stärker der Gedanke durch, daß letztere eine bloße Hinterwelt sei und wir uns auf die naturwissenschaftliche Seite der Immanenz konzentrieren sollten, die (dadurch) immer mehr zum physikalischen Kosmos degenerierte.

Das nannte sich wohl „Aufklärung“, brachte aber sehr viel Polemik ins Spiel. Der antik-mittelalterliche Absolutheitsanspruch der Religion wurde – zu Recht – beseitigt, aber – zu Unrecht – durch den der exakten Wissenschaften ersetzt.

 

In der Postmoderne entsteht möglicherweise wieder eine fruchtbare Balance, weil nun die gesamte objektive Wirklichkeit als Hinterwelt durchschaut wird; die diesseitige ebenso wie die jenseitige.

Ich erhoffe mir hiervon eine wirkliche Aufklärung, das heißt, eine Aufklärung über die „Aufklärung“, die durch die Einsicht, daß wir uns keinerlei – weder religiöser noch wissenschaftlicher – Fremdbestimmung zu unterwerfen haben, zur eigenen Selbstbestimmung befreit.

 

Hinterwäldlerisch sind also niemals die jeweiligen konkreten Vorstellungen oder Überzeugungen, sondern hinterwäldlerisch ist allein die Annahme, von einer objektiven Wirklichkeit zu wissen; von welcher auch immer. Wer deren Materie im Auge hat, ist folglich keinen Deut aufgeklärter als derjenige, der vom objektiv-wirklichen Teufel spricht.

AD: „Ich darf also an nichts mit Sicherheit glauben oder von keiner Entität fest überzeugt sein, denn ich würde auf diese Weise hinterwäldlerisch und mich damit von jedem vernünftigen Diskurs verabschieden?“

Nein; das wäre ja furchtbar, würde ich dergleichen – Absurditäten – behaupten!

Ob wir etwas und gegebenenfalls was wir subjektiv mit 100%-iger Sicherheit glauben, spielt überhaupt keine Rolle. Wir könnten uns beispielsweise todsicher sein, daß es sowohl Materie als auch eine Evolution gibt oder Gott mit seinem Hofstaat von Engeln und der Teufel nebst Unterteufeln existieren. Es wird kaum etwas Widerspruchsfreies geben, das wir nicht für selbstverständlich halten dürften.

 

Die Begründung für unseren möglicherweise tiefen Glauben müßte dabei jedoch sinngemäß stets etwa folgendermaßen lauten:

„Aufgrund meines bisherigen Lebens ergibt sich für mich zwingend, daß es sich so verhalten muß; ich kann gar nicht anders denken, will ich mir nicht selbst widersprechen, unvernünftig sein, mich absichtlich dumm stellen oder selbst belügen.

Aber hier geht es nur um meine subjektiven Überzeugungen. Ich will wahrhaftig sein – und sage deswegen ganz ehrlich, wie ich es sehe; mehr ist gar nicht möglich und vermag niemand. Wir können uns gegenseitig um Wahrhaftigkeit bitten, aber von niemandem die Wahrheit erwarten.

Ich beanspruche für meine Überzeugung also weder Richtigkeit noch Wahrheit und erwarte somit auch nicht, daß Ihr Euch mir anschließt.

Das Lutherische ‚Hier stehe ich und kann nicht anders‘ trifft meine Situation recht gut.“

 

Ohne den Glauben an eine objektive Wirklichkeit können wir völlig problemlos die offensichtliche Tatsache anerkennen, daß Kinder und Erwachsene, Soziahilfeempfänger und Manager, Christen und Muslime sowie um Regen tanzende Hopiindianer oder atheistische Abendländer, psychisch „Kranke“ sowie Nobelpreisträger mit ihren jeweiligen subjektiven Realitäten leben, zwischen denen wohl häufig keinerlei Berührungspunkte bestehen.

Nietzsche wußte das schon lange vor uns und schrieb am Ausgang der Moderne, daß „die wahre Welt zur Fabel geworden ist“; damit natürlich auch jede unwahre. Das führt zu dem postmodernen Pluralismus der subjektiven Welten, den wir heute alle bereits erleben, der aber erst am Anfang seiner Entfaltung stehen und sämtliche „Bastionen einer objektiven Wirklichkeit oder Wahrheit“ hinwegfegen dürfte.

Ob wir die Heraufkunft dieses Pluralismus begrüßen oder bedauern und die damit verbundenen neuen Freiheiten feiern oder den verlorenen Gewißheiten nachtrauern, spielt dabei keine Rolle, weil die Geschichte irreversibel ist, so daß ohne Katastrophen wie Kriege, Umweltzerstörung, Genmanipulation, Gehirnwäsche, Diktaturen usw. die eindimensionale – Naivität der – Tradition (zum Glück) nicht wiederkehren wird.

Ein Hinter-die-„Aufklärung“-zurück kann sich ohnehin niemand wünschen, dem die (subjektive) Vernunft und Freiheit als die Grundlagen der Menschenwürde sowie ein erfülltes Leben wichtig sind.

 

Behaupten wir in einem Disput, die eigene Überzeugung sei wahr, dann ist das kein – weiteres – Argument für unsere Position, sondern lediglich die unseren Gesprächspartner beleidigende Behauptung, daß seine Überzeugung falsch sein muß, insoweit sie der unsrigen widerspricht.

Krass ausgedrückt bedeutet „Ich sage die Wahrheit“ im Sreitgespräch das Gleiche wie „Sie irren – und irgendwann ist meine Geduld mit Ihnen am Ende“.

Wer so redet, sehnt sich nicht nach Wahrheit, sondern will Recht haben. Denn wer die Wahrheit sucht, kann nicht behaupten, sie (bereits) zu haben; entweder . . ., oder . . .

Ich bin überzeugt, daß sich das, was wir haben (können), gemessen an der Wahrheit einmal als entsetzlich lächerlich erweisen wird und wir uns dann für diese kleinkarierte „Wahrheit“ schämen werden. Das meinte beispielsweise Karl Rahner von seiner eigenen Theologie; er stellte sich vor, wie Gott darüber lacht: „Das soll ich sein?“

 

Wir können bestenfalls – und sollten natürlich auch – wahrhaftig sein; das heißt, im Sinne unserer eigenen Überzeugungen leben und damit ohne alle diesbezüglichen Wahrheitsansprüche das sagen, was wir wirklich glauben oder denken und auch dementsprechend handeln.

Christen, die sich im Besitz der Wahrheit wähnen, erwarten vom Reich Gottes lediglich die – lobhudelnde – Bestätigung, daß Sie Recht hatten; das wäre meines Erachtens entsetzlich wenig und grauselig langweilig.

Ich bin dagegen überzeugt, daß wir in unserem ganzen irdischen Leben keine Wahrheit finden können, aber nichtsdestotrotz Suchende bleiben sollen und hoffe, daß das Reich Gottes uns mit seiner Wahrheit trotz aller Suche noch umwerfen wird.

Es würde mich furchtbar enttäuschen, wäre Gott nicht unendlich viel mehr und absolut Besseres eingefallen als mir.

 

Daß wußte schon Lessing vor bald 300 Jahren, und weil er mir aus der Seele spricht, zitiere ich ihn ausnahmsweise einmal recht ausführlich:

„Wenn mir in der einen Hand die Wahrheit, in der anderen das Streben nach ihr geboten würde und ich wählen müßte, ich würde das letztere wählen, und des Apostels Aufforderung lautet: Prüfet alles! Ohne Prüfung kann man nicht erfahren, ob der Geist, der in uns spricht, und die Geister, die zu uns reden, aus Gott sind oder nicht. Nur durch redliche von reiner Liebe zur Wahrheit ausgehende Prüfung wird sie allmählich unser Eigentum.

Darum fühlen wir uns zu dem hingezogen, der uns zur Prüfung seiner angeblichen Wahrheit auffordert, und wenden uns von dem ab, der uns seine Wahrheit aufdrängen will. Ein solcher erweckt mit Recht in uns das Vorurteil, daß er selbst nicht an die Wahrheit seiner Lehren glaube.

Denn die Wahrheit kann durch Prüfung nur gewinnen; die Wahrheit besteht in der bestandenen Prüfung, die Lüge und der Wahn aber verschwinden durch sie. Wer daher die Prüfung vorgeblicher Wahrheiten scheut und verhindern will, ist kein Freund der Wahrheit, sondern ihr Feind.

Kein Mensch auf Erden hat daher Ansprüche auf sogenannte Untrüglichkeit. Wer als unbedingte Autorität gelten will, wird daher verworfen.“

 

Sie sagten zu Beginn dieses Kapitels: „Wer an eine objektive Wirklichkeit glaubt, darf nicht länger mitspielen.“ Selbst diese Formulierung ist also noch zu einschneidend; Sie dürfen sogar an eine objektive irklichkeit glauben.

Nehmen wir als Beispiel das heute herrschende evolutive Weltbild mit Urknall und reinem Physikalismus. Es könnte Ihnen so überzeugend erscheinen, daß Sie sagen: „Das ist es! Ich glaube ganz fest, daß dieses Weltbild die objektive Realität adäquat wiedergibt, und danke den Physikern für ihre großartige Umsicht. Daß J. S. die Existenz dieser objektiven Realität bestreitet, ist mir doch gleichgültig; dann täuscht er sich eben.“ 

Denken Sie so, kann ich 100%-ig mitgehen: Sie stellen sich eine bestimmte Art von objektiver Wirklichkeit vor und glauben, die letztere damit adäquat wiederzugeben. Das ist völlig unproblematisch, denn wir können uns (nahezu) alles Widerspruchsfreie vorstellen und natürlich auch die eigenen Vorstellungen glauben. 

Das gilt selbstverständlich auch für die objektive Wirklichkeit; bei ihr kommt sogar noch hinzu, daß wir den Zusammenhang in diesem Fall auch umkehren können:

Sie ist das, was sich nur vorstellen und glauben läßt.

 

Und damit sind wir wieder bei dem einzigen „Verbot“, dessen Übertretung uns in die Hinterwelt führt:

Sie dürfen nicht behaupten, die objektive Wirklichkeit erkannt bzw. abgebildet zu haben und dadurch von ihr wissen; erst durch diese widersprüchliche Zusatzannahme würde sie zu einer Hinterwelt.

Nun also endgültig:

Der postmoderne Spaß endet nicht, wenn Sie (an) eine objektive Wirklichkeit glauben, sondern erst, falls Sie

– diese als adäquat abgebildet,

– somit als erkennbar und

– folglich auch intersubjektiv verbindlich

behaupten.

 

Damit muß ich auch meine bisherige Ausdrucksweise nachträglich ein wenig relativieren, behalte sie aber der Deutlichkeit halber bei:

Wenn wir keinerlei Zugang zum Außerhalb unserer Psyche besitzen, kann ich natürlich auch nicht erkennen, daß keine objektive Wirklichkeit existiert

AD: „Also steht es zwischen Ihnen und den modernen Traditionalisten 1 : 1; letztere glauben (an) die objektive Wirklichkeit und Sie nicht.“

Möglicherweise „ja“; das ging aber jetzt etwas zu schnell, denn wir müssen zwei Fälle unterscheiden.

 

Wenn die modernen Traditionalisten nur sagen, es gäbe eine objektive Wirklichkeit ohne deren Form zu konkretisieren, haben Sie mit Ihrem 1 : 1 theoretisch Recht.

Praktisch erhebt sich in diesem Fall jedoch die Frage, worin eigentlich der Unterschied zwischen der Existenz bzw. Nicht-Existenz einer vollkommen unbekannten objektiven Wirklichkeit bestehen soll. Ist das tatsächlich ein Unterschied, der einen Unterschied macht?

 

Legen sich die traditionell Denkenden jedoch auf eine spezielle Realität fest, stimmt das 1 : 1 nicht mehr, weil ihr Glaube möglicherweise zu spezifischen Konsequenzen für unser Leben führt. Beispielsweise könnten Kühe heilig, der Koran wörtlich inspiriert und unser Leben durch die Naturgesetze oder den Willen Gottes determiniert sein. 

Wer etwas Spezielles oder Konkretes behauptet, steht in der Beweispflicht; nicht der staunende Gesprächspartner.

Daß gerade Kühe heilig sein sollen, müßte von den Gläubigen begründet und braucht nicht von uns Ungläubigen widerlegt zu werden. Es beweist (meines Erachtens) auch niemand, weshalb Flöhe – angeblich – nicht heilig sind.

 

Unsere Vorfahren haben Wege gefunden, Oliven genießbar zu machen; das ist bei dieser Frucht nicht selbstverständlich, sondern eher ein kleines Wunder. Und das, sagen die Mythen, verdanken wir der Göttin Athene, die uns Menschen gelehrt hat, die Oliven entsprechend aufzubereiten.

Wer diese dem traditionellen Denken entsprechende Erklärung für richtig hält, dem kommt eine Begründungspflicht zu.

Mit dem bloßen Ablehnen dieses Mythos vertreten wir jedoch keine ebenso konkrete gegenteilige Meinung, sondern distanzieren uns lediglich von dem Mythos. Weder bedarf das einer Rechtfertigung, noch bedeutet es, sich um eine andere Erklärung bemühen zu müssen; die Athene-Geschichte interessiert uns doch vielleicht gar nicht.

 

Solange es, anders formuliert, um unsere subjektive Wahrhaftigkeit und nicht um eine angebliche objektive Richtigkeit geht, sind wir absolut nicht hinterwäldlerisch, wie „hinterwäldlerisch“ auch immer unsere Überzeugungen sein mögen.

Dann sagen wir jedoch auch nicht „so ist es“; diese traditionelle Anmaßung entspricht dem Hinterwäldlerischen.

 

AD:  „Und sie entspricht dem Sein-Wollen-wie-Gott?“

Ich glaube „ja“. Ohne das traditionelle Denken ist ein objektiver Richtigkeitsanspruch gar nicht möglich; es bildet eine notwendige Voraussetzung dafür, muß aber nicht zu ihm führen. Menschen können traditionell denken und sich dennoch ganz bescheiden weit entfernt von jeder Richtigkeit wähnen.

Wer jedoch den Anspruch erhebt, die objektive Wirklichkeit zu kennen,

– will sein wie Gott,

– ist aber hinterwäldlerisch.

2.5.1. Wissenschaft und Hinterwelt

Warum ver(sch)wende ich so viel Zeit und Mühe darauf, Ihnen die objektive Wirklichkeit oder Hinterwelt wegzunehmen, die Sie ohnehin niemals erfahren haben bzw. werden?

Weil dieser traditionelle Glaube zu weitreichenden Konsequenzen führt.

Das gilt nicht zuletzt für die empirischen Wissenschaften. Obwohl in ihnen nur Anschauungen (das heißt, Wahrnehmungen und Vorstellungen) auftreten (können) und noch niemandem Seiende begegnet sind, glauben sehr viele ihrer Vertreter, von deren objektiver Realität zu sprechen.

Warum eigentlich?

 

Können Wissenschaftler plausibel machen, das Ziel ihrer Forschung bestehe in der neutralen Abbildung der objektiven Wirklichkeit – unabhängig davon, ob sie das nun selbst glauben oder nicht –, läßt sich letztlich jede Forschung rechtfertigen, weil sie dann voraussetzungslos sowie wertfrei sein muß und Wissen stets besser ist als Nicht-Wissen. Allein Lügner, Verführer oder Scharlatane müssen Angst vor der Wirklichkeit haben; die Zunahme des Wissens ist purer Fortschritt und immer gut.

Und außerdem befinden wir uns als diejenigen, die lediglich die objektive Wirklichkeit wiedergeben, in einer beneidenswerten Position: Wie entsetzlich auch immer unsere Ergebnisse sein mögen – wir sind nicht verantwortlich und finden sie auch einfach nur schrecklich. Beschwert Euch aber bitte an einer anderen Stelle, bei Gott, der Evolution oder wo auch immer, jedenfalls nicht bei uns; wir haben das nicht gemacht, sondern bilden es ganz neutral ab. Wir zeigen Euch nur, wie schlimm alles ist; seid uns bitte dankbar“.

Nun können wir wieder den ersten rot hervorgehobenen Absatz anschließen.  

 

Eine objektive Realität zu behaupten oder eine entsprechende Hinterwelt zu erfinden, ist letztlich die Lüge, es gäbe eine Kotrollinstanz für unsere Forschung:

„Würden wir die Seienden nicht adäquat abbilden oder wären wir nicht auf dem richtigen Wege, träten Widerstände und Widersprüche auf, hätten wir keine technischen Erfolge und es entstünde ein großes Tohuwabohu. All das geschieht nicht; wir befinden uns also auf einem guten Weg, und laßt uns bitte so weitermachen. Wenn wir etwas Unrechtes tun, wird sich die Natur – der Seienden – gewiß zu Wort melden.“

 

Deswegen sehe ich im traditionellen Denken einen gewichtigen Grund für unsere aktualen Menschheitsprobleme.

Die als Kontrollinstanz behauptete objektive Realität, die dem Forschen eine Richtung vorgeben und es begrenzen oder unseren Eingriffen einen Riegel vorschieben könnte, existiert nicht. Was auch immer geschieht, wir ecken kaum an – weil gar nichts existiert, das sich uns in den Weg zu stellen vermag – und nutzen dieses Gar-nicht-Anecken-Können weidlich aus; entweder naiv oder berechnend, aber gewiß verantwortungslos.

Wir mißbrauchen, mit anderen Worten, den weit verbreiteten Glauben an eine objektive Realität, um unseren bisherigen Weg rückblickend als richtig darstellen zu können – „es hat nicht geknallt“ – und in diesem Sinne weitermachen zu dürfen – „die Seienden werden sich melden, sollten wir tatsächlich einmal danebenliegen“.

 

So geht unser „Fortschritt“ immer weiter; aber ohne angebbares Ziel können wir nicht sinnvoll von Fortschritt sprechen, denn er wird zu einem bloßen Nur-schnell-weg von diesem Hier und Jetzt.

Natürlich bliebe es ein lohnenswertes praktisches Ziel, allen Menschen ein Leben in  Freiheit und Würde zu ermöglichen; aber ich bezweifle ernsthaft, daß diese Intention in der abendländischen Moderne sonderlich stark ausgeprägt war.

Ihr Ziel ist eher ein theoretisches und bestand ursprünglich darin, die objektive Welt zu erkennen. Wenn sich in der Postmoderne der Gedanke durchsetzt, daß es diese  gar nicht gibt und wir Jahrhunderte lang ein Pseudoziel verfolgt haben, besteht vielleicht wieder die Chance, uns den wirklich brennenden Problemen zuzuwenden. 

 

AD: „Wenn die Realität nicht objektiv ist, können die empirischen Wissenschaften es auch nicht sein.“

Stimmt; der Glaube an eine erkenntnis-theoretische Objektivität ist hinterwäldlerisch; davon können wir uns schnell überzeugen:

Es gibt keine voraussetzungslose Wissenschaft – ganz einfach, weil aus nichts auch nichts folgt. Setzen wir keine – mehr oder weniger willkürlichen – Prämissen, fehlen also auch sämtliche Konklusionen; das voraussetzungsfreie Fachbuch bleibt völig leer. 

Mit anderen Worten heißt dies, daß die exakten oder Modell-Wissenschaften als Resultate nur die Konseqenzen ihrer eigenen Voraussetzungen enthalten können. Weder die Logik noch das Experiment sind kreativ; sie steuern nichts bei, sondern die Ergebnisse dieser Wissenschaften bestehen lediglich in den – freilich explizierten, ausgefalteten oder entwickelten und dadurch möglicherweise auch sehr überraschenden – Konsequenzen ihrer eigenen Modelle.

 

Ist die Wissenschaft – durch die Notwendigkeit von Prämissen – jedoch nicht voraussetzungslos, kann sie auch nicht wertfrei sein, denn mit den unabdingbaren Voraussetzungen, ohne die es gar keine Wissenschaft gibt, setzen wir zugleich ganz spezielle Werte.

Das daraus resultierende Ergebnis besteht also nicht in der, sondern in einer Wissenschaft.

So wie es beliebig viele Mathematiken gibt, wären auch die verschiedensten Physiken möglich. Wir haben uns für eine entschieden, mit deren Hilfe sich „phantastisch(e)“ Waffen bauen lassen, und können uns eine andere Physik gar nicht vorstellen. Es bleibt also insbesondere offen, ob die negativen Möglichkeiten unserer Physik zwangsläufig auch jeder anderen angehören würden.    

 

Es gibt natürlich auch eine ethisch-praktische Objektivität der Wissenschaften. Ihr zufolge sollen alle Ergebnisse ehrlich zustandekommen, unabhängig von den Wünschen der Forscher und somit nicht manipuliert sein. Subjektive Interessen dürften keine Rolle spielen; messen wir, was wir nicht wollten, dann messen wir eben, was wir nicht wollten; „schade“!

Eine solche Objektivität wird hoffentlich stets das Ziel der Forschung bleiben, hängt jedoch mit unseren Überlegungen bestenfalls am Rande zusammen.

 

AD: „Wenn die objektive Wirklichkeit eine Hinterwelt darstellt, können unsere diesbezüglichen Vorstellungen weder richtig noch falsch sein. Warum – und worum – streiten wir dann im Alltag, vor Gericht, in der Industrie oder Wissenschaft eigentlich häufig so erbittert?“ 

Das ist ganz einfach: Weil es dort niemals um die hinterwäldlerischen Seienden geht – andenfalls dauerte der Streit doch endlos an. Der Meteorologe sagt im Wetterbericht beispielsweise nicht voraus, daß die Ur-Sonne morgen Abend 20:16 Uhr untergeht, sondern welche „Sonnen“-Wahrnehmungen wir um diese Zeit erleben können.

Alltag, Gericht, Industrie und Wissenschaft haben absolut nichts mit einer objektiven Wirklichkeit zu tun, sondern hier werden Vorstellungen mit

– Wahrnehmungen oder

– allgemein, das heißt, intersubjektiv akzeptierten Aktanten

verglichen und damit jene Vorstellungen auf ihre Richtigkeit überprüft..

2.5.2. Das moderne Welt-Bild als Mythos

Wir – das heißt, die erwachsenen und angeblich gesunden Abendländer um die zweite Jahrtausendwende – glauben zumeist, vom physikalischen Kosmos als einer objektiv-wirklichen Realität zu sprechen, während alle anderen Kulturen der Vergangenheit und Gegenwart aus unserer Sicht nur über bloße Welt-Bilder verfügen. Das sind Vorstellungen, die höchstens irrtümlich als Abbilder geglaubt werden – wovon aber bei vielen, besonders exotischen Welt-Bildern partout nicht die Rede sein kann. Unser Welt-Bild ist dagegen weitestgehend adäquat, und die anderen Varianten stellen bestenfalls seine Vorstufen dar oder sollten eher unter „Mythen“ kategorisiert werden.

Diese heute weit verbreitete Einstellung halte ich jedoch selbst für einen Mythos; es ist derjenige vom Fortschritt als der großen modernen „Metaerzählung“ (Jean-François Lyotard), die natürlich – wie könnte es auch anders sein – direkt zu uns als der Krone der Schöpfung Evolution führt und deshalb nur allzugerne geglaubt wird.

 

Ich halte die kosmische Evolutionstheorie dagegen für den „Weltentstehungsmythos des Atomzeitalters“ (Georg Picht).

Letzteres begann mit dem little bang von Hiroshima und Nagasaki, ist aber auch sonst ein Zeitalter der Explosionen; Bevölkerungszahlen, Wissungen, Informationen, Verfügbarkeiten, Fördermengen, Ansprüche, Geschwindigkeiten, Erwartungen, Produktionsraten usw. schnellen plötzlich in die Höhe. Damit einher gehen Zerstörungen beispielsweise von Lebensgrundlagen, Traditionen, Religionen, Werten, Sprachen, Minderheiten, Tieren oder Pflanzen.

Kann es uns überraschen, daß die Menschen einer solchen Zeit glauben, sich einem großen Knall verdanken zu müssen?

Die Urknalltheorie ist natürlich eine physikalische, aber ihre Akzeptanz wird nicht von einer angeblichen objektiven Realität her verständlich – Physiker sind keine Hinterwäldler –, sondern meines Erachtens allein psychologisch.

 

Ich bin – gegen den Zeitgeist – fest überzeugt, daß wir keine Ausnahmekultur sind und lediglich über (inter-)subjektive Wirklichkeits-Bilder verfügen, wie alle anderen Kulturen auch. Sämtliche Varianten haben ihre Vor- und Nachteile; weder sind sie nahezu gleichwertig im Sinne von Paul Feyerabends „anything goes“, noch befinden sich richtige Wirklichkeits-Bilder darunter

Wir glauben nicht, was richtig ist, sondern was zu glauben wir für richtig halten.

Das stellt fast eine Tautologie dar; alle gehen so vor und müssen so vorgehen. Das ist alternativlos; und ob es tatsächlich richtig war, wird bestenfalls die Zukunft zeigen.

Das gilt also auch für die traditionell Denkenden; sie erzählen ebenfalls nur, was zu glauben sie für richtig halten, und sind dabei überzeugt, uns die objektive Wirklichkeit zu schildern.

 

Das traditionell verstandene Wirklichkeits-Bild verstellt den Blick auf die Wirklichkeit des Lebens, indem es uns eine objektive Realität vorgaukelt,

– die ursprünglich oder primär sein soll und

– der wir unser Leben als sekundär unterzuordnen haben,

– weil wir angeblich in und von dieser Realität leben.

Mit einem solchen Denken belügen wir uns selbst; wir könnten das wissen, wollen es aber nicht wissen, und dafür bestehen mindestens fünf Gründe:

 

1. Zunächst interessiert uns sehr, „wie es wirklich ist“; postmodern läßt sich diese Sehnsucht jedoch nicht erfüllen.

 

2. Des weiteren wünschen wir uns Sicherheit, und die scheint nicht zuletzt dadurch gewährleistet zu sein, daß wir auf die uns als wichtig erscheinenden Fragen sowohl eindeutige als auch einfache Antworten geben können.

Es gibt sogar eine „Faszination des Primitiven“, die wir nicht nur bei politischen oder sportlichen Großveranstaltungen, sondern auch im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien mitunter ungeschminkt erleben können.

 

3. Wir suchen nach wärmender Gemeinschaft und möchten gerne in ihrem Strom mitschwimmen.

Die Mehrheit denkt aber nicht, und zahlreiche Umfragen zeigen, daß sie das auch gar nicht möchte. Selbst in Freiheit zu denken, vermag nur der Einzelne – wenn er denn will und den dafür notwendigen Mut aufbringt.

 

4. Viele Vorstellungen erscheinen uns als alternativlos, so daß wir scheinbar felsenfest von ihnen überzeugt sein müssen. Aber gegen die Annahme, Denknotwendigkeit hätte etwas mit Richtigkeit zu tun, sprechen zumindest zwei sehr starke Argumente.

Zum einen resultiert die angedeutete „Evidenz“ möglicherweise aus unserer Einseitigkeit, Denkfaulheit, Ignoranz oder mangelnden Phantasie. Wer kreativer ist, intensiver überlegt oder mehr Zeit investiert, findet vielleicht noch ganz andere Antworten.

Zum anderen ist alles Argumentieren, Beweisen oder Widerlegen an unser Wirklichkeits-Bild gebunden; Denken heißt, sich innerhalb von ihm geistig zu bewegen, denn kein einziger Gedanke, der nicht zumindest implizit zum Wirklichkeits-Bild gehört und somit aus ihm hergeleitet werden kann, ist uns zugänglich.

Sämtliche Schlüsse, Begründungen oder Widerlegungen, derer wir fähig sind, tragen also den heimlichen Vermerk „im Rahmen meines Wirklichkeits-Bilds“, denn sie setzen dieses als unhintergehbares Nonplusultra voraus. Das eigene Wirklichkeits-Bild legt, anders formuliert, beispielsweise fest, was – für uns – 100%-ig sicher bzw. absolut unmöglich ist.

„A kann nicht und B muß sein – in meinem Wirklichkeits-Bild.“

Letzteres und keine angebliche objektive Wirklichkeit, liefert die einzige Begründung; eine Hinterwelt kann weder etwas rechtfertigen noch anfechten.

 

5. In unserer Technik werden die exakten Wissenschaften angewandt, und daß wir technisch unglaublich erfolgreich sind, scheint zu beweisen, daß die exakten Wissenschaften die objektive Realität adäquat wiedergeben.

Dem würde ich entgegenhalten, daß andere Kulturen mit ihren – dann natürlich – „falschen“ Wirklichkeits-Bildern teilweise sehr lange bestanden; das ägyptische Pharaonentum beispielsweise 3000 Jahre. Unser „richtiges“ modernes Wirklichkeits-Bild stellt uns dagegen bereits nach vier Jahrhunderten vor immer größer werdende Probleme.

AD: „Das mag theoretisch stimmen, praktisch ist aber von keiner anderen Kultur jemand zum Mond geflogen.“

 

Vielleicht wollte es auch keiner!

Nicht nur, was man tun, sondern auch was man denken und wollen kann, hängt doch vom Wirklichkeits-Bild ab. Andere Kulturen strebten vielleicht nach einem Kontakt mit ihren Göttern oder Ahnen; den haben sie möglicherweise erreicht. Wir können ihn nicht einmal wollen, weil das unserem Wirklichkeits-Bild zufolge Nonsens wäre.

Wenn die Ägypter beispielsweise unsere Sonne als ihren Gott Re verehrt haben, mußte ihnen der Gedanke hinzufliegen, einfach als absurd erschienen sein – sofern er überhaupt möglich war. Kennen Sie einen Gläubigen, der ernstlich in die Transzendenz fliegen möchte? Wo müßte er dann eigentlich starten und in welche Richtung?

 

Unsere diesbezügliche „Logik“ ist doch völlig verquer:

Alle wollten das, was wir können, haben es aber nicht geschafft – wodurch der Fortschritt zu und durch uns bewiesen wäre; q. e. d.

Vielleicht ließe sich auch so denken:

Keiner wollte das, was wir können; aber was unsere Vorfahren wollten und vielleicht auch konnten, können wir nicht einmal mehr wollen

 

Damit verlängern wir die Liste der allgemein bekannten Kränkungen des Menschen duch die moderne Wissenschaft über Galilei, Darwin, Freud, Turing, Gödel usw. hinaus:

1. Die angebliche objektive Wirklichkeit ist nur eine Hinterwelt.

2. Sämtliche Wissungen sind durch das eigene subektive Wirklichkeits-Bild begrenzt, so daß sie mit diesem auch völlig danebenliegen könnten.

3. Was „danebenliegen“ bedeutet, verstehen wir jedoch bereits nicht mehr, weil es sich eo ipso nur „neben“ unserem Wirklichkeits-Bild befinden und ihm nicht mehr angehören kann.

4. Dort spielt auch die Wirklichkeit des Lebens, so daß die Helle des Verstandes sie nicht erreicht.

2.5.3. Hinterwäldlerische Moderne

AD: „Auf der einen Seite kann ich Ihre Position, daß die objektive Wirklichkeit wegen ihrer prinzipiellen Unerreichbarkeit lediglich eine willkürlich behauptete Hinterwelt bildet, sehr gut verstehen und finde sie nahezu zwingend.

Auf der anderen Seite will ich aber nicht glauben, daß die überwiegende Mehrzahl der Menschen in Antike, Mittelalter und Moderne das nicht gesehen haben soll und wir letztlich auf die Postmoderne warten mußten, um es zu erkennen. Dann wären die Postmodernen die Krone der Menschheit, und das würde – so wie ich Sie verstehe – Ihren eigenen Intentionen diametral zuwiderlaufen.“

Da gehen wir völlig d’accord, und mir ist es wichtig, jeglichen Verdacht, ich könnte unsere Vorfahren als nicht sonderlich intelligent einschätzen, weit von mir zu weisen. Hiermit gewinnt Ihr Einwand jedoch nochmals an Gewicht:

Wie ist es möglich, daß kritische Geister durch viele Jahrhunderte hindurch eine offensichtliche Hinterwelt nicht als eine solche durchschauen und ablehnen, sondern als objektive Wirklichkeit glauben?

Ich denke, das ist gar nicht so schwer zu verstehen.

 

Antike und Mittelalter waren zutiefst christlich geprägt und verstanden von daher den Menschen als Ebenbild Gottes. Diese Beziehung führte bei vielen der damaligen Philosophen und Theologen zu der Annahme, daß wir Menschen am unendlichen Geist Gottes teilhaben (können).

Einzelne Denker warnten vor problematischen Vereinfachungen; Blaise Pascal zum Beispiel legte Wert auf die Feststellung, daß es den Nous wohl geben mag, er aber nicht automatisch mit dem Gott des christlichen Glaubens gleichgesetzt werden dürfe.    

Ob nun gerechtfertigt oder nicht; es ist nachvollziehbar, daß für unsere Vorfahren, wenn sie sich wie selbstverständlich in einer solchen Unmittelbarkeit zu Gott verstanden, die objektive Wirklichkeit für sie keine Hinterwelt bildete. Sie wußten nicht nur von ihr, sondern wußten zugleich auch, daß sie diese Erkenntnis ihrem Gott verdanken, aber niemals aus eigener Kraft würden erlangen können.

 

In Antike und Mittelalter

– konnte eine objektive Wirklichkeit also mit bestem Wissen und Gewissen geglaubt werden,

– denn ihre Erkenntnis bedeutete keinen Widerspruch,

– so daß es sich bei ihr auch nicht um eine Hinterwelt handelte.

In der Moderne verblaßt der christliche Glaube; aber das ist nicht die Ursache unserer Schwierigkeiten, so daß sein Wiedererstarken sie auch nicht lösen würde. Um das deutlich sehen zu können, unterscheiden wir drei Fälle:

 

1.      Es gibt eine objektive Wirklichkeit.

    a)  Durch den Nous kann sie erkannt werden.

    b)  Der Nous wird nicht geglaubt, so daß keine Möglichkeit besteht, von der objektiven Wirklichkeit zu wissen.

 

2.      Es gibt keine objektive Wirklichkeit.

         Dann stellt sich die Frage nach dem Nous gar nicht.

 

1. a) steht natürlich für Antike und Mittelalter, aber auch für die traditionell denkenden Gläubigen der Moderne.

1. b) macht die objektive Wirklichkeit zur Hinterwelt; es wird über etwas geredet, wovon man nichts wissen kann. Das Sinnbild für diese widersprüchliche Position stellt der wissenschaftsgläubige Atheist (in) der Moderne dar.

2. entspricht natürlich unserer Position; es gibt keine objektive Wirklichkeit, und jeder glaubt mehr oder weniger subjektiv, was seinem eigenen Wirklichkeits-Bild entspricht.        

2.6. Zusammenfassung

Haben Sie achtsam gelesen und versucht, mich zu verstehen, könnte ich mir sehr gut folgendes Resümee vorstellen:

„Das Fehlen der Seienden ist mehr als ungewohnt, bedeutet aber letztlich eine eindeutige Befreiung – und damit freilich auch Vergrößerung unserer Verantwortung:

Wir können uns von einem behauptenden oder doktrinären Denken verabschieden – und sollten dies der größeren Freiheit wegen auch tun. Darin kommt mit Ludwig Wittgenstein die erzieherisch oder therapeutisch wirkende Funktion der Philosophie zum Ausdruck; eine andere besitzt sie ihm zufolge gar nicht.

Darüber hinaus haben wir relativ viele Details erfahren; einige waren zwar ziemlich überraschend, jedoch stringent genug, um sie mit etwas guten Willen nachvollziehen zu können. Nichtsdestotrotz bleibt ein ungutes Gefühl zurück:

Es scheint noch die entscheidende Idee zu fehlen,

– die das integrierende Zentrum des Ganzen bildet oder

– die einzelnen Gedanken zusammenhält und

– aus der wir dann selbst die Details dieses postmodernen Ansatzes herleiten könnten.“ 

 

Den Weg zu dieser Kernidee gehen wir in zwei Schritten; zunächst soll das Außerhalb der Psyche verabschiedet werden.

Da ich Sie beim traditionellen Denken vermutet hatte und folgich dort abholen wollte, spielte dieser Begriff zunächst eine relativ große Rolle. Nachdem er nun als das, was wir prinzipiell nicht wissen können, völlig leer geworden ist, sollten wir das Außerhalb unserer Psyche ohne jeglichen Verlust streichen dürfen.

Natürlich; wir hatten einfach den nachstehenden logischen Schluß übersehen:

Es gibt keine Seienden.

Sie allein würden sich im Außerhalb der Psyche befinden. 

Somit existiert dieses ebenfalls nicht.

 

Unser zweiter Schritt besteht darin, nicht einfach von den Seienden und ein paar konkreten Beispielen für sie zu sprechen, sondern die Seienden auf das hin zu durchschauen, was mit ihnen tatsächlich behauptet wird:

Sie dienen der Tradition als diskrete, das heißt, untereinander getrennte oder voneinander isolierte Wirklichkeits-Stückchen.

Uns von den Seienden zu trennen, bedeutet also, daß wir jegliche diskrete Wirklichkeit bestreiten. Wir sind von den Seienden der Welt zur Wirklichkeit des Lebens übergegangen, und diese muß folglich kontinuierlich sein.

 

Kontinuierliches ist als solches jedoch prinzipiell undenk-, -wiß- und sagbar; es läßt sich lediglich beschreiben. Deswegen gibt es Belletristik; gute Romane oder Biographien beschreiben unser Leben, und mehr können sie gar nicht tun.

Da die Tradition stets von einer Identität zwischen Denken und Sein ausgeht, davon also, daß wir die Wirklichkeit wissen können, muß sie sich die Welt als ihre Wirklichkeit folglich in diskreten Stückchen vorstellen; nur sie können abgebildet oder erkannt und damit gewußt werden.

Dies ist beim postmodernen Leben als unsere Wirklichkeit ausgeschlossen, und deswegen betrachten wir es als „nur“ bewußt.   

Ausführlicher läßt sich dies folgendermaßen darstellen:

 

Traditionell Denkende gehen davon aus, daß wir

– die uns als Welt vorgegebenen Wirklichkeits-Stückchen

– abbilden oder erkennen,

– daduch von ihnen wissen und sie

– mit einem Namen versehen.

 

Postmoderne Philosophen sehen das hingegen ganz anders und glauben, daß

– keine uns vorgegebenen Wirklichkeitsstückchen existieren,

– sondern diese – „Aktanten“ genannten diskreten Konstrukte oder Projektionen – erst durch unser Verstehen hergestellt werden, so daß in einem Zuge

  — wir die Aktanten wissen und

  — diese einen Namen erhalten.

Deswegen „passen letztere immer so gut“; die Wissung Sonne heißt „Sonne“ und verallgemeinert die Wissung X „X“.

 

AD: „Das klang jetzt ein bißchen gekünselt; ‚durch unser Verstehen‘. Warum sagen Sie nicht einfach ‚durch die Sprache‘?

Sie dient hierbei als Medium. Es gibt auch ganz andere Möglichkeiten; Musik, Tanz, Malerei, Mathematik, Kleidung usw., aber die Sprache bildet gewiß unser wichtigstes Medium.“

Weil „durch die Sprache (oder ein anderes Medium)“ meines Erachtens falsch wäre.

Um das einsehen zu können, müssen wir wieder etwas weiter ausholen.

 

Die Psyche entfällt automatisch mit ihrem Außerhalb, denn sie ist ein Organ, das zum Abbilden dient, und dergleichen tun bzw. brauchen wir nicht (mehr).

Aber es muß offensichtlich etwas sehr Ähnliches existieren, das von der Tradition als abbildende Psyche mißverstanden wurde. Dieses Ähnliche, diejenige „Psyche“ also, die nicht als Abbild-Organ fungiert, ist im weiteren per definitionem das Bewußtsein.

Es ist dual aufgebaut;

– auf der einen Seite steht unser eigenes subjektives Leben, und

– auf die andere Seite gehören die Anschauungen, zu denen die Aktanten zählen.

Letztere, erinnern wir uns, sind geglaubte und damit im Chronos über das Jetzt hinaus dauernde Anschauungen. Das ist völlig unproblematisch, denn unsere Vorstellungen sind – von der „Absender“-Seite her – zwar an das Jetzt gebunden, können sich aber – als „Adresse“ – auf den gesamten Chronos beziehen. 

 

Ich wiederhole absichtlich ein wenig:

Unser Leben bildet die postmoderne Wirklichkeit; es kann somit nicht diskret, sondern muß kontinuierlich und damit ungewußt sein. Da es dennoch zum Bewußtsein gehört, sprechen wir vom bewußten Leben, das als solches jedoch auch prinzipiell unwißbar ist.

Ursprünglich, das heißt, „am Anfang“ fällt unser Bewußtsein mit diesem bewußten Leben zusammen, und Schritt für Schritt treten zu letzterem die gewußten Anschauungen hinzu.

Dabei müssen wir zwei Fragen deutlich unterscheiden:

Woher kommen die Anschauungen im Bewußtsein, und wodurch entstehen sie?

 

Die letzte Frage ist die einfachere:

Zum einen müssen alle Anschauungen zugleich Verstehungen sein, denn wir können weder Wahrnehmungen noch Vorstellungen haben, ohne sie zu verstehen. Fehlt das Verständnis, handelt es sich nicht um Anschauungen; diese reichen exakt so weit wie jenes.

Zum anderen enthält unser Bewußtsein „zu Beginn“ nur das Leben, so daß letzteres selbst bzw. eine seiner Facetten die Anschauungen generieren muß.

 

Medien gehören nicht zum Leben, sondern Sprache, Musik, Tanz, Malerei, Mathematik, Kleidung usw. sind bereits – durch das Leben – generierte Anschauungen. Deswegen konnte ich oben nicht „durch die Sprache“ schreiben;

nicht sie selbst als Medium, sondern

– höchstens die Lebens-Facette subjektives Verstehen des Mediums

kann die eigenen Anschauungen generieren.

AD: „Es gibt aber kein Verstehen des Mediums, ohne daß letzteres zuvor produziert wurde; ich meine ganz einfach das Sagen, Musizieren, Tanzen, Malen, Rechnen, Sich-Kleiden usw.

‚Sprache‘ wäre schlecht; da schließe ich mich Ihnen an; „verstehen“ allein geht meines Erachtens aber auch nicht“. Vielleicht sollten wir formulieren, daß die Aktanten durch die Einheit von Sagen und Verstehen gebildet werden?“

Ich fürchte, daß viele Leser Ihrer Schlußfolgerung vorbehaltlos zustimmen, halte sie aber nicht nur für dezidiert falsch, sondern diesen Fehler auch für sehr fundamental und folgenreich.

 

Unser Bewußtsein umfaßt das Leben sowie die Anschauungen, und das Sagen, Musizieren, Tanzen, Malen, Rechnen bzw. Sich-Kleiden sind keine Facetten des Lebens, sondern bereits Anschauungen.

Wir wissen doch bei diesen Tätigkeiten recht genau, wovon die Rede ist, und können sie (die Tätigkeiten) sogar negieren; das Tanzen ist ein Nicht-Rechnen. Im kontinuierlich-bewußten Leben gibt es weder Wissungen noch Negationen.  

AD: „Nein; da muß ein Denkfehler dahinterstecken!

Sie hatten soeben gesagt ‚unser subjektives Verstehen des Mediums . . . generiert die eigenen Anschauungen‘. Wenn das alles stimmen soll, müßte ein prinzipieller Unterschied bestehen zwischen

– dem Sagen, Musizieren, . . . – als Anschauungen – auf der einen Seite und

– dem Verstehen – als einer Facette des Lebens – auf der anderen.“

 

Sehr schön mitgedacht – und so verhält es sich tatsächlich auch:

Sämtliche Wissungen ohne jede Ausnahme sind Anschauungen oder Verstandene.

Im Gegensatz dazu bildet das Verstehen eine Facette des Lebens.

Ich habe mich bei „Verstandene“ nicht versehen; wir können sie mit den Verstehungen identifizieren, weil es für uns kein Außerhalb und damit keine Abbildungen oder sonstigen Vedopplungen mehr gibt. Wissungen sind Gewußte, und Anschauungen Angeschaute.

 

Der fundamentale Unterschied zwischen Wissen und Leben läßt sich nicht beseitigen. Wüßten wir, was das „Verstehen“ ist, wäre es kein Verstehen, sondern bereits Verstandenes, Gewußtes oder Angeschautes.

Mit diesen letzteren ist ein – vorübergehender oder zeitweiliger – Abschluß erreicht; mehr gestattet unser Bewußtsein gegenwärtig nicht.

Beim Verstehen fehlt er jedoch; es existiert kein Verstandenes und bleibt vollkommen offen, worin es in der Zukunft bestehen wird.

„Verstehen“ ist, mit anderen Worten, nur Verstehen, wenn wir nicht wissen, wohin es führt.  

 

Damit wird jedoch deutlich, daß wir uns ein wenig verdacht haben; es geht überhaupt nicht um das Verstehen als solches:

  Immer wenn das Resultat – und damit die Zukunft – offen ist, handelt es sich um Facetten des Lebens. Scheint dagegen alles festzuliegen, haben wir es mit Anschauungen zu tun.

AD: „Ich habe zum Beispiel heute Abend ein Rendevouz und möchte zuvor bei Antonio noch Himbeereis essen. Das ist meine Intention, aber es kann natürlich auch völlig anders laufen. Ich bekomme Streß mit der Kellnerin, einen Preis als 1000. Gast, eine Dachschindel auf den Kopf, meine Freundin versetzt mich . . .

Ihre Formulierung ‚Scheint dagegen alles festzuliegen . . .‘  war also sehr weise gewählt, denn tatsächlich tut es dies nie. Es ist immer Verstehen in dem Sinne, daß wir stets vor der offenen Zukunft stehen und das Resultat unseres Tuns letztlich unbekannt ist.“

 

Ich fasse nochmals unsere Antwort auf die zweite der beiden obigen Fragen zusammen, bevor wir uns der ersten zuwenden.

Wodurch entstehen die Anschauungen im Bewußtsein?

Durch unser wirkliches, bewußtes, kontinuierliches, aber dadurch unwißbares Leben.

Wir können nicht aufzählen, was alles zum Leben gehört oder wir in unserem Leben tun, weil es keine getrennten Wirklichkeits-Stückchen enthält. Es ist nur möglich, „dieses“ von „jenem“ zu unterscheiden; deswegen die Facetten des Lebens.

Das Verstehen bildet ein – beschreibendes – Beispiel; allgemein bedeutet – eine Facette am – Leben, daß uns sein Resultat, das Wohin oder die Zukunft völlig unbekannt oder ein großes Fragezeichen sind.

Natürlich haben wir Erwartungen; sie gehören dem chronologischen Später an, aber wir leben – adventisch – in die Zukunft hinein, so daß wir niemals wissen, ob sich unsere Erwartungen erfüllen. Sie tun es zumeist eine Zeit lang, so daß wir uns einreden und selbst gerne glauben können, in der vergehenden Zeit zu leben.

 

Vielleicht lohnt es sich auch, noch explizit zu erwähnen, daß unser Ansatz nichts mit dem traditionellen Hylemorphismus, das heißt mit einem Dualismus von Materie und Form bzw. Sinnlichem und Geistigem zu tun hat.

AD: „Das dürfte wohl deutlich geworden sein:

An sich liegen Schallwellen oder Schwarz-Weiß-Verteilungen vor, und durch unser Verstehen – als Facette des Lebens – werden daraus für uns Anschauungen.“

Nein; Ihr erster Halbsatz ist völlig daneben:

Es liegen nicht an sich Schallwellen oder Schwarz-Weiß-Verteilungen vor, denn das wären Seiende. Für uns kann es sich bei jenen dagegen nur um Anschauungen bzw. Aktanten handeln, so daß sie bereits verstanden wurden.

 

Damit sind wir schon bei der anderen Frage: Woher kommen die Anschauungen bzw. Wissungen im Bewußtsein?

Sie besitzt zwei Seiten, die wir deutlich auseinanderhalten müssen.

 

Zum einen gehen sie in dem ganz einfachen Sinne aus dem Leben hervor, daß es ohne letzteres auch keine Anschauungen gäbe. Woher das Leben kommt, können wir prinzipiell nicht wissen; dafür kommen wir „immer schon“ oder „ursprünglich zu spät“, denn:

Das Leben ist unhinterfragbar, weil

– Wissungen keine Referenten besitzen,

– sowohl das Fragen als auch das Antworten dem Leben angehören und somit

– unsere Wissungen niemals hinter seinen Ursprung gelangen können.

 

Zum anderen verfügen wir in unserem oder durch unser Leben über Anschauungen oder Wissungen; bei ihnen kennen wir jedoch – im Gegensatz zum Leben – das Woher.

Durch Elternhaus, Freunde, Kita und Schule bekommen wir zu Beginn unseres Lebens Anteil an den Wissungen, die in der Vergangenheit von unseren Vorfahren erworben wurden. Wie sie dieses Wissen verstanden haben, läßt sich nicht eruieren und ist auch völlig belanglos. Wir hatten aus den vorgelesenen Märchen zum Beispiel die Vorstellung Rotkäppchen übernommen, und selbstverständlich gibt es das – als Aktant.

Der Wissens-Strom, der uns von den anderen Menschen her erreicht, reißt nicht ab, solange wir leben. Immer stärker treten freilich die eigenen Überlegungen hinzu, so daß nach und nach unser persönliches Wirklichkeits-Bild entsteht. Es ist subjektiv sogar in einem doppelten Sinne; jeden von uns erreichen andere Wissungen, und wir bestimmen selbst darüber, wie sich diese „Ausgangsstoffe“ zu unserem Wirklichkeits-Bild zusammenfügen.

 

Unter den Anschauungen befinden sich auch Aktanten, das heißt Anschauungen, die wir innerhalb der vergehenden Zeit oder dem Chronos als konstant betrachten.

Sie können so stabil sein, daß traditionell Denkende glauben, es handle sich um Seiende einer objektiven Welt. Damit werden diese „seienden Aktanten“ jedoch vollkommen vom subjektiven Leben abgelöst und können folglich sogar weit über unseren Tod hinausreichen.

Bei den eo ipso unwirklichen Aktanten ist das natürlich ausgeschlossen, denn sie gehen aus den eigenen Anschauungen hervor, sind damit an unser Leben gebunden und „sterben“ folglich auch mit uns. 

 

Diese absolute Unverfügbarkeit unseres Lebens bzw. der Zukunft verunsichert. So denken wir höchst ungern; und um der Lebens-Wirklichkeit nicht in’s Auge schauen zu müssen,

– bestreiten wir deren Modal-Zeit,

– reden uns ein, als Körper in – dem Jetzt – der vergehenden Zeit zu leben, und

– machen unsere subjektiven Aktanten zu objektiven Seienden.

 

AD: „Das bringt einen völlig neuen Aspekt in unser Gespräch. Bisher hatte ich Sie so verstanden, daß der Übergang von der Tradition zur Postmoderne sich zwar über viele Jahrzehnte hinziehen mag, weil er von zahlreichen äußeren Umständen beeinflußt wird, letztlich aber ein unumkehrbares historisches Geschehen darstellt.

Nun sagen Sie, daß es auch zu schmerzlich sein könnte, der postmodernen Unverfügbarkeit in’s Auge zu schauen, so daß in jedem schon ‚Postmodernen‘ noch ein kleiner ‚Traditionalist‘ steckt: 

‚Ach wäre es schön, wenn ich das weiterhin glauben könnte . . .; ewige Wahrheiten und wissen, was die Zukunft das Später bringt!'“

 

Zwischen der historischen und der psychologischen Perspektive besteht meines Erachtens kein Widerspruch. Geschichtliche Prozesse laufen doch häufig so ab, daß entweder der Verstand dem Gefühl oder das Gefühl dem Verstand möglicherweise weit voraus eilt.

Daß die objektive Wirklichkeit in der Moderne immer stärker zu einer Hinterwelt wird, könnte man theoretisch schon recht lange wissen. Es ist aber auch möglich, das zu verdrängen und sich in der auf diese Weise geschaffenen Schein-Sicherheit gemütlich einzurichten.

 

Mit George Spencer-Browns Überlegungen im Hintergrund können wir die Zusammenhänge zwischen vergehender und modaler Zeit noch ein wenig besser verstehen. Sein Hauptwerk, die „Gesetze der Form“, ist leider nahezu unverdaulich. Daraus resultiert wohl auch, daß die Wertschätzung, die Spencer-Brown von seinen Lesern erfährt, zwischen genial und . . . extrem schwankt; für mich ist er ein grandioser (mathematischer) Denker.

Was wir wollen oder nicht-wollen – philosophisch sind das unsere Intentionen – gehört den Anschauungen bzw. der vergehenden Zeit an. Vorsichtiger ausgedrückt spielt es natürlich in der Gegenwart, befindet sich aber nahe an der Vergangenheit, wo „alles noch als planbar erscheint und unser Wille geschieht“.

 

Etwas zu wollen, heißt, ein Ziel auszuwählen; daran sind prinzipiell vier Elemente beteligt:

1. Das Ganze oder Umgreifende, innerhalb dessen wir auswählen.

    Meine Umgebung etwa in unserem obigen Beispiel.

2. Das innerhalb dieses Umfassenden liegende Ziel A.

    Antonios Himbeereis.

3. Die dieses Ziel begrenzende geschlossene Fläche.

    Der Eisbecher als Gefäß.

4. Die andere Seite der Grenze; alles außer A, rein logisch also non-A.

    Alles in der Umgebung außer dem Himbeereis.

Der erste Punkt scheint vielleicht nicht ganz zwingend; er ist jedoch erforderlich, weil es ohne ihn kein „alles außer A“ gibt und damit die andere Seite der Grenze oder das non-A fehlt.

Weder der Satz des Pythagoras noch der Eiffelturm spielen in meinen Überlegungen eine Rolle; sie sind nicht in non-A enthalten, weil sie nicht meiner Umgebung angehören.

 

Das wäre, wie bereits gesagt, unser Denken in den Anschauungen oder der vergehenden Zeit – nahe an der Vergangenheit. 

Getrauen wir uns jedoch ein wenig weg von ihr und öffnen uns der unverfügbaren Zukunft,

– ist das Ganze oder Umgreifende nicht mehr definiert, so

– daß auch unser Ziel darin gar nicht mehr existieren muß und

– die Konsequenzen unserer Entscheidung unabsehbar werden.

 

Was hierbei letztlich geschieht, können wir sehr deutlich formulieren:

Unsere Vorstellungen der vergehenden Zeit werden

– von den Wahrnehmungen der Modal-Zeit zurechtgestutzt.

Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt, sondern erwarten das gegenwärtige Später.

Wir wissen nicht, wie die Vergangenheit aussah, sondern erinnern das gegenwärtige Früher.

Von der Vergangenheit zur Gegenwart gehen die Aktanten über.

Von der Gegenwart zur Zukunft führt das Schwinden des Wissens.

 

Ich hatte oben geschrieben, mit dem Gewußten oder Angeschauten sei ein – vorübergehender oder zeitweiliger – Abschluß erreicht; mehr gestatte unser Bewußtsein gegenwärtig nicht.

Wenn mein Leben für mich die einzige Wirklichkeit darstellt,

– bildet das Verstehen nicht nur eine Facette am Leben, sondern

muß es sich um das Verstehen des Lebens handeln und

– dieses zum Ziel des Lebens gehören.

 

In jeder Gegenwart verfügen wir über bestimmte – eben die gegenwärtigen – Verstehungen, Wissungen oder Anschauungen. Das ist auch traditionell so; wir müßten lediglich „Gegenwart“ durch „Jetzt“ ersetzen; aber die Denkvoraussetzungen und -richtungen sind ganz unterschiedlich:

Der Tradition geht es um ein adäqutes Abbilden der Seienden, so daß stets einige Abbilder bereits „fertig“ und andere noch „in Arbeit“ sind. Damit wird verständlich, daß Abbilder richtig oder vielleicht sogar wahr sein sollten.

Diese Chance besteht bei uns nicht; das Gewußte oder Angeschaute ist immer nur ein vorübergehender oder zeitweiliger Abschluß. Das Stabile kommt nicht – als wirkliches Seiendes – vom Außerhalb der Psyche, sondern – als unwirklicher Aktant – aus der Vergangenheit.

Es gehört zu unseren Aufgaben in der Gegenwart, verantwortlich mit dem uns Anvertrauten umzugehen und es für die Zukunft möglichst fruchtbar werden zu lassen.

Exkurs: Markus Gabriel als Naiver Realist

Dieses Kapitel enthält einen (leicht geänderten) Artikel, den ich spontan-verärgert für die „Neue Züricher Zeitung“ geschrieben hatte, um damit einer meines Erachtens grotesken Fehleinschätzung von Bruno Latours Denken durch Markus Gabriel entgegenzutreten. Sollte ich mich darin möglicherweise beleidigend ausdrücken, bitte ich um Entschuldigung; auch Gabriels Mißgriff würde dies nicht rechtfertigen.

Ich drucke die Rezension hier ab; zum einen in der Hoffnung, daß sie Ihrem Verständnis dient, und zum anderen um diesen zweiten Teil mit einem gegenwärtig vielzitierten Naiven Realisten abzurunden.

 

Gabriel schrieb in der NZZ vom 26. 3. 2020 unter anderem:

„. . . Doch auch progressive Intellektuelle, die sich Wissenschaftlichkeit auf die Fahnen schreiben, haben sich in den letzten Jahren einem heillosen Relativismus verschrieben. Zu ihren prominentesten Vertretern zählt der französische Soziologe Bruno Latour. Er hat sich sogar zu der absurden These verstiegen, Ramses II. könne nicht an der Tuberkulose verstorben sein, weil der Erreger erst im 19. Jahrhundert entdeckt worden sei. Das ist metaphysische Absurdität, wie der analoge Fall der Corona-Krise zeigt:

Hätten wir keine Virologen eingeschaltet, um Covid-19 zu studieren, hätte die Krankheit sich gemäß Latour nicht verbreitet, weil sie nicht einmal existiert hätte. . .“

 

An dieser Argumentation stimmt absolut nichts; Latour hat 100%-ig Recht, und die „metaphysische Absurdität“ liegt allein bei Gabriel, der den fundamentalen Unterschied zwschen zwei Arten von Wirklichkeit nicht sehen kann – oder will.

Ich werde versuchen, meine Argumentation und Verteidigung Latours – obwohl sie nur rein philosophisch ausfallen kann – ohne Fach-Chinesisch hinzubekommen.

 

Wir haben alle irgendein spezielles subjektives Welt-Bild. Rein assoziativ beziehen wir das zumeist allein auf die Immanenz; um diese unnötige Vernachlässigung der Transzendenz zu vermeiden, sprechen wir im weiteren besser von unserem Wirklichkeits-Bild. Die meisten Menschen sind überzeugt, daß das ihrige wahr oder zumindest richtig ist. Das postmoderne Denken geht hingegen davon aus, daß diese Annahme

– nicht nur nicht überprüfbar, sondern

– völlig sinnleer ist, wei es keine objektive Wirklichkeit und damit auch

– weder ein wahres bzw. unwahres noch ein richtiges resp.falsches Bild von ihr geben kann.

 

Aber selbst diese Aussage, die Sie gewiß als eine ziemliche Zumutung erfahren, können wir vollkommen auf sich beruhen lassen. Uns genügt als Prämisse,

– daß wir subjektiv über ein bestimmtes Wirklichkeits-Bild verfügen,

– uns an ihm orientieren und

– orientieren müssen, weil die Alternative dazu nur in einem anderen Wirklichkeits-Bild bestände.  

Wir glauben nicht, was nachweislich richtig ist, sondern was zu glauben wir für richtig halten.

 

Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen, die meines Erachtens ebenso weitreichend wie zwingend sind:

Zum einen (I) können wir alles wollen – tun-, wissen-, sehen-, verstehen- oder erleben-wollen beispielsweise –, was uns im Rahmen des eigenen Wirklichkeits-Bilds möglich ist. Hexen oder Schamanen beispielsweise, die ihrem Wirklichkeits-Bild zufolge fliegen können, werden das wahrscheinlich auch versuchen.

Die Wirklichkeit selbst bestimmt dann darüber, ob das Wollen zum Erfolg führt – aber das muß uns, wie bereits gesagt, schon nicht mehr interessieren.

Zum anderen (II) können wir nichts wollen – tun-, wissen-, sehen-, verstehen- oder erleben-wollen beispielsweise –, was in unserem Wirklichkeits-Bild gar nicht enthalten ist. Wir können nicht Tolen. „Ich weiß doch gar nicht, was das sein soll“, möchten Sie vielleicht einwenden. Aber genau das meine ich ja: Das Wort „Tolen“ besitzt keine Bedeutung, und deswegen wissen wir alle nicht, „was das sein soll“ – weil es in unserem Wirklichkeits-Bild nicht vorkommt. 

Bei dieser zweiten Konsequenz spielt die Wirklichkeit gar keine Rolle. Was wir nicht wissen, können wir nicht wollen, denn dazu müßten wir wollen, ohne zu wissen, was wir wollen.

 

Nach dieser Theorie zurück zum Thema.

Wir betrachten einen Patienten aus dem Jahre 2018, der sich miserabel fühlt, zum Arzt geht, von diesem untersucht wird und möglichst geholfen bekommen möchte. Das bestreitet Latour nicht; aber (II):

Noch kommt in keinem Weltbild Covid vor, so daß eine entsprechende Diagnose unmöglich ist.

 

„Der Patient könnte jedoch trotzdem Covid haben„, denken Sie möglicherweise. Das bezweifle ich gemeinsam mit Latour:

Um dies nachvollziehen zu können, unterscheiden wir zwei prinzipiell verschiedene Arten von Wirklichkeit,

– die natürlich nicht unabhängig voneinander sind,

– sich aber dennoch nicht überlappen oder durchdringen, so daß alles Wirkliche sauber entweder der einen oder der anderen Art angehören muß.

 

Die eine hängt mit unserem Leben zusammen, kann also möglicherweise auch bei Babys oder Tieren vorkommen und hat nichts mit irgendwelchen Theorien zu tun; nennen wir sie deswegen „Lebens-Wirklichkeit“. Damit meine ich, daß es unserem Patienten schlecht geht, Freude und Leid unser Leben prägen, Geburt und Tod fundamental sind, Menschen einander lieben oder hassen und an Götter glauben können – aber all das nicht so, wie es unsere Theorien repräsentieren, sondern so, wie wir es erfahren und insbesondere die Kunst darstellt oder beschreibt.   

Alles, was uns hierzu einfällt, gab es natürlich schon zu Zeiten von Ramses II.

 

Die zweite oder Welt-Wirklichkeit wird von – wissenschaftlichen oder unwisenschaftlichen – Theorien konstruiert, existiert somit erst nach ihrer Erfindung, und wir projizieren sie aus unserem Geist heraus in die – oder besser: als – Welt. Hierzu gehören Latour zufolge das Mycobacterium und Covid 19 mit der gesamten exakten Wissenschaft.

Wir

– unterscheiden also mit Latour zwischen der Leibhaftigkeit unseres Lebens sowie dem bloß – unter anderem auch darüber – Reflektierten und

– setzen nicht wie selbstverständlich voraus, daß sich dieses auf jene bezieht.

Natürlich hängen die beiden Wirklichkeits-Arten voneinander ab; aber auf eine ganz andere Weise:

Ohne unser Leben gäbe es nichts Reflektiertes, und nur an letzterem können wir unser Leben orientieren. Natürlich wäre das Reflektierte, wie alle fremden Kulturen beweisen, auch ganz anders möglich.

 

Schmerzen und Orgasmen existieren seit Menschengedenken, denn sie gehören zur Leibhaftigkeit unseres Lebens; zehndimensionale Spinor-Räume müssen dagegen erst von Menschen erdacht werden, um vorhanden sein zu können.

Die beiden Wirklichkeits-Sphären gehen zwar kontinuierlich ineinander über, aber es stellt sich niemals die Frage, wohin das Wort „X“ tatsächlich gehört. Vielmehr entscheiden wir darüber, wie „X“ verstanden werden soll: Die Gallenkolik könnte zur Welt gehören, während die Schmerzen einen Teil unseres Lebens bilden, und damit deutlich von jener zu unterscheiden sind; es gibt also gewissermaßen „zwei Arten von Gallenkolik“.   

Die weibliche Eizelle wurde erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts entdeckt; zuvor ging der Embryo vollständig aus dem Vater hervor, und die Mutter stellte lediglich den geschützten Raum für seine Entwicklung zur Verfügung. Deswegen stand auch Jesus‘ natürliche Geburt seiner Gottessohnschaft absolut nicht im Wege. 

 

Im Mittelalter hätte ein Priester angesichts unseres sich miserabel fühlenden Patienten – im Rahmen seines Wirklichkeits-Bilds – vielleicht von dämonischer Besessenheit gesprochen (I). Die meisten von uns sind sich mit Recht völlig sicher, daß diese Diagnose natürlich nichts mit einer objektiven Wirklichkeit zu tun hat.

Das war im Mittelalter eben noch ganz anders. Damals erwies sich die Erklärung des Priesters wahrscheinlich für die meisten Menschen als hinreichend einleuchtend, stimmig und widerspruchsfrei; deswegen glaubten fast alle die dämonische Besessenheit.

Daraus wurden in der Zwischenzeit zumeist psychische Erkrankungen; was es wirklich ist – die Gabriel-Frage nach der objektiven Wirklichkeit –, stellt ein Scheinproblem dar. Im Mittelalter befriedigten jene Antworten, und in der Moderne finden wir diese; es geht immer nur um das Wirklichkeits-Bild, denn mehr können wir gar nicht haben.

 

Zu Beginn der Moderne wurde das Erd-Scheiben- mit dem Erd-Kugel-Bild verglichen und letzteres favorisert. Mit Recht, weil es praktikabler ist; aber niemand kann Bilder mit der Wirklichkeit vergleichen. Gegenwärtig wechseln wir von sich anziehenden zu anziehungsfreien Massen-Bildern, die unser Raum-Zeit-Bild krümmen.

Bei Hans-Georg Gadamer liest sich diese wichtige Einsicht folgendermaßen:

„Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.“

Ich würde gerne übersetzen:

„Lebens-Wirklichkeit“, die verstanden werden kann, ist keine „ewige“ Lebens-, sondern zeitgebundene Welt-Wirklichkeit.

 

Das  Argument, es gäbe doch offensichtlich einen Fortschritt vom Mittelalter zu uns, denn wir können die Viren unter dem Mikroskop sehen, sticht aus mindestens zwei Gründen nicht:

Zum einen hat man die dämonische Besessenheit im Mittelalter bei geschultem Blick ebenfalls gesehen. Das gelingt uns heute nicht mehr – so wie im MIttelalter auch keiner Corona sah.

Zum anderen (II) waren wir uns oben doch (hoffentlich) bereits einig, daß man nichts sehen oder als existent annehmen kann, was dem eigenen Wirklichkeits-Bild nicht angehört.

„Es gibt etwas, aber ich weiß nicht, was es ist . . .“

3. Metaphysischer Explikationismus

In diesem dritten Teil starten wir nun unseren eigenen postmodernen Ansatz, den Metaphysischen Explikationismus. Aber womit?

Glaubensbekenntnisse lassen sich von einem bestimmten Reflexionsniveau an natürlich nicht mehr vermeiden. Ob wir beispielsweise an eine Existenz nach dem biologischen Tod glauben, uns als frei betrachten oder das Leben als sinnvoll, sind Fragen, die sich möglicherweise sogar ignorieren, aber gewiß nicht definitiv beantworten lassen.

Wir sollten dort, aber auch nur dort unseren Glauben bekennen, wo es

– uns als wichtig erscheint und

die Vernunft keine stringente oder alternativlose Antwort mehr gestattet.

Solange uns letzteres möglich ist, müßten wir dies meines Erachtens favorisieren.

 

AD: „Gibt es überhaupt alternativlose Entscheidungen der Vernunft?“

Wenn wir ernstnehmen, daß unsere Überlegungen an das eigene Wirklichkeits-Bild gebunden sind und sich alles Argumentieren nur innerhalb desselben abspielen kann, sind sehr wohl eindeutige Konsequenzen denkbar. Aber sie gelten natürlich nicht allgemeinverbindlich, objektiv oder an sich, sondern gegenwärtig für mich:

„Aus meinem subjektiven Wirklichkeits-Bild folgt zwingend, daß . . .“

Und außerdem bildet unsere subjektive Vernunft den höchsten Maßstab, über den wir verfügen; sie ist absolut alternativlos.

 

AD: „Daß Sie das sagen überrascht mich jetzt . . . Einen Heiligen Geist zum Beispiel gibt es also Ihres Erachtens nicht?“      

Zum einen gehört die Frage nach seiner Existenz bzw. Nicht-Existenz zu der oben angedeuteten Gruppe von Problemen, bei denen Glaubensbekenntnisse nicht nur angebracht, sondern sogar unvermeidlich sind; von Wissen kann hier keine Rede sein. „Jeder ernstzunehmende Glaube weiß, daß er ’nur‘ Glaube ist.“

Zum anderen stehe ich vollkommen unabhängig von der Existenz Gottes oder seines Geistes zu meiner Überzeugung, daß die eigene subjektive Vernunft für sämtliche Orientierungen unseren höchsten Maßstab darstellt.  

 

Die Begründung für meine „Hybris“ ist recht einfach:

Noch niemand ist auf den Heiligen Geist als solchen gestoßen; das heißt, anschaulich gesprochen mit Personalausweiß, Unterschrift und Garantieerklärung „Ich bin der Heilige Geist“. Er begegnet uns – wenn überhaupt – nur in oder durch Menschen.

Das ist einerseits notwendig, denn auf „göttlich“ (statt auf deutsch oder englisch) könnten wir den Heiligen Geist gar nicht verstehen.

Andererseits wird es dadurch schwierig, ihn von anderen Geistern zu unterscheiden, denn wir wissen nicht, durch welche Menschen er was zu uns spricht. Er weht, wo er will; in kleinen Kindern, der Bibel oder dem Koran, durch den Papst oder Nietzsche, Goethe oder Borges, so daß unsere eigene Interpretation stets unvermeidlich ist.

 

Wir benötigen also die subjektive Vernunft, weil wir selbst entscheiden müssen, was wir für wahr halten und wo wir glauben, gegebenenfalls den Heiligen Geist vernommen zu haben.

Das kann mächtig danebengehen; dieses Risiko – in Freiheit möglicherweise Fehler zu begehen – ist aber notwendig, weil wir uns nur so selbst zu einer eigenen Identität bestimmen können.

Die einzige Alternative bestände darin,

– auf die eigene Freiheit zu verzichten,

– sie auf andere zu übertragen und diese für uns entscheiden zu lassen,

– ihnen als „Autoritäten“ blind zu folgen und dadurch

– fremd-bestimmt bzw.

– kein eigenes Selbst zu werden. 

 

Zurück zum Roten Faden; was können wir ohne unnötige Glaubensbekenntnisse voraussetzen? Gibt es überhaupt Sicheres, Selbstverständliches oder Evidentes?

In der Moderne hätten wohl viele Menschen die Materie oder mathematische und Naturgesetze vorgeschlagen, aber das sind ja alles nur Wissungen, die vor wenigen Jahrhunderten noch gar nicht existierten und im Kern an das Abendland gebunden sind.

Gebote oder der Wille Gottes scheiden ebenfalls aus, weil selbst die Gläubigen (zum Glück) – immer mehr – einsehen (müssen), daß uns jene nicht als Fundament folgenreicher allgemeiner Überlegungen zugänglich sind. Unser Gewissen ist stets das eigene, und es dürfte schwerlich etwas Subjektiveres geben.

Unser Suchen scheint kaum von Erfolg gekrönt zu werden; warum eigentlich nicht?

 

AD: „Nun diese Frage läßt sich aber sehr leicht beantworten:

Weil Sie exakt den traditionellen Fehler wiederholen wollen, bestimmte, mehr oder weniger willkürlich ausgewählte Entitäten als Seiende zu behaupten. Ihren eigenen Überlegungen im zweiten Teil zufolge ist das immer sinnleer; vollkommen unabhängig davon, um welche Entitäten es sich dabei handelt.

Ich frage mich nur, welche Alternative zu einem solchen Vorgehen überhaupt bestehen könnte.“

 

Sie haben Recht; wir dürfen nicht heimlich Seiende einführen, den Begriff vermeiden und uns damit selbst belügen.

Die Seienden sind die Referenten der adäquaten Wissungen.

Ohne – heimlich eingeführte – Seiende können die Wissungen folglich keine Referenten besitzen und somit auch weder adäquat noch inadäquat sein.

AD: „Sind Wissungen ohne Referenten überhaupt noch Wissungen?“

 

Ja, aber sie erhalten einen völlig anderen Sinn oder Status:

Traditionell stehen neben den Wissungen die Seienden, von denen jene handeln und wodurch sie adäquat sein können.

Postmodern nehmen wir diese Referenten weg, so daß die Wissungen allein zurückbleiben und sich nur noch auf sich selbst zu beziehen vermögen.

Wir wissen zum Beispiel, daß 2 mal 3 gleich 6 ist, aber 2, 3 und 6 sind ebenfalls nur Wissungen. Newton wußte – in unserer Sichtweise – unter anderem, daß die Wissung Sonne die Wissung Erde anzieht, wobei auch die Anziehungskraft kein Seiendes, sondern „nur“ ein Wissung darstellt.

Die Anführungsstriche sind wichtig, denn daß wir über mehr als Wissen verfügen könnten, ist lediglich eine traditionelle Illusion.

 

Daß unsere Wissungen nicht isoliert bzw. getrennt sind oder beziehungslos nebeneinander stehen, sondern – als unser Wirklichkeits-Bild – eine integrale Einheit darstellen, in der letztlich jede Wissung von jeder anderen abhängt, war bereits klar. Wir können, ließe sich dies auch beschreiben, alle Wissungen hinterfragen, aber nicht zugleich, denn die gegenwärtig akzeptierten werden (teilweise) für die Antworten benötigt.

Nun kommt noch ergänzend hinzu, daß unser Wirklichkeits-Bild in sich geschlossen sein muß:

Wenn es keine Seienden gibt und die Wissungen somit keine Referenten besitzen (können), führt nichts aus ihm heraus.

Damit hat sich dieses Thema endgültig erledigt – aber leider nicht unser Problem, womit wir den Neubeginn des Denkens starten.

 

AD: „Doch; mit unserem subjektiven Wirklichkeits-Bild!

Zunächst ist das tatsächlich alternativlos, denn wir wissen nichts anderes.

Und des weiteren erheben wir mit einem in sich geschlossenen Wirklichkeits-Bild keinerlei Wahrheits- oder auch nur Richtigkeits-Ansprüche, sondern bekennen ganz einfach:

‚So sehe ich es gegenwärtig; vielleicht stimmt nichts davon, aber auch um das feststellen zu können, muß ich hiermit beginnen.‘ Jede Alternative dazu bestände in einem blinden Glauben – an wen oder was auch immer.“

Das war sehr schön; die Wissungen andern also postmodern ihre Funktion; aus Informationen oder Mitteilungen werden Bausteine. Sie besitzen einzeln praktisch keinen Wert; aber in ihrer Einheit als Wirklichkeits-Bild emöglichen sie unsere Orientierung.

 

AD: „Dieses Bild ist sehr anschaulich und instruktiv:

Es gibt nur Wissungen, das heißt, Bausteine. Denken bedeutet, sie zusammenzusetzen, auseinanderzunehmen, anders zusammenzusetzen . . .; was auch immer wir tun – es führt wieder zu Bausteinen.

Das wirkt alles sehr rund, und ich finde auch keinen Denkfehler – obwohl es einen geben muß:

Mir erscheint es als zwingend, daß der Kosmos aus Materie besteht. Die meisten Physiker bestreiten das jedoch und sagen, daß sie nicht an der Materie, sondern diese selbst messen. Sie bildet ihnen zufolge also das Meßbare bzw. (bereits) Gemessene.

Das läßt sich jetzt wahrscheinlich nicht so einfach klären; lassen wir die Materie also einfach beiseite; mein Anliegen ist ein ganz handfestes: 

 

Die objekive Realität der Tradition besteht aus etwas; wenn Materie den Physikern zufolge tatsächlich falsch ist, dann eben aus einer Substanz, einem Material oder Stoff. Und diesen „Materie-Ersatz“ haben Sie bei Ihren Überlegungen irgendwie verschwinden lassen.

Wir verfügen nur noch über Wissen; das kennt kein Bestehen-aus und läßt sich – im Gegensatz zu Materialien oder Stoffen – auch nicht angreifen. Wo ist die objektive Realität mit ihrer Härte und Stabilität hin?

Holzkugeln bestehen aus Holz; andernfalls wären es keine Holzkugeln.“

So einfach, rein sprachlich-assoziativ geht es aber nun auch wieder nicht; weder bestehen Pistolenkugeln aus Pistolen, noch Holzwürmer aus Holz.

 

Ich versuche, Ihre prinzipielle Frage zunächst einmal anhand der Härte zu beantworten, weil es mir dabei leichter fällt. Hierzu müssen wir drei Bedeutungen unterscheiden.

 

1. Es gibt die Härte als Wissung; Härte(W).

    Die Wissung Diamanten ist ein Bündel von Teil-Wissungen; dazu gehören beispielsweise:

    – am häufigsten in Rußland gefunden,

    – brennen mit bläulicher Flamme,

    – zu Brillanten schleifbar und

    – enorme Härte(W).

 

 2. Eine freilich andere Härte kann – als Facette unseres Lebens – erfahren werden; Härte(L).

    „Das Leben schlug bei ihm mit all seiner Härte(L) zu.“

    Ich müßte wohl nicht erwähnen, daß hierfür weder Brinell-Meßgeräte noch andere zur Verfügung stehen.

 

3. Die Tradition kennt die Härte(S) zudem noch als Eigenschaft von Seienden.  

    Diamanten besitzen eine enorme und Holzbalken eine große Härte(S).

 

Dieser dritte Punkt fehlt postmodern; mit den Seienden entfallen natürlich auch ihre Eigenschaften.

Jedoch rein sprachlich halten wir den Verzicht auf Seiende nicht durch oder vergessen zumindest leicht, daß für uns weder Diamanten noch Holzbalken existieren.

In 1. dürfen wir also insbesondere nicht schreiben, daß Diamanten eine enorme Härte(S) besitzen

Bei 2. wäre vorstell-, aber nicht denkbar, weil widersprüchlich, daß die große Härte(S) eines Holzbalkens zu viel für unseren Kopf war.   

 

Wir leugnen also die Härte(L) des Lebens nicht, sondern belassen sie dort, wo sie hingehört – nämlich in unser Leben.

Die Tradition nimmt diese Härte dagegen von ihm weg und verlegt sie in die Welt, wo sie als Härte(S) zu einer bloßen Eigenschaft von Seienden degradiert wird. Dann ist die Härte(L) nicht mehr ursprünglich oder primär, sondern lediglich durch die Welt verursacht. Bewältigen wir diese Härte(S), werden also paradiesische Verhältnisse herrschen.

Das Leben ist unverfügbar und die Welt partiell verfügbar; das macht den Glauben an ihre Objektivität so verführerisch.

 

AD: „Das habe ich verstanden, entspricht vollkommen Ihrer Intention – dem postmodernen Wirklichkeits-Wechsel von der Welt zum Leben – und beantwortet auch gleich noch meine konkrete Frage:

Der Eiffelturm kann nicht aus Eisen bestehen, weil es ihn gar nicht gibt; dazu müßte er ein Seiendes darstellen.

Vielmehr ist die Wissung Eiffelturm lediglich ein Ensemble von Teil-Wissungen; hoch(W), stabil(W), grau(W), elastisch(W), beeindruckend(W) – und eben auch eisern(W).

Holzkugeln sind weder hölzern, noch bestehen sie aus Holz – denn sie existieren gar nicht.“

 

Ja; und damit ist en passant auch das Problem gelöst, das Sie mit der physikalischen Sichtweise der Materie als dem Meßbaren hatten: 

Würde an der Materie gemessen, wäre sie das, von dem wir wissen, und damit ein Referent oder Seiendes. Wieso soll sich das, was für den Eiffelturm und die Holzkugeln gilt, nämlich nicht von ihnen wissen zu können, bei der Materie anders verhalten? Das Gemessene sind realisierte und das Meßbare potentielle Wissungen.

3.1. Der Ursprung und die Zeit(en)

Meine Überschrift verwundert Sie eventuell schon gar nicht mehr; bereits zweimal zeigte sich explizit, daß wir mehrere Zeiten benötigen. Ich fasse unsere diesbezüglichen Ausführungen kurz zusammen und ergänze sie – ein wenig korrigiert.  

 

Die Tradition kennt im wesentlichen nur eine Zeit; in unserer Sprache ist das der Chronos bzw. die vergehende oder Temporal-Zeit. Sie wird zumeist durch einen Pfeil mit dem Parameter t veranschaulicht und ergibt sich aus dem Nacheinander der Tempi Früher, Jetzt und Später.

Da wir „offensichtlich“ in der Zeit leben, kommt bei einer einzigen dafür nur deren Jetzt infrage. Ihm gehört unser Körper an, der früher einmal geboren wurde und später wieder sterben wird.

 

Bei der Postmoderne müssen wir eine Unsauberkeit korrigieren, die ich bisher der Übersicht- und Verständlichkeit halber billigend inkauf genommen hatte:

Zwischen unserem Leben sowie der Modal-Zeit besteht zwar ein enger Zusammenhang, aber es war sehr simplifiziert zu sagen, wir würden in ihr leben; das tun wir nicht.

 

In irgendeiner irreversiblen Zeit zu leben, bedeutet, das eigene Leben selbst  als eine Uhr für diese Zeit nutzen zu können; ist es „später“ geworden, muß dies am Leben ablesbar sein. Erkennen wir daran absolut nichts, ist die Aussage, es sei „später“ geworden, sinnleer, und damit auch die Annahme, das Leben spiele in einer oder gar der Zeit. Das ist doch alles nicht selbstverständlich.

Daß wir nichts vom Leben wissen (können), bedeutet, daß sich daran weder etwas ändert noch andert. Dann entspricht ihm jedoch auch keine Uhr, derzufolge es „später“ wird, so daß unser Leben – zwar zeitlich ist, aber – keiner Zeit angehört.

 

AD: „Sie erwarten wohl kaum, daß wir ‚zeitlich, aber nicht in der Zeit‘ verstehen?“

Eigentlich schon, denn bei „räumlich, aber nicht im Raum“ hatten Sie es meines Erachtens auch getan; dort dienten uns Schmerzen und Phantomglieder als Paradebeispiele. Beide können unbestreitbar räumlich sein, besitzen aber keine Dimensionen; diese hatten wir dort als den entscheidenden Unterschied zwischen „räumlich“ und „im Raum“ herausgarbeitet.

Worin besteht er bei „zeitlich“ bzw. „in der Zeit“?

 

Sowohl Änderungen als auch Anderungen setzen ein Mindestmaß an Stabilität voraus; es muß etwas geben, daß sich ändern bzw. andern kann.

Unser Leben ist jedoch – nicht nur nicht zeitlos oder statisch, sondern ganz im Gegenteil – so zeitlich bzw. dynamisch, daß es dieses Mindestmaß an Stabilität nicht erfüllt. Damit kann es auch nicht als Uhr fungieren; das Leben ist so mannigfaltig, daß es in sich keine Anschauungen und damit weder Änderungen noch Anderungen kennt. 

Natürlich haben wir all das bei unseren Wissungen; aber sie gehören nicht zum Leben, sondern setzen es zwar voraus, stehen ihm jedoch dualistisch gegenüber.

 

Nennen wir die „Zeit“, die keine Uhr messen und bei der es somit auch nicht „später“ werden kann, „Ursprung“, so läßt sich zusammenfassen:

Wir leben zeitlich; aber nicht innerhalb irgendeiner Zeit, sondern per definitionem im Ursprung.

AD: „Wenn der Ursprung keine Zeit ist, müßte er doch der traditionellen Ewigkeit entsprechen?“

Natürlich; überraschenderweise ist unsere postmoderne Ewigkeit jedoch eine Über-Zeit, während die traditionelle mit Unveränderlichkeit verbunden wird. So zu denken ist aber schon sehr schräg, denn die letztere entspricht Änderungen vom Wert 0, und das ist ja wahrlich nichts Aufregendes. Dann ähnelt die Ewigkeit, wie ich oben schon einmal sagte, einem Granitblock (und ein entsprechender Gott wäre nur zu bedauern).

Wir leben zeitlich im Ursprung; daß keine Lebens-Zeit existiert oder es nicht „später“ wird, bedeutet anschaulich, daß wir immer an der gleichen Stelle leben bzw. keinen Lebens-Weg zurücklegen.

Es kann also auch nicht entscheidend sein, ob wir uralt werden oder als Baby sterben.

 

Zur Modal-Zeit muß dagegen eine Uhr gehören – andernfalls könnten wir nicht Vergangenheit, Gegenwart sowie Zukunft daran ablesen. Aber was wird dabei eigentlich abgelesen oder unterschieden? Bisher sind die Modi bloß leere Worte.

Die Gegenwart entspricht unseren subjektiven Wissungen; wir können immer nur die gegenwärtigen haben; einige von ihnen sind vielleicht tatsächlich aktual(isiert); nahezu alle jedoch nur möglich oder potentell.

Die Vergangenheit enthält die Entstehung oder (bisherige) Geschichte unserer gegenwärtigen Wissungen. Diese Geschichte wissen wir nicht; die Vergangenheit bildet das „Vor“-unserem-Wissen; nur ihr Resultat – das Wissen selbst – gehört ihm an.

Nochmals mit anderen Worten:

Uns ist in Form der gegenwärtigen Wissungen das Resultat ihrer Genese gegeben, aber diese Entstehung selbst gehört der Vergangenheit an; sie wissen und benötigen wir auch nicht.

Die Zukunft stellt das Pendant der Vergangenheit dar; sie ist der subjektive Adventus unserer Wissungen, das heißt das, was durch sie adventisch auf uns zukommen wird.

 

Ich hatte oben schon einmal gesagt, aber nun wird vielleicht deutlicher, daß uns aus der Vergangenheit als der (bisherigen) Geschichte unserer Wissungen auch viele Aktanten erreichen, die nicht nur innerhalb des Chronos sehr stabil, sondern zudem intersubjektiv weit verbreitet sind.

Es ist damit sogar ein wenig nachvollziehbar, daß das traditionelle Denken diese Aktanten als Seiende mißversteht und sich damit das etwas kompliziertere Denken der Modal-Zeit erspart.

Aber das ist ein unnötiges Glaubensbekenntnis, so daß wir darauf verzichten (müssen) und uns diese Simplifizierung nicht erlauben (dürfen). 

 

Unser ursprüngliches Leben bildet gemeinsam mit den eo ipso gegenwärtigen Wissungen das subjektive Bewußtsein.

 

Einerseits stehen die beiden einander dualistisch gegenüber; sie unterscheiden sich darin wesentlich voneinander, daß

– das Leben be- und das Wissen gewußt ist,

– das Leben wirklich, aber – nicht nur die Gegenwart mit ihren Wissungen, sondern – sämtliche Modi unwirklich sind und

– letztere einem tatsächlichen Weg entsprechen, während das Leben „auf der Stelle namens ‚Ursprung‘ tritt“.

 

Andererseits stehen Leben und Wissen in dem oder als das Bewußtsein nicht einander berührungslos gegenüber, sondern wirken wechselseitig aufeinander. Aber unser Bewußtsein hat nichts mit der traditionellen Psyche gemein; sie ist insbesondere kein Organ zum Schauen auf die Wirklichkeit. Der Deutlichkeit halber sollten wir also formulieren:

Leben und Wissen wirken nicht im Bewußtsein aufeinander – und wir erkennen das von Außen –, sondern da es sich um mein Leben und mein Wissen handelt,

ist das Bewußtsein nichts anderes als deren Wechselwirken,

– in das ich immer schon verwickelt bin und

– aus dem sich – wie wir noch sehen werden – kein (traditionelles) Subjekt sauber herauspräparieren läßt.

Das entspricht dem „versprochenen“ Zusammenhang zwischen der Modal-Zeit und dem Leben, der jedoch – ich wiederhole mich absichtlich – meine zuvor aus didaktischen Gründen vorgenommene Identifizierung der beiden keineswegs rechtfertigt.

 

Wir wissen nichts von der Zukunft, sondern sie besteht in den völlig unbekannten Wissungen, die adventisch auf uns zukommen werden. Sie entsprechen einem einzigen Fragezeichen und bleiben uns völlig verborgen.

Natürlich bereitet das größeres Unbehagen; deswegen

– bestreiten auch wir gerne sowohl die Modal-Zeit als auch den Ursprung,

– reden uns ein, als Körper in – dem Jetzt – der vergehenden Zeit zu leben, und

– machen unsere subjektiven Aktanten zu objektiven Seienden,

– um die Notwendigkeit einer modal-zeitlichen Genese der Aktanten zu vermeiden.

 

Unsere Erwartungen entsprechen dem Später und werden zumeist eine Zeit lang hinreichend genau erfüllt.

Unsere Erinnerungen entsprechen dem Früher und passen zumeist eine Zeit lang hinreichend gut zu den Erfahrungen im Jetzt.

Beides führt dazu, daß wir uns erfolgreich einreden können, in der vergehenden Zeit zu leben.

Älter-Werden bedeutet jedoch unter anderem, daß sich die temporalen Erwartungen immer weniger erfüllen.

 

Das sollte uns skeptisch stimmen:

Wir wissen nicht, was die Zukunft bringen wird, sondern erwarten das Später.

Wir wissen nicht, wie die Vergangenheit verlief, sondern erinnern das Früher.

Wir wissen nichts vom Leben, sondern kennen die Gegenwart, zu der das Früher, Jetzt und Später gehören. Aber wie das zusammenhängen könnte, verstehen wir immer noch nicht.

3.1.1. Veranschaulichung der Zeit(en)

Ohne eine bildliche Darstellung, an der ich Ihnen meine Vorstellungen erläutern kann, kommen wir jetzt nicht weiter.

In diesem Bild entspricht die Modal-Zeit einem hohen, senkrecht stehenden Rechteck.

Unten befindet sich die Vergangenheit, und da wir deren Anfang nicht kennen, fehlt unserem Rechteck seine untere Seite. Darüber liegt die Gegenwart, die wir sowohl zur Vergangenheit hin als auch nach oben in Richtung Zukunft durch jeweils eine waagerechte Gerade abtrennen können. Die Zukunft schließlich ist nach oben offen, wie die Vergangenheit nach unten.

 

In mittlerer Höhe faßt das Bewußtsein die Gegenwart bzw. das gewußt-unwirkliche Wissen mit dem bewußt-wirklichen Leben zusammen.

Innerhalb der Gegenwart befindet sich als ein schmaler waagerechter Streifen das Heute.

Wir wissen, was das ist; der 27. 11. 2024.

Aber was wissen wir denn damit?

Unser heutiges Leben spielt darin, aber von ihm wissen wir trotz des Datums absolut nichts. Wäre dies unser Geburtstag, würde sich daran nichts andern; dann wüßten wir eben, daß es heute ist, der 27. 11. 2014, ein Mittwoch und der eigene Geburtstag. Was hat solches Wissen mit unserem Leben zu tun?

 

In unserem Bild drängt sich damit folgende Veranschaulichung auf:

Bisher haben wir uns wahrscheinlich „in mittlerer Höhe“ neben der Gegenwart das Leben vorgestellt. Aber die Wissungen existieren ja nicht unabhängig von ihm, so daß wir sie in das Leben hinein zeichnen sollten. Sie besitzen keine Referenten, sind also insbesondere keine Wissungen von dem, aber nur durch das oder in dem Leben.

Ich htte mein Bild oben schon angedeutet:

Unser Leben spielt im Heute, in der Schulzeit, im Urlaub, in der Schwangerschaft oder Auszeit. Stets bildet das Wissen lediglich den gewußten Rahmen, innerhalb dessen sich das bewußte Leben ereignet.

 

Gegenwart bzw. Wissen und Leben nehmen also „in mittlerer Höhe“ die gleiche Fläche des Rechtecks der Modal-Zeit ein – aber das Leben zählt nicht zu ihr. Es ist kontinuierlich, postmodern-ewig und gehört – nicht in die Modal-Zeit, sondern – in den Ursprung.

Das Leben befindet sich also nur an der „falschen Stelle“, weil darein die gewußten Rahmen gehören, und unser Leben immer sowohl inner- wie außerhalb von ihnen spielt. Allein die vom Leben ermöglichten Rahmen bilden also das Wissen bzw. die Gegenwart.   

Voriges Jahr waren wir im Juli drei Wochen auf der Insel Rügen. Natürlich ist das richtig; ich frage nur ernstlich, was dieses Wissen mit meinem Leben zu tun hat.

 

So wie das Heute, Gestern oder Morgen innerhalb der Gegenwart als gewußt-diskrete Rahmen existieren können, wissen oder erinnern wir vielleicht auch unseren 20. Geburtstag und wissen bzw. erwarten gegebenenfalls die nächste Jahrhundertwende.

Aber wir spüren wohl alle den großen Unterschied zwischen jenen drei nahen Terminen und diesen beiden fernen. Worin besteht er?

Was ich oben beschrieben hatte, nämlich daß das Leben sowohl inner- wie außerhalb der Rahmen spielt, gilt ganz massiv gestern, heute und morgen. Je weiter wir uns vom Heute entfernen – natürlich innerhalb der Gegenwart, denn weiter reicht unser Wissen nicht –, um so schwächer wird im allgemeinen diese „Aura“ des Lebens.   

 

Meine Frau hat soeben das Zimmer verlassen. Natürlich ist das theoretisch eine Erinnerung oder Wissung; aber praktisch ist sie so stark mit meinem Leben verwoben, daß ich dieses Ereignis schwerlich als einen bloßen Rahmen verstehen kann.

Zum anderen Extrem zählt für mich der Urknall. Er stellt eine gegenwärtige Wissung dar; andernfalls könnte ich nicht davon sprechen. Aber der Urknall ist bei mir persönlich so weit vom Leben entfernt, daß er absolut keinen Einfluß darauf besitzt und mein Leben ihn nicht im geringsten umspült.

Für die meisten Menschen heute spielt der Jüngste Tag wohl keine sonderlich große Rolle in ihrem Leben. Aber wenn er ernstgenommen wird, bildet der Jüngste Tag alles andere als das Pendant zum früheren Urknall auf der Später-Seite.

 

Unsere Wissungen befinden sich nicht nur im Chronos, sondern teilweise auch im Raum. Bisher haben wir sie chronologisch unterschieden, können dies aber ebenso räumlich tun.

Dort befindet sich zum Beispiel ein Baum-Aktant oder habe ich eine „Baum“-Wahrnehmung. Diese Wissung entspricht wiederum einem bloßen Rahmen innerhalb des Lebens, der dieses nun räumlich in gleichwertige Innen bzw. Außen zerlegt. 

Innerhalb des Rahmens befindet sich keinerlei Wissen, sondern das bewußt-wirkliche Leben, das Künstler oder Literaten stundenlang beschreiben könnten. Heben sie dabei den Stamm hervor, dann ist das ein Rahmen im Rahmen im . . ., bei einer Abfolge, die keinen letzten oder kleinsten Rahmen kennt.

AD: „Aber einen größten?“

Ja, natürlich – unser Wirklichkeits-Bild.

 

Am besten verdeutlichen wir uns das Gemeinte vielleicht am Verhältnis zwischen Leben und Biographie.

Ersteres wissen wir zwar nicht, erleben oder erfahren es aber; nur ich fühle, wie es ist, ich zu sein, während meine Biographie jeder lesen und wissen kann. Schon allein daraus folgt, daß die beiden kaum etwas miteinander zu tun haben können. Insbesondere ist unser Leben im Ursprung wirklich und unsere Biographie in der vergehenden Zeit unwirklich.

AD: „Was bedeutet das ‚unwirklich‘ an dieser Stelle? Daß Biographien falsch sind?“

 

Nein; da sie kein Wissen vom Leben sein können, sind sie natürlich weder richtig noch falsch. 

Wissen, ich wiederhole mich bewußt, kann sich nur auf sich selbst beziehen, so daß – wie bei dem Stamm des Baumes soeben – allein Wissungen von Wissungen möglich sind; die können selbstverständlich auch richtig oder falsch sein.

Das Leben kann dagegen nicht gewußt, sondern „nur“ beschrieben werden. Vielleicht haben Sie diesen Unterschied bisher kaum beachtet oder sind davon ausgegangen, daß eine Beschreibung, wenn sie immer exakter wird, kontinuierlich in eine Wissung übergeht.

Ich glaube das nicht und benutze „Beschreibungen“ anders:

Sie sind stets subjektiv in dem Sinne, daß ihr interpretatorischer Charakter auch zum exaktesten Beschreiben dazugehört. „So sehe ich es“, und wer wollte da etwas entgegnen? Spricht ein Künstler bei einer prächtigen Eiche von einem Strauch, will er damit vielleich etwas sagen; tut dies der Biologe als solcher, ist es einfach falsch.  

Vergleichen wir unser Leben mit einem Fluß, so entspricht die Biographie den Wasserständen, Fließgeschwindigkeiten und Kurvenradien; gemessen am wirklichen Fluß ist das sehr unwirklich.