Gliederung

0.Zitate1.Einleitung1.1.Kopernikanische Wende1.2."Methode"1.3.Igel und Fuchs1.4.Religiöser Hintergrund1.5.Philosophischer Hintergrund1.6.Zusammenfassung2.Das (traditionelle) Denken der Moderne2.1.Das Wirklichkeits-Bild als Orientierungsmöglichkeit2.2.Naiver Realismus der Moderne2.3.Kosmos – Welt – Leben2.4.Schwierigkeiten mit den Seienden2.4.1.Die Existenz ist kein Prädikat2.4.2.Das Gesamtkonzept der Seienden ist widersprüchlich2.4.3.Urbilder und Abbilder – im logischen Zirkel2.4.4.Es gibt kein Abbilden2.4.5.Das Sehen ist irreführend I2.4.6.Das Sehen ist irreführend II2.5.Das Subjekt und sein Körper2.5.1.Ethische Konsequenzen2.5.2.Fundamentale Anderung unserer Fragerichtung2.6.Die objektive Wirklichkeit als Hinterwelt2.6.1.Wissenschaft und Hinterwelt2.6.2.Das moderne Weltbild als Mythos2.6.3.Entweder Hinterwelt oder Schau Gottes2.7.Markus Gabriel als Naiver Realist2.8.Zusammenfassung3.Franz Rosenzweigs "Neues Denken"3.1.Zum Ausgangspunkt unseres Nachdenkens3.2.Begriffe und Anschauungen

0. Zitate

„Der Glaube an den Kausalnexus ist der Aberglaube.

Ich wollte damit keineswegs sagen, der Glaube an den Kausalnexus sei ein Aberglaube unter mehreren, sondern es ging mir darum, daß jeder Aberglaube eben nichts anderes ist als der Glaube an den Kausalnexus.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Es gibt viele Wege, auf denen das, was ich vergeblich zu sagen versuche, vergeblich zu sagen versucht werden kann.«

Samuel Beckett

 

„Ich lerne nur aus Büchern, die ich nicht verstehe. Verstünde ich sie, brauchte ich sie nicht zu lesen.“

Johann Wolfgang von Goethe

 

„Sollten die Gesetze des (bisherigen) Denkens niederbrechen, dann wird es die tiefste Wandlung im intellektuellen Leben des Menschen geben, verglichen mit welcher die Kopernikanische und die Einstein’sche Revolution nur Scheinschlachten sind.“

Oliver Leslie Reiser

 

„Das Gegenteil von Liebe ist nicht Haß, sondern Gleichgültigkeit.“

Elie Wiesel

 

„Die Welt ist ein erstaunlicher Ort, und der Gedanke, daß wir über die wichtigsten Werkzeuge verfügen, die nötig sind, um sie zu verstehen, ist heute nicht glaubwürdiger als zu Aristoteles‘ Zeiten.“

Thomas Nagel

 

„Der vernünftige Glaube weiß, daß er ein Glaube ist.“

Rainer Forst

 

„Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dieses Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.“

Max Weber

 

„Das nicht erforschte Leben ist es nicht wert, gelebt zu werden.“

Sokrates

 

„Es ist eine furchteinflößende, eine ehrfürchtige Wahrheit, daß die Anerkennung der Andersheit der anderen, unserer unausweichlichen Trennung, die Bedingung menschlichen Glücks darstellt. Gleichgültigkeit ist die Verleugnung dieser Bedingung.“

Stanley Cavell

 

„Keiner kann sagen, was er meint, obwohl jeder nur das sagt, was er meint.“

Bruno Liebrucks

 

„Glaube nie, was in den Büchern steht. Selbst sei dir Weiser, selbst Prophet!

Glaubst du, was die Leute glauben, dann glaube nicht, daß du was weißt.

Das Wissen nur kann niemand rauben, das bei den Menschen Glauben heißt.“

Erich Mühsam

 

„Der Perspektivismus bildet keine Relativität des Wahren, sondern ganz im Gegenteil die Wahrheit des Relativen.“

Gilles Deleuze und Felix Guattari

 

„Das Böse in der Welt entspringt beinahe immer dem Unwissen, und der gute Wille kann genauso viele Schäden anrichten wie die Bosheit, wenn er nicht aufgeklärt ist. Die Menschen sind eher gut als schlecht, doch in Wahrheit ist das gar nicht die Frage.“

Albert Camus

 

„Wir müssen entweder lernen, als Brüder miteinander zu leben, oder wir gehen als Narren unter.“

Martin Luther King

 

„Ich suche nicht – ich finde.

Suchen, das ist das Ausgehen von alten Beständen und das Finden-Wollen von bereits Bekanntem.

Finden, das ist das völlig Neue. Alle Wege sind offen, und was gefunden wird, ist unbekannt. Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer. Die Ungewißheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen, die sich im Ungeborgenen geborgen wissen, die in der Ungewißheit geführt werden, die sich vom Ziel ziehen lassen und nicht selbst das Ziel bestimmen.“

Pablo Picasso

 

„Wir sind alle als Originale geboren – wie kommt es, daß so viele von uns als Kopien sterben?“

Edward Young

 

„Ich erkenne meine Verwandtschaft“ (mit allen Wesen), „ich bin nichts als ein Vermögen, ihnen Widerhall zu geben, sie zu verstehen und zu antworten.“

Maurice Merleau-Ponty

 

„Der philosophische Diskurs ist die Musik des Denkens.“

Georg Steiner

 

„Was mich betrifft, so bezweifle ich, daß der Mensch jemals eine völlige religiöse Unabhängigkeit und eine vollkommene politische Freiheit ertragen kann, und ich bin geneigt zu denken, daß er, ist er frei, gläubig sein muß.“

Alexis de Tocqueville

 

„. . . wieder versuchen, wieder scheitern, besser scheitern . . .“

Samuel Beckett

 

„Die Geschichte ist nämlich nicht, wie es die herrschende Ideologie gern sieht, die Hingabe des Menschen an die lineare, kontinuierliche Zeit, sondern die Befreiung des Menschen von ihr.“

Giorgio Agamben

 

„Theologie verliert ihr Thema, wenn sie nicht mit dem völlig Verändernden zu tun hat.“

Gerhard Ebeling

 

„Wir befinden uns in einer summenden Welt, inmitten einer Demokratie von Mitgeschöpfen; wohingegen die orthodoxe Philosophie, in welcher Gestalt auch immer, uns nur zwischen einsame Substanzen stellen kann, die alle scheinhafte Erfahrungen machen.“

Alfred North Whitehead

 

„Der Weg entsteht im Gehen.“

Antonio Machado

 

„Wir fühlen, daß, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Probleme beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. . . Die Lösung des Rätsels von Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Keine andere Wahrheit ist zeitlicher als die des Religiösen.“

Klaus Hemmerle

 

„Die Entgegensetzung der fest gewordenen Subjektivität und Objektivität ist aufzuheben und das Gewordensein der intellektuellen und reellen Welt als ein Werden, ihr Sein als Produkt, als ein Produzieren zu begreifen. . . Alle Unterscheidungen werden dabei ver-rückt; diese Tätigkeit ist die Kraft und Arbeit des Verstandes, das Fixe zu verflüssigen. . . Es ist aber weit schwerer, die festen Gedanken in Flüssigkeit zu bringen, als das sinnliche Dasein.“

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

 

„Als wir das Ziel aus den Augen verloren, verdoppelten wir die Anstrengung.“

Mark Twain

 

„Je mehr ich den sogenannten Erfolg zu schmecken bekomme, desto gründlicher werde ich mir der Nichtigkeit der eigenen Existenz bewußt. Denn diese wird zu einer Funktion des Erfolgs.“

Theodor Adorno

 

„Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Erlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun.“

Theodor W. Adorno und Max Horkheimer

 

„Bewahre dir in allen Dingen die Freiheit des Geistes und sieh zu, wohin er dich führt!“

Ignatius von Loyola

 

„Die wichtige Frage bezüglich der Tiere ist doch nicht, ob sie denken oder sprechen können; entscheidend ist vielmehr allein, ob sie leiden können.“

Jeremy Bentham

 

„Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen; ein Werdender wird immer dankbar sein.“

Johann Wolfgang von Goethe

 

Das Wie des Lebens ist als der Status quo die notwendige Voraussetzung seines eigenen Warum, der Fülle des Lebens.“

Johannes Soukup

 

„Die Wissenschaft versteht es bestens, metaphysische Annahmen zu zerstören; aber sie liefert keinen Ersatz dafür.“

Francisco Varela

 

„Ein Wort muß man nicht ‚verstehen‘. Man kennt es, oder man kennt es nicht.“

Philipp Wegener

 

„Wir müssen uns wohl von dem naiven Realismus, nach dem die Welt an sich existiert, ohne unser Zutun und unabhängig von unserer Beobachtung, irgendwann verabschieden.“

Anton Zeilinger

 

„Sprechen wir sinnvoll von Realität, so sprechen wir von Realität; spricht niemand von Realität, so ist von Realität nicht die Rede.“

Carl Friedrich von Weizsäcker

 

„In dem Maße, wie wir uns bemühen zu verstehen, um weniger glauben zu müssen, vertieft sich der Glaube.“

Johannes Soukup

 

„Ich möchte ein Buch schreiben, das die Menschen verwirrt, . . . und das sie dahin führt, wo hinzugehen sie niemals eingewilligt hätten.“

Antonin Artaud

 

„Ich beginne zu glauben, daß die einzige wirkliche Sünde der Selbstmord ist oder das Faktum, nicht wir selbst zu sein.“

George Tyrell

 

„Man sollte die Wahrheit dem anderen wie einen Mantel hinhalten, daß er hineinschlüpfen kann – und nicht wie ein nasses Tuch um den Kopf schlagen.“

Max Frisch

 

„Die Welt bietet nicht Wahrheiten, sondern Liebesmöglichkeiten.“

Albert Camus

 

„Glaube, der nicht Erkenntnis ist, aus Erkenntnis kommt und auf Erkenntnis beruht, ist ohne Kontakt zur Wirklichkeit. Glaube ohne Kontakt zur Wirklichkeit ändert an der Wirklichkeit des Glaubenden nichts. Er ist ohne soteriologische Kraft.“

Johannes Fischer

 

„Jeder tue das Seine, der Leser aber das Meiste.“

Søren Kierkegaard

 

„Welchen Sinn hätte unser ganzes Sein, wenn nicht den, daß in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst als Problem zum Bewußtsein gekommen wäre? An diesem Sich-bewußt-werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an – daran ist kein Zweifel – die Moral zugrunde: jenes große Schauspiel in hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten Europas aufgespart bleibt, das furchtbarste, fragwürdigste und vielleicht auch hoffnungsreichste aller Schauspiele.“

Friedrich Nietzsche

 

„Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Physikalische Objekte sind gelegen kommende Vermittler – nicht durch Definition aufgrund von Erfahrung, sondern einfach als nicht reduzierbare Setzungen, epistemologisch den Göttern Homers vergleichbar. . . . Der Mythos der physikalischen Objekte ist den meisten anderen Mythen darin überlegen, daß er sich als wirksamer erweist, dem Fluß der Erfahrungen eine handliche Struktur aufzuprägen.“ 

Willard Van Orman Quine

 

„Denken ist Schöpfung, nicht Wille zur Wahrheit.“

Gilles Deleuze

 

„Die Welt ist ein sehr labiles Gebilde, abhängig . . . von der satzförmigen Rede des Menschen.“

Hermann Schmitz

 

„‚Alles klar‘ oder ‚kein Problem‘ – beide Formeln sind zutiefst unwahr . . .

   Die Rätselhaftigkeit ist unsere fundamentale Wahrheit; alles übrige ist Interpretation . . .

   Zu wissen, was man nicht wissen kann, ist ein bedeutendes Stück Erkenntnis – denn es ermöglicht Toleranz, Kommunikation und Frieden.“

Heinz Robert Schlette

 

„Nichts fordert so viel Treue wie lebendiger Wandel.“

Johann Baptist Metz

 

„Die Sprache ‚vermittelt‘, wenn man so sagen will, zunächst nur in dem Sinne zwischen dem Menschen und seiner Welt, daß sie diese seine Welt überhaupt erst als eine solche für ihn entstehen läßt. In diesem Sinne ist die ‚Welt‘ immer schon sprachlich vermittelte Welt.“

Theodor Bodammer

 

Existieren heißt Differieren; die Differenz ist in gewissem Sinne das Wesen der Dinge.“

Gabriel Tarde

 

„Wer existiert, ist beständig im Werden und versetzt sein Denken ins Werden. . .  Wer ein objektives Christentum und nichts anderes hat, der ist eo ipso ein Heide, denn das Christentum ist gerade eine Sache des Geistes, der Subjektivität und Innerlichkeit.“

Søren Kierkegaard

 

„Definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat.“

Friedrich Nietzsche

 

„Die Lehre vom Gottsein Jesu würde nicht angetastet, wenn Jesus aus einer normalen menschlichen Ehe hervorgegangen wäre.“

Joseph Ratzinger

 

„Freiheit ist heute die Aufgabe und Chance der Kirche.“

Hermann Krings

 

„Es gibt keinen Rückzugsort des Christen von der Welt, weder äußerlich noch in der Sphäre der Innerlichkeit. Jeder Versuch, der Welt auszuweichen, muß früher oder später mit einem sündigen Verfall an die Welt bezahlt werden.“

Dietrich Bonhoeffer

 

„Man vergisst immer wieder, auf den Grund zu gehen, und setzt die Fragezeichen nicht tief genug.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Christlicher Glaube richtet sich nicht auf Sätze und Lehren, sondern auf die Wirklichkeit, von der Sätze und Lehren handeln.“

Thomas von Aquin

 

„Kunst ist Magie – befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.“

Theodor Adorno

 

„Das Eigenartige am Schicksal ist, daß es auf keine Seite der Trennung zwischen Ich und Nicht-Ich richtig paßt.“

Jonathan Lear

 

„Je begreiflicher uns das Universum wird, um so sinnloser erscheint es auch.“

Steven Weinberg

 

„Leuten, die an Esoterik glauben, sage ich: Studiert Quantenmechanik, das ist noch viel seltsamer, aber im Gegensatz zu euren Behauptungen experimentell bewiesen!“

Anton Zeilinger

 

„Ich glaube keiner Theorie, sondern ich benutze sie nur. Ich benutze von der Theorie jeweils das Teilstück, das mir hilft, . . . solange es mir hilft.“

Eckard Sperling

 

„Glauben heißt nicht Propaganda betreiben; es heißt auch nicht schockieren.

Es heißt so leben, wie es unerklärlich wäre, wenn es keinen Gott gäbe.“

Emmanuel Célestin Suhard

 

„Die gegenwärtige, weit verzweigte Realismus-Debatte wirft manche Rätsel auf, deren größtes sein könnte, warum sie überhaupt geführt wird.“

Peter Janich

 

„Um der Zukunft willen vernichten wir alles, was der Zukunft eine Chance ließe.“

Friedrich-Wilhelm Marquardt

 

„Nicht nur Gott kennen wir allein durch Jesus Christus, auch uns selbst kennen wir nur durch ihn. Ohne Jesus Christus wüßten wir weder, was unser Leben noch was unser Tod noch was Gott ist noch was wir selber sind.“

Blaise Pascal

 

„Die Kunst gibt nicht das Sichbare wieder, sondern macht sichtbar,“

Paul Klee

 

„Es ist immer etwas Lächerliches im philosophischen Diskurs, wenn er von außen den anderen vorschreiben und vorsagen will, wo ihre Wahrheit liegt und wie sie zu finden ist.“

Michel Foucault

 

„Das Wort ist ans Wort gebunden; niemals jedoch an Dinge.“

Edmond Jabès

 

„Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“

William Faulkner

 

„Es gehört schon zu den Widersprüchen des Menschen, daß er welche zu haben glaubt.“

Jean Paul

 

„Das Bild des Menschen, das wir für wahr halten, wird selbst ein Faktor unseres Lebens. Er entscheidet über die Weisen unseres Umgangs mit uns selbst und den Mitmenschen, über Lebensstimmung und Wahl der Aufgaben.“

Karl Jaspers

 

„Der Auferstehungsglaube ist nicht die ‚Lösung‘ des Todesproblems.“

Dietrich Bonhoeffer

 

„Eines Tages wird man offiziell zugeben müssen, daß das, was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch größere Illusion ist als die Welt des Traumes“

Salvador Dali

 

„Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen.“

Friedrich Nietzsche

 

„Hoffnung ist nicht die Überzeugung, daß etwas gut ausgehen wird, sondern daß es Sinn hat – unabhängig davon, wie es ausgehen wird.“

Václav Havel

 

„Meine Philosophie lautet, daß alles viel komplizierter ist, als man gemeinhin glaubt.“

Kwame Anthony Appiah

 

„Ich bin kein Revolutionär, aber ich bin der Meinung, daß die Kirche im besten Sinne des Wortes unterwandert werden muß, und zwar durch eine größere Wahrheit, durch die ursprüngliche Wahrheit, und daß das Gebäude der Kirche, um dieser Wahrheit Rechnung zu tragen, irgendwann nachgeben muß, um so diese Wahrheit zur Geltung kommen zu lassen.

  Das kann keine andere als die Wahrheit Jesu Christi sein.“ 

Eugen Biser

 

„Ein Zyniker ist ein Mensch, der von allem den Preis und von nichts den Wert kennt.“

Oscar Wilde

 

„Ohne Mythus aber geht jede Kultur ihrer gesunden schöpferischen Kraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Kulturbewegung zur Einheit ab.“

Friedrich Nietzsche

 

„Wo man der Zweifel nicht fähig ist, ist man auch der Wahrheit nicht fähig.“

Fulbert Steffensky

 

„In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt. . . Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sünden unserer Väter und Vorväter. Wir sind nur noch Kindeskinder. Das ist unser Pech, nicht unsere Schuld.“

Friedrich Dürrenmatt

 

„Kommunikation ist ein produktives Mißverständnis.“

Jacques Lacan

 

„Die Philosophie besteht gerade in der Anstrengung, das zu sagen, was sich nicht sagen läßt.

Philosophie ließe, wenn irgend, sich definieren als Anstrengung, zu sagen, wovon man nicht sprechen kann; dem Nichtidentischen zum Ausdruck zu helfen, während der Ausdruck es immer doch identifiziert.“

Theodor Adorno

 

„Um die Menschen zu lieben, muß man sehr stark hassen, was sie unterdrückt.“

Jean-Paul Sartre

 

„Unsere Kultur ermutigt uns nicht, Philosophen zu sein, und dies ist vielleicht die verheerendste Verneinung von Freiheit in unserem Leben.“

William Warren Bartley

 

„Nein; gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen.“

Friedrich Nietzsche

 

„Die großartigste Lehre in beiden Religionen, der jüdischen wie der christlichen, ist – ich berufe mich hier auf ein Wort Schopenhauers – die Lehre von der Erbsünde. Sie hat die bisherige Geschichte bestimmt und bestimmt heute für den Denkenden die Welt. Möglich ist sie nur unter der Voraussetzung, daß Gott den Menschen mit einem freien Willen geschaffen hat.“

Max Horkheimer

 

„Wir verstehen nicht einmal das Leben – wie können wir den Tod verstehen?“

Konfuzius

 

„Die meisten Menschen, die sich schämen, mit einem abgelegten Hut oder Mantel zu gehen, laufen freudig mit abgelegten Meinungen herum.“

Sören Kierkegaard

 

„Wie kann der Mensch sich verstehen, wenn er den Tod nicht versteht?“

Karl Rahner

 

„Daß es dieser Arbeit in ihrer Dürftigkeit und der Finsternis dieser Zeit bschieden sein sollte, Licht in das eine oder andere Gehirn zu werfen, ist nicht unmöglich; aber freilich auch nicht wahrscheinlich.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Glaube nicht alles, was Du denkst; aber bedenke alles, was Du glaubst.“

Johannes Soukup

 

„Der fundamentale Widerspruch unserer Existenz . . . ist die gleichzeitige Notwendigkeit der Hierarchie, die Athen lehrt, einerseits, und des abstrakten und in gewisser Weise anarchischen ethischen Individualismus, den Jerusalem zur Aufhebung der Gewalt lehrt, andererseits.“

Emmanuel Levinas

 

„Man muß die Erklärung geben, die akzeptiert wird. Darauf kommt es beim Erklären an.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Die Götter anderer Menschen zu verachten, bedeutet, diese Menschen selbst zu verachten, denn sie und ihre Götter gehören zusammen.“

Sarvepalli Radhakrishnan

 

„Entfremdung ist die freiwillige Unterwerfung unter eine angebliche Objektivität.“

Johannes Soukup

 

„Wenn ich mich nicht täusche, ist die Innenseite dieser äußeren Reserviertheit nicht nur Gleichgültigkeit, sondern, häufiger als wir es uns zum Bewußtsein bringen, eine leise Aversion, eine gegenseitige Fremdheit und Abstoßung, die in dem Augenblick einer irgendwie veranlaßten nahen Berührung sogleich in Haß und Kampf ausschlagen würde.“

Georg Simmel

 

„Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens“ . . . und . . . „Denken ist Danken“.

Martin Heidegger

 

„Die Macht des Menschen, aus sich zu machen, was ihm beliebt, bedeutet . . . die Macht einiger weniger, aus anderen zu machen, was ihnen beliebt.“

Clive Staples Lewis 

 

„Achtung ist Beachtung der Andersheit . . . Ohne diese Achtung versteht man nichts.“

Josef Simon

 

„Schließlich geht es in der Offenbarung Gottes gerade darum, daß er, der Lebendige und Wahre, in unsere Welt einbricht und so auch den Kerker unserer Theorien aufbricht, mit deren Gitterstäben wir uns selbst gegen dieses Kommen Gottes in unser Leben absichern wollen.

Jede – auch die frömmste – Theorie entspricht einem Kerker, weil sie die (Wirklichkeit der) Zeit leugnet und damit die Offenbarung oder eine neue Fülle des Lebens verunmöglicht.“

Joseph Ratzinger

 

„Exaktheit ist ein Schwindel.“

Alfred North Whitehead

 

„Ich möchte nicht mit meiner Schrift Anderen das Denken ersparen, sondern, wenn es möglich wäre, jemand zu eigenen Gedanken anregen.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Freiheit ist das Wahrheitskriterium des Christentums.“

Eberhard Jüngel

 

„Es ist schwer, jemandem etwas auseinanderzusetzen, wenn er dafür bezahlt wird, es nicht zu verstehen.

Upton Sinclair

 

„Glaube ist die Unmöglichkeit, unbedeutend zu sein.“

Peter Sloterdijk

 

„Was ist das Allgemeine? Der einzelne Fall.

Was ist das Besondere? Millionen Fälle,“

Johann Wolfgang von Goethe

 

„Kurz: ‚Substanz‘ ist ein metaphysischer Irrtum, der dadurch entsteht, daß die Struktur von Subjekt-Prädikat-Sätzen auf die Struktur der Welt übertragen wird.“

Bertrand Russel

 

„Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind. Wir sehen die Dinge, wie wir sind.“

Talmud

 

„Viele Bewunderer der Wissenschaft meinen, sie unterscheide sich gerade darin von der Religion, daß sie Glauben durch Vernunft ersetzt. Eben diese Meinung ist nach meiner Ansicht eine Äußerung ihres Glaubens. Wir dürfen nur den Begriff des Glaubens nicht zu eng fassen.“

Carl Friedrich von Weizsäcker

 

„Nicht behaupten ’so ist es‘, sondern leben, als wäre es so.“

Johannes Soukup

 

„Die Religionen, . . . die diesen freiwilligen Abstand begriffen haben, dieses freiwillige Verschwinden Gottes, seine scheinbare Abwesenheit und seine verborgene Anwesenheit hienieden, – diese Religionen sind wahre Religionen, die Übersetzung der großen Offenbarung in unterschiedliche Sprachen.

Die Religionen, welche die Gottheit überall dort, wo sie die Macht dazu haben, als befehlend darstellen, sind falsch. Selbst wenn sie monotheistisch sind, sind sie Götzendienst.“  

Simone Weil

 

„Wir ertrinken in Informationen, aber uns dürstet nach Wissen.“

Paul Nurse

    

„Der Szientismus fügt zur Wissenschaft zwei Begleitsätze hinzu:

Erstens, daß die wissenschaftliche Methode, wenn nicht die einzige, so doch zumindest die am meisten verläßliche Methode ist, zur Wahrheit zu gelangen.

Und zweitens, daß die Dinge, mit denen sich die Wissenschaft beschäftigt – materielle Entitäten –, die grundlegendsten Dinge sind, die existieren.“

Huston Smith 

 

„Gott kannst du nicht mit einem anderen reden hören, sondern nur, wenn du der Angeredete bist.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Wir haben nicht zu viel Verstand und zu wenig Seele, sondern wir haben zu wenig Verstand in den Fragen der Seele.“

Robert Musil

 

„In einer werdenden Welt ist ‚Realität‘ immer nur eine Simplifikation zu praktischen Zwecken oder eine Täuschung aufgrund grober Organe oder eine Verschiedenheit im Tempo des Werdens.“

Friedrich Nietzsche

 

„Wir glauben – nicht, was richtig ist, sondern – was zu glauben wir für richtig halten.“

Johannes Soukup

 

„Philosophen sind Gewalttäter, die keine Armee zur Verfügung haben und sich deshalb die Welt in der Weise unterwerfen, daß sie sie in ein System sperren.“ 

Robert Musil

 

„Nur Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden.“

Heinz von Förster

 

„Der entscheidende Punkt ist, daß nur der Verzicht auf eine Erklärung des Lebens im üblichen Sinne uns die Möglichkeit schafft, den charakteristischen Merkmalen des Lebens Rechnung zu tragen.“

Niels Bohr

 

„Glaube ist das Denken eines religiösen Geistes.“

John Henry Newman

 

„Das schlechthin Unvernünftige – wir zerstören unsere Welt – tritt ein, weil alle vernünftig handeln.“

Thomas Ruster

 

„Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, aber bei Gruppen Parteien, Kirchen oder Völkern die Regel.“

Friedrich Nietzsche

 

„Unablässig versucht der moderne Mensch, die Welt in Reichweite zu bringen.

Dabei droht sie uns jedoch, stumm und fremd zu werden.

Lebendigkeit entsteht nur aus der Akzeptanz des Unverfügbaren.“

Hartmut Rosa

 

„Nichts ist stärker als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“

Victor Hugo

 

„Möglicherweise hat nicht die Gesellschaft Gott vergessen, sondern wir Christen haben verlernt, richtig über Gott zu reden.“

Manfred Lütz 

 

„Wir brauchen ein Ministerium für Ruhestörung, das kalkuliert Ärger erzeugt; die Routine zerstört und die Selbstzufriedenheit untergräbt.“

Cyril Dean Darlington

 

„Du und ich, wir sind nicht zwei.“

Emmanuel Levinas

 

„Wirklich ist das, wovon wir ausgehen, selbst wenn wir es im einzelnen bezweifeln.“

Bernhard Waldenfels

 

„Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind, – oder doch ähnliche Gedanken – schon selbst einmal gedacht hat.

Es ist also kein Lehrbuch.

Sein Zweck wäre erreicht, wenn es einem, der es mit Verständnis liest, Vergnügen bereitete. . .

Denn wenn ich auch nur selten ins Schwarze getroffen habe, wird der aufmerksame Leser doch erkennen, nach welchen Zielen ich unablässig geschossen habe.“

Ludwig Wittgenstein.

1. Einleitung

Das waren sehr viele Zitate; sie sollten die Richtung andeuten, in die wir uns bewegen werden, und Ihnen damit eine Entscheidung ermöglichen, ob es sich für Sie eventuell lohnen könnte, mein Buch zu lesen.  

Haben Sie keine Sorge, daß es in diesem Sinne – also auch ein wenig langweilig und ermüdend – weitergehen könnte. Ganz im Gegenteil; ich versuche, selbst zu denken, finde das unheimlich spannend – es ist mein Hobby – und lade Sie dazu ein.

Wenn Sie mitspielen und Fehler finden, hat sich das Thema für Sie höchstwahrscheinlich erledigt. Sympathisch und der Wahrheit dienlich wäre es freilich, mich kurz auf die entsprechenden Schwachstellen hinzuweisen. Ich danke Ihnen schon im Voraus und bitte um Entschuldigung für meine Versehen.

 Unter Fehlern verstehe ich insbesondere logische Widersprüche, fehlende Denkmöglichkeiten und ungerechtfertigte Annahmen jeglicher Couleur, also nicht nur weltanschaulich-religiöse, sondern auch wissenschaftliche oder alltägliche.

 

Kein Fehler ist es freilich, gegen den Strich zu denken, vom Zeitgeist mit seinen Selbstverständlichkeiten und Plattitüden abzuweichen, von dem also, was „man sagt“ oder „jeder weiß“. Dabei darf es natürlich nicht um das Widersprechen als Selbstzweck gehen, wie wir es heute in unserer Gesellschaft tagtäglich – mit nahezu beliebigen „Begründungen“ und „Argumenten“ oder auch ganz ohne sie – erleben.

Entscheidend ist vielmehr, daß insbesondere „logische Widersprüche, fehlende Denkmöglichkeiten und ungerechtfertigte Annahmen jeglicher Couleur“ auch dann zu vermeiden sind, wenn sie von vielen Menschen geteilt werden und somit dem Zeit- oder einem beliebigen Gruppen- bzw. Korpsgeist entsprechen.

Bloße Meinungen interessieren mich nicht, und eine „Meinungsfreiheit“, derzufolge doch schließlich jeder sagen dürfen muß, was er „denkt“, ist keine Errungenschaft der Demokratie, sondern arbeitet an deren Zerstörung. Meinungs-Freiheit setzt Meinungs-Bildung im engeren Sinne voraus, und ohne diese wäre es häufig besser, auf jene zu verzichten.

 

Die meisten von uns können es sich heute kaum leisten, Zeit und Mühe in die Auseinandersetzung mit einem Buch zu investieren, die sie anschließend bereuen würden, weil sich sein Inhalt rückblickend als oberflächlich, uninteressant oder sinnleer herausstellt.

Mit dem letzten Prädikat meine ich nicht die übliche Frage „Was bringt mir das?“, weil sie selbst oberflächlich, uninteressant und sinnleer ist. Wer dergleichen sucht, ist hier falsch und sollte besser Ratschläge zur Selbstverwirklichung, Anleitungen zur Erbauung oder Tips vom Baumarkt und Finanzberater lesen.

(„Tips“ stimmt; ich halte mich an die alte Rechtschreibung, denn sie wurde gerade geändert, als ich endlich einigermaßen sicher darin war. Die vorreformerische Orthographie ist offiziell auch für Bücher gestattet; sie muß nur konsequent „von gestern sein“, und das versuche ich zu befolgen.) 

 

Das Buch will Ihnen unter anderem helfen,

selbst zu denken und

– hierbei einzusehen, daß

  — Aussagen oder Sätze niemals wahr sind, sondern sich höchstens zwischen richtig und falsch bewegen,

  — Überzeugungen und Wahrheit dadurch zwei völlig verschiedene Dinge sind,

  — niemand die Wahrheit haben kann, weil

  — sie nicht die Form von Aussagen bzw. Sätzen besitzt,

  — eigene Überzeugungen sowohl für ein erfülltes Leben wichtig als auch für fruchtbare Gespräche notwendig sind und

  — ernstliche Schwierigkeiten erst dort beginnen, wo diese Überzeugungen als Wahrheit betrachtet werden.

 

Ich möchte Ihnen möglichst deutlich aufzeigen, daß wir alle nur einen Zugang zum eigenen subjektiven Leben besitzen und unser Weltbild oder Wissen nicht darüber hinausreicht. Sämtliche weitergehenden Theorien über die Welt an sich und ihre Rettung oder Transzendenz sind reine Illusionen; die Geschichte zeigt uns im Übermaß, daß sie häufig ins Unglück führen – privat wie  gesellschaftlich.

Unsere Wahrheit ist bestenfalls die subjektive Wahrheit des eigenen Lebens – denn nur letzteres ist uns gegeben – und niemals diejenige irgendwelcher angeblich objektiver Theorien. Naturgesetze beispielsweise mögen richtig sein; aber das ist etwas ganz anderes als „wahr“, und die Unterscheidung zwischen beiden – sowie „wirklich“ als einem dritten Kandidaten in dieser Hinsicht – wird sich als wesentlich herausstellen:

Sätze – oder besser: Aussagen – variieren zwischen richtig und falsch; „wahre Aussagen“ sind paradox und entsprechen einem schwarzen Schimmel.

Wirklich ist für mich nur mein subjektives Leben, zu dem das eigene Denken sowie Handeln – und damit natürlich auch das Sagen von richtigen oder falschen Sätzen – gehört, und deshalb gibt es auch allein in meinem eigenen Leben Wahrheit.

 

Das bedeutet des weiteren, daß wir auch „die Welt nur retten können“, indem wir bei uns selbst bzw. dem eigenen Leben beginnen – und verbleiben. Erreicht diese Einsicht Herz ud Verstand, führt sie vielleicht dazu, im tiefsten Inneren ein wenig bescheidener, offener, gelassener und toleranter zu werden. François Jullien nennt dies „unser zweites Leben“ – natürlich hier und jetzt im Diesseits –, in dem wir „an keiner Idee hängen“ sollten, weil sämtliche Ideen bestenfalls richtig, aber niemals wahr sein können.

Ich kann niemandem sagen, was – für ihnwahr ist, sondern lediglich versuchen, ihm meine Wahrheit als attraktiv vorzuleben.

 

AD:  „Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle, bevor ich Ihnen ins Wort falle:

Mein Name ist ‚Advocatus Diaboli‘, kurz ‚AD‘ genannt; ich vertrete Ihre Leser und versuche, ihnen ein wenig zu helfen, wenn Sie etwas – nennen wir es einmal vorsichtig – ‚Befremdliches‘ zum Ausdruck bringen.“

Sie haben uns noch gefehlt . . .; aber trotzdem: „Herzlich willkommen!“

AD: „Daß Sie sich von vornherein auf das eigene Leben beschränken und dieses als die einzige und gesamte Wirklichkeit überhaupt darstellen, ist schon mehr als nur befremdlich. Wo bleibt denn die gesamte ‚restliche‘ Welt – also eigentlich alles? Nehmen Sie sich dabei nicht selbst zu wichtig? Und welcher Leser sollte Ihnen darin folgen; Sie interessieren sich ja gar nicht für ihn?“  

 

Könnte ich Ihre Fragen kurz und bündig beantworten, bräuchten wir das Buch nicht. Aber mit ein paar einführenden Gedanken lassen sich vielleicht die schlimmsten Vorbehalte etwas abschwächen:

 

1. Es geht natürlich nicht um mich; ich bin ein Subjekt wie Sie, und für alle Subjekte besteht die gesamte, vollständige Wirklichkeit natürlich in ihrem eigenen Leben. 

 

2. Ist die Wahrheit daran gebunden, der Wirklichkeit zu begegnen, so bedeutet dies lediglich die Selbstverständlichkeit, daß die Wahrheit nur eine einzige Quelle besitzt und diese in unseren subjektiven Erfahrungen oder Erlebungen besteht.

 

3. Die Ihrigen weichen von den meinigen ab, weil wir differente Leben führen; also können auch unsere Wahrheiten nicht übereinstimmen.

 

4. Natürlich bekommen wir auch vieles gsagt; zum Beispiel Märchen, Fußballergebnisse, das Wetter auf Tasmanien, daß die 13 eine Primzahl ist und wieviele Monde der Jupiter besitzt. Derartige Informationen befinden sich nicht außerhalb unseres Lebens oder transzendieren es nicht, sondern gehören ihm als Wissungen integral an.

Manche von ihnen ignorieren wir einfach als belanglos oder glauben sie nicht.

Halten wir unsere Wissungen dagegen für interessant und ihre Überbringer für vertrauenswürdig, so lassen wir uns vielleicht darauf ein:

Könnten sie etwas mit meinem Leben zu tun haben oder dafür irgendwie relevant sein? Ist dies der Fall, überprüfen wir, ob die entsprechenden Wissungen durch unsere eigenen Erfahrungen bestätigt werden; wenn nicht, sind auch sie hinfällig.

 

5. Wissungen sind also entweder belanglos, oder sie gehören zu unserem Leben.

Es existiert folglich keine zweite Quelle der Wahrheit neben den eigenen Erlebungen. Insbesondere bestreite ich damit, daß es irgendwelche Einsichten, Erkenntnisse oder Wissens-Fundamente gibt, die unabhängig von allen Erfahrungen und uns damit bereits vor ihnen zugänglich sind. (Die Philosophen nennen das „a priori“.)

Mehr behaupte ich nicht mit meiner Überzeugung, daß für jeden von uns die gesamte Wirklichkeit in seinem eigenen Leben besteht.

 

En passant hatte ich jetzt das Wort „Wissungen“ eingeführt; wir brauchen es erstens aus grammatischen Gründen; zum einen um gegebenenfalls den substantivischen oder nicht-verbalen Charakter des Wissens anzuzeigen und zum anderen auch als Plural von „das Wissen“.

Ein zweiter, inhaltlicher Grund für diese vielleicht gekünselt wirkende Wortbildung besteht darin, daß Paare der Form „Wahrnehmungen – Wahrgenommene“ oder „Vorstellungen – Vorgestellte“ bei uns eine sehr exakte Bedeutung erhalten werden und ich diese, um eine möglichst konsistente Systematik entwickeln zu können, auf das Paar „Wissungen – Gewußte“ ausweiten möchte.

 

Wir benötigen die subjektive Wahrheit unseres Lebens allein für dieses Leben selbst, nämlich um erfüllt leben zu können. Das ergibt sich meines Erachtens daraus, daß der Sinn unseres Lebens allein in dessen Fülle besteht; mehr als sie oder ein wahres Leben ist gar nicht möglich.

Der Glaube kann meines Erachtens und sollte die Freiheit schenken, die wir benötigen, um dieses Ziel zu erreichen. 

Wenn Theodor W. Adorno Recht hat mit seinem Bonmot „Es gibt kein wahres Leben im falschen“, führen wir ein unwahres Leben bis zu unserem Tod. Das wahre Leben im wahren erhoffen sich die Gläubigen von der Zukunft.

Ich widerspreche dem nicht, sondern ergänze lediglich:

Und zuvor, das heißt, hier und jetzt besteht unsere Aufgabe darin, uns im falschen Leben um ein wahres zu bemühen.

 

Daß die Wahrheit „nur“ subjektiv ist, merken wir gar nicht, weil sie dem eigenen Innen angehört und uns andere Innen – mit ihren differenten Wahrheiten – prinzipiell nicht begegnen können. Wir treffen lediglich auf uns fremde Verhaltenweisen, Handlungen oder Aussagen, aber die sind ohnehin bestenfalls richtig.

Und allein ihnen gegenüber benötigen wir auch Toleranz, so daß sich die Frage „Wahrheit oder Toleranz?“ (Klaus von Stosch) niemals stellt. Letztere bedeutet keineswegs, das Tolerierte zu achten oder gar zu bewundern; wir lehnen es ab – andernfalls wäre keine Toleranz erforderlich. Aber das liegt alles nicht auf der Ebene der Wahrheit und hat folglich insbesondere nichts damit zu tun, daß wir der Toleranz wegen unsere eigene Wahrheit aufgeben oder opfern müßten.

„Das Ziel der Toleranz ist nicht die Wahrheit, sondern die Wahrung des Friedens“ (John Gray). 

 

Da wir von der Richtigkeit unserer eigenen Gedanken, Verhaltenweisen, Handlungen oder Aussagen überzeugt sind – und auch sein sollten –, bedeutet Toleranz zwar nicht den Verzicht auf die eigene Wahrheit, sehr wohl aber auf Rechthaberei oder jegliches Sein-Wollen-wie-Gott.

Selbst unsere tiefsten Überzeugungen können prinzipiell nicht wahr sein – ganz einfach weil es in ihrer Sphäre keine Wahrheit gibt –, so daß wir sie, ohne uns selbst untreu zu werden oder verraten zu müssen, problemlos relativieren können: 

 

Warum denke ich so, wie ich denke?

Weshalb bin ich sogar überzeugt, so denken zu müssen?

Welche Scheuklappen versperren mir den Blick auf andere Möglichkeiten?

Glaube ich ernstlich, weiser zu sein als Karl Jaspers‘ „maßgebliche Menschen“ – Sokrates, Buddha, Nagarjuna, Jesus oder Konfuzius –, so daß ich deren Gedanken einfach ignorieren könnte?

Muß ich nicht selbst über diese Einschätzung lachen? Wieso soll gerade ich über einen heißen Draht zu Gott oder Hegels „Weltgeist“ verfügen?

Woraus resultiert überhaupt Descartes‘ Überzeugung, daß ich denken würde?

Könnte es nicht auch sein, daß es in mir bzw. durch mich (hindurch) denkt; so wie „es regnet“, „blitzt“ (Georg Christoph Lichtenberg) oder – mir – dämmert?

Kann es überhaupt denken? „Ja“; denn wer vermag abzuschätzen, wie stark ein spezieller Gruppengeist an seiner Stelle denkt oder gar „die Sprache spricht“ (Martin Heidegger)?

Ist meine „ewige Wahrheit“ vielleicht nur ein alter Zeitgeist und die angeblich „großartige Idee“ lediglich der neue?

 

AD: „Ich fürchte, mit Ihrer Behauptung, wir könnten keine Wahrheit besitzen, widersprechen Sie sich selbst, denn das soll doch auch eine Wahrheit sein – die Sie bereits kennen und mir bzw. den Lesern vermitteln möchten.“

Nein; das stellt einen alten Einwand dar, der an dieser Stelle häufig wiederkehrt. Aber er ist trotzdem falsch, denn ich erhebe keineswegs den Anspruch, daß mein Satz „Niemand kann die Wahrheit habenwahr sein soll; natürlich nicht; Aussagen sind niemals wahr, hatten wir doch bereits festgestellt. 

Ich bin lediglich überzeugt, daß

– der Satz „Niemand kann die Wahrheit habenrichtig ist und

– es zu meinen Aufgaben gehört, ihn in diesem Buch zu verteidigen,

– um für meine Wahrheit Zeugnis abzulegen.

 

Wahr sein kann allein unser Leben. Das enthält aber keine Sätze – Behauptungen, Versprechen, Befehle, Entschuldigungen, Dogmen, Gesetze, Bitten, Appelle und dergleichen –, sondern höchstens das Äußern bzw. Ausdrücken – Denken, Sagen oder Schreiben – von ihnen. Es gibt also insbesondere weder wahre Naturgesetze noch wahre Dogmen – jeglicher Couleur –; aber meine Aufgabe im situativen Hier und Jetzt kann sehr wohl darin bestehen, derartige Aussagen zu treffen

In Abhängigkeit davon, ob und wie ich das tue, wird mein Leben – im Sinne einer Verantwortungs- oder Situationsethik – wahr bzw. unwahr; das betrifft jedoch nur mein Sagen, während das Gesagte bestenfalls richtig ist:

Ich halte es unter anderem für meine Aufgabe, hier den meines Erachtens richtigen Satz „Niemand kann die Wahrheit haben“ zu schreiben. Für Christen sollte das eine Selbstverständlichkeit sein, denn da sie glauben, daß Gott die Wahrheit ist,  hätten sie mit ihr zugleich Gott selbst. 

 

Wir müssen sogar noch einen Schritt weitergehen, denn auch die nachstehende Situation ist beileibe nicht absurd:

„Ich muß mich um der Wahrheit willen hier und jetzt so äußern – obwohl das, was ich sage, meiner tiefsten Überzeugung zufolge falsch ist.“

Dieser Unterschied zwischen Sagen und Gesagtem, der bei Emmanuel Levinas eine große Rolle spielt, läßt sich beispielsweise leicht an Fällen verdeutlichen, in denen wir lügen, um Leben zu retten. Dann „müssen“ wir – der Wahrheit zuliebe – unwahrhaftig sein.

 

AD: „Das war etwas kompliziert; hätten Sie vielleicht noch ein verständliches Beispiel zu der von Ihnen offensichtlich favorisierten Verantwortungs- oder Situationsethik?“

Ja; natürlich:

„1 + 1 = 2“ kann unmöglich wahr sein, weil es nichts mit meinem Leben zu tun hat. Mathematische Laien würden also wahrscheinlich annehmen, diese Gleichung wäre richtig; aber nicht einmal das stimmt.

 

Es gibt nicht nur die – eine – Mathematik, die wir in der Grundschule kennengelernt haben, sondern (beliebig) viele Mathematiken.

Die „normale“ Mathematik von damals wird nach dem italienischen Mathematiker Giuseppe Peano benannt. Sie beginnt mit seinen fünf Axiomen; das sind mehr oder weniger willkürlich gewählte Sätze, die sich nicht beweisen lassen – ganz einfach weil sie am Anfang stehen und zunächst nur sie allein vorhanden sind; es gibt einfach noch nichts, mit dessen Hilfe wir sie beweisen könnten; wir beginnen erst, Mathematik zu betreiben. Die Konsequenzen, die sich aus diesen Axiomen ziehen lassen, bilden in ihrer Gesamtheit die Peanosche Mathematik oder Algebra, und dazu gehört auch, daß beispielsweise „1 + 1 = 2“ gilt.

 

Völlig analog kann George Boole zeigen, daß unter anderem  „1 + 1 = 1“ stimmt.

Das ist nicht falsch, und das „normale“ Ergebnis nicht richtig, vielmehr ist beides ableit- oder „beweisbar“. Bei differenten Voraussetzungen – den Peanoschen bzw. Booleschen Axiomen – stellt es weder einen Widerspruch noch eine Überraschung dar, daß die beiden Summen verschieden ausfallen.

 

Mathematik studieren heißt, möglichst viele Mathematiken kennenzulernen und ein Fingerspitzengefühl dafür zu entwickeln, bei welchen Problemen man welche Mathematik benutzen sollte, um sie lösen zu können.

Mit ein wenig Phantasie finden wir auch beliebig viele Beispiele, bei denen die Boolesche Algebra die angemessene ist: Zwei Wolken, zwei Geschichten, Wahrheiten, Leerstellen, Tropfen . . . Das wichtigste Beispiel bilden natürlich die Digitalrechner; es gäbe sie nicht ohne die Boolesche Mathematik.

(Natürlich auch nicht ohne duale Zahlen; ich schreibe das jedoch nur, um darauf hinzuweisen, daß das etwas ganz anderes ist – nämlich lediglich eine Darstellungsweise innerhalb der peanoschen Algebra – und mit unserem Thema aber auch gar nichts zu tun hat. Hier gibt es selbstverständlich auch die 2; sie wird lediglich als „10“ geschrieben; in der Boolschen Mathematik existiert dagegen keine 2; nur 0 sowie 1. Und eben deswegen mußte Boole sich entscheiden, ob 1 + 1 nun 0 oder 1 sein soll; möglich gewesen wäre beides.) 

 

Wird mir also die Frage gestellt, ob „1 + 1 = 2“ stimmt, hängt meine Antwort von der jeweiligen Situation und insbesondere von den Fragestellern ab.

Sind letztere unsere Enkel aus der Kita, kann meine Antwort nur „ja“ lauten; ich will ihnen doch keine Schwierigkeiten in der Schule bereiten.

Würde ich das Gleiche jedoch zu Ihnen sagen, wäre es unwahrhaftig und damit eine Lüge, weil ich mit dieser Aussage – nicht der Wahrheit, aber – meiner eigenen Überzeugung widersprechen würde; ganz abgesehen von der Beleidigung, Sie wie unsere Enkel zu behandeln.

Wahrhaftigkeit kann ja unmöglich bedeuten, die – prinzipiell unwiß- und unsagbare – Wahrheit auszudrücken; sie bedeutet vielmehr, der eigenen Überzeugung zu folgen. Der Lügner sagt nichts Unwahres, sondern etwas, was er selbst nicht glaubt.

 

Damit sollte meine Unterscheidung zwischen „wahr“ und „richtig“ schon verständlicher werden:

Die Gleichungen „1 + 1 = 1“ oder „1 + 1 = 2“ sind – wie alle Sätze bzw. Aussagen – natürlich weder wahr noch unwahr und in diesem speziellen Fall nicht einmal richtig oder falsch.

Unser verbales Denken, Sprechen oder Schreiben gehört dagegen zum Leben, und das allein kann bzw. sollte wahr sein. Dafür müssen wir freilich – je nach Situation – das eine Mal „ja“ und das andere Mal „nein“ sagen, wenn wir nach der Gültigkeit der (ersten bzw.) zweiten Gleichung gefragt werden.

Deswegen ist allein eine Verantwortungs- oder Situationethik möglich, denn sich um ein wahres Leben zu bemühen, bedeutet, im Hier und Jetzt jeweils das zu tun, worin wir unsere Aufgabe oder Verantwortung sehen. Ohne das eigene, prinzipiell unkontrollierbare Gewissen gibt es also auch keine – eo ipso subjektive und situative – Wahrheit.

Das Gewissen bietet uns eine Orientierung für das Leben, zu dem auch das Sagen gehört – aber nicht das Gesagte. Ersteres ist wichtiger oder primär, denn falls das Sagen fehlt, existiert auch kein Gesagtes, während die Umkehrung nicht stimmt, weil das Sagen immer über das Gesagte hinausgeht.

 

AD: „Wer dagegen die Verantwortungs- bzw. Situationsethik ablehnt, an ewige Wahrheiten glaubt und diese in Sätzen oder Aussagen sucht, muß mitunter böse sein. Das wird bei Kant, den ich ansonsten sehr verehre, überaus deutlich; seiner Auffassung nach dürften wir niemals lügen.

Wir müßten also beispielsweise dem Nazi-Soldaten, wenn er uns fragt, ‚ehrlich‘ antworten, wo sich der versteckte Jude aufhält; oder dem labilen Patienten seine Diagnose mitteilen – wie schlimm auch immer sie ausgefallen sein mag. Und wenn das diesbezüglich noch unwissende adoptierte Nachbarkind uns nach seinen Eltern fragt, . . .“

Ja; es mag übertrieben fromm klingen, wenn wir sagen „Alles, was zählt, ist die Liebe“ oder mit Augustinus „Liebe und tu, was Du willst“, aber ich bin überzeugt, daß uns schwerlich etwas viel Besseres einfallen wird.

 

Wir dürfen, anders formuliert, die Leibhaftigkeit unseres Lebens – die in der Sphäre von wahr und unwahr spielt – nicht durch eine bloße Reflexion darüber ersetzen – die bestenfalls richtig sein kann –; die Praxis durch eine Theorie oder die Wirklichkeit durch eine Abstraktion. Derartige Substitutionen sind verführerisch, weil sie die prinzipiell unkontrollierbare Leibhaftigkeit des Lebens auf den Begriff bringen und damit partiell verfügbar machen.

Es ist völlig belanglos, ob zum Beispiel Christen bekennen äußern, Gott sei dreifaltig; das ist – wenn es hochkommt – vielleicht Reflexion, Theorie oder Gesagtes; kann aber auch bloßes, papageienhaftes Gerede darstellen.

Wichtig könnte höchstens sein, ob die Dreifaltigkeit Gottes in ihrem Leben zum Ausdruck kommt; wenn „ja“, wäre dies ein Bekenntnis.

Und sofort wird es spannend:

Wie müßte denn ein Leben aussehen, in dem die Dreifaltigkeit Gottes zum Ausdruck kommt?

Wie hängt sie überhaupt mit meinem Leben zusammen?

Wie läßt sich das verstehen, wenn wir Gott nicht verstehen können?

 

AD: „Demzufolge kann Glauben nicht darin bestehen, einfach die Existenz Gottes zu bejahen?“

Möglicherweise gab es Zeiten, in denen es selbstverständlich war, was der Name „Gott“ bedeutet; aber das ist bei uns gewiß nicht (mehr) der Fall. Hat Gott jedoch seine Offensichtlichkeit verloren, werden sowohl die Frage nach als auch das Bekenntnis zu seiner Existenz gegenstandslos; wir müßten erst einmal klären, wovon überhaupt die Rede sein soll.    

Selbst ein Schöpfer-Gott wäre auch teuflisch, gemein und hinterhältig möglich; er könnte zum Beispiel völlig sinnlos einen sehr schönen Baum in seinem Garten pflanzen und uns bei Strafe verbieten, davon zu essen.

Daß sich die Frage, zu welchem Gott wir „ja“ bzw. „nein“ sagen, nicht durch das Nennen eines Namens beantworten läßt – JHWH, Baal, Allah, Re oder Zeus beispielsweise –, versteht sich gewiß von selbst, denn Namen sagen nichts, das heißt, sie enthalten nichts Gesagtes und können damit weder richtig noch falsch sein.

Namen sind nur Schall und Rauch; sie gehören gar nicht zur Sprache, sondern entsprechen bloßen Signalen. Höre ich den Ruf „Johannes“, fühle ich mich angesprochen; sein Absender muß nichts von mir wissen.

 

Wir müssen also mindestens drei Fragen unterscheiden:

1. Wer oder was ist der wahre Gott – sofern es ihn überhaupt gibt?

2. An welchen Gott glaube ich gegebenenfalls?

3. Wie wirkt sich dieser Glaube bzw. Nicht-Glaube auf mein Leben aus?

 

AD: „Jetzt verstehe ich auch, weshalb Sie oben so locker und – wie – selbstverständlich von Gott sprechen konnten:

Damit legen Sie nicht – in vorauseilendem ‚frommen Gehorsam‘ – bereits fest, daß es ihn gibt, sondern verbieten sich lediglich, etwas auszuschließen, von dem Sie gar nicht wissen, worum es sich handelt. Das ist dann keine unhinterfragte Vorentscheidung zugunsten des Glaubens, sondern gehört zu den notwendigen Voraussetzungen kritischen Denkens – wie sehr auch immer es dem Zeitgeist widersprechen mag.“

1.1. Kopernikanische Wende

Die Denkrichtung unserer Überlegungen können wir in einfachen Worten anhand von vier für die betreffenden Philosophen charakteristischen Fragen andeuten:

George Berkeley: „Verursacht ein fallender Baum Lärm, wenn es niemand hört?“

Martin Heidegger: „Waren die Gesetze Newtons schon vor Newton wahr?“

Thomas S. Kuhn: „Lebten Aristoteles und Galilei in derselben Welt?“

Max Black: „Existierte die Rückseite des Mondes, bevor wir sie gesehen haben?“

Wohl viele von uns dürften sich ob solch naiver Fragen fast beleidigt fühlen und sie natürlich alle mit einem glatten „ja“ beantworten.

Ich will Ihnen dagegen zeigen, daß manches für das ebenso eindeutige „nein“ der genannten Denker spricht, dem wir uns 100%-ig anschließen.

 

Mir ist bewußt, daß diese „Kopernikanische Wende“ (Kant) natürlich „keineswegs eine Empfehlung für mein Buch darstellt, sondern eher das Gegenteil. Denn Neues will weder der Fachmann noch der Laie. Jener ist froh, wenn er so weitermachen kann, wie er es gelernt hat, . . . und dieser will auch nicht eine neue und revolutionäre Philosophie vorgesetzt bekommen, sondern – wenn überhaupt eine Philosophie, dann schon – die richtige oder die Philosophie der Gegenwart.“ (Franz Rosenzweig)

Bei beiden Wünschen des Laien muß ich Sie allerdings enttäuschen:

Die richtige Philosophie kann es nicht geben, weil philosophische Fragen keine endgültigen Antworten kennen – genau das macht sie zu philosophischen Fragen: Was einmal definitiv beantwortet sein wird, war schon zuvor keine philosophische Frage.

„Die Meinung, die sich am Ziel glaubt, blockiert das Verstehen“ (Josef Simon) „und damit die Zukunft“, würde ich ergänzen.

Und ob mein Denken gegenwärtig en vogue ist – der zweite Wunsch –, interessiert mich nicht. Ich möchte, soweit dies überhaupt möglich ist, jeglichen Zeitgeist hinter mir lassen; freilich denjenigen, der zur Zeit des Sokrates, Jesus, Thomas oder Newton herrschte, ebenso wie den heutigen.

 

Das Buch basiert auf der Annahme, daß ein Bewußtseinswandel im Sinne negativer Antworten auf die obigen Fragen bei hinreichend vielen Menschen gegenwärtig wichtiger wäre als alle pragmatischen Fortschritte, auf die wir in den letzten vier Jahrhunderten ebenso einseitig wie stolz gesetzt haben und in denen noch immer viele die Lösung unserer stetig zunehmenden Probleme sehen – anstatt ihrer Ursache.

Dieser moderne Irrglaube ist freilich nicht nur nachvollziehbar, sondern sogar nahezu zwingend, solange wir glauben, in den exakten Wissenschaften den Königsweg – vielleicht nicht nur zur Richtigkeit, sondern sogar – zur Wahrheit gefunden zu haben.

Die exakten Wissenschaften – für mich persönlich insbesondere die Theoretische Physik und Mathematik – sind großartig und eine unglaubliche Kulturleistung sowie ein Segen für uns alle. Aber zum einen haben sie nichts mit der Wahrheit zu tun, und zum anderen gibt es noch sehr viele andere kulturelle Errungenschaften.

 

AD: „Letzteres verstehe ich nicht; wenn A richtig ist, muß non-A als seine Negation falsch sein.“

Nein das ist zu simpel gedacht. Wir werden ausführlich darauf zurückkommen, so daß ich Sie bitte vorerst mit einem Beispiel, das auf Ernst von Glasersfeld zurückgeht, abspeisen darf:

Um den vor ihm liegenden Wald zu duchqueren, tastet sich ein Blinder Schritt für Schritt mühsam vorwärts. Auf der Gegenseite angekommen hat er einen Weg gefunden, um sein Ziel zu erreichen. So, wie der Blinde gelaufen ist, geht es also – auch. Es paßte; aber nicht wie der Schlüssel zum Schloß, sondern wie einer von 1000 Dietrichen. Dieser Weg war möglich – 999 andere wären es freilich auch gewesen.

 

Ihr Fehlschluß besteht also in Folgendem:

Natürlich gilt „Wenn A richtig ist, muß non-A als seine Negation falsch sein“; aber um Logik geht es an dieser Stelle gar nicht:

Wenn A geeignet ist, um ein davon unabhängiges B zu erreichen, folgt daraus doch keineswegs, daß non-A dafür ungeeignet sein muß. Was hat ein von A unabhängiges B mit dem Negieren von A zu tun?

 

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch; das ist keine Ungerechtigkeit; ich bin dankbar und froh, heute hier in Mitteleuropa zu leben, und genieße die abendländischen Errungenschaften der Moderne. Den meisten von uns geht es zum Glück besser als vielen mittelalterlichen Fürsten. Das betrifft nahezu alle Bereiche unseres Lebens; selbst die relative Anzahl der Menschen, die gewaltsam umkommen, nimmt – allem Augenschein zum Trotz – wohl stetig ab (Thomas Piketty). 

Das entspricht dem Wie unseres Lebens.

Ich habe in diesem letzten Satz ganz bewußt kein einschränkendes „aber“ bzw. “ jedoch nur“ eingefügt, weil derartige Ermahnungen meiner Überzeugung zutiefst widersprechen würden. Wir wollen und – dürfen nicht nur, sondern – sollen das Leben genießen. Der Sinn des Lebens besteht in seiner eigenen Fülle oder Tiefe; es ist letzte Wirklichkeit, Selbstzweck und kein bloßes Mittel – wofür auch immer.

Es geht „nur“ um unser Leben – weil das unüberbietbar ist!

 

Das bezieht sich nicht nur auf ein „Jenseits“, sondern beginnt – wenn wir diesen unseligen Dualismus vorerst einmal beibehalten – im „Diesseits“; im Falschen des Lebens sollten wir uns um sein Wahres bemühen. Das „Diesseits“ ist weder Prüfungs- noch Bewährungsort und dürfte auch kein Jammertal sein, denn die Lust am Leben bildet nach meinem Dafürhalten das ent- und unterscheidend Christliche. Jesus wurde unter anderem bekanntlich vorgeworfen, er sei ein „Säufer und Fresser“.

Der katholische Dominikaner-Theologe Marie-Dominique Chenu sagte zu Maria Caterina Jacobelli, der Autorin von „Ostergelächter. Sexualität und Lust im Raum des Heiligen“:

„Sprechen Sie niemals von der Freude, Madame, sprechen Sie immer von der Lust, sonst wird man Sie spiritualistisch mißverstehen.“

 

Trotz dieser positiven Wertung von Lust und Genuß ist das freilich – jetzt kommt das bereits befürchtete „aber nur“ also doch noch – lediglich die halbe Wahrheit, denn es gibt neben dem Wie des Lebens auch sein Warum, seinen Inhalt oder Sinn.

Viktor E. Frankl – der „dritte Wiener Psychotherapeut“ – faßte seine Lebenserfahrungen in dem Leitsatz der Logotherapie zusammen, daß „wer ein Warum zum Leben besitzt, nahezu jedes Wie erträgt“. Aus seinem Munde hat eine solche Überzeugung meines Erachtens Gewicht, denn Frankl überlebte Dachau sowie Auschwitz, wo sein Bruder, seine Frau und Eltern ermordet wurden.

Selbstverständlich können wir das Warum unseres Lebens – seine mögliche Tiefe also – völlig ignorieren und mit ungezügeltem Prassen, seichter Unterhaltung bzw. langweiligem Zeitvertreib oder Nicht-Denken in seinem Wie aufgehen.

Aber dieses Wie ist doch nichts anderes als der Status quo unseres Lebens auf dem Weg zu seiner Fülle, seinem Warum oder Telos; es ist also weder sekundär noch vermeidbar, sondern notwendig. Ein Warum des Lebens ohne Wie würde erfordern, daß ersteres einfach so vom Himmel fiele.   

 

Ich bleibe also – mit der Tradition – dabei, zwischen dem Wie und Warum des Lebens zu unterscheiden, weigere mich aber – entgegen der Tradition –, die beiden voneinander zu trennen oder gar gegeneinander auszuspielen:

Das Wie des Lebens ist – als der Status quo des letzteren – die notwendige Voraussetzung seines eigenen Warum, der Fülle des Lebens; ohne Wie kein Warum; ohne Status quo kein Telos.

In unserem Buch geht es also um beides; deswegen mein obiges Plädoyer für Lust und Genuß. Wer das Leben will oder wem es gar – Schiller zum Trotz – als „der Güter höchstes“ gilt, kann das Wie nur als den Übergang des Lebens zu seinem Warum verstehen.

 

AD: „‚Ein Warum des Lebens ohne Wie würde erfordern‘, haben Sie gerade gesagt, ‚daß ersteres einfach so vom Himmel fiele‘. Warum sollte dieses Warum das nicht tun? Spricht irgendetwas dagegen?“  

Ja, ganz massiv; aber um das sauber begründen zu können, benötigen wir leider das halbe Buch, weil die Antwort in unserem traditionellen Weltbild eindeutig „nein“ lauten würde. Unser „ja“ resultiert daraus, daß wir in dem neuen Weltbild die „Schöpfung“ durch das Wort ernstnehmen; „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache“ (Hans-Georg Gadamer).

Jedes Baby liebevoller Eltern „lebt im Paradies“, freilich ohne es zu wissen. Was wir nicht wissen, existiert für uns aber gar nicht; es kann keine Wirklichkeit sein oder nicht unserem Leben angehören. Dann vermögen jedoch auch die Babys liebevoller Eltern nicht im Paradies zu leben.

Ebensowenig wie Adam und Eva; sie mußten erst vom Baum der Erkenntnis essen, um wissen zu können, wie gut es ihnen geht. Ich verstehe dieses Essen als Symbol für unser Leben, weil wir ein Leben lang die Wissungen andern und das Paradies freiwillig verlassen können.

 

Zahlreiche prominente Wissenschaftler deuten unser Zeitalter als das Anthropozän, weil erstmals auch wir Menschen über das Schicksal des Lebens auf der Erde (mit)bestimmen – nicht mehr Sonneneruptionen, tektonische Verschiebungen, Meteoriteneinschläge, Seebeben oder Vulkanausbrüche allein. Für Ernst Ulrich von Weizsäcker ist es „das Zeitalter, in dem der Mensch das gesamte Geschehen dominiert, bis hin zur bio-geochemischen Zusammensetzung der Erde“. Man muß weder Apokalyptiker oder Weltuntergangs-Prophet noch Verschwörungstheoretiker sein, um derartige Szenarien ernstnehmen zu können, sondern nur die täglichen Nachrichten verfolgen.

Gemessen an den Privilegien, die ich angesichts der bisherigen Menschheitsgeschichte genieße, indem ich hier und jetzt leben darf, tue ich nahezu nichts. Das Schreiben dieses Buches ist mein Versuch, mit oder trotz dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit leben zu können.

 

Obwohl ich seit bald 50 Jahren über seinen Inhalt nachdenke, gelingt mir leider immer noch keine leicht verständliche Darstellung, so daß Ihnen die vorliegende gewiß einige Mühe abverlangen wird. Dahinter steckt jedoch nicht die mitunter anzutreffende Wichtigtuerei, die eigenen Ausführungen unnötig verkomplizieren zu wollen.

Die Schwierigkeit besteht vielmehr darin, daß meine Gedanken zum einen recht ungewohnt sind und es zum anderen absolut keinen Sinn hätte, wenn Sie mir glauben würden. Das sollen und „dürfen“ Sie nicht; vielmehr müßten Sie sich bemühen,

– entweder möglichst jeden Schritt als folgerichtig zu erkennen und – wenn es sein muß auch zähneknirschend – mitzugehen

– oder ihn – mit guten Gründen – abzulehnen.

Ein „ja, aber . . .“ hilft beim Denken nicht weiter.

 

Um Ihnen das Lesen zu erleichtern, versuche ich, alle Gedankengänge möglichst vollständig wiederzugeben. Bei einem Geflecht von Überlegungen ergeben sich daraus zwangsläufig viele Überschneidungen, das heißt, redundante Wiederholungen. Die nehme ich bewußt inkauf, um Ihnen laufendes Grübeln oder Blättern zu ersparen; aber vielleicht sind Ihnen die Wiederholungen mitunter sogar ganz recht.

Hinter mir liegt ein Denkweg, für den ich, wie schon gesagt, Jahrzehnte benötigt habe. Wenn Sie immer noch ein Stückchen brauchen, um meine Überlegungen nachvollziehen zu können, ist das also nicht sonderlich schlimm, denn Sie haben trotzdem noch erheblich Zeit eingespart. Mein Buch kann in diessem Sinne als eine „Abkürzung“ verstanden werden, mit der ich dem einen oder anderen Leser erfreulicherweise bereits helfen konnte. 

 

Ich antworte Ihnen auf jede Kritik, die sich sachlich auf den Ansatz einläßt und meine darin enthaltenen Fehler, Lücken bzw. Unsauberkeiten im Auge hat. Daß man auch anders denken oder es ganz unterlassen kann, weiß ich bereits, und bloße Meinungen interessieren mich nicht – völlig unabhängig davon, wer sie äußert.

„Herr Müller sagt aber . . .“

Na und? Frau Meier meint auch etwas.

 

Winston Churchill schrieb: „Eine gute Rede soll das Thema erschöpfen, nicht die Zuhörer.“

Bezüglich des Themas habe ich kein ganz schlechtes Gefühl . . .

Den tapferen Lesern wünsche ich die Erfahrung, daß letztlich nur eigene Anstrengungen vor Langeweile bewahren, zur Sinnfindung in Julliens zweitem Leben beitragen und zu einer inneren Erfüllung führen oder glücklich machen können. Ich hoffe, daß Sie am Ende nicht das Gefühl haben, um Ihre Zeit betrogen worden zu sein.

Aber vielleicht ist es auch nur halb so schlimm, weil irgendwann der flow einsetzt, und dann wollen oder können Sie gar nicht mehr aufhören – so wie es auch mir erging.

1.2. "Methode"

Unsere „Methode“ ist so denkbar einfach, daß ich den Titel mit Anführungszeichen versehen mußte; eine (wirkliche) Methode ist etwas anderes, aber für unser Ziel (zum Glück) auch gar nicht erforderlich.

Wir versuchen einfach, Kants „sapere aude“ zu befolgen: „Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen“ und dabei auch gegen scheinbare Selbstverständlichkeiten der Zeit anzudenken, wenn Du sie vor Deiner Vernunft nicht rechtfertigen kannst. Plappere nicht einfach leere Begriffshülsen nach, nur weil man – in Deiner Kommunität – so redet, sondern „versuche zu verstehen, was Du selbst sagst“.

In diesem Bemühen sah Georg Picht den Sinn des Philosophierens.

 

Ich glaube nicht an die eine objektive Vernunft, die der Tradition zufolge für alle Menschen die gleiche – und womöglich auch noch „die bestverteilte Sache der Welt“ (René Descartes) – ist.

Es gibt jedoch unsere subjektive Vernunft, die auf den eigenen Lebenserfahrungen beruht. Ein objektiverer oder „höherer“ – vielleicht gar objektiver – Maßstab ist uns nicht zugänglich, denn wir sind Menschen, die stets an ihr singuläres Hier und Jetzt gebunden bleiben – ohne Kontakt zu einem angeblichen „Weltgeist“ (Hegel) oder „transzendentalem Subjekt“ (Kant).

Dem widerspricht nicht, daß in allen Bereichen des Lebens „Wahrheitspraktiken“ (Michael Hampe) – ich würde gerne korrigieren: „Richtigkeitspraktiken“ – bestehen, die uns zumeist deutliche Kriterien dafür liefern, was wir in der betreffenden Sphäre als richtig anerkennen sollten. Das sind natürlich in der Pathologie ganz andere Praktiken als in der Ornithologie, der Physik und Religion, dem Sport, Alltagspragmatismus oder Sprachverständnis.

 

Sowohl vor als auch in der Moderne ging man davon aus, daß – im Sinne unseres Bildes mit dem Blinden – der eine richtige Weg durch den Wald existiert.

Bis zum Mittelalter kannten ihn zumeist nur die jeweiligen Autoritäten; sie galten als Garanten der Richtigkeit, so daß letztere diesen Autoritäten in einem profanen Sinne geglaubt werden mußte.

Die Aufklärung wandte sich mit Recht gegen ein solches Nicht-Denken und setzte auf die eine objektive Vernunft. Jeder gesunde Erwachsene sollte sich aus seiner selbstverschuldet-naiven Unmündigkeit befreien und mittels der einheitlichen Vernunft selbst erkennen, verstehen sowie argumentieren.

Der aufklärerische Traum von einer entsprechenden fundamentalen Wahrheitstheorie erwies sich jedoch als überzogen und wird von der Postmoderne nicht mehr geteilt. Ihr zufolge gibt es 1000 mögliche Wege, Dietriche oder Richtigkeitspraktiken. Wer sie ausschlägt, stößt sich die Nase an den Bäumen wund und fällt hinter das Niveau der Aufklärung zurück.

 

Wir sind folglich nicht nur für das verantwortlich, was wir tun oder sagen, sondern auch für unser Denken, Glauben und Wissen. Wer die Bestimmung hierüber anderen anvertraut, entmündigt sich an dieser Stelle selbst und scheidet damit als ernstzunehmender Gesprächspartner aus.

Reinhard Kreissl fragt in seinem Buchtitel spitz: „Wo lassen Sie denken?“

Ich wollte es vor der Wende nicht in Ost-Berlin oder Moskau, will es aber auch heute weder in Rom bzw. Riad noch im Silicon Valley.

 

Besonders bei denjenigen weltanschaulich-religiösen Fragen, die nicht durch Erfahrungen entschieden werden können, ist das eigene Denken überaus wichtig. Der Verzicht auf letzteres entspricht sonst dem Freifahrtschein, jede (widerspruchsfreie) willkürliche Aussage – und natürlich auch ihr glattes Gegenteil – behaupten zu können, weil eine Überprüfung ausgeschlossen ist.

Wegen eines solchen Fehlens der Falsifizierbarkeit wurden beispielsweise viele Schulen der Tiefenpsychologie von ihren Gegnern nicht als seriös oder gar wissenschaftlich anerkannt. Das gilt natürlich auch für jede „Theologie“, die sich auf fromme Formulierungen, blinden Glauben, bloße Textstellen oder andere unbegründete Äußerungen beruft.   

 

Das Denken bedingt unter anderem, sich im Streitgespräch „dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Jürgen Habermas) zu beugen. Das bringt beide Seiten weiter; unabhängig davon, welcher von ihnen es entstammt. Der damit einhergehende Verzicht auf willkürlich-beliebige Meinungen bringt zugleich einen Gewinn an Freiheit mit sich, denn letztere besteht nicht im Umfang der wählbaren Angebote, sondern in der Möglichkeit einer gerechtfertigten, weil wohlüberlegten Wahl. 

Freiheit bedeutet, begründet – nicht kausal verursacht – entscheiden zu können, und unsere Fähigkeit dazu ist die Vernunft. Sie führt zu einem „Müssen“; „ich ‚muß‘ das jetzt zugeben, sagen, tun oder überdenken.“

Friedrich Nietzsche konnte deswegen formulieren „Ich habe nie eine Wahl gehabt“ und meinte damit, daß stets zwingende Gründe für seine Freiheitsentscheidungen vorlagen. Begründung und Entscheidung bilden die beiden notwendigen Seiten der Freiheit, von denen es die eine niemals ohne die andere gibt, so daß jegliche Wahl entfällt.

Wählen können wir zwischen Schoko- und Himbeereis oder Lamm- und Rindfleisch; aber zumindest letzteres tun auch die Katzen.

 

Da wir über keinen höheren Maßstab als unsere subjektive Vernunft verfügen, kann es mir auch nicht um eine angeblich aus uns selbst kommende Autonomie gehen. Wir stehen – nur optisch, aber – nicht wirklich auf eigenen Beinen; mit der gleichen Überzeugung wie oben setze ich Kants Zitat also fort:

Ignorare aude; habe ebenfalls den Mut, Deine Verwundbarkeit, Endlichkeit, Kontingenz, Grenzen usw. anzuerkennen. Du hast Dich nicht selbst hervorgebracht, bleibst damit abhängig, und die Wirklichkeit geht nicht nur über Dich hinaus, sondern bleibt letztlich auch unverfügbar; Selbstbestimmung bedeutet dann keine Autonomie, sondern geschenkte Freiheit.

 

Wir bestimmen uns selbst in Freiheit zu dem, der wir dann sein werden; nur so ist ein – mit sich selbst übereinstimmendes, das heißt – kongruentes Selbst möglich. Kein Gott kann das schaffen; das können wir nur selbst – aber eben nicht autonom, aus eigener Kraft oder uns selbst heraus, sondern allein, weil uns die Freiheit zur Selbstbestimmung ermöglicht wird.

Diese Ermöglichung der Freiheit entspricht meines Erachtens der Schöpfung, die traditionell zumeist als ein Machen oder Herstellen von Seienden – insbesondere von uns Subjekten – mißverstanden wird.

Wir können nur mit dem kongruent sein, wozu wir uns selbst bestimmt haben. Ein „von Gott geschaffenes Selbst“ wäre als ein fremdbestimmtes „Selbst“ kein Selbst; es müßte etwas sein, was es vielleicht gar nicht sein will und wozu es sich niemals bestimmt hätte; dann ist dieses „Selbst“ auch nicht mit sich kongruent.

 

Beide Aussagen zusammengenommen – Kants Zitat und seine Fortsetzung durch uns – bedeuten, daß uns eine Freiheit auszeichnet, die wir einem oder einer Ganz-Anderen verdanken.

Viele „Atheisten“ lehnen dieses Ganz-Andere mit Recht ab, weil sie eine hinterwäldlerische Vorstellung davon haben, zu der ich ebenfalls „nein“ sagen würde.

Viele „Rechtgläubige“ wissen dagegen nicht nur genau, daß das Andere existiert, sondern kennen es auch sehr gut und können uns viel darüber erzählen; zum Beispiel, daß es „der Andere“ heißen muß. Völlig unabhängig von den konkreten Inhalten glaube ich das jedoch ebenfalls alles nicht.

Wir bemühen uns um einen Mittelweg zwischen Skylla und Charybdis, der aus dem Willen resultiert, das Ganz-Andere zugleich

– sowohl in seiner Notwendigkeit

– wie auch als Geheimnis

deutlich werden zu lassen.

 

Nichtsdestotrotz ist dieses Buch ein rein philosophisches – auch wenn Gott darin eine wesentliche Rolle zukommt. Er ist freilich nicht der traditionelle (Lückenbüßer-)Gott, mit dem wir aufgrund seiner Allmacht sämtliche „Probleme lösen“ und „Fragen beantworten“ können. Mit einem Allmächtigen dieser Art läßt sich denkerisch natürlich gar nichts anfangen:

„Kann Gott einen runden Würfel herstellen?“

„Natürlich; was fragst Du überhaupt? Er kann doch alles; daß wir nicht verstehen, wie er das in seiner unendlichen Weisheit macht, liegt an unserer Endlichkeit, in der wir die großartigen Handlungen Gottes niemals erfassen werden. Das betrifft insbesondere auch sein Dulden des Leids in der Welt, die Theodizee-Frage oder den ‚Fels des Atheismus‘ (Georg Büchner). Wir werden in der Ewigkeit (hoffentlich) einmal sehen, daß Gott alles herrlich für uns gefügt und wahrscheinlich sogar ‚die beste aller möglichen Welten‘ (Lebniz) geschaffen hat.“

Ein runder Würfel ist logisch widersprüchlich und damit ein Unding, das natürlich auch Gott nicht zu schaffen vermag. Damit ist jedoch nicht seine Allmacht widerlegt, sondern der Bereich vernünftigen Denkens begrenzt.

Aber beispielsweise erscheint mir die Frage bedenkenswert, ob Gott, der selbst die Liebe ist, auch hassen kann oder trotz seiner Allmacht lieben muß?

 

Natürlich kann uns die subjektive Vernunft nahelegen, bei speziellen Fragen bestimmte Autoritäten anzuerkennen, weil diese ihre Kompetenz auf dem betreffenden Gebiet – unseres Erachtens – deutlich nachgewiesen haben. Aber weder kann eine Autorität diesen Anspruch von sich aus erheben oder blindlings unser Vertrauen einfordern, noch delegieren wir damit unsere Verantwortung an sie; es war doch gegebenenfalls unsere Entscheidung, die jeweilige Autorität für uns denken, glauben oder wissen zu lassen.

Diese unübertragbare Verantwortung bildet gemeinsam mit der subjektiven Vernunft meines Erachtens den Kern der Menschenwürde; letztere entspricht einer Medaille mit jenen beiden als ihren zwei Seiten. Sprechen wir einem Menschen – durch Indoktrination – seine Verantwortung oder subjektive Vernunft ab, so berauben wir ihn seiner Würde und machen ihn zu einer Marionette an den Fäden unserer Macht.

 

„Niemand hat das Recht zu gehorchen“ (Hanna Arendt) und sich damit hinter anderen zu verstecken. Es gibt nach der Aufklärung – über die „Aufklärung“ – keine Ausrede mehr. Jean-Paul Sartre mag damit Unrecht haben, daß wir „zur Freiheit verdammt“ seien; aber richtig bleibt hieran, daß auch das „Nicht-Entscheiden-Wollen“ – demzufolge andere für uns denken, glauben oder wissen – ein freies Entscheiden darstellt, für das wir selbst verantwortlich sind.

Die meisten von uns würden bei größeren Geldgeschäften keinem Fremden blind vertrauen, sondern versuchen, sich möglichst selbst kundig zu machen. Ich schließe mich dem 100%-ig an – und ergänze lediglich, daß mir grundlegende existenzielle, religiöse oder weltanschauliche Fragen noch wichtiger sind als finanzielle.  

 

Schlußendlich nimmt meine „Methode“ die Selbstverständlichkeit ernst, daß wir über Dinge, die uns prinzipiell unzugänglich sind, auch weder sinnvoll nachdenken noch sprechen können. Natürlich läßt sich alles Mögliche vorstellen bzw. behaupten; aber Meinungen bezüglich eines Bereichs, der uns grundsätzlich verborgen bleibt, erweisen sich als unkontrollierbar und damit als willkürlich oder beliebig.

Das bedeutet freilich nicht, daß ein derartiges Gedöns belanglos sei oder keine Konsequenzen hätte. Wäre dem so, könnten wir es generös auf sich beruhen lassen; aber alle politischen, religiösen, wirtschaftlichen oder sonstigen Diktaturen zeigen, daß zwischen diesem und jenem Blablabla ein himmelweiter Unterschied bestehen kann

 

Mit dem für uns Unerreichbaren meine ich natürlich keine Tabus, Denkverbote oder von irgendwelchen „Experten“ zu Geheimnissen erklärte Bereiche. Soetwas gibt es für mündige Menschen meines Erachtens nicht; nur Scharlatane, Lügner, Karrieristen oder Despoten benötigen dergleichen.

Damit entzaubere ich die Wirklichkeit nicht; ganz im Gegenteil; sie ist ambig und voller Geheimnisse. Aber worin diese bestehen, vermag uns niemand zu sagen, sondern das können wir nur selbst erfahren, indem wir uns ernstlich um die Aufhellung der Geheimnisse bemühen.

Tun wir das nicht, liegen auch keine Geheimnisse vor, sondern an deren Stelle treten bloße Worte; „Gott“, „Transzendenz“, „Dreifaltigkeit“, „Subjekt“, „Leben“, „Tod“ und „Teufel“ oder „das Böse“ beispielsweise. Wer sagt, sie würden Geheimnisse bezeichnen, mag für sich persönlich Recht haben, kann dies aber nicht wie selbstverständlich auf andere übertragen:

Ein objektives Geheimnis ist ein Widerspruch in sich, denn was gar nicht interessiert, ist kein Geheimnis, sondern Peanuts. Die einzige Wirklichkeit, die es für uns gibt, hatten wir oben gesagt, besteht im eigenen Leben.

Die Existenz einer objektiven Wirklichkeit läßt sich dagegen nur behaupten, so daß wir sämtliche Konsequenzen, die sich aus ihrem angeblichen Sein ergeben, ignorieren können. Der eine behauptet dieses, und der andere jenes; beides braucht uns nicht zu interessieren.

 

Geheimnisse unterscheiden sich gewaltig sowohl von Rätseln als auch von Geheimlehren.

Letztere bilden Märchen für Erwachsene; versuchen wir ihnen auf die Spur zu kommen, verflüchtigen sie sich zumeist sehr schnell und wir schämen uns vielleicht der Aufmerksamkeit, die wir dem Unsinn zunächst geschenkt hatten.

Geheimnisse sind dagegen umso größer, phantastischer, umwerfender – eben geheimnisvoller –, je intensiver wir uns mit ihnen beschäftigen; sie werden niemals gelöst, und das unterscheidet sie von bloßen Rätseln.

Die exakten Wissenschaften lösen lediglich Rätsel, kennen aber keine Geheimnisse, denn sie – sowohl die Wissenschaften als auch die Rätsel – sind nur (von uns) konstruiert.

Geheimnisse gehören jedoch zur Wirklichkeit und sind keine bloßen Konstruktionen. Insbesondere das Leben stellt für mich persönlich ein Geheimnis dar, so daß ich unter anderem die Biologie und Medizin nicht als Wissenschaften vom Leben betrachten kann. Wer es tut, verwechselt meines Erachtens die Leibhaftigkeit des Lebens mit bloßen Modellen oder die wirklichen Geheimnisse mit theoretischen Rätseln.

Die Hüter von ersteren müssen keine Angst um ihren Schatz haben; je offener sie ihn präsentieren, desto mehr werden sie ihrer Aufgabe gerecht, das Geheimnis als solches zu (be)wahren und weder zu einem leeren Wort noch zur Geheimniskrämerei verkommen zu lassen.

Geheimnisse verteidigen sich selbst gegen ihre „Entzauberung“ (Max Weber), weil sie bei jedem ernsthaften Versuch, sie aufzudecken, tiefer werden. 

 

AD: „Also bestreiten Sie, daß wir in den letzten 300 Jahren – oder vielleicht auch schon viel länger – die Wirklichkeit entzaubert haben?“

Ja; das tue ich!

Wir haben die Wirklichkeit bzw. das Leben nicht entzaubert – was uns auch gar nicht möglich ist –, sondern vergessen, ignoriert und sogar bestritten. Das wahre Leben oder seine Fülle interessiert nicht mehr; statt danach zu fragen, uns danach zu sehnen und darum zu bemühen, perfektionieren wir den Status quo als komfortables Luxusgeprotze im falschen Leben.   

 

AD: „Selbst wenn alles, was Sie in diesem Kapitel gesagt haben, richtig wäre, fürchte ich, daß einige Leser mit Ihrer „Methode“ unzufrieden sind. Es gibt doch beispielsweise ganz verschiedene Denkrichtungen innerhalb der Philosophie; sollten Sie sich nicht darin ein wenig einordnen?“

Ich bezweifle das; eher hätten wir auf die gesamte Methodendiskussion verzichten können, denn sie übersieht, daß das Erkennen des Erkennens auch bereits Erkennen – und damit Philosophie – ist. Friedrich Nietzsche verspottete die Denker, die das übersehen, indem er sie mit Menschen vergleicht, die ein Streichholz prüfen wollen, bevor sie es benutzen. „Es ist das Streichholz, das sich selber prüfen will, ob es brennen wird.“

Ohne Bild gesprochen:

Von den Begriffen können wir uns nicht befreien; sie lassen sich nicht zum Gegenstand einer Betrachtung machen, ohne sie dafür im gleichen Moment in Anspruch zu nehmen, so daß in der Philosophie Inhalt und Methode zusammenfallen.

 

AD: „Das leuchtet mir ein; aber darf ich bitte noch einmal zurückgreifen:

Mir ist noch nicht klar geworden, was es bedeutet, daß Ihr Buch, obwohl Gott darin eine große Rolle spielt, rein philosophisch sein soll, wie sie oben gesagt hatten.“

Daß (angebliche) Offenbarungen darin keine Rolle spielen.

Ich sage also nur das von Gott, was sich durch unser Denken, das heißt, ohne alle Glaubensbekenntnisse im engeren Sinne, begründen läßt. Der Versuch, Offenbarungen logisch herleiten zu wollen, ist selbstwidersprüchlich, denn wenn er gelänge, handelte es sich eben deswegen nicht um eine offenbarte, sondern um eine vernünftige Erkenntnis.

Zum Beispiel können wir es – nahezu der gesamten christlichen Tradition zum Trotz – logisch ausschließen, daß Gott sowohl allmächtig wie auch allwissend ist.

Vermag er jederzeit zu tun, was er will, kann Gott nicht schon im Voraus wissen, was geschehen wird; er disponiert ja vielleicht noch um.

Weiß Gott dagegen, was kommen wird, muß er es dabei belassen und kann nichts mehr verändern.

AD: „Das überzeugt mich nicht; Gott weiß doch auch schon immer, wann und wie er eingreift.“

Dann muß er sich aber auch an dieses Wissen halten – und ist folglich nicht allmächtig.

Für mich ergibt sich Gott allein aus dem Bemühen, stringent denken, das heißt, möglichst keine logischen Fehler begehen zu wollen. Der hieraus resultierende denk-notwendige – und wenn Sie wollen: postmoderne – Gott unterscheidet sich dann erheblich von dem traditionellen.

 

AD: „Nein; so geht das nicht. Es gibt weder einen traditionellen noch einen postmodernen Gott, sondern – wenn überhaupt, dann  – nur den einen wirklichen oder richtigen; allein von ihm können wir sinnvoll sprechen.“

Ich fürchte, das ist zu simpel gedacht: Der Gott, den Sie als den gegebenenfalls wirklichen oder richtigen bezeichnen, ist bei mir exakt derjenige der Tradition.

Letztere erhebt doch den Anspruch, „natürlich“ vom einzigen wahren Gott zu sprechen.

Ihm stehen der Tradition zufolge zahllose falsche Götter gegenüber. Zu ihnen zählen jedoch nicht nur die offiziellen wie beispielsweise Baal, Wotan oder Hermes, sondern auch sämtliche Bilder oder begrifflichen Konstruktionen, die sich Subjekte von Gott machen.    

Hierzu gehört auch mein postmoderner Gott.

 

Aber das ist nur die halbe Geschichte; ihr zweiter Teil ist noch wichtiger:

Der traditionell denkende Christ hat ein bestimmtes Bild von der Wirklichkeit, und zu dieser gehört auch Gott. Erzählt uns der Gläubige von ihm, so erfahren wir bruchstückhafte Teile oder Vorstellungen seines zugrundeliegenden Wirklichkeits-Bilds.

Wortwörtlich das Gleiche gilt aber auch bei einem postmodernen Christen.

Was unterscheidet die zwei – abgesehen von den differenten Wirklichkeits-Bildern – eigentlich voneinander? 

Der Grad an Bescheidenheit bzw. ihres Sein-Wollens-wie-Gott!

 

Beide denken oder sagen, was sie aufgrund ihres Wirklichkeits-Bilds von Gott wissen; das ist alternativlos, denn niemand kann, ohne zu lügen, etwas anderes vorbringen als Ausschnitte seines Wirklichkeits-Bilds.

Der traditionell Denkende ergänzt seine Schilderung dann lediglich noch durch den mehr als unbescheidenen Zusatz, mit ihr den einen wirklichen oder richtigen Gott zu beschreiben; . . .

. . . und dem Postmodernen bleibt der Mund offen: „Woher weiß der das?“   

„Ich“, ergänzt er vielleicht kleinlaut, „spreche nur von dem, was mir tatsächlich gegeben ist; das sind meine Wissungen – in diesem Fall die Gottes-Vorstellungen meines Wirklichkeits-Bilds. Aber ob die im traditionellen Sinne stimmen, kann ich prinzipiell nicht wissen, denn ein (mögliches) Wovon ist mir nicht gegeben.“

 

Wir müssen die Wissungen also deutlich von ihren – nur möglicherweise existierenden – Referenten unterscheiden.

Erstere stehen nur für sich und sind in diesem Sinne rein oder nackt; uns ist zum Beispiel völlig klar, was Marsmenschen, der größte Primzahlzwilling (3/5, 5/7, 11/13, 17/19, 29/31, 41/43 . . .?) oder Higgs-Teilchen sind.

Bei allen Wissungen drängt sich freilich die Frage auf, ob ihnen in der Wirklichkeit etwas entspricht. Gibt es Marsmenschen, einen größten Primzahlzwilling bzw. Higgs-Teilchen überhaupt?

Bei einer bejahenden Antwort liegen die zugehörigen Referenten vor; sie bilden das Wovon der entsprechenden Wissungen.

Eiffelturm beispielsweise ist also eine reine Wissung von uns; sie besitzt einen Referenten, der sich in Paris befindet.

Die Frage nach dem Wovon oder Referenten der Wissungen können wir natürlich erst stellen, wenn uns letztere bereits vorliegen bzw. gegeben sind.

 

AD: „Natürlich; ‚gibt es Poras?‘ bleibt eine sinnleere Frage, solange uns die Wissung namens ‚Pora‘ unbekannt ist.

Nun wird mir allmählich auch das Gadamer-Zitat ‚Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache‘ verständlich, das Sie oben erwähnt hatten: 

Erst und nur wenn ich über die Wissung namens „A“ verfüge, kann ich fragen, ob A-s existieren, und dies gegebenenfalls auch bejahen.

Dann gibt es ohne alles Wissen also keine A-s, B-s, C-s . . . – und damit gar nichts.“

 

Sehr schön! „Irgendetwas kann ja trotzdem existieren“ führt uns nicht weiter, denn ohne Wissen ist auch „irgendetwas“ nur ein Geräusch bzw. Gekritzel.

Somit kann es auch höchstens den Gott geben, den wir wissen, weil er unserem Wirklichkeits-Bild angehört; christlich kann das zum Beispiel der traditionelle oder der postmoderne sein.

AD: „Aber wir können doch Gott – seine Existenz oder Wirklichkeit – nicht von unserem Wirklichkeits-Bild abhängig machen!“

Doch; das können wir nicht nur, sondern müssen wir meines Erachtens sogar:

 

Es gibt uns nicht ohne Gott, weil er der Schöpfer ist.

Das ist ganz traditionell formuliert; ich schließe mich dem an und würde lediglich „Schöpfer“ mit Anführungszeichen versehen, weil noch völlig offen ist, worin seine „Schöpfung“ postmodern bestehen könnte.

Aber wohl noch viel gravierender ist meine Fortsetzung, die ich der Deutlichkeit halber in der ersten Person Singular schreibe:

Es gibt Gott nicht ohne mich, weil ich

– ihn – im Rahmen meines Wirklichkeits-Bilds – wissen und

– zu dieser Wissung „ja“ sagen muß.

 

Traditionell Denkenden wird das als absurd erscheinen, weil sie von dem einen objektiven, wirklichen und richtigen Schöpfer-Gott ausgehen.

Wenn Gott die Liebe ist, vermag er möglicherweise nur zu lieben und nicht zu hassen.

Seine Schöpfung kann er jedoch unmöglich lieben, denn zu ihr gehören auch Auschwitz und Hiroshima, Naturkatastrophen, Hunger und Elend; der Gedanke, daß Gott sie liebt, erscheint mir als absurd.

Aber ich gehöre auch selbst zu dieser traditionell verstandenen, nicht liebbaren Schöpfung . . .

Ist es mir wichtig, von Gott geliebt zu werden, darf ich ihn somit nicht als den Gott der Schöpfung, sondern muß ihn als meinen ganz persönlichen oder subjektiven Gott und „Schöpfer“ verstehen: Er liebt unmittelbar mich – und hofft auf meine Gegenliebe.

1.3. Igel und Fuchs

Von Archilolos ist das Fragment „Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel kennt eine große Sache“ überliefert.

Ich behaupte keineswegs, ein Igel zu sein, aber es ist letztlich eine einzige Idee, die mich seit fast 50 Jahren umtreibt. Provoziert wurde sie nicht zuletzt durch meine berufliche Arbeit an Grundfragen der Quantentheorie, und das vor Ihnen liegende Buch stellt im Kern den Status quo dar, den die (nicht-physikalische) Entfaltung dieser Idee bisher angenommen hat.

 

Wer sich intensiv mit der Quantentheorie beschäftigt, wird meines Erachtens vor die Alternative gestellt, ob er weiterhin an die Existenz einer objektiven Welt glaubt oder die millionenfachen phantastischen experimentellen Bestätigungen der Quantentheorie ernstnimmt. Beides zusammen scheint nicht möglich zu sein; entweder objektive Welt oder Quantentheorie.

(Wenn Sie sich selbst ein Bild davon machen wollen, ob ich das richtig sehe, wären vielleicht die Bücher von Anton Zeilinger sehr empfehlenswert. Insbesondere „Einsteins Spuk“ und „Einsteins Schleier“ schrieb er für Laien. Zeilinger bekam 2022 immerhin den Physik-Nobelpreis; ich empfehle Ihnen also keinen Autor, den Sie als „Bruder im Geiste“, der mit mir gemeinsam „spinnt“, leicht abtun können.)

 

Albert Einstein hatte sich bekanntlich dafür entschieden, den traditionellen Glauben an die objektive Realität beizubehalten, und leider bis zu seinem Lebensende versucht, Fehler oder widersprüchliche bzw. absurde Konsequenzen der Quantentheorie aufzuspüren.

Ich habe mich als Student auf die Gegenseite geschlagen und gedacht:

Unsere Physik ist die grundlegende Naturwissenschaft, die in der Moderne mit dem Ziel antrat, die objektive Realität der Welt zu erkennen. Wenn selbst sie zu dem Ergebnis kommt, daß keinerlei Objektivität existiert, dann gibt es in den anderen wissenschaftlichen Disziplinen oder sonstigen Sphären unseres Lebens erst recht keine.

(Ich wechsle weiterhin mitunter zur ersten Person Singular, ohne nochmals darauf hinzuweisen. Darin kommt keine Egomanie zum Ausdruck, sondern mein Bemühen, mich möglichst verständlich und eindeutig auszudrücken. Das gelingt mitunter in der Ich-Form besser, und Sie müßten den Satz lediglich selbst wörtlich aussprechen.)

 

Wieso sind sich die meisten von uns mit Einstein der objektiven Welt so sicher?

Weil wir überzeugt sind, problemlos über das Außerhalb unserer Psyche – wo sich die objektive Welt ja befinden müßte – nachdenken und sprechen zu können.

 

Damit sind wir bereits bei meiner Grundidee; sie ist nicht sonderlich schlau, pfiffig, spitzfindig oder ausgefallen, sondern ich empfinde sie eher als selbstverständlich:

„Außerhalb meiner Psyche“ bedeutet, daß mir dieser Bereich nicht zugänglich oder gegeben ist.

Dann vermag ich jedoch absolut nicht(s) davon zu wissen und kann folglich auch keinen einzigen sinnvollen Gedanken darüber denken oder Satz dazu sagen. Sämtliche diesbezüglichen Annahmen sind willkürlich oder beliebig – weil nicht kontrollierbar –, könnten ebenso völlig widerspruchsfrei durch ihr Gegenteil ersetzt werden und entsprechen somit einem bloßen, sinnleeren Blablabla.

 

Positiv formuliert lautet meine Grundidee also:

Alles sinnvoll Gedachte, Vorgestellte, Erlebte, Geglaubte oder Gesagte gehört notwendigerweise der eigenen Psyche an. Wer von ihrem Außerhalb zu handeln meint, gibt lediglich seine diesbezüglichen Überzeugungen wieder, und auch die müssen sich natürlich innerhalb der Psyche befinden.

„Außen ist die Materie“ stellt also lediglich die – innerhalb seiner Psyche befindliche – Vorstellung oder Überzeugung eines naiven Physik-Gläubigen dar, daß sich außerhalb von ihr die Materie befinde; wissen kann das natürlich niemand – selbst wenn es so wäre.

Moritz behauptet dagegen, daß außerhalb seiner Psyche der grasgrüne Steinbeißer lebe. Natürlich ist das Quatsch; aber daß sich dort die Materie befinde, ist keinen Deut intelligenter, aufgeklärter oder vernünftiger, denn wenn wir Moritz‘ grasgrünen Steinbeißer durch die Materie der Physiker ersetzen, ändert sich für uns absolut nichts – außer diesem Glaubensbekenntnis innerhalb der Psyche.

Was bringt es uns, danach zu fragen, was sich in einer prinzipiell unzugänglichen Sphäre befindet?

 

Natürlich kann sich der Inhalt unserer Psyche vergrößern; dann sprechen wir von einer umfangreicheren Psyche. Aber die Annahme, daß sich dieser Zuwachs zuvor Außerhalb von ihr befunden haben muß,

– gehört selbst zum prinzipiell Unwißbaren und

– ist auch keineswegs logisch zwingend.

AD: „Doch; das ist sie!

Wenn ich jetzt etwas weiß, was mir gestern noch unbekannt war, muß es notwendigerweise in den letzten 24 Stunden vom Außen meiner Psyche in sie hineingekommen sein.“ 

 

Nein; das kann schwerlich stimmen.

Beethoven hatte irgendwann die großartige Intuition, die zu seiner „Ode an die Freude“ führte. Ist sie in den Tagen zuvor von außen in seine Psyche eingedrungen? Wenn „ja“ – was bedeutet dann „außen“? Wo befand sich die Ode zuvor? Im Musik-Himmel?

Newton griff eines Tages den Gedanken auf, Massen würden sich gegenseitig anziehen. Das war und bleibt eine geniale Idee, auch wenn sich heute praktisch alle Physiker einig sind, daß es keine Gravitationskraft gibt, so daß Newton seinen Gedanken unmöglich der Natur abgelauscht haben kann – wie  er wohl selbst glaubte.

Die Massenanziehung existierte nicht bereits außen, so daß Newton sie erkennen, das heißt, irgendwie von außen nach innen transportieren konnte. Er hat diese Idee vielmehr in seiner Psyche erzeugt, generiert oder konstruiert.

Wie anders hätten auch die Imaginationen der Märchenfiguren, Romanhelden, Götter oder Unterwelten entstehen sollen? Sie wurden alle in geeigneten Psychen geboren. Psychen sind kreativ; sie haben es nicht nötig, ihre Produkte einem angeblichen Außen abzuschauen.

 

Das wäre meine erste Entgegnung auf Ihren Einwand, neues Wissen könne nur durch den Übergang von außen nach innen entstehen; eine zweite dürfte jedoch ebenso wichtig sein: 

Sie stellen sich die Psyche wahrscheinlich ganz traditionell als in Ihrem Körper befindlich vor. Er ist außen oder im Raum; deswegen können wir ihn zum Beispiel sehen; die zugehörige Psyche jedoch nicht, weil sie per definitionem innen bzw. nicht im Raum ist.

Aber diese Überlegung ist falsch, denn nur von räumlichen oder ausgedehnten Dingen können wir sinnvoll sagen, sie befänden sich innen; der Kern in der Kirsche, der Käfer in der Schachtel oder das Gehirn im Kopf. Beide Bestandteile eines solchen Ineinanders müssen räumlich sein; das Innere ist natürlich kleiner – aber nicht unräumlich.

Die Psyche befindet sich dagegen nicht im Raum; dann kann sie aber auch nicht innen und der Körper nicht relativ dazu außen sein; ein „unräumliches Innen im räumlichen Außen“ ist widersprüchlich.

 

Obwohl mir das alles als sehr zwingend erscheint, sehen es viele Menschen offensichtlich ganz anders. Sie

– haben sehr bestimmte Vorstellungen vom Außerhalb ihrer Psyche,

– sind von deren Richtigkeit felsenfest überzeugt und

– möglicherweise sogar bereit, Andersdenkende für deren widersprechende Annahmen zu töten; Inquisition, real existierender Sozialismus, Islamischer Staat . . . 

Die abstrusesten Bekenntnisse können also, wenn sie fanatisch als „wahr“ geglaubt werden, sowohl bei den „Gläubigen“ als auch bei den „Ungläubigen“ (über) das Leben entscheiden. Viele Menschen sind leider überzeugt, das eine richtige Blablaba von jedem falschen unterscheiden zu können. Hierbei ist es natürlich völlig belanglos, ob es sich dabei um religiöse, wissenschaftliche, politische, esoterische, verschwörungstheoretische oder sonstige Willkürlichkeiten handelt.

 

Das muß man sich einmal ernsthaft durch den Kopf gehen lassen – 300 Jahre nach der „Aufklärung“:

Eine willkürlich-leere Annahme, die bzw. deren Richtigkeit durch absolut nichts zu rechtfertigen ist und völlig widerspruchsfrei durch ihr glattes Gegenteil ersetzt werden könnte, kann weitreichende bis verheerende Folgen nach sich ziehen, wenn sie fanatisch geglaubt wird!

Was wir vom Außerhalb unserer Psyche denken, kann zwar keinen nachweisbaren Anspruch auf seine Richtigkeit erheben, sich aber nichtsdestotrotz ganz massiv auf ihr Innerhalb, das heißt, auf unser Leben auswirken.

Wer annimmt, außerhalb seiner Psyche befinde sich ein Schwarzes Loch, daß uns am 29. Februar 2028 alle verschlingen wird, lebt höchstwahrscheinlich anders als „Ungläubige“.

 

AD: „Natürlich; aus tiefster Überzeugung tut er das – und ihr zufolge auch vollkommen zu Recht. Damit habe ich auch keinerlei Schwierigkeiten, denn das ist unser aller Situation, in der wir uns ständig befinden. Problematisch wird dieses selbstverständliche Verhalten aber doch erst, wenn der Gläubige seine subjektive Überzeugung für allgemeinverbindlich erklärt, so daß ich in seinen Augen dumm, böse, ungläubig oder stur sein muß, wenn ich ihm nicht nachfolge.  

Diese Schwierigkeit lösen Sie mit einem Handstreich, indem jegliches Außerhalb der Psyche und damit sämtliche Objektivität entfällt. Mit der fehlenden Natur würden unter anderem auch gleich noch unsere ökologischen Probleme hinfällig. Das klingt genial, setzt aber entweder bei mir den Glauben an Zauberei oder bei Ihnen einen Denkfehler voraus, denn daß alles so einfach gehen soll, glauben Sie ja wahrscheinlich selbst nicht.“

 

Ich nehme den Denkfehler als Lösungsvorschlag, suche ihn jedoch nicht bei mir, sondern bei der Tradition, weil sie unser ökologisches Fehlverhalten fälschlicherweise als ein Vergehen an der Natur interpretiert. Daß letztere postmodern entfällt, bedeutet dann nicht, daß es kein Fehlverhalten gibt, sondern daß die Tradition dieses als ein Versagen gegenüber der inexistenten Natur mißverstanden hat

Meines Erachtens handeln wir nicht an der Natur, Realität oder Welt sträflich, sondern an den Natur-, Realitäts bzw. Welt-Erfahrungen anderer, insbesondere zukünftiger Subjekte. Da es andere sind, tut es uns letztlich nicht weh, so daß auch die offensichtlichsten Erkenntnisse sowie besten Einsichten nichts nützen.  

 

AD: „Einverstanden; aber ich habe noch eine zweite kritische Anfrage:

Solange wir ernstlich miteinander diskutieren, treffen Argumente – Konsequenzen, Begründungen oder Widerlegungen – aufeinander. Hierfür kann es keine Rolle spielen, ob im Außerhalb angeblich eine objektive Wirklichkeit existiert oder nicht, denn argumentativ erreichen wir sie ja niemals.

Tangiert diese Welt unsere Gespräche dann überhaupt? Wie soll die willkürliche Antwort auf eine prinzipiell unentscheidbare Frage jemals in einem vernünftigen Diskurs virulent werden können?“

Das ist eine berechtigte Frage, denn in vernünftigen Diskursen ist das in der Tat unmöglich. Aber diese enden ganz schnell, wenn (auch nur) ein Teilnehmer sich auf eine objektive Wirklichkeit beruft. Denn seine leeren Worte ermöglichen ihm das Totschlag-Argument den Totschlag-Satz „So ist es – basta!“, der jedes fruchtbare Gespräch zum Erliegen bringt.

Allein die Tatsache, daß der Knalleffekt dieses Satzes völlig unabhängig davon ist, welche Art von Wirklichkeit als objektiv behauptet wird, müßte uns alle überzeugen, daß es sich bei ihm nicht um ein Argument handeln kann.

 

Daß meine an Holzschnitt- oder eher noch Kettensägekunst erinnernde Darstellungsweise sinnvoll sein kann, versucht Heinzpeter Hempelmann – in einem anderen Zusammenhang, aber ganz in meinem Sinne – zu verdeutlichen:

„Ich rechne damit, daß dieser Text auf ebenso energischen, teilweise empörten Widerspruch stoßen wird wie auf dankbare Zustimmung. Möglicher Hauptangriffspunkt ist die notwendige flächige, weit ausgreifende und nicht um tausend Differenzierungen bemühte Darstellung, die auch als gewalttätig, unfair und ungerecht empfunden werden kann.

Der moderne Diskurs ist gekennzeichnet durch das Bemühen um Differenzierungen. So notwendig diese an ihrem Ort sind, so sehr kann der Diskurs eine im Endeffekt lähmende Wirkung entfalten. Schlicht formuliert: Man sieht vor lauter Bäumen, Ästen und Zweigen den Wald nicht mehr.

Es fehlt zumeist das Gesamtbild, das letztlich handlungsleitend und zielgebend sein muß.

Mein Resultat ist ein Wucht-, aber kein Wut-Text; apodiktisch im Ton, ohne Ausreden und Schminke, sicherlich korrektur- und ergänzungsbedürftig, mindestens aber ein Versuch, verschiedene Gründe zu benennen, warum . . .“

. . . wir uns vom traditionellen Denken mit seiner objektiven Wirklichkeit verabschieden sollten.

 

Das tun auch die verschiedenen Spielarten des Radikalen Konstruktivismus. Mit ihnen hat unser Ansatz aber kaum etwas gemein, und es hilft vielleicht manchem Leser, von vornherein deutlich zu sehen, weshalb wir einen anderen – wenn auch noch nicht erkennbaren – Weg einschlagen werden.

Die einzige Übereinstimmung zwischen unserem Ansatz und dem Radikalen Konstruktivismus besteht im Verzicht auf die objektive Wirklichkeit. Aber daraus resultieren bei letzterem zwei Probleme, die der Radikale Konstruktivismus meines Erachtens nicht lösen kann.

 

Das erste betrifft die Stellung oder Rolle des Gehirns.

Wenn die gesamte Wirklichkeit nur eine Konstruktion darstellen würde, hätten wir keinen Konstrukteur, denn dieser kann nicht seiner eigenen Konstruktion angehören; das wäre widersprüchlich. 

Der Radikale Konstruktivismus „löst“ dieses Problem mit sehr viel unsauberem Gerede, indem er das Gehirn zum Konstrukteur erklärt. Als Rechtfertigung dient ihm hierbei zumeist die angebliche  „neurophilosophische Erkenntnis“, unser Ich sei das Gehirn.

Das ist natürlich ganz großer Humbug; die unbestreitbare Aktivität bestimmter Gehirnareale beim Sehen beispielsweise lehrt uns – so gut wie gar nichts über das Sehen, sondern lediglich –, daß es höchstwahrscheinlich nicht funktioniert, wenn die entsprechenden Regionen ausfallen.

Viele „Neurophilosophen“ kennen die Geistesgeschichte kaum, argumentieren treuherzig-naiv und legen zumeist nur Glaubenbekenntnisse ab, so daß ihre „schlechte Wissenschaft zu einer schlechten Religion“ (Guido Rappe) wird.

 

Abgesehen von der grundlegenden Frage, woher die Vertreter des Radikalen Konstruktivismus von dem prinzipiellen Unterschied zwischen dem Gehirn als Konstrukteur und der gesamten „restlichen“ Welt als dessen Konstruktion wissen (wollen), entstehen natürlich zahllose weitere Probleme.

Eines davon resultiert ganz simpel daraus, daß es zwar sehr viele Gehirne gibt, aber jeder von uns nur sein eigenes als Konstrukteur – für alles andere – benötigt. Das bedeutet beispielsweise, daß Ihr Konstrukteur den Konstruktionen meines Konstrukteurs angehören müßte und umgekehrt; ich bezweifle sehr stark, daß sich dies sauber denken läßt.

Der Radikale Konstruktivismus ist, mit anderen Worten, nicht radikal genug, weil er das eigene Gehirn ganz traditionell als Seiendes denkt und wohl auch denken muß, um einen Konstrukteur für alles andere, das heißt, für die subjektive Differenz „Welt minus Gehirn“ bei jedem Subjekt zu gewinnen.

 

Wir denken zum einen radikaler; bei uns spielt das Gehirn keine Sonderrolle, sondern stellt lediglich eine der ganz normalen Wissungen dar. Zumeist handelt es sich nur um eine Vorstellung; insbesondere beim Chirurgen kann das Gehirn jedoch auch eine Wahrnehmung sein.

Zum anderen distanzieren wir uns ganz massiv von der „Neurophilosophie“. Ich bin ein freies Selbst – oder könnte es zumindest sein –, und mein Gehirn ist lediglich eine Wissung, die von mir abhängt; ohne mich, mein Leben oder meine Psyche kein Gehirn.

 

Meine zweite Schwierigkeit mit dem Radikalen Konstruktivismus besteht darin, daß der Übergang von einer angeblichen objektiven Welt zu bloßen Konstruktionen den gewaltigen Unterschied zwischen Wahrnehmungen und Vorstellungen nicht einfach ignorieren kann. Vor der Wahrnehmung „Krokodil im Swimmingpool“ erschrecken wir – mit Recht –, während die entsprechende Vorstellung bestenfalls ein wohliges Gruseln hervorruft.

Im Radikalen Konstruktivismus habe ich – sehr interessiert, aber – leider vergebens nach einer befriedigenden Aufarbeitung dieses Problems gesucht:

Was unterscheidet die Krokodil-Wahrnehmung von der Krokodil-Vorstellung, wenn beide – und hierin stimmen wir mit dem Radikalen Konstruktivismus überein – konstruiert sind?

 

AD: „Sie hatten soeben gesagt ‚ohne Psyche kein Gehirn‘. Das war wohl ein Versprecher und sollte ganz normal ‚ohne Gehirn keine Psyche‘ heißen?“

Nein; mein Wechsel ist nicht nur beabsichtigt, sondern ganz fundamental für unseren Ansatz:

Wir ersetzen die Wirklichkeit; aus der objektiven Welt wird das subjektive Leben

Dann ist es jedoch nicht mehr möglich, dieses von einer angeblichen Welt her zu erklären; insbesondere können wir nicht unsere Psyche aus einem angeblich an sich seienden Gehirn ableiten. Vielmehr gehört sie zu unserem Leben, und ausnahmslos alle Wissungen müssen ihr angehören: Ohne Psyche kein Gehirn – und auch sonst nichts.

 

Damit sage ich nicht, daß Ihre Umkehrung „ohne Gehirn keine Psyche“ keine richtige Nuance enthält; wir müssen aber erst noch klären, worin diese besteht.

Ihre Formulierung

– entspricht dem traditionellen Denken und

– geht somit von der Welt als Wirklichkeit aus,

– benutzt ein bestimmtes Modell oder

– gehört einem speziellen Wirklichkeits-Bild an und

– erhebt den – traditionell üblichen – Anspruch, kein Modell, sondern „wahr“ zu sein.

 

Für uns stellt sich die Frage gar nicht, ob diese moderne Theorie, die vom Gehirn zur Psyche führt, richtig sein könnte, weil wir ihren Ausgangspunkt für unsinnig halten:

Wie kann man denn bei einer prinzipiell unzugänglichen objektiven Wirklichkeit beginnen, um daraus etwas abzuleiten?

 

AD: „Das ist eigentlich selbstverständlich; wollen wir uns etwas überlegen oder Konsequenzen ziehen, sollte der Ausgangspunkt möglichst gewiß sein. Somit können wir nur bei unseren Wissungen oder innerhalb der Psyche starten – und müssen auch immer darin bleiben, um nicht in ein bloßes blablabla zu verfallen.

Was Sie uns jetzt bezüglich des Gehirns erklären wollten, entspricht also weitgehendst Ihren obigen Ausführungen zu Gott:

– Ich verfüge über die Wissung A in meiner Psyche.

– Dadurch – aber auch nur dadurch – wird die Frage nach der Existenz von A im Außerhalb meiner Psyche überhaupt möglich.

– Ich kann dieses also nur mit Entitäten (Größen oder Dingen) bevölkern, die meinen Wissungen in der Psyche entsprechen; diese kommen stets früher.

– Außerhalb meiner Psyche sind also nur die Referenten oder Wovons der eigenen Wissungen möglich.

– Sie gelangen dorthin, indem ich meine Wissungen nach außen projiziere.

– Deswegen kann das Gehirn nur der Referent meiner Wissung namns „Gehirn“ und Gott nur der Referent meiner Wissung namns „Gott“ sein.“

 

Das war sehr schön; ich möchte nur noch darauf hinweisen, daß Ihr Sprechen vom Außerhalb der Psyche meiner obigen Grundidee in keiner Weise widerspricht:

    Wir können theoretisch jede unserer Wissungen nach außen projizieren. Das bedeutet doch nur, daß wir überzeugt sind oder unser Wirklichkeits-Bild verlangt, daß sich die entsprechenden Referenten Außerhalb unserer Psyche befinden. Es ist klar, wovon die Rede ist und läßt sich – im Rahmen unseres Wirklichkeits-Bilds – sogar begründen.

Genau das geschieht auch im traditionellen Denken – allerdings heimlich; das Projizieren wird bestritten und durch ein angebliches Abbilden der objektiven Wirklichkeit ersetzt. Allein dagegen wendet sich meine Grundidee, das heißt, gesellschaftlich gegen Unterdrückung, Manipuation und Lüge sowie privat gegen Denkfaulheit.

Daß sich die unterschiedlichsten subjektiven Projektionen als Abbilder einer objektiven Wirklichkeit darstellen lassen, ist doch nur möglich, wenn

– die Projektionen einer bestimmten Gruppe als die wahren Abbilder behauptet und

– alle davon abweichenden Projektionen als falsche Abbilder denunziert werden.

 

Wer behauptet abzubilden, muß dem, was er angeblich abbildet, natürlich bereits vor dem expliziten Abbilden seine Existenz oder Vorhandenheit zugestehen; traditionell gibt es Abzubildende oder Urbilder.

Das sind in unseren beiden Beispielen die Gehirne, die diesem Denken zufolge schon Jahrmillionen existieren und allmählich auch sich selbst erkennen, bzw. der eine wirkliche oder richtige Gott.

„Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht“ sagte Dietrich Bohoeffer und hatte damit 100%-ig Recht. Dieser Gott, den es gibt, wäre der angeblich wirkliche oder richtige. Den gibt es zwar nicht, aber die Tradition braucht ihn unbedingt, um ihre diesbezüglichen Wissungen als solche von Gott als ihren Referenten ausgeben zu können.  

1.4. Religiöser Hintergrund

Ich bin zufällig katholisch, aber das ist völlig belanglos für dieses Buch. Letzteres scheint mir dagegen sehr wichtig zu sein: Wir müssen verstehen, wieso der religiöse Glaube für das Philosophieren irrelevant zu sein hat.

Es gibt ebensowenig ein christliches oder gar katholisches Philosophieren wie ein islamisches, kapitalistisches oder nationalistisches: Wir haben nur die Alternative zwischen einem ergebnisoffenen Denken – dem Streben nach Wahrheitoder dem Vertreten einer Ideologie – dem angeblichen Besitz der Wahrheit. Jeder, der – völlig unabhängig von der Farbe – zu Beginn schon weiß, wohin sein „Denken“ führt bzw. was „wahr“ ist, versteht nicht, was es bedeutet zu denken, und ist Ideologe.

 

Mich interessiert demzufolge auch absolut nicht, wer irgendwas sagt, sondern lediglich, welche grundlegenden Antworten irgendwer vernünftig begründet. Würde die Relativitätstheorie von Adolf Hitler stammen, wäre sie keinen Deut weniger genial als die Einsteinsche.

Ich lese also keine Bücher katholischer Autoren, nur weil sie katholisch sind, sondern solche jeglicher couleur, sofern ich hoffen kann, daß sie mir helfen, selbst zu denken und damit meiner eigenen Wahrheit näher zu kommen. Das ist diejenige meines Lebens, und die kann natürlich in keinem Buch stehen; dort gibt es bestenfalls richtige oder hilfreiche Sätze.

Auch bei meinem eigenen Schreiben versuche ich stets, mir dessen bewußt zu sein. Weder will ich Ihnen etwas mitteilen, noch sollen Sie mir glauben; vielmehr möchte ich Sie anregen zum eigenen Fragen, Sich-Orientieren und Weiterdenken.

 

Hochkomplexe bzw. abstrakte Objekte – wie Liebe, Demokratie, Freiheit oder Recht – können wir als solche nicht erfahren; das ist nur möglich, wenn sie eine konkrete Gestalt annehmen, sich verleiblichen, ausdrücken oder darstellen.

Sage ich beispielsweise zu einem Menschen „Ich liebe Dich; das haben wir damit für ein und allemal geklärt“, und er erfährt dann diesbezüglich tatsächlich nichts mehr, war es gelogen. Eine „Liebe“, die sich nicht ausdrückt oder verleiblicht, ist keine Liebe; sie bedarf notwendigerweise irgendwelcher Darstellungsformen; Zärtlichkeit, Schutz, Einsatz, Verständnis, Verantwortungsgefühl, Hilfsbereitschaft, Sexualität, Geborgenheit usw.

Kein Ausdruck ist die Liebe, aber ohne Ausdruck ist auch keine Liebe.

 

Das können wir nahezu wörtlich auf den Glauben übertragen. Auch er kann nicht als solcher oder rein erfahren werden, sondern nur in seinen Ausdrucksformen bzw. durch diese. Sie können zum Beispiel in der Kunst oder Lebensführung bestehen, in Gebet, Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Verkündigung, gesellschaftlichem Engagement und Meditation, in Geschichten oder Theologie. Ein „Glaube“ ohne alle Verleiblichungen, ist kein Glaube; er ist auch nicht rein, sondern rein gar nichts.

Auf der einen Seite darf keine einzelne Darstellungsform mit dem Glauben identifiziert werden; Sex allein ist auch keine Liebe. Der Glaube kann also beispielsweise nicht mit dem Für-wahr-Halten irgendwelcher Geschichten gleichgesetzt werden – welcher auch immer –, obwohl er sich natürlich auch in ihnen ausdrücken kann; bei einem Kind beispielsweise in der Schöpfungs-, Weihnachts- oder Ostergeschichte. 

Auf der anderen Seite ist natürlich auch niemand gezwungen, seinen Glauben auf eine ganz bestimmte Art zu leben.

 

Wer dies jedoch in Form der Theologie tun möchte, muß sich notwendigerweise den Maßstäben unterordnen, die auch sonst mit Recht an eine Wissenschaft gestellt werden – andernfalls ist es keine Theo-Logie. Das bedeutet insbesondere, daß der Theologie sich möglichst exakt ausdrücken sowie logisch sauber denken sollte und in seiner Argumentation nicht auf Zitate als Beweise, Prämissen oder gar Letztbegründungen zurückgreifen kann.

„Heilige“ Schriften sind dabei nicht bessergestellt als profane, weil ihre angebliche Heiligkeit – vielleicht nicht für den Glauben, gewiß aber – theologisch ebenfalls auf dem Prüfstand steht. So wenig sich ein guter Physiker auf Werner Heisenberg oder Nils Bohr berufen wird, darf dies ein passabler Theologe mit Jesus oder Paulus tun – völlig abgesehen von allen damit verbundenen exegetischen, hermeneutischen und sprachlichen Problemen.

Im Zen-Buddhismus „sind die Heiligen Schriften nichts anderes als schmutzige Papierabfälle“ (Shizuteru Ueda), in denen zum Beispiel bezogen auf das Meditieren steht: „Wenn Du den Buddha siehst, töte ihn.“

 

Theologisch sind die Aussagen des Lehramts für mich ebenfalls nur Meinungen; einen Mehrwert würden auch sie erst durch eine originelle Sichtweise, ihre integrierende Kraft oder Fruchtbarkeit, saubere Begründung, Kreativität, Zeitgemäßheit und ähnliches erhalten.

Wenn Johannes Paul II beispielsweise höchst offiziell die Meinung vertritt, Frauen könnten nicht zu Priestern geweiht werden – „Basta!“ –, dann bereitet er vielleicht einigen gutgläubig-naiven Christen größere Probleme, aber nicht einer denkenden, das heißt, freien Theologie, denn der haben meines Erachtens sämtliche bloßen, das heißt, schlecht oder gar nicht argumentierenden Meinungen gleichgültig zu sein.

Um sie ernstnehmen zu können, müssen Stellungnahmen so begründet werden, daß ich ihre Rechtfertigung verstehen und dieser guten Gewissens zustimmen kann. Eine „Begründung“, die mir nicht einleuchtet, ist für mich keine Begründung, denn im Verstanden-Werden und Nachvollziehen-Können besteht der Sinn aller Erklärungen oder Rechtfertigungen – nicht im bloßen Beteuern ihrer angeblichen Richtigkeit oder gar Wahrheit.

Bleibt es bei einem solchen Beteuern, interessiert mich die Meinung nicht.

 

Wie anders wollen wir den Glauben von jeglichem Aberglauben unterscheiden?

AD: „Müssen wir das tun? Gott ist in seiner Schöpfung – als Heiliger Geist – gegenwärtig; und ich dachte immer, es sei seine Aufgabe, für den wahren Glauben zu sorgen.“

Vielleicht tut er es auch; aber es gibt das Gotteswort ausschließlich in dem und durch das Menschenwort, denn sonst würden wir absolut nichts davon verstehen.

Der Glaube läßt sich nicht mittels des Verstandes oder seiner Logik und nicht einmal aus der Vernunft herleiten, sondern verdankt sich nach christlichem Verständnis der Offenbarung als Selbstmitteilung Gottes. In dem Maße, wie sie durch das Wirken des Heiligen Geistes – im Menschenwort – bei uns ankommt, sprechen wir vom – eo ipso subjektiven –Glauben.

Er folgt zwar nicht aus dem Verstand oder der Vernunft, widerspricht ihnen aber auch nicht. Jeden „Glauben“, der letzteres tut, weist der Heilige Geist dadurch als Aberglauben aus.

 

Die Ergebnisse, zu denen die Theologen gelangen, sollten ihnen helfen, ihren Glauben besser zu verstehen. Das Verstehen kommt – sofern wir uns für die Theologie als Ausdrucksweise entscheiden – natürlich stets vor dem Glauben bzw. Nicht-Glauben, denn diese bestehen darin, verstandene – und damit insbsesondere auf ihre Widerspruchsfreiheit geprüfte – Inhalte anzunehmen und zu leben resp. abzulehnen und zu ignorieren. 

Was wir nicht verstanden haben, können wir theologisch weder glauben noch nicht-glauben; wir wissen doch gar nicht, worum es geht. Wer „glaubt“, ohne zu verstehen, glaubt nicht, sondern wiederholt lediglich leere Worte; entsprechend lehnt natürlich auch nur leere Worte ab, wer ohne zu verstehen „nicht-glaubt“.

Deswegen gibt es heute theologisch relativ selten nicht nur Gläubige, sondern auch Nicht-Gläubige; es wird wenig gedacht, aber viel geredet, geeifert und vor allem gefühlt. Der weltweite Aufschwung der Evangelikalen oder Pfingstkirchen bestätigt letzteres meines Erachtens.

Damit sage ich nichts gegen deren Gläubige, sondern lediglich wertfrei, daß ihre Ausdrucksform des Glaubens nicht die theologische ist – aber natürlich auch nicht sein muß.

 

AD: „Von meinem Bauchgefühl her mißfällt mir, daß das Verstehen so eindeutig vor dem Glauben kommen soll. Tertullians ‚Ich glaube, weil es absurd ist‘ erscheint auch mir als eine sehr schwache Argumentation; aber beispielsweise mit Anselm zu glauben um zu verstehen, dürfte ebenfalls wichtig sein.“

Gut, daß Sie anhand Ihrer Emotionen argumentieren; da kann ich problemlos mitgehen:

Meine Favorisierung des Verstehens bezieht sich ja nur auf die Theologie; hier halte ich sie jedoch für fundamental, weil die Wissenschaftlichkeit der letzteren daran gebunden ist. Aber außerhalb der Theologie gilt mit Sicherheit auch, daß der Glaube zum Verstehen führen kann.

Das entspricht dem Vertrauensvorschuß, von dem unter 1. bereits die Rede war und den wir dem Überbringer einer Information stets gewähren müssen, um uns überhaupt auf sein Projekt einlassen zu können. 

Diese Notwendigkeit ist aber nicht glaubensspezifisch; auch Liebe und Freundschaft, Bildung und Erziehung, Wirtschaftskontakte oder Urlaubsreisen gelingen nicht ohne einen Vertrauensvorschuß, der sich bestenfalls im Nachinein als berechtigt erweisen kann.

 

Nur wer selbst denkt, kann sich irren; das ist also eine Auszeichnung. Wer nicht denkt, irrt zwar nicht, besitzt aber auch keine Überzeugung – sondern höchstens eine „Autorität“, der er blind und kindisch folgt. Das Irren macht den Denkenden auch niemals zum Häretiker oder Ketzer, denn dazu wird man nicht durch Denken, sondern allein durch das Häretiker- bzw. Ketzer-Sein-Wollen.

AD: „Das kann nicht stimmen; wozu brauchten wir überhaupt Religionen, wenn sich jeder selbst überlegen könnte, was er glauben will?“   

 

Zunächst einmal erscheint es mir als selbstverständlich, nur allein entscheiden zu können, was ich glaube, und mir diesbezüglich von niemandem Vorschriften machen zu lassen; das gilt um so mehr, je existenzieller die jeweiligen Fragen sind. Nur eine tiefe Überzeugung, die wirklich Herzenssache ist, kann doch als religiöser Glaube ernstgenommen werden.

Ich nehme an, daß Sie so weit mitgehen können.

Dann wird aber auch deutlich, wie unsinnig die Aufforderung ist: „Jetzt sage ich Dir, welche Bekenntnisse Du aus tiefstem Herzen zu glauben hast.“

So geht es doch nicht; das, wofür ich brenne, muß aus mir selbst kommen, denn Glauben läßt sich ebensowenig anordnen wie Lieben, Glücklich-, Frei- oder Dankbar-Sein.

 

Traditionell denkende Christen würden Ihrem Einwand wahrscheinlich beipflichten und als „Argument“ vielleicht das Zitat „Der Glaube kommt vom Hören“ aus dem Römerbrief bemühen. 

Ich stimme Paulus 100%-ig zu und ergänze lediglich, daß es in unserem Leben sehr viel Verschiedenes zu hören gibt und wir deshalb bereits denken müssen, um vernünftig auswählen zu können, worauf wir hören wollen, das heißt, was wir möglicherweise glauben könnten.

 

Es wäre die eminent wichtige Aufgabe eines postmodernen Lehramts, durch sauberes Argumentieren – und nicht durch leeres Machtgehabe – auf eventuelle Denkfehler hinzuweisen, damit sie gegebenenfalls korrigiert werden können. Ein so verstandenes Lehramt wäre nicht nur kein unnötiger Stein des Anstoßes und damit kein Handicap der katholischen Kirche (mehr), sondern eine höchst willkommene, weil wirkliche Lebenshilfe für alle Menschen; und als eine solche verstehe ich den Glauben ganz allgemein:

Er ist meines Erachtens weder eine Theorie noch ein Ge- oder Verbotssystem, sondern Unterstützung und Ansporn, um die Fülle eines wahren freiheitlichen Lebens zu erreichen.

Ohne eine objektive Wirklichkeit kann niemand sagen, was im traditionellen Sinne wahr ist; von dieser (angemaßten) Aufgabe ist das Lehramt in der Postmoderne also entbunden.

Aber um Denkfehler zu erkennen, benötigen wir keine objektive Wirklichkeit; dafür genügen möglichst vorurteilsfreie Gespräche.  

 

AD: „Ich staune, wie Sie als Katholik das traditionelle Lehramt abkanzeln. Woraus resultiert Ihre diesbezügliche Sicherheit?“

Drei Punkte dürften in meiner Antwort besonders wichtig sein:

 

1. Ich glaube, daß Gott in seiner „Schöpfung“ anwesend ist; diese Präsenz wird „Heiliger Geist“ genannt.

Zum einen weht er dem Johannes-Evangelium zufolge, „wo er will“, und zum anderen bin ich überzeugt, daß Gott trotz seiner Selbstmitteilung oder Offenbarung ein Geheimnis bleibt. Dann ist es ebenso absurd wie widersprüchlich, den Heiligen Geist an das Lehramt zu binden. Das läßt sich meines Erachtens weder vor der Vernunft noch aus dem Glauben rechtfertigen.

Ich habe, anders formuliert, keinerlei Schwierigkeiten damit, die Kirche als Leib Christi zu verstehen. Da dieser aber unerkennbar ist und wir auch nicht wissen, worin er besteht, muß dann jedoch beides auch für die Kirche gelten. Wir können also weder sagen, Kardinal M. gehöre ihr an, noch daß der Religionskritiker N. nicht dazuzählt.

 

2. Ich halte es für unmöglich, Sinn, Bedeutungen, Inhalte, Werte, Ge- oder Verbote unverändert durch eine Geschichte hindurch tragen oder bewahren zu wollen, in der sich alles andere verändert.

Meine Begründung ist denkbar einfach:

Die Wissungen eines Subjekts bilden eine integrale Einheit; wir hatten sie als Wirklichkeits-Bild eingeführt. Darin ist jede Wissung mit allen anderen verbunden, so daß es keinen Teilbereich des Glaubens-Wissens geben kann, der konstant bleibt, während sich alles sonstige im Verlaufe der Geschichte andert.

Der traditionelle Versuch, die gewünschte Konstanz durch das Wiederholen der alten Worte zu garantieren, dürfte angesichts der Situation unserer Kirchen als gescheitert gelten. Wenn Jesus von Schafen oder Königen sprach, hat er kaum etwas gemeint, was unseren heutigen Assoziationen bei diesen Worten entspricht. 

 

3. Wir hätten uns den zweiten Punkt sogar ersparen können, denn

– weder ist der Glaube eine Lehre,

– noch geht es darum, das, was sich vor 2000 Jahren in Galiläa ereignete – insbesondere vielleicht die Worte, die Jesus gesprochen hat –, möglichst genau wiederzugeben. Auch das beste Wissen über den historischen Jesus führt nicht zum Glauben.

Letzterer bedeutet vielmehr, das eigene Leben im Licht der Möglichkeiten zu betrachten, die die Selbstoffenbarung Gottes uns zur Verfügung stellt; dadurch wird „das gleiche Leben ein ganz anderes“.

Das Glauben kommt, anschaulich gesprochen, nicht additiv zu meinen anderen Tätigkeiten – Essen, Arbeiten, Spielen, Leiden, Feiern, Denken – hinzu; jetzt glaube ich also auch noch. Vielmehr entspricht der Glaube einem anderen Vorzeichen (¤) vor der Klammer, die meine sonstigen Tätigkeiten zusammenfaßt:  ¤ (Essen, Arbeiten, Spielen, Leiden, Feiern, Denken, . . .)

 

Mit den nachfolgenden drei Zitaten von Hans-Joachim Höhn kann ich mich voll identifizieren:

„Wer Theologie studiert, muß lernen, daß Frömmigkeit nicht vor Leichtgläubigkeit schützt. Wer nur etwas bezeugt, ohne davon auch überzeugen zu können, hat ein Glaubwürdigkeitsdefizit. Den Glauben zu festigen, vermag keine Theologie, der die Frömmigkeit ihres Anstrichs wichtiger ist als ihre wissenschaftliche Redlichkeit.“

„Wie man durch das Medizinstudium nicht gesünder wird, sondern am Ende weiß, was Gesundheit und Krankheit sind – wie man durch ein Jurastudium nicht gerechter wird, sondern am Ende Recht und Unrecht zu unterscheiden weiß, so wird man durch ein Theologiestudium nicht gottesfürchtiger, sondern lernt zu unterscheiden, wer oder was es in Wahrheit nicht verdient, ‚Gott‘ genannt zu werden, und auf wen man sich stattdessen im Leben und Sterben verlassen sollte.“

„Die Theologie ist nicht dazu da, ihre Adressaten gläubiger zu machen. Sie hat vielmehr jenes Wissen über und vom christlichen Glauben zu vermitteln, das zugleich nachdenklich und hoffnungsvoll macht. Sie hat zu zeigen, daß man nicht an Gott glauben kann, ohne dabei auf neue Weise ins Nachdenken zu kommen, und daß man beim Nachdenken über erste und letzte Fragen mit guten Gründen auf den Gedanken kommen kann, dabei an Gott zu denken.“ 

 

Was Höhn nach meinem Dafürhalten damit meint, „an Gott zu denken“, können wir uns am Beispiel der Dreifaltigkeit Gottes gut verdeutlichen.

Ich bestreite sie in keiner Weise, sondern ergänze wiederum nur, was an dieser Stelle zumeist vergessen wird; nämlich, daß ein solcher Glaube unter anderem die Behauptung impliziert, Gott sei weder zwei- noch vierfaltig.

Das sind drei verschiedene Möglichkeiten, von denen nur die „mittlere“ stimmen soll.

Wem dies wichtig ist, der müßte also erklären können, was bei einem zwei- bzw. vierfaltigen Gott in unserer Psyche anders wäre. Wenn wir das nonchalant übergehen oder keine vernünftige Antwort auf diese Frage finden, ist die Aussage, Gott sei dreifaltig, gegenstandslos, weil sie sich dann nur auf das Außerhalb unserer Psyche bezieht – und da kann man alles sagen.

Gregory Bateson sprach diesbezüglich von „einem ‚Unterschied‘, der keinen Unterschied macht“. Können wir nicht angeben, zu welchem abweichenden Ergebnissen in unserer Psyche ein zwei- oder vierfaltiger Gott führen würde, macht der Glaube an den dreifaltigen keinen Unterschied, und wir reden nur, ohne etwas zu sagen.

 

Die philosophisch denkenden Theologen, denen ich am meisten zu verdanken habe, sind vielleicht Kurt Appel, Eugen Biser, Dietrich Bonhoeffer, John D. Caputo, Ingolf U. Dalferth, Georg Essen, Klaus Hemmerle, Hans-Joachim Höhn, Gregor Maria Hoff, Klaas Huizing, Hans Joas, Gordon D. Kaufman, Peter Knauer, Jörg Lauster, Meister Eckhart, Eduard Prenga, Willibald Sandler, Hartmut von Sass, Klaus von Stosch, Magnus Striet, Miroslav Volf und Jürgen Werbick.

Würden Sie mir die Pistole auf die Brust setzen „Nur einer!“, wäre dies wohl Hartmut von Sass mit seiner „Hermeneutischen Theologie“.

 

Auf die Frage, ob Menschen, denen mein Verständnis des Glaubens, zu komplex ist, auf „die liebe alte Art weiterglauben“ dürften, antworte ich mit Stefan Schütze:

„Sehr gerne; ich habe doch nicht die Absicht, jemandem seinen Glauben wegzunehmen“, mit dem er glücklich und in Frieden leben kann. „Das wäre furchtbar überheblich und absolutistisch. Nur erwarte ich von diesen Gläubigen, daß sie ebenfalls andere Einstellungen akzeptieren und auch ihre Glaubensweise nicht fanatisch, unhinterfragbar oder gar gewalttätig vertreten.“     

 

Ich schreibe dieses Buch nicht für die fraglos Glücklichen, um ihnen völlig unnötige Probleme einzureden, sondern für diejenigen, die Schwierigkeiten mit ihrem Glauben haben und nach intellektuell redlichen Antworten suchen.

Vielleicht ist es hoffnungslos naiv von mir anzunehmen, das gegenwärtige Verdunsten des christlichen Glaubens in Mitteleuropa hätte etwas mit der Form unserer Verkündigung zu tun. Noch gehe ich aber davon aus und suche folglich nach einer Sprache, die Außenstehende bei ihren Lebensproblemen  voller Spannung und Neugierde fragen lassen könnte:

„Welche konstruktiven Gedanken würden wohl gläubigen Christen in meiner Situation einfallen?

Uns fallen aber leider zumeist keine ein, so daß wir unseren Mitmenschen nichts mehr zu sagen haben, was sie als Lebenshilfe verstehen könnten. Deshalb fragt uns auch kaum noch jemand danach, und so werden natürlich – mit Recht – auch die Kirchen leer. 

 

Der Gott des Lebens muß Freiheit wollen, weil nur mit ihr ein erfülltes Leben möglich ist. Dann existieren jedoch notwendigerweise so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt, und wir sollten einander helfen, daß möglichst jeder von uns den seinigen findet.

AD: „Besteht hier nicht ein Widerspruch? Können Sie sich zum Christentum bekennen und gleichzeitig zugestehen, es gäbe so viele Wege zu Gott, wie Menschen existieren?“

Ich bin überzeugt, daß sich diese beiden Seiten ergänzen.

Christ-Sein ist eine intersubjektive Lebensform und zwar meines Erachtens eine solche, in der

der Sinn, das Ziel, Wozu oder Warum des Lebens – wie bereits ausgeführt – in dessen Fülle bzw. Tiefe gesucht und dabei

Jesus Christus als unüberbietbarer Fixpunkt betrachtet wird.

Innerhalb dieses vorgegebenen Rahmens – der natürlich auch problemlos überstiegen werden kann und keinem Gefängnis entspricht – bleibt unendlich viel Raum für die persönliche Lebensgestaltung als Christ.

 

Ich veranschauliche mir dieses Zusammenspiel von intersubjektiver Vorgabe und subjektiver Freiheit, Miroslav Volf folgend, an der musikalischen Improvisation; insbesondere etwa beim Jazz:

Jeder Musiker spielt zwar frei seine persönliche Musik, aber letztlich macht keiner hemmungslos, was er will, sondern die Einzelinstrumente fügen sich wie von selbst zu einer Harmonie.

Jeder spielt bzw. glaubt anders – vor dem gleichen Hintergrund oder im Bemühen um das gleiche Ziel, das wahre Leben im wahren.

1.5. Philosophischer Hintergrund

Mir liegt sehr daran, daß dieses Buch allen Lesern zugänglich ist, die meine Intention annähernd teilen und bereit sind, gegen jeden Strich zu denken. Deshalb setze ich keinerlei explizites Wissen der Philosophie voraus und mache einen möglichst großen Bogen um ihre Geschichte.

Gilles Deleuze schreibt ganz in meinem Sinne: „Ich gehöre zu einer Generation, einer der letzten Generationen, die man mehr oder weniger mit der Philosophiegeschichte umgebracht hat. Die Philosophiegeschichte übt in der Philosophie eine ganz offenkundig repressive Funktion aus.“

Das entspricht zudem meiner festen Überzeugung, daß es Philosophie als Lehrfach (wie Mathematik oder Ökonomie beispielsweise) ohnehin nicht gibt, sondern nur (eigenständiges) Philosophieren im Sinne von Selbst-Denken.

Gelegentliche Angaben von Namen setzen also kein anderweitig erworbenes Wissen voraus, sondern sollen auf eventuell bekannte hilfreiche Zusammenhänge oder Möglichkeiten zu einer gründlicheren Auseinandersetzung hinweisen bzw. auch einfach nur andeuten, daß wir beide nicht allein sind, wenn Sie inhaltlich mitgehen.

Bemerkungen der Form „wie man weiß . . .“, „es ist allgemein bekannt, daß . . .“ oder „. . . im Sinne von X. Y.“ sind nach meinen Erfahrungen ebenso leserunfreundlich wie mathematische Zusammenhänge. Derartige „Hinweise“ deuten einen Unterschied zwischen uns an, auf den ich gerne verzichten möchte.

 

„Jede philosophische Abhandlung muß in gewissem Sinne eine ‚Einführung in die Philosophie‘ sein, denn dadurch bewahrt sie sich vor der Gefahr, bloße Lehrmeinungen, die doch zumeist nur Leermeinungen sind, zu reproduzieren“ (Leo Dümpelmann und Rafael Hüntelmann). (Ich will Sie nicht auf den Arm nehmen; die beiden Autoren heißen wirklich so.)

Das versuche ich zu beherzigen und schreibe das Buch für Nachdenkliche oder Suchende; weder für Ignoranten noch für Alles- oder Besserwisser. Als sein Motto wäre auch dasjenige Michel Foucaults möglich: „Ich denke gern!“ Wer das von sich ebenfalls sagt, ist herzlich zum Dialog eingeladen.

Meine wichtigsten Gewährsleute bei den Philosophen sind Isolde Charim, Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Paul Feyerabend, Michel Foucault, Gotthard Günther, Michael Hampe, Michel Henry, François Jullien, Julia Kristeva, Bruno Latour, Emmanuel Levinas, Christoph Menke, Josef Mitterer, A. M. Klaus Müller, Friedrich Nietzsche, Kitarō Nishida, Keiji Nishitani, Corine Pelluchon, Charles Sanders Peirce, Georg Picht, Paul Ricœur, Heinrich Rombach, Richard Rorty, Franz Rosenzweig, Josef Simon, George Spencer-Brown, Georg Steiner, Gianni Vattimo, Beatrix Vogel, Carl Friedrich sowie Viktor von Weizsäcker und Ludwig Wittgenstein.

Müßte ich mich wieder auf einen einzigen Autor beschränken, wäre dies wohl Franz Rosenzweig mit seinem „Neuen Denken“ aus dem „Stern der Erlösung“.

 

Ich entschuldige mich nicht, daß sich unter all meinen „Kronzeugen“ mit Isolde Charim, Julia Kristeva, Corine Pelluchon sowie Beatrix Vogel nur vier Frauen befinden; es hat sich ganz einfach so ergeben. Hanna Arendt, Judith Butler oder Natalie Depraz beispielsweise sind für mich phantastische Denker, die ich auch sehr gerne lese, es aber eben nicht in meine Top-40 geschafft haben.

Ich gendere nie und tangiere dieses Thema auch nicht nochmals – weil wir meines Erachtens vor wesentlich gravierenderen Problemen stehen –, sondern versichere hiermit allen Frauen, keinerlei Schwierigkeiten mit ihrem Geschlecht zu haben; im Zweifelsfalle fragen Sie bitte meine Gattin.

 

Vor gut zehn Jahren habe ich mit dem Buch „Ursprüngliche Wirklichkeit“ die Hinführung zu einem etwas avantgardistischen, das traditionelle Denken sprengenden Ansatz vorgelegt, die insbesondere wissenschaftsgläubigen Lesern helfen sollte, Michel Henrys „Philosophie des Johannesevangeliums“ ernstnehmen zu können.

Die ersten 100 Seiten davon würde ich Ihnen heute noch guten Gewissens empfehlen, den Rest nicht mehr; an seine Stelle tritt das vorliegende Buch.

 

Das Philosophieren oder Theologisieren darf bei keinerlei unhinterfragbaren Zitaten beginnen, hatte ich oben geschrieben.

Das ist aber nur die eine Seite, von der ich auch nichts zurücknehme.

Auf der anderen Seite können wir jedoch nur hoffen, daß die Ergebnisse, die wir durch unser eigenes Nachdenken erzielen, einer möglichst großen Tradition entsprechen. Sie sollen diese freilich nicht einfach wiederholen – für bloßes Nachplappern ist kein Denken erforderlich –, sich jedoch als ihre zeitgemäße Interpretation verstehen lassen.

Denn wäre dies nicht der Fall und wir würden ohne alle Berührungspunkte etwas völlig Neues finden, blieben dafür wohl nur zwei Erklärungsvarianten:  

Theoretisch könnten wir Genies sein; praktisch liegt aber die Vermutung wesentlich näher, daß unsere in der Geschichte erstmaligen „Denkergebnisse“ nur Unsinn darstellen, der so absurd ist, daß kein Mensch vor uns jemals auf dergleichen kommen konnte

Ich nenne bereitwillig Namen, um mich nicht mit fremden Federn zu schmücken, „erhebe aber überhaupt nicht den Anspruch auf Neuheit; und darum gebe ich auch keine Quellen an, weil es mir gleichgültig ist, ob das, was ich gedacht habe, vor mir schon ein anderer gedacht hat“ (Wittgenstein). 

 

Damit läßt sich ein wichtiger Bogen zum Beginn des vorigen Kapitels schlagen:

Erst im Nachhinein ist feststellbar, in welcher Tradition wir philosophisch oder theologisch wirklich stehen, das heißt, welche wir – weiter – interpretieren. Und so kann ich auch als offizieller Katholik erkennen, daß mein Denken beispielsweise (zen-)buddhistischen, jüdischen oder atheistischen Ansätzen teilweise sehr nahesteht.

Bei letzteren denke ich freilich an einen „anderen, das heißt, durchdachten Atheismus“ (Gregor Maria Hoff), wie wir ihn etwa von Albert Camus, Gilles Deleuze, Martin Heidegger, François Jullien, Bruno Latour, Richard Rorty, Jean-Paul Sartre, Peter Sloterdijk, Martin Walser oder Slavoj Zizek kennen.

Aber das wird natürlich erst deutlich, indem wir selbst denken, und steht nicht auf unserer Taufurkunde, die zumeist vor allem eigenen Denken ausgestellt wird, dieses aber zum Glück nicht festlegt.

 

Daß wir inmitten eines fundamentalen Bewußtseinswandels leben, dürften wohl die Wenigsten von uns bestreiten; weder seine Protagonisten noch die Skeptiker. Ich hatte versprochen, daß die Philosophiegeschichte für unsere Überlegungen nicht relevant wird, aber wir sollten diese wenigstens in jene einordnen können:

Meines Erachtens geht das traditionelle Denken im Zuge des gegenwärtigen Bewußtseinswandels in das postmoderne über.

Ersteres unterteilen wir in das antike, mittelalterliche und moderne Denken, so daß sich auch vom Übergang des letzteren in das postmoderne Denken sprechen läßt.

Der spezielle Ansatz, den ich Ihnen hiermit anbiete, könnte sinnvoll als „metaphysischer Explikationismus“ bezeichnet werden und bildet natürlich nur eine – eben meine persönliche – Variante der postmodernen Philosophie. Ich betone das nicht immer wieder, denn andere postmoderne Ansätze – mit einer sehr breiten Palette – spielen praktisch keine Rolle.

 

Explikationismus bedeutet hierbei, wie sich noch ausführlich zeigen wird, daß unsere Wahrnehmungen – nicht von einer angeblichen objektiven Realität abgebildet, sondern – aus dem subjektiven Leben expliziert werden.

„Explikationismus“ allein würde als Kennzeichnung aber nicht genügen, weil wesentliche Teile von Hegels recht anderer Philosophie unter der Überschrift „Erkenntnistheoretischer Explikationismus“ kursieren.

Da die Ontologie eine Lehre von den Seienden der objektiven Realität darstellt und ich die Existenz der letzteren bestreite, kommt „ontologisch“ als ergänzendes Prädikat nicht infrage, so daß sich die gewählte Bezeichnung als „metaphysischer Explikationismus“ recht geradlinig ergab.

 

Metaphysik ist keine Physik der Hinterwelt, sondern der Versuch, die unbestreitbaren Grenzen des eigenen Denkens, so weit wie möglich auszudehnen, um – ohne hinterwäldlerisch zu werden – mehr als Physik betreiben zu können

„Philosophie der Orientierung“ hätte ebenfalls sehr gut gepaßt, aber den Namen nutzt (leider) bereits Werner Stegmaier für seinen eigenen, dem unsrigen teilweise recht nahestehenden Entwurf.

1.6. Zusammenfassung

In einem Lehrbuch werden die wichtigsten Punkte zusammenfassend wiederholt, damit die Studierenden sich das neue Wissen gut einprägen können.

Bei uns geht es jedoch nicht um das Lernen von Sachverhalten, sondern um ein Überarbeiten von Denkformen. Dann hat eine Zusammenfassung meines Erachtens eine völlig andere Aufgabe; nämlich die, ausgehend von dem neu erreichten Reflexionsniveau den bereits zurückgelegten – aber erst jetzt sichtbar gewordenen – Weg verständlich zu machen:

Wo befinden wir uns? Weshalb sind wir überhaupt hierher gegangen? Was erweist sich in dieser umfassenderen Sichtweise als falsch an dem alten Weg? Welche überraschenden Möglichkeiten eröffnet der neue?

 

Wir haben das (charakteristische) philosophische Denken in Antike, Mittelalter sowie Moderne als traditiones zusammengafaßt und dadurch charakterisiert, daß sein Fundament in einer objektiven Wirklichkeit besteht, die sich aus der immanenten Welt und gegebenenfalls einer transzendenten Komponente – zumeist „Gott“ genannt – zusammensetzt.

Das Pendant zur Tradition bildet die Postmoderne, und ich verstehe den gegenwärtigen, wohl weitgehendst unbestrittenen Bewußtseinswandel als Übergang zwischen den beiden Denkformen. Er scheint mir dringend notwendig zu sein, um unsere politischen, wirtschaftlichen, weltanschaulichen, ökologischen . . . Probleme zu lösen und insbesondere die divergierenden Kräfte der Gesllschaft zu verringern. 

Der Wechsel zur Postmoderne besteht für mich im Kern darin, daß die immanente Wirklichkeit geandert wird; sie wechselt von der objektiven Welt zum subjektiven Leben.

 

Weshalb ich diese Korrektur für zwingend halte, sehen wir leicht ein:

Die objektive Wirklichkeit befindet sich außerhalb meiner Psyche und ist mir somit nicht zugänglich. Wir müßten uns also zunächst einmal sehr wundern, wie die Tradition das Fundament ihres Denkens dort überhaupt suchen – und angeblich sogar finden – konnte. Letztlich bedeutet das doch, im folgenden Stil zu argumentieren:

„Wir können A nicht wissen, weil es sich außerhalb unserer Psyche befindet. Aber aus A folgt logisch sauber und nach allen Regeln der Vernunft, daß B gelten muß – also gilt B.“

Wer nach Klarheit verlangt, verzichtet also freiwilllig auf Wahrheit, denn er möchte sich dem intersubjektiven Glaubenbekenntnis „der (einzigen) klar denkenden“ Gruppe unterordnen.

 

Ich kann nur eine einzige Alternative zu dieser Denkform sehen:

Wir müssen bei dem beginnen, was wir tatsächlich wissen. Das sind unsere Wissungen; aber dieser Begriff ist mißverständlich:

Zum einen können sie nur subjektiv sein; jeder von uns besitzt seine eigenen Wissungen. Natürlich können die Ihrigen mit meinen übereinstimmen, aber wie sollen wir das feststellen, da uns die Psychen anderer Subjekte nicht zugänglich sind?   

Wir behaupten also nicht, daß sämtliche Wissungen rein subjektiv sein müßten, sondern geben lediglich zu bedenken, daß eine mögliche partielle Intersubjektivität zumindest sehr schwierig nachweisbar ist. 

Zum anderen sind sämtliche Wissungen rein in dem Sinne, daß sie sich auf nichts beziehen oder keinerlei Anspruch auf die traditionelle Stimmigkeit erheben. Zum Beispiel wissen wir, daß Einhörner ein Horn an der Stirn und Nashörner auf der Nase tragen; ob es diese Tiere gibt oder nicht, ist dabei völlig irrelevant. 

Wir wissen doch auch daß der Osterhase die Eier und der Klapperstorch die Babys bringt. Wer die beiden Spezies vertauscht, weiß es nicht richtig; obwohl beides nicht im traditionellen Sinne wirklich stimmt.  

 

Mir erscheint es folglich als alternativlos, bei den eigenen Wissungen zu beginnen.

Sie lassen uns nach möglichen Referenten im Außerhalb der Psyche fragen. Da wir diesen Bereich nicht kontrollieren können, liegt es allein bei uns, welche Referenten wir als vorhanden betrachten und welche nicht. Die meisten Subjekte glauben heute – „glauben“ nicht nur religiös, sondern in einem weiteren Sinne verstanden – an eine durch uns selbst verursachte Erderwärmung, aber nicht (mehr) an den Teufel.

Die Frage, ob die beiden wirklich existieren, ist nicht nur belanglos, sondern absolut sinnleer, weil unverständlich: Was bedeutet eine „wirklich existierende Projektion“?

Es geht nicht darum, was „wirklich existiert“, sondern welche Konsequenzen sich meinerseits daraus ergeben, daß ich von bestimmten Wissungen überzeugt bin.

 

Ich halte diese, als meine Grundidee eingeführte Position für zwingend.

Falls das richtig ist, müßte die Tradition natürlich ebenfalls so denken – auch wenn sie das offiziell bestreitet und entrüstet behauptet, weder zu projizieren noch zu konstruieren. Die Tradition glaubt tatsächlich, wenn wir es bei der gutwilligen Interpretation belassen, eine uns allen objektiv vorgegebene immanente (und transzendente) Wirklichkeit abzubilden oder zu repräsentieren.

Das setzt natürlich deren Existenz bzw. Vorhandensein bereits vor dem Abbilden voraus; die Wirklichkeit fungiert als abbildbares Urbild. Das ist der Grund dafür, daß traditionell – nicht unserem Leben, sondern – der Welt (und gegebenenfalls Gott) die Priorität zukommt.

 

Damit bereitet uns dieses Denken gewaltige Probleme, die besonders an der Transzendenz deutlich werden:

Es könnte ihm zufolge – vollkommen unabhängig von uns und unserem Leben also – auch den einen wirklichen, wahren oder richtigen Gott an sich geben, so daß wir herausbekommen müssen,

– ob er überhaupt existiert und – wenn „ja“ –

– welcher aus der riesigen Angebotspalette es ist.   

 

Dieses Problem stellt sich postmodern zum Glück nicht mehr. Wir haben unter anderem vielleicht Goethe, Nietzsche und Capra gelesen, die Bibel, den Koran oder New Age. So hat sich im Verlaufe unseres Lebens ein Wirklichkeits-Bild entwickelt, dem höchstwahrscheinlich auch irgendein Gottes-Bild angehört.

Hier gibt es nichts zu entscheiden und ist keine Wahl erforderlich:

Wir können höchstens den Gott akzeptieren bzw. ablehnen, den wir wissen, das heißt, der möglicherweise – nämlich im Falle des Akzeptierens – als Referent hinter unserer Wissung namens „Gott“ steht – wie auch immer sie zustande gekommen sein mag.   

Natürlich besitzt dann jeder seinen eigenen Gott; das wußte bereits Martin Luther:

„Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott“ schrieb er in der Auslegung des ersten Gebots.

 

Damit drängt sich sehr massiv die Frage auf, warum die Tradition verleugnet, was sie tut und offensichtlich auch tun muß, denn ein anderer vernünftiger Weg scheint ausgeschlossen.

Vielleicht weil die Idee, daß alle Subjekte gleich und frei seien, erst in der Moderne geboren wurde. Die Postmoderne bietet einen gedanklichen Ansatz zu dieser Idee, indem sie aufzeigt, daß der Übergang vom Gehorsam zur Freiheit – innerhalb wie außerhab der Kirchen – nicht nur möglich, sondern sogar von der Vernunft geboten ist.

Was uns hindert, ihn zu vollziehen, könnte im Sinne Søren Kierkegaards unsere Angst vor der Freiheit sein. Sollte das stimmen, ist unsere gemeinsame Zukunft daran gebunden, diese unvermeidliche Angst zu überwinden.

 

Wenn Sie diese Zusammenfassung gut verstanden haben, befinden Sie sich dort, wo ich Sie nach dieser Einleitung gerne hätte; wir teilen die Grundidee.

Vollkommen unklar wird und darf Ihnen noch sein, woher unsere Wahrnehmungen ohne eine objektive Wirklichkeit kommen sollen. Wir werden dieses Problem auch nicht durch das Erfinden, Projizieren oder Konstruieren einer subjektiven Wirklichkeit lösen, sondern suchen nach einem Weg, auf dem unsere Wahrnehmungen unmittelbar – ohne alle Referenten – entstehen können.

Dieser Punkt verdient es, etwas systematischer dargestellt zu werden.

 

Wir unterteilen die Wissungen in Denkwerkzeuge sowie Anschauungen und diese beiden nochmals in Begriffe oder Propositionen bzw. Wahrnehmungen oder Vorstellungen

 

 

Wissungen
         
Denkwerkzeuge Anschauungen
         
Begriffe Propositionen Wahrnehmungen Vorstellungen
—————– —————– —————– ohne Referent mit Referent

Abbildung 1.6.

 

Propositionen sind neu für uns; sie stellen bestehende oder nicht-bestehende Sachverhalte dar. Dabei geht es tatsächlich um diese selbst und nicht um die Aussagen, in denen sie sprachlich formuliert werden können. „Der Eiffelturm steht in Paris“, „mein Buch enthält Fehler“ und „zwei mal drei ist sieben“ sind Propositionen – auch wenn keiner daran denkt oder darüber spricht.

Dadurch werden die Propositionen wie die Begriffe zu Denkwerkzeugen; erstere sind richtig bzw. falsch und die Begriffe nützlich resp. nutzlos – wie die Propositionen. 

 

Denkwerkzeuge besitzen natürlich kein Wovon, und bei uns – postmodern – gilt dies auch für die Wahrnehmungen, so daß allein die Vorstellungen als Träger von Referenten infrage kommen.

Letztere können nicht in Seienden bestehen und müssen folglich Projektionen sein.

 

Als zweites Hauptprojekt nach der Genese der Wahrnehmungen müssen wir uns selbst verstehen:

Zur objektiven Wirklichkeit gehören nicht zuletzt sämtliche Körper, so daß wir mir ihr auch die traditionellen Subjekte in ihrer Einheit aus Körper und Psyche canceln. Reine Psychen können wir ebenfalls nicht sein, weil dann jedes Aufwachen nach dem Schlaf eine neue Geburt wäre. 

Wer sind wir?

 

Etwas detaillierter soll es in den drei Hauptteilen folgendermaßen weitergehen:

Zunächst – „Das traditionelle Denken der Moderne“ – steht die Kritik des alten, aber außerhalb der Philosophie und Kunst immer noch quasi allgegenwärtigen Abbild-Modells im Vordergrund, das wir versuchen, mittels recht starker Argumente zu destruieren. Meines Erachtens ist das traditionelle „Denken“ der Moderne sowohl unverständlich als auch widersprüchlich und hat folglich wenig mit Denken zu tun.

Im zweiten Hauptteil – „Franz Rosenzweigs ‚Neues Denken'“ – fragen wir, womit eine Philosophie, die so stringent wie möglich vorgehen und auf alle unnötigen Voraussetzungen verzichten möchte, beginnen könnte. Die  Antwort wird uns bereits tief in unsere eigentliche Problematik hineinführen.

Das hierdurch entstandene Gerippe füllen wir dann mit dem Fleisch von Ludwig Wittgensteins „solipsistischer“ Sprachphilosophie, Jacques Derridas‘ différance-Denken sowie der Radikalen Lebensphänomenologie von Michel Henry.

Daran anschließend ist noch eine Einführung in die Theologie von Eduard Prenga und Klaus Hemmerle geplant, die sich bei dem philosophischen Fundament, das wir zuvor grundgelegt haben, geradezu anbietet.

2. Das (traditionelle) Denken der Moderne

Traditionell existiert eine objektive Wirklichkeit, an die sich unser Wissen immer besser oder weiter annähern soll. Ihre Bestandteile werden in der Philosophie als „Seiende“ bezeichnet. Vor diesem Wort muß man nicht erschrecken; es klingt sehr hochtrabend, ist aber völlig normal:

Was – beim Bäcker –  gebacken wird, bildet Gebäck; was – von Archäologen – gefunden wird, ist ein Fundstück; und was – für traditionelle Philosophen – ist, stellt ein Seiendes dar. Sie könnten also problemlos Tausende von Seienden nennen und müßten dazu lediglich die Dinge aufzählen, von deren Existenz oder Sein sie überzeugt sind; Gebäck, Fundstücke, Ihr Körper, Sonne, Mond und Sterne . . .

Sie gehen immer schon von Seienden aus und haben bisher lediglich das Wort kaum benutzt.

 

Die Tradition setzt wie selbstverständlich voraus, daß wir deren Wirklichkeit nicht nur wissen können, sondern sogar müssen, um unser Leben daran zu orientieren. Die Seienden sind also – vielleicht von ganz wenigen Ausnahmen wie Gott einmal abgesehen – wißbar oder bilden das potentiell Gewußte.

Zum aktual oder wirklich Gewußten werden die Seienden dadurch, daß wir sie abbilden oder re-präsentieren; das führt zu adäquten Abbildern in unserer Psyche; „inadäquate Abbilder“ sind keine Ab- sondern Trugbilder.

Damit habe ich mein Igel-Problem schon wieder formuliert:

Wie sollen wir die Ab- von den Trugbildern unterscheiden, wenn das Außerhalb unserer Psyche prinzipiell nicht zugänglich ist?

 

Natürlich existieren auch „Zwischenbereiche“, denn unsere Wahrnehmungen müssen sich nicht auf Seiende beziehen und dadurch entweder adäquat oder inadäqut sein. Wir haben beispielsweise Tinnitus und Schmerzen oder verspüren Fernweh. Die wenigsten Menschen werden auch Lichtreflexe, Regenbogen oder Schatten als Abbilder verstehen und hinter ihnen Seiende vermuten – aber behaupten läßt sich deren Existenz natürlich immer.

Weshalb soll gerade hinter einer Spiegelung kein Urbild stehen?

Diesen Gedanken nehmen wir in unserem Ansatz konstruktiv auf:

Die Existenz von Seienden hinter unseren Wahrnehmungen

läßt sich nicht nur stets behaupten – auch wenn sie nicht vorliegt –, sondern

ist immer lediglich behauptet – und liegt nie vor.

Es gibt keinerlei Seiende; bei Bäumen ebensowenig wie bei deren Schatten.

 

Das Ziel all unserer Überlegungen besteht darin, das eigene Leben konstruktiv und in einem möglichst weiten Horizont zu verstehen.  

Wir betrachten das Fehlen einer objektiven Wirklichkeit dabei nicht als erschwerende Nebenbedingung bzw. Einschränkung oder gar im Sinne eines „mal schauen, ob das überhaupt denkbar ist“. Vielmehr sehen wir darin eine kaum zu überschätzende Vergrößerung unserer Freiheit – im Vergleich zu deren traditionellem Umfang.

Sie endet nicht damit, daß wir die Existenz von irgendwelchen uns vorgegebenen Seienden – für die wir keine Verantwortung tragen – zur Kenntnis nehmen müssen.

 

Betrachten wir zunächst, was die (traditionelle) Moderne zu unserem Leben sagt.

Ihr zufolge setzt es sich aus dem Innen- sowie Außen-Leben zusammen.

Letzteres gehört der objektiven immanenten Wirklichkeit an und besteht in den Handlungen sowie Widerfahrnissen unseres Körpers in der Welt; wir graben den Garten um, hören Musik, sprechen miteinander, lesen oder schreiben Bücher.

Das Innen-Leben dagegen spielt nicht nur vollständig in der eigenen Psyche, sondern fällt exakt mit ihr zusammen. Seine detaillierte Beschreibung ist unmöglich, aber wir wissen alle aus unserer Selbsterfahrung als Lebend(ig)e, was mit Innen-Leben oder Psyche gemeint ist:

Wir hoffen und bangen, sind freudig oder traurig, wollen dieses und fürchten jenes, strengen uns an oder entspannen, denken oder lassen es sein. Für unsere Thematik ist es natürlich von besonderem Interesse, daß auch sämtliche – richtigen oder falschen – Wissungen der Psyche angehören, so daß sich zusammenfassend ergibt:

 

Leben in der (traditionellen) Moderne

– Außen-Leben

   Handlungen und Widerfahrnisse des eigenen Körpers in der (objektiven) Welt

– Innen-Leben oder Psyche

   ∋

   (richtige und falsche) Wissungen

 

Uns ist allen klar, daß es auch ein Denken in Bildern gibt; wir kennen es speziell vom Mythos her, aber auch im Alltag sowie bei vielen Berufen – insbesondere Handwerkern, Künstlern oder Architekten – ist es unabdingbar. Ich meine mit Wissen im allgemeinen jedoch stets das begrifflich konstruierte, wie es dem Logos entspricht.

Babys und Tiere zeigen uns einerseits, daß ein Leben auch ohne derartiges Wissen möglich ist. Daß ein Schaf furchtbar erschrickt, wenn es zum ersten Mal in seinem Leben einen Wolf sieht, deutet andererseits darauf hin, daß das bildliche Wissen weit über das begriffliche hinausgeht.  

Wir erfahren es bei sämtlichen Formen von „Geistesabwesenheit“ wie beispielsweise dem Meditieren und Dösen oder wenn wir einfach versonnen bzw. „ganz woanders sind“. Wir gehen gedankenversunken den täglichen Arbeitsweg und wundern uns plötzlich, schon angekommen zu sein. Ohne auf das Treppensteigen im eigenen Haus zu achten oder gar die Stufen zu zählen, „wissen unsere Füße“, wann es zu ebener Erde weitergeht.

 

Das (traditionelle) Denken der Moderne ist streng dualistisch; Descartes‘ Philosophie bildet lediglich ein charakteristisches Aushängeschild dafür:

Den objektiv-wirklichen Seienden im Außen stehen die subjektiv-unwirklichen Psychen oder Innen-Leben gegenüber. Nahezu alles darin ist, wenn wir hinreichend pingelig sind, rein subjektiv; lediglich die adäquaten Abbilder müssen – als solche der objektiven Seienden – natürlich intersubjektiv sein.

Die nachstehende Abbildung soll ihnen helfen, die traditionellen Grundbegriffe leichter zu überschauen. Das ist wichtig, denn sie bilden das verständliche, weil altbekannte Gerüst, anhand dessen wir im weiteren unsere eigene Begrifflichkeit entwickeln werden.

 

 

Traditioneller Dualismus
     
objektive Wirklichkeit Innen-Leben
Seiende oder Urbilder Psyche
– Immanenz oder Welt    
– Transzendenz oder Gott    
  Leibliches, Seelisches, Geistiges und Sinnliches
außen innen
wirklich unwirklich
objektiv subjektiv – rein subjektiv oder partiell intersubjektiv
     
Leben
(∋)
Außen-Leben Wissungen
{ Körperhandlungen + -widerfahrnisse } (∋)
  Wirklichkeits-Bild
     

Abbildung 2.

 

Wir stellen das traditionelle Denken dem postmodernen gegenüber und können den gegenwärtigen Bewußtseinswandel damit als Übergang sowohl von der Moderne als auch von der Tradition zur Postmoderne verstehen.

Letztere stellt einen schillernden Begriff mit 1000 verschiedenen Bedeutungen dar. Ich spreche aber dennoch zumeist einfach von der Postmoderne und beziehe mich damit, soweit nichts Gegenteiliges vermerkt ist, stets auf meine spezielle Interpretation, die wir als „Metaphysischen Explikationismus“ bezeichnet hatten.

Andere Varianten der Postmoderne spielen in unseren Überlegungen praktisch keine Rolle. Sie stehen zumeist dem Poststrukturalismus nahe, von dem mir Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Michel Foucault und Bruno  Latour die wichtigsten Autoren sind.  

 

Ein starkes Argument für unseren grund-legenden Wechsel kommt in der obigen Abbildung sehr schön zum Ausdruck:

Ich wehre mich gegen die traditionelle „Selbstverständlichkeit“, daß unser Innen-Leben als unwirklich betrachtet wird und der als wirklich verstandene physikalische Kosmos wichtiger sein soll. Für mich sind meine Wünsche, Sorgen, Hoffnungen oder Freuden wesentlich entscheidender als alle Schwarzen Löcher, Roten Riesen und Weißen Zwerge zusammen.    

Wir kehren dieses Verhältnis jedoch nicht nur um, sondern bestreiten die Existenz der gesamten objektiven Wirklichkeit vollkommen.

 

In der Moderne wird das traditionelle Denken nicht überwunden, aber sehr stark simplifiziert und damit zum naiven Realismus. Im vorliegenden zweiten Teil soll unter anderem deutlich werden, daß sich dieses „naiv“ sehr sachlich verstehen läßt und nicht beleidigend sein soll.

Die moderne Vereinfachung beginnt mit einer massiven Beschränkung:

 

Der immanente Teil der objektiven Wirklichkeit wird im Kern auf den physikalischen Kosmos reduziert. Er beinhaltet also sämtliche künstlichen und natürlichen – leblosen, pflanzlichen, tierischen und menschlichen – Körper; „Körper“ zwar im weitesten Sinne des Wortes, aber eben auch nur Körper.

Traditionell denkende Gläubige dehnen diese objektive Wirklichkeit auf die Transzendenz aus, indem sie Gott zwar zumeist als reinen Geist behaupten, sich ihn aber dennoch nach dem Modell der Körper vorstellen. Dieser Gott gehört dann zwar offiziell dem Jenseits an, aber es wird häufig kaum noch deutlich, worin letzteres sich eigentlich vom Diesseits unterscheidet:

Es gibt das eine wie das andere; der transzendente Gott existiert neben der immanenten Welt, weil beide sind, vorhanden sind oder vorkommen. Hermann Schmitz kritisierte des öfteren, die traditionell-moderne Philosophie orientiere sich an der Physik fester Körper und verstehe ihre Wirklichkeit im Sinne eines Lego-Baukastens.

 

Wir können diese Unsauberkeit des Bauklötzchen-Geistes jedoch völlig ignorieren, da für uns die gesamte objektive Wirklichkeit – immanente Welt oder physikalischer Kosmos plus transzendenter Gott – entfällt.

Das heißt nicht, daß ich die Transzendenz bestreite, sehr wohl aber die Immanenz und Transzendenz in ihrer traditionellen Denkform.

 

Eine Beschränkung stellt der Übergang zur objektiven Wirklichkeit der Moderne dar, weil diejenige von Antike und Mittelalter durchweg erheblich darüber hinausging. Dieses Surplus bestand in den rein geistigen Seienden, die uns am ehesten in Form der Platonischen Ideen zum Beispiel des Guten, der Gerechtigkeit oder Wahrheit bekannt sind.

Platon meinte damit:

Menschen können gerecht sein; Sokrates bildet diesbezüglich sein Paradebeispiel. Aber das ist nur möglich, weil es die – Idee der – Gerechtigkeit gibt, die in jedem gerechten Menschen Gestalt annimmt oder sich in ihm verleiblicht; Sokrates stellte für Platon die personifizierte Gerechtigkeit dar.

Unsere Sonne verfügt über Planeten; aber das ist nur möglich, weil es die – Idee des – Planeten gibt, die in Merkur, Venus, Erde, . . . Gestalt annimmt oder sich in ihnen verkörpert.

Platon war diesbezüglich so konsequent, daß er auch eine Idee des Schmutzes, Kots oder Bettgestells annahm; andernfalls könnte es diese Dinge in unserem Leben ja seines Erachtens gar nicht geben. 

Der moderne Kosmos benötigt die Idee des Planeten ebensowenig wie wir diejenige der Gerechtigkeit. Aus den Platonischen Ideen sind in der Moderne, wie noch deutlicher werden wird, unsere Begriffe geworden.

 

Mein entscheidender Grund, nicht die antik-mittelalterliche, sondern nur die moderne Wirklichkeit zu berücksichtigen, besteht darin, daß an der Existenz ihrer immanenten Seite – dem physikalischen Kosmos – heute außer Philosophen und Künstlern nur sehr wenige Menschen zweifeln. Im Gegenteil; die allermeisten von Ihnen werden meine Überzeugung, daß es keine immanente objektive Wirklichkeit geben soll, eher für absurd halten.

Damit, daß Gott nicht irgendwo vorhanden ist, haben die wenigsten unserer Zeitgenossen Schwierigkeiten; aber ich behaupte exakt das Gleiche zusätzlich vom gesamten Kosmos mit all seinen physikalischen Bestandteilen; auch wer allein daran glaubt, ist ein naiver Realist.

Es wäre also kontraproduktiv gewesen, hätte ich Ihnen die mögliche Existenz von solchen Seienden wie den Platonischen Ideen – die Sie bisher vielleicht gar nicht auf dem Schirm hatten – erst plausibel machen wollen, um dann zu sagen, daß wir sämtliche traditionellen Seienden ablehnen (müssen); die transzendenten und die immanent-physikalischen ebenso wie die immanent-geistigen.

 

Sie sehen im Moment Ihren Laptop. Ich zweifle weder dies noch Ihren gesunden Menschenverstand an, sondern lediglich die traditionelle Theorie, die Ihrem Sehen zugrunde liegt und letzteres als das Abbilden eines seienden oder urbildlichen Laptops interpretiert.

Allein um dessen Existenz geht es mir; Ihr unbestreitbares Sehen des Laptops ist kein Abbidung eines Ur-Laptops.

Der einzige Laptop, der tatsächlich irgendwie oder irgendwo vorkommt, befindet sich – als Wahrnehmung – in Ihrer Psyche. Pardon; das war nicht ganz richtig; natürlich – als Vorstellung – auch in der meinigen; aber es gibt – exakt formuliert – keinen einzigen Laptop außerhalb aller Psychen oder in der objektiven Wirklichkeit; das ist ausgeschlossen, weil letztere gar nicht existiert.

 

Natürlich ist dieses „in Ihrer“ bzw. „in meiner Psyche“ unsauber formuliert.

Die Psyche bildet kein Gefäß sondern besteht in unserem Innen-Leben. „Gefäß“ und „Inhalt“ fallen damit zusammen, so wie auch jede einzelne Zahl – als „Inhalt“ – der Menge aller Zahlen – als „Gefäß“ – angehört.

 

Wir Menschen bilden mit unserem Körper einen Bestandteil der objektiven Welt, besitzen eine Psyche und bestehen somit traditionell in der Einheit von Körper und Psyche. Dafür schreibe ich abkürzend { Körper + Psyche }; die geschwungenen Klammern bedeuten immer die Einheit dessen, was zwischen ihnen steht.

Ein „∈“ in runden Klammern – (∈) – meint, daß die betreffenden Elemente zu der jeweiligen Menge dazugehören können, aber nicht müssen.

 

Der Rest von Abbildung 2. sollte selbsterklärend sein; ein letztes Wort nur noch zum „Wirklichkeits-Bild“:

Die objektive Wirklichkeit besteht aus Seienden, die der Immanenz und möglicherweise auch der Transzendenz angehören. Durch adäquates Abbilden gelangen wir in der Moderne zu Wissungen von ihnen, die sich pauschal in prinzipielle und zufällige Wissungen einteilen lassen; bei Wittgenstein in „grammatische“ und „enzyklopädische“.

Wieviele Ringe der Saturn und Monde der Jupiter besitzen, ist recht belanglos und reicht vielleicht nicht für ein Welt- bzw. Wirklichkeits-Bild. Aber daß wir auf der Erdkugel leben, diese schon viel älter ist als unsereins und wir vielleicht überzeugt sind, von einem liebenden Gott gewollt zu sein, wären sicherlich Wissungen, die grammatisch sind und für ein Wirklichkeits-Bild taugen.     

 

2.1. Das Wirklichkeits-Bild als Orientierungsmöglichkeit

Wenn Menschen sich als unglücklich erleben, hängt das natürlich eng mit ihren persönlichen Lebensumständen zusammen. Aber es scheint mir unbestreitbar zu sein, daß auch das eigene Wirklichkeits-Bild uns massiv leiden lassen kann.

Wir haben in der Moderne darauf gesetzt, dem angeblich richtigen Welt-Bild immer näherzukommen, und uns vom Erreichen dieses Zieles letztendlich die Lösung all unserer Probleme versprochen.

Ich halte das nicht für falsch, sondern für unmöglich, weil es keine objektive Wirklichkeit gibt. Konnten Sie schon einmal Ihr Welt-Bild mit der Welt vergleichen? Wenn „ja“, wie haben Sie das gemacht? Wo befindet sich die objektive Welt? Wohin muß man schauen, um sie bzw. die Referenten und keine bloßen Wahrnehmungen zu sehen?

 

Die Wirklichkeits-Bilder haben meines Erachtens eine ganz andere Aufgabe; sie handeln nicht von einer angeblichen objektiven Wirklichkeit, sondern dienen als Richtschnur für das eigene Leben. Wir orientieren uns an ihnen und müssen dies tun, weil gar keine andere Möglichkeit besteht.

Wer ein „falsches“ Wirklichkeits-Bild besitzt, hat, mit anderen Worten, keine unrichtigen Vorstellungen von einer angeblichen Wirklichkeit, sondern könnte – durch ein besseres Wirklichkeits-Bild – wesentlich wahrer, tiefer oder erfüllter und in diesem Sinne „mehr“ leben.

 

Die Postmoderne stupst uns mit der Nase auf diese Funktion der Wirklichkeits-Bilder, die in der Moderne nahezu vollkommen übersehen wurde.

„Hurra; wir haben bald die Weltformel gefunden!“

Na und?

Michel Henry spricht von uns als den „verlorenen Menschen“, die sich durch „ihr einseitig objektivistisches Denken in eine Masse von geistig Behinderten verwandeln“ werden, denn „jeder reine Objektivismus ist eine Philosophie des Todes“.

„Masse von geistig Behinderten“ und „Philosophie des Todes“ klingen nicht sehr ermutigend. Aber wenn wir uns umschauen – bis in die Universitäten und Kirchen hinein –, wo heute noch

– konsequent und tiefgründig nachgedacht,

– das Erbe der Aufklärung hochgehalten,

– das Subjekt ernstgenommen und

– nach der Wirklichkeit seines Lebens gefragt wird,

werden wir vielleicht doch erschrecken und Henry stillschweigend-verzweifelt ein wenig Recht geben.

 

AD: „Daß würde aber doch bedeuten, daß unser Wirklichkeits-Bild mehr mit Philosophie, Theologie und Ethik zu tun hätte als mit Physik?“

Ja; wenn Sie beispielsweise glaubten, daß die Erdscheibe von einem Elefanten getragen wird, der auf einer Schildkröte steht, während diese im Ozean des Nichts schwimmt, würde ich mich gewiß sehr wundern und vielleicht nachfragen, wie Sie davon überzeugt sein können.

Daß diese Sichtweise „von gestern“ oder „unwissenschaftlich“ sein soll, ist dabei völlig belanglos; es geht nicht um Modetrends bzw. den Zeitgeist, sondern um das wahre Leben.

Als entscheidend kann somit immer nur die Frage gelten, ob und gegebenenfalls wie Ihr Wirklichkeits-Bild Ihnen bei der Suche nach dem wahren Leben hilft. „Was bringt Ihnen dieser Glaube?“ – verstanden freilich in einem existenziellen Sinne.

Wenn Sie mit Ihrem Tier-Wirklichkeits-Bild glücklich und zufrieden sind, ziehe ich den Hut und mich diskret zurück, weil ich Ihnen dann nichts Konstruktives zu sagen hätte. Niemand kann mehr, als seinen eigenen Weg zur Fülle des Lebens finden. Ich möchte denen helfen, die intellektuell redlich danach suchen, ihren Weg aber noch nicht gefunden haben.

 

Mein Protest – im gesamten Buch und speziell in diesem zweiten Teil – richtet sich folglich absolut nicht gegen irgendwelche Wirklichkeits-Bilder, sondern allein gegen die traditionelle Behauptung, mit ihnen die objektive Wirklichkeit erkannt zu haben, so daß alle anderen hinreichend schlauen Menschen zustimmen müßten.

Postmodern sollten diese ein bestimmtes Wirklichkeits-Bild jedoch nur dann und in dem Maße übernehmen, wie sie es als Hilfe für ihr eigenes Leben erkennen

Daß ich das Gleiche auch sagen würde, wenn wir Ihr Tier-Fundament durch den Kreationismus oder einen evolutiven Kosmos mit Urknalltheorie und Zufallsmutationen ersetzen, bedürfte wohl kaum noch der Erwähnung. Es gibt natürlich keine wahren, aber nicht einmal richtige Wirklichkeits-Bilder – sondern höchstens hilfreiche oder lebensdienliche.

 

Traditionell-modern sagt man:

Unsere Vorfahren haben beispielsweise eine Himmelsglocke, Götter und Dämonen wahrgenommen – als wahr (an)genommen –, die natürlich alle nicht existieren. Wir sind dagegen aufgeklärt und bilden die objektive Wirklichkeit so ab, wie sie wirklich ist.

Den zweiten Satz müßten wir erheblich korrigieren: 

Wir sind nicht aufgeklärt in dem Sinne, daß etwas grundsätzlich anders geworden wäre, sondern haben lediglich, wie dies immer geschieht, die Anschauungen unserer Vorfahren – vor allem mittels der exakten Wissenschaften – uminterpretiert, aufgehoben oder überformt und sind so zu unserem modernen Wirklichkeits-Bild gelangt. 

 

Aus den Göttern wurden vielleicht „Zufall und Notwendigkeit“ (Jacques Monod), aus der Himmelsglocke ein potentiell unendlicher Kosmos und aus den Dämonen psychische Störungen.

All das – Zufall und Notwendigkeit, einen unendlichen Kosmos oder psychische Störungen – gibt es jedoch objektiv-wirklich ebensowenig wie Götter, eine Himmelsglocke oder Dämonen.

Wir haben lediglich unsere Wissungen geandert, so wie das alle Kulturen stetig tun (müssen), um ein hinreichend gemeinsames Wirklichkeits-Bild aufrechterhalten zu können, das die Menschen der jeweiligen Deutegemeinschaft zusammenleben läßt. Wir merken doch gerade überdeutlich, wie die Gesellschaft dissoziiert, wenn zu viele verschiedene und einander widersprechende Wirklichkeits-Bilder nicht nur geglaubt, sondern sogar als „Wahrheit“ behauptet werden.

Ihr intersubjektiver Effekt, der als gesellschaftlicher Kitt dient, kommt zu dem wünschenswerten rein subjektiven Effekt des glückenden individuellen Lebens hinzu und ist ebenso wichtig wie dieser. 

 

Traditionell Denkende halten unseren Bewußtseinswandel – vom Abbilden der angeblich objektiven zum Glauben an eine subjektive Wirklichkeit – natürlich für unsinnig.

Gäbe es uns nicht, wäre die objektive Wirklichkeit ihrem Denken zufolge exakt die gleiche; jede leicht abschwächende Formulierung – „natürlich ohne unsere Körper“ – würde zwar theoretisch stimmen, grenzte aber angesichts der praktischen Unendlichkeit dieser objektiven Wirklichkeit an Größenwahn.

Anders herum bedeutet das freilich, daß wir im physikalischen Kosmos pure Nichtse sind; jede Ameise ist für ihren Haufen millionenfach wichtiger als wir für die traditionelle Welt.

 

Jacques Monod schrieb in seinm Bestseller „Zufall und Notwendigkeit“ ganz in diesem Sinne:

„Das Universum trug weder das Leben, noch trug die Biosphäre den Menschen in sich. Unsere ‚Losnummer‘ kam beim Glücksspiel heraus.

Der Mensch weiß endlich, daß er in der teilnahmslosen Unermeßlichkeit des Universums, aus dem er zufällig hervortrat, allein ist. Wir sind Zigeuner am Rande eines Universums, das taub ist für unsere Musik und unempfindlich für unsere Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.

Nicht nur sein Los, auch seine Pflicht steht nirgendwo geschrieben. Es ist an ihm, zwischen dem Reich und der Finsternis zu wählen.“

Monod ist nicht zynisch oder verletzend, sondern einfach nur geradlinig und bereit, konsequent traditionell-modern zu denken; lediglich seine diesbezügliche Ehrlichkeit unterscheidet ihn von den meisten der heutigen Traditionalisten.

 

Ich kann mir kaum vorstellen, wie sich die Fragen nach Sinn, Liebe, Wahrheit, Glück, Leben und Sterben in einem solchen Wirklichkeits-Bild befriedigend beantworten lassen sollen. Wir Menschen werden ihm zufolge einmal ausgestorben sein – und weder ist dann im Kosmos etwas Entscheidendes geschehen, noch wird uns jemand vermissen.

Robert Spaemann und Reinhard Löw hatten gewiß Recht damit, daß wir „Die Frage Wozu?“ subjektiv gar nicht ernst genug nehmen können. Aber müßte dies nicht auch für den Kosmos gelten? Wozu der Aufwand mit den unermeßlichen Dimensionen – wenn es dem christlichen Glauben zufolge doch allein um uns als die Krone der Schöpfung geht?

 

Schon Blaise Pascal konstatierte:

„Ich sehe diese entsetzlichen Weiten des Weltalls, die mich einschließen, und ich finde mich an einen Winkel dieses gewaltigen Raums gefesselt, ohne daß ich weiß, warum ich an diesen Ort und nicht vielmehr an einen anderen gestellt bin und warum diese kurze Frist, die mir zu leben gegeben ist, mir gerade zu diesem Zeitpunkt und nicht vielmehr zu einem anderen der ganzen Ewigkeit, die mir vorausgegangen ist, und der ganzen Ewigkeit, die auf mich folgt, bestimmt ist . . . 

Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume und Zeiten erschreckt mich.“

 

Veranschaulichen wir uns die gewaltige Differenz zwischen dem traditionellen und dem von uns angezielten postmodernen Denken noch an einer einfachen, aber sehr deutlichen Konsequenz:

Wenn ein Subjekt stirbt, gibt es traditionell einen lebenden Körper weniger im Kosmos, was darin freilich auch nicht die geringste Rolle spielt. Selbst wenn wir Menschen vollständig ausstürben, hätte dies für den Kosmos keine Konsequenzen, würde von ihm gar nicht bemerkt und noch weniger betrauert.

Bei unserem Ansatz können keine objektiven Körper verschwinden; dazu hätten sie ja erst einmal vorhanden sein müssen. Die Verstorbenen entziehen sich aber trotzdem; wo?

Natürlich allein dort, wo sie sich auch zuvor schon befunden haben, nämlich in den subjektiven Psychen derjenigen zurückbleibenden Subjekte, denen die Verstorbenen nahestehen.

Damit läßt sich möglicherweise auch eine positive Antwort auf die Frage nach dem Wozu, Warum oder Sinn unseres subjektiven Lebens finden. In einer objektiven Welt halte ich das für ausgeschlossen, weil der Sinn keine physikalische Kategorie darstellt; Henry muß nicht übertrieben haben.

 

AD: „Aber wäre es nicht auch denkbar, daß dieser ganze Aufwand mit seinen Wahnsinns-Ausdehnungen notwendig ist, damit wir überhaupt existieren können? Dann sind wir vielleicht doch sogar die ‚Krone der Schöpfung‘, weil Gott all das um unseretwegen schaffen ‚mußte‘?“

Natürlich darf man das nicht ausschließen; diese Idee allein genügt jedoch ebensowenig wie die eigene Überzeugung davon. Auch mit dem festesten Glauben an das Absurde diene ich niemanden; da wirke ich – mit Recht – lediglich als dickköpfig, stur oder beratungsresistent. Wer etwas Altes glaubt, ohne zeigen zu können, daß es auch heute noch sinnvoll gedacht werden kann, ist nicht treu, sondern „von gestern“.

Diese Denkbarkeit ist ein wesentliches Kriterium des Glaubens; Martin Seel konkretisierte sie  sehr schön:

Denkbar ist bekanntlich vieles,

konsistent denkbar schon erheblich weniger und  

plausibel denkbar– das heißt, in Einklang mit unserem übrigen Wissen von der Welt – gar nicht mehr so viel.“

 

Vielleicht darf ich Sie auch nochmals an das obige Zitat von Höhn erinnern:

„Wer Theologie studiert, muß lernen, daß Frömmigkeit nicht vor Leichtgläubigkeit schützt. Wer nur etwas bezeugt, ohne davon auch überzeugen zu können, hat ein Glaubwürdigkeitsdefizit. Den Glauben zu festigen, vermag keine Theologie, der die Frömmigkeit ihres Anstrichs wichtiger ist als ihre wissenschaftliche Redlichkeit.“

Ihr Gedanke kann also allein dann von Interesse sein, wenn eine entsprechende Denk-Möglichkeit besteht und auch deren Realisierung nicht völlig ausgeschlossen ist. Erst und allein dann läßt sich mit dieser Idee argumentieren; ein vernünftiger Glaube ist kein Wunschkonzert – obwohl er „nur“ Glaube ist.

 

Man nennt den Gedanken, daß alles so beschaffen sein müsse, wie es ist, damit – physikalisch formuliert – im Kosmos Beobachter auftreten können, für die es diesen Kosmos gibt, das („starke“ oder „schwache“) „anthropische Prinzip“. Auf einem enorm hohen Reflexionsniveau wurde es beispielsweise von John Archibald Wheeler, dem letzten großen Schüler Albert Einsteins, ausgearbeitet. Aber selbst sein Versuch – nachzuweisen, daß der traditionelle Kosmos für unsere Existenz erforderlich ist, – scheiterte.

Anton Friedrich Koch unternimmt gegenwärtig einen neuen Anlauf in diese Richtung; sein Ergebnis ist wohl noch offen, aber leider auch nicht besonders leicht nachvollzieh- oder gar überprüfbar.

2.2. Naiver Realismus der Moderne

In der Moderne, hatten wir bereits ausgeführt, werden die immanenten Seienden  weitestgehend zu den Bausteinen der Physik, so daß die objektive Welt letztlich in den Kosmos der Naturwissenschaften übergeht.

Das ist aber nur die eine Veränderung; eine zweite, ebenso fundamentale besteht im Wechsel der Art und Weise, wie oder woher wir von den immanenten Seienden wissen können.

In Antike und Mittelalter war dies ein kompliziertes theoretisches Problem, über das sich die Philosophen und Theologen mit Recht den Kopf zerbrochen haben, das aber die meisten Menschen natürlich kaum interessierte und von ihnen weder gesehen noch verstanden wurde.

Die Moderne schließt sich weitgehendst dieser Mehrheit an und simplifiziert das traditionelle Erkenntnisproblem entsetzlich:

„Dort ist die – an sich – seiende objektiv-reale Sonne; schau einfach hin, dann siehst Du sie.“

Dieser Satz klingt  wie selbst-, ist aber absolut unverständlich und voller Widersprüche.

 

Das Ergebnis der beiden soeben angedeuteten Veränderungen innerhalb des traditionellen Denkens fassen wir als Naiven Realismus zusammen:

– Die immanenten Seienden nehmen die Form physikalischer Bausteine an, das heißt, sie bestehen in Körpern (oder Strahlungen) aller Art sowie deren mikroskopischen Bestandteilen.

– Durch (adäquates) Abbilden erlangen wir Wissen von diesen Seienden.

Ich wiederhole nochmals:

Der Naive Realismus darf keinesfalls auf die gesamte Tradition übertragen werden; Antike und Mittelalter waren nicht naiv-realistisch – nur die Moderne ist es zum übergroßen Teil. Aber das traditionelle Denken mit seinem Glauben an eine objektive Wirklichkeit umgreift alle drei Perioden, so daß sein Ende mit dem der Moderne zusammenfällt.

Damit läßt sich unsere Gegenwart als Übergang nicht nur von der Tradition, sondern auch vom Naiven Realismus zur Postmoderne verstehen. Das ist ein Paradigmenwechsel sowohl im Alltag als auch in Philosophie und Theologie, dessen Konsequenzen wir wohl noch nicht einmal erahnen können.

 

AD: „Haben Sie bewußt nur von Philosophie und Theologie gesprochen oder lediglich die anderen Wissenschaften nicht erwähnt?“

Das war Absicht!

Mit dem Übergang zur Postmoderne wird die Wirklichkeit meines Erachtens eine ganz andere, indem die objektive Welt in das subjektive Leben übergeht. Da letzteres den entscheidenden Gegenstand von Philosophie und Theologie bildet, müssen sich diese beiden mächtig andern.

Bei allen übrigen Wissenschaften ist das zumindest nicht im gleichen Maße der Fall, da sie gar nicht von der Wirklichkeit sprechen bzw. sprechen sollen. Sie handeln lediglich von Denkmodellen, so daß sich eine Anderung der Wirklichkeit theoretisch überhaupt nicht auf sie auswirken müßte. Auch das komplizierteste oder schönste Modell benötigt keinen Wirklichkeitsbezug.

Der Apfel fällt nicht vom Baum, weil die Erde ihn anzieht, wie es uns wahrscheinlich allen in der Schule gelehrt wurde. Vielmehr haben wir mit Newtons Gravitationskraft ein physikalisches Modell erfunden, mit dessen Hilfe sich die Bewegung des Apfels phantastisch genau sowohl beschreiben als auch vorhersagen läßt; mehr kann, soll und „darf“ die Physik nicht.   

 

Das „andern“, das nun schon mehrmals auftrat, ist kein Schreibfehler; ich benutze dieses Kunstwort, um eine Variation zu bezeichnen, die wir von den üblichen Änderungen unterscheiden müssen.

Bei letzteren existiert stets (mindestens) ein Begriff, der konstant bleibt; der Ort, die Farbe oder das Wetter können sich ändern – aber es bleibt ein Ort, eine Farbe bzw. das Wetter. Diese für Änderungen notwendige Konstanz fällt nicht mit der Unveränderlichkeit zusammen, denn diese stellt lediglich eine spezielle Änderung vom Wert 0 dar.

Fehlt der folglich sowohl für Änderungen als auch Nicht-Änderungen erforderliche konstante Begriff, so handelt es sich bei der Variation um eine Anderung.

Philosophie und Theologie müssen sich andern, wenn die Wirklichkeit als ihr einziger Gegenstand variiert.    

 

AD: „Jetzt haben Sie sich selbst widersprochen:

Wenn Philosophie, Theologie und ihr Gegenstand variieren, ändern sie sich nur, denn die Begriffe Philosophie, Theologie sowie Gegenstand bleiben ja konstant – genau wie bei Ort, Farbe oder Wetter.“

Prinzipiell haben Sie Recht und ich räume problemlos ein, daß mir das Unterscheiden zwischen Änderungen und Anderungen (an dieser Stelle noch) nicht sauber gelingt. Es gibt so allgemeine Begriffe – Entität, Ding oder Idee und eben auch Gegenstand beispielsweise –, daß sie selbst bei den größten Variationen als konstant betrachtet werden können.

Aber wenn ich sage, der Gegenstand von Philosophie und Theologie wechselt von der objektiven Welt zum subjektiven Leben, und wir noch gar keine Ahnung haben, worin letzteres bestehen könnte, wäre es zweifellos irrführend, wie beim Rot-Werden eines Apfels von einer bloßen Änderung zu sprechen.    

 

Innerhalb der Philosophie wurde der Naive Realismus bereits von Kant sowie dessen unmittelbaren Nachfolgern – Fichte, Schelling, Hegel – kritisch infragegestellt, und später nicht zuletzt von Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein oder Alfred North Whitehead immer skeptischer betrachtet. Diese Diskussion, der sich insbesondere zahlreiche Künstler angeschlossen haben, ist wohl noch lange nicht beendet.

Außerhalb von Philosophie und Kunst – nicht zuletzt in den Naturwissenschaften, der Theologie sowie im Glaubensleben und Alltagsdenken – ist das freilich ganz anders. Dort wird der physikalische Kosmos als – scheinbar – offen-sichtliche und selbst-verständliche objektive Realität kaum hinterfragt, da man ja angeblich nur hinschauen muß, um ihre Seienden abzubilden.

 

Der physikalische Kosmos merkt nicht, wenn wir ihn erkennen, so daß nur eine einseitige Wirkung von ihm auf uns existiert, die sich wohl tatsächlich am besten – und sehr anschaulich – als ein Abbilden verstehen läßt:

Wir erkennen den physikalischen Kosmos, indem wir Abbilder von ihm in unserer Psyche produzieren, was die Seienden zu den entsprechenden Urbildern werden läßt. Dort befindet sich zum Beispiel das Urbild namens „Sonne“; es ist abbildbar, und durch das Hinschauen erhalten wir ein Abbild von ihm in unserer Psyche.

 

Wer so, naiv-realistisch denkt, braucht natürlich keine Philosophie und staunt nur, wie man sich mit deren „absurden Hirngespinsten“ beschäftigen kann, obwohl doch „in Wirklichkeit alles so einfach und selbstverständlich ist“:

„Was wollen diese Philosophen eigentlich? Sie konstruieren nur sinnlose Schein-Probleme an Stellen, wo es keine tatsächlichen gibt. Wirkliche Schwierigkeiten bereiten die ‚harten Fakten‘ des Alltags sowie der Wissenschaft und Technik. Wozu überhaupt noch Geisteswissenschaften? Die lösen keine Probleme, sondern erzeugen sie nur unnötig.“

 

Im Sinne von Wittgenstein würde ich einer solchen Stammtisch-Philosophie etwa Folgendes entgegnen:

1. Die Philosophen konstruieren keine Schein-Probleme, sondern versuchen, wirkliche Probleme auf-scheinen zu lassen, indem sie angebliche Selbstverständlichkeiten der Wissenschaft, des Alltags oder Glaubens infrage stellen.

2. Daß die Philosophen keine Probleme lösen, sieht der Naive Realist freilig richtig; darin besteht die Aufgabe der Wissenschaft.

3. Die Philosophie ist keine Wissenschaft, sondern eine Therapie, die  „die Probleme wie eine Krankheit behandeln“, das heißt, nicht lösen, sodern zum Verschwinden bringen soll.

„Die ‚Lösung‘ der Probleme des Lebens merkt man am Verschwinden dieser Probleme.“

„Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat.“

4. Das setzt allerdings ein möglichst offenes und sauberes Denken voraus, aber „die Wissenschaft denkt nicht.“ (Martin Heidegger)

5. Diese „Verleumdung“ läßt sich recht gut verstehen:

Um die Probleme oder „Rätsel der normalen Wissenschaft“ (Thomas S. Kuhn) zu lösen, stehen Denkwerkzeuge – Begriffe, Paradigmen, Theorien, Modelle und Techniken – zur Verfügung, die nur angewandt werden müssen. Das erfordert mehr Routine durch Üben oder Lernen als Denken und entspricht eher einem Handwerk.

„Normale“ Wissenschaftler sind geistige Handwerker, die mit den bereits bestehenden Denkwerkzeugen werkeln.

6. Zur „wissenschaftlichen Revolution“ als einem „Paradigmenwechsel“ (Kuhn) gehört dagegen grund-legendes Denken.

7. Das ist aber auch schon der Bereich der Philosophie, weil dadurch die Probleme des alten Paradigmas – nicht wissenschaftlich gelöst werden, sondern – durch das Erfinden oder Schaffen neuer Denkwerkzeuge therapeutisch verschwinden.

8. Diese Probleme bestanden also nicht an sich, sondern wurden lediglich durch unser unzureichendes Denkwerkzeug – das alte Paradigma mit seinen unfruchtbar gewordenen Begriffen – erzeugt.

9. Als Therapie kann und soll die Philosophie uns helfen zu leben, aber sie hat nicht – wie die Tradition häufig meint – die Aufgabe, ewig wahre Antworten auf die letzten, größten oder allgemeinsten Fragen der Menschheit zu finden und endlich zu klären, worin Sein oder Sinn, das Eine, Wahre, Gute und Schöne  bzw. Gott nun wirklich bestehen.

10. Das sind für die Postmoderne keine besonders tiefen, sondern überholte, weil heute falsch gestellte Fragen. Uns interessiert auch nicht mehr, wie der Rand der Erdscheibe beschaffen ist.

11. Sinnvoll könnten die traditionellen Fragen bestenfalls sein, wenn die Wirklichkeit in einer objektiv-zeitlosen Welt und nicht im subjektiv-zeitlichen Leben bestände. Aber was hat ein einzigartiges Subjekt bzw. sein unaustauschbares Leben mit einer angeblichen Objektivität und Zeitlosigkeit zu tun? 

12. Die philosophische Tradition sucht ewig-wahre Antworten; die Postmoderne erkennt, daß nicht einmal unsere Fragen diese Eigenschaft besitzen.

13. Der Postmoderne geht es um „das Andere der Vernunft“ – das Irrationale, Irreale, Unschickliche oder Alogische; den Leib, das Begehren, die Phantasie, Triebe und Gefühle –, das die Tradition unter den Tisch fallen läßt, weil sie es nicht denken kann.

14. Wir versuchen es trotzdem und betrachten das Andere der Vernunft als die Leibhaftigkeit oder Wirklichkeit unseres Lebens. Sie spielen jenseits der Logik und sind damit alogisch, können aber niemals logisch widersprüchlich sein.

2.3. Kosmos – Welt – Leben

Möglicherweise wundern Sie sich die ganze Zeit schon, weshalb ich zumeist zwischen der objektiven Welt und dem physikalischen Kosmos unterscheide. An Ihrem Erstaunen zeigt sich gegebenenfalls, wie massiv wir uns im Verlauf der letzten drei Jahrhunderte an das Denken der exakten Wissenschaften angepaßt haben.

In vielen Büchern und Artikeln wird gegenwärtig spekuliert, daß wir Menschen möglicherweise gar nicht nur in unserem physikalischen Kosmos als einem Universum leben, sondern in einem Multiversum – in Kosmen gewissermaßen. Das geschieht teilweise auf einem sehr hohen intellektuellen Niveau, etwa im Zusammenhang mit Hugh Everetts „Quantentheorie der vielen Welten“.

Ich meine jedoch etwas völlig anderes und in gewissem Sinne sogar das glatte Gegenteil.

 

Der physikalische Kosmos stellt nur einen winzigen Teil der Welt dar.

Überlegen Sie bitte einmal, was Ihnen in Ihrem Leben besonders wichtig ist. Befindet sich darunter – bei Nicht-Physikern – etwas Physikalisches? Vielleicht denken Sie an Liebe und Freundschaft, bestimmte Menschen, Lebensziele und Selbstverwirklichung, Hobbys, Handwerk, Bücher, Kunst, Bildung oder einfach nur gutes Essen und Trinken.

All das sind keine Gegenstände der Physik – und sie können somit in deren Welt, dem Kosmos, auch nicht vorkommen. Darin gibt es keine Sprachen oder Gedichte, keine Gemälde oder Bierdeckel, weder Schön- noch Gemeinheit, weder Geld noch Armut, keine Verbrechen oder Fußballspiele, keine Staaten mit Flaggen und Hymnen, keine Bedürfnisse und kein Begehren.

Im physikalischen Kosmos existiert fast nichts; zu ihm kann nur das Wenige gehören, das sich vollständig mittels der Physik beschreiben läßt. Das ist bereits bei Reißzwecken, Sicherheitsnadeln und Büroklammern nicht mehr möglich, weil sie einen Zweck besitzen, dieser aber keine physikalische Kategorie darstellt, das heißt, daß der Physiker als Physiker nicht verstehen kann, was ein Zweck – und damit auch eine Reißzwecke – sein soll.

Es verbleiben somit nur die traditionellen primären Qualitäten Anzahl, Größe, Masse, Form, Ort, Geschwindigkeit usw.

 

AD: „Wieso sollen Reißzwecken, Sicherheitsnadeln und Büroklammern keine physikalischen Gegenstände und somit auch nicht im Kosmos enthalten sein?“

Entschuldigung; mein „nicht“ war falsch; sie befinden sich auch, aber nicht nur im Kosmos.

Reißzwecken, Sicherheitsnadeln und Büroklammern haben eine bestimmte Größe, Form, Masse, Festigkeit sowie weitere Eigenschaften, für die die Physik zuständig zeichnet, und hierdurch gehören diese Gegenstände natürlich dem Kosmos an – pardon.

Das wollte ich keineswegs bestreiten; aber damit handelt es sich noch nicht um Reißzwecken, Sicherheitsnadeln bzw. Büroklammern, denn das sind sie erst durch ihren jeweils noch hinzukommenden Zweck. Und mit ihm transzendieren sie den Kosmos und reichen in andere Dimensionen der Welt hinein.

Ich korrigiere mich also; sämtliche Dinge, die physikalische Aspekte besitzen, gehören auch dem Kosmos an, gehen aber zumeist weit über ihn hinaus; er ist – anschaulich gesprochen – zu eng für sie.

Unbestreitbar bedeutet unser Rendezvous auch eine Ortsveränderung, aber daß es nur das ist, können hoffentlich auch die dreistesten Physikalisten selbst nicht glauben.

 

Viele Menschen finden in ihrem Leben keinen Sinn und haben damit auch vollkommen Recht, wenn sie ihre Welt auf die physikalischen Komponenten reduziert haben. Darin kann es natürlich keinen Sinn geben, weil er ebenfalls keine physikalische Kategorie darstellt. Auch Physiker finden keinen Sinn im Kosmos; hoffentlich bei ihrer Arbeit, aber die erfolgt nicht im Kosmos, sondern handelt nur von ihm.

Wir können nicht unsere Wohnung schwarz überstreichen und dann klagen, daß die Farben fehlen. Doch; natürlich können wir es; wir tun es ja weitestgehend, indem wir die wirkliche (moralisch-)praktische Wahrheit unseres Lebens durch eine angeblich (erkenntnis-)theoretische Richtigkeit des Weltbilds ersetzen – und dann vielleicht unglücklich sind:

„Was sollen wir mit der?“

 

AD: „Die nicht-physikalischen Partial-Welten, die Sie andeuten, spielen aber doch wirklich nur eine untergeordnete Rolle . . .“

Das ist richtig; aber nicht weil es sich objektiv so verhält, sondern weil wir uns in der Moderne einreden lassen haben, allein die physikalische Partial-Welt sei entscheidend. Überlegen Sie bitte einmal, was wir alles über unseren Kosmos erzählen könnten, und wie rudimentär sich daran gemessen – bei den meisten von uns – unter anderem das musische oder poetische Vokabular ausnimmt, wie beschränkt unsere Partial-Welten beispielsweise des Schönen, Guten, Religiösen und der Gabe oder Stille entwickelt sind.

Bei dem Wort „Krieg“ beispielsweise assoziieren die meisten Menschen heute physikalisch-elektronische Waffen(-Systeme) und deren Abwehr. Aber müßte uns nicht als erstes das Leid der Betroffenen – Menschen, Tiere und vielleicht sogar Pflanzen – in den Sinn kommen?

 

Nun sollte verständlich sein:

Die Welt besitzt nicht nur die vier Dimensionen der physikalischen Raum-Zeit, sondern potentiell unendlich viele und ist unabsehbar reichhaltig oder mannigfaltig. Der Kosmos mit seinen armseligen Inhalten nimmt sich daran gemessen entsetzlich provinziell aus. Auch wenn er innerhalb der Raum-Zeit praktisch grenzenlos ist, bleibt der Kosmos gegenüber dem Reichtum, der Vielfalt und Faszination der Welt nahezu vernachlässigbar. Letztere enthält den Kosmos, geht aber in potentiell unendlich vielen Dimensionen darüber hinaus.  

Allein das traditionelle Denken im modernen Abendland glaubt, mit der Physik den Nabel oder die Einheit der Welt gefunden zu haben, so daß die physikalische Weltformel als das angeblich letzte noch zu lüftende Rätsel gehandelt und als Endlösung verkauft wird.

 

Wir setzen diese Horizonterweiterung vom Kosmos zur Welt fort und gehen mit der Postmoderne zum eigenen Leben über:

objektiver Kosmos   →   objektive Welt   →  subjektives Leben

 

AD: „Und wo spielt sich dieses subjektive Leben ab, wenn es keine objektive Welt (mehr) gibt? Wo leben wir dann?“

Diese Frage hatte ich erwartet – aber sie ist nicht zwingend, sondern ergibt sich nur „zwingend“ aus dem traditionellen Subjekt-Verständnis:

Wenn wir im Kern unser Körper sind, der sich notwendigerweise in einem Raum befindet, ist Ihre Frage konsequent; aber auch nur dann.

Da wir postmodern sämtliche Seienden und damit nicht zuletzt auch die menschlichen Körper gecancelt haben, entfällt diese traditionelle Voraussetzung jedoch für uns. Subjekte benötigen meines Erachtens kein Sein-in-. . . , so daß die Frage nach ihrem Lebens-Raum hinfällig wird. Wo sind Zahlen, Ideen oder Ängste?

„In der Psyche“ können wir nicht antworten, weil bei ihr „Gefäß“ und „Inhalt“ zusammenfallen, so daß hierbei von einer Ortsangabe nicht die Rede sein kann.

Für uns existieren zwar keine Körper mehr, aber natürlich weiterhin Körper-Wahrnehmungen. Das sind jedoch keine Körper, sondern Wahrnehmungen; Autolack ist auch Lack und kein Auto.

 

AD: „Ihre Antwort hat mich jetzt überrascht; ich war auf die fromme Variante ‚Wir leben in Gott‘ vorbereitet.“ 

Ich will sie Ihnen nicht wegnehmen und könnte diese Antwort auch selbst unterschreiben; sie gehört aber nicht hierher. Das ist keine Erbauungsliteratur, sondern mir geht es um eine möglichst saubere philosophisch-theologische Argumentation. Dann darf ich nicht Gott aus dem Hut zaubern, wenn und weil mein Grips versagt.

 

AD: „Apropos Argumentation; ich habe noch eine für die objektive Wirklichkeit

Wir können nicht feststellen, ob die Wissungen verschiedener Subjekte übereinstimmen, weil uns sämtliche fremden Psychen prinzipiell unzugänglich sind. Aber wenn wir den Äußerungen anderer Subjekte Glauben schenken, scheint der Grad unserer Übereinstimmung recht hoch zu sein.

Wie wollen Sie das ohne eine objektive Wirklichkeit erklären? Meines Erachtens geht es nur mittels der Annahme, daß diese von den betreffenden Subjekten in hinreichender Näherung adäquat erkannt wird.“

 

Es gibt zumindest noch eine andere Möglichkeit; sie besteht darin, daß wir manipuliert werden. Erschrecken Sie bitte nicht; ich bin kein Verschwörungstheoretiker.

Es sind unter anderem so große Denker wie Ludwig Wittgenstein oder Michel Foucault, die das Erziehen und Erklären als ein „Abrichten“ verstehen. Ein wichtiges Buch von Foucault trägt den Titel „Überwachen und Strafen“; darin stellt er die Bevölkerung oder Deutegemeinschaft als „Disziplinargesellschaft“ dar.

Das erscheint Ihnen wahrscheinlich als sehr negativ, bedeutet aber eine notwendige Manipulation, weil wir die dadurch erreichte Intersubjektivität als gesellschaftlichen Kitt benötigen. Keine Kultur kann ohne eine hinreichende Übereinstimmung ihrer Mitglieder leben.

Das ist die konstruktive Seite, gegen die sich meines Erachtens nicht viel einwenden läßt:

„So sehen wir das als Deutegemeinschaft und bitten alle, die dazugehören (möchten), entweder um ein entsprechendes Verständnis, die notwendige Toleranz oder Loyalität und ausreichende Empathie bzw. um konstruktive Kritik mit dem Ziel, unsere intersubjektive Einigung im Sinne der Gemeinschaft zu verbessern.“

 

Da diese Intersubjektivität, wie Sie richtig gesagt haben, nicht kontrolliert werden kann, bleibt allein ein solcher Appell, der jedoch vielen Mitgliedern als wenig effizient erscheinen mag. Ihre „Rechtfertigung“ wird – meines Erachtens und wiederum ganz in Ihrem Sinne – nur dadurch möglich, daß

– eine objektive Wirklichkeit behauptet und

– die gewünschte Intersubjektivität  als deren adäquates Abbild ausgegeben wird.

„So ist es; wir haben die Wahrheit gefunden.“

Natürlich kann das mitunter gelogen oder bösartig sein; aber bei den allermeisten Mitgliedern der Deutegemeinschaft wird es sich viel eher um Gutgläubigkeit im positiven bzw. Denkfaulheit im negativen Fall handeln.

2.4. Schwierigkeiten mit den Seienden

Das Kapitel dürfte gar nicht vorkommen; kann man Schwierigkeiten mit etwas haben, was gar nicht existiert?

Die meisten Menschen sehen das jedoch ganz anders, und wissen komischerweise nicht nur, daß es Seiende gibt, sondern auch noch recht genau, worin diese angeblich bestehen (müssen); allein daraus resultieren unsere Schwierigkeiten dieses Kapitels.

 

Ich biete Ihnen darin noch ein paar Argumente an, die Sie in der Einsicht bestärken sollen, daß unser Übergang von der Tradition zur Postmoderne recht zwingend und für ein aufgeklärtes Denken notwendig ist.

Meine Hinweise entsprechen Wittgensteins Leiter. Vielleicht benötigen Sie die noch als Hilfe; aber nachdem Sie auf ihr emporgestiegen sind und die nächste Reflexionsebene erreicht haben, können Sie die Leiter getrost wegwerfen und tatsächlich mit dem nächsten Kapitel beginnen.   

2.4.1. Die Existenz ist kein Prädikat

Die abendländischen Philosophen versuchen seit zweieinhalb tausend Jahren zu klären, was „Existenz“ bedeutet. Andere Namen – wie „Sein“, „Es-gibt“, „Bestehen“, „Vorhandenheit“ oder „Wirklichkeit“ – liefern keine Antworten, sondern benennen das Fragliche nur um.

 

Da die Denker in Antike und Mittelalter überzeugt waren, unser Denken würde irgendwie eine Einheit mit dem Sein bilden – „Denken ist Sein“ war ein geflügeltes Wort zumindest seit Parmenides –, haben sie die Existenz als eine Eigenschaft verstanden.  

Krokodile haben 1000 Eigenschaften, und eine von ihnen besteht in ihrer Existenz.

Drachen besitzen ebenfalls 1000 Eigenschaften, aber die Existenz ist nicht darunter; deswegen gibt es sie nicht.

Ein solches Denken ist uns nicht mehr möglich; es handelt sich um exakt das gleiche Geld – unabhängig davon, ob wir es besitzen oder nicht; das wollte Kant mit seinem Beispiel der „100 Taler“ zeigen.

 

Damit entfällt auch eine – vielleicht etwas simple, aber wohl gerade dadurch – weit verbreitete Interpretation des „ontologischen Gottesbeweises“ (Anselm von Canterbury):

Ein vollkommener Gott, der existiert, hat mit seiner Existenz eine positive Eigenschaft mehr, als exakt dieser gleiche „fast vollkommene“ Gott, der nicht existiert.

Anselm definierte Gott „als das vollkommenste aller Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann„.

Angenommen wir denken uns ein großartiges und absolut perfekteses Wesen, das (nahezu) keinen Makel besitzt – bis auf einen einzigen: Es existiert leider nicht.

Dann ist es jedoch nicht das vollkommenste Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann, denn das gleiche Wesen wäre auch existent denkbar.

Gott – als das vollkommenste Wesen, über das hinaus gar nichts Vollkommeneres gedacht werden kann – muß also notwendigerweise existieren, denn ansonsten wäre er nicht das vollkommenste Wesen.

 

Natürlich ist das für uns kein Beweis; aus einer Definition oder Wissung, kann niemals folgen, daß ein Referent dazu existieren muß. Außerdem würde ich Anselms Definition korrigieren:

Gott ist nicht „das vollkommenste aller Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann“, sondern er ist vollkommener als alles, was gedacht werden kann – aber natürlich kein Wesen oder Seiendes.

Das ist jedoch an dieser Stelle völlig belanglos; mir ging es bei den Beispielen allein darum, Ihnen ein wenig plausibel zu machen, daß die Existenz in der Vormoderne scheinbar recht problemlos als eine Eigenschaft verstanden werden konnte.

 

Spätestens Kant zeigte dann, daß dies nicht (mehr) möglich ist, weil „die Existenz kein Prädikat darstellt“ – und läßt uns damit einigermaßen ratlos zurück:

Wir benutzen „Existenz“ und seine oben angegebenen Umbennnungen nahezu ununterbrochen – und niemand versteht sie. Natürlich nicht; wie soll man denn eine Wirklichkeit verstehen können, die

angeblich vollkommen unabhängig oder getrennt von uns existiert,

– dies somit zwar auch ohne uns tun würde, aber

dennoch vollkommen unbemerkbar gestrichen werden kann?

Unsere diesbezüglichen Erläuterungsversuche erklären nichts, sondern laufen nur auf bloße Steigerungen oder Beteuerungen wie „Vorhanden-seiend“, „wirkliche Existenz“, „Seins-Bestand“ und ähnliches hinaus.

 

AD: „Ich will das gar nicht glauben; die vormoderne Tradition hatte doch mit ihrer Seins-Pyramide eine recht klare Vorstellug von der gesamten Wirklichkeit.“

Sie glaubte, eine solche zu haben; aber diese Seins- ist eine bloße Begriffs-Pyramide.  

 

Unsere Alltagslogik ist zweiwertig, weil sie sich allein auf Aussagen bezieht, und diese können stets verneint werden. Zu jeder Aussage X existiert ihre Negation non-X; eine von diesen beiden muß richtig und die andere falsch sein. Entweder ist die Erde eine Kugel, oder nicht; tertium non datur.

„A gehört zu B“ stellt für sämtliche A bzw. B ebenfalls eine Aussage X dar. Ist sie richtig, ordnen wir das A dem B unter, andernfalls nicht.

Dadurch entsteht eine hierarchische Struktur von Ober- und Unterbegriffen. An ihrer Spitze befindet sich das Umfassendste oder Allgemeinste, und nach unten hin wird die Ausdehnung der Struktur durch die Individualisierung bzw. Besonderung immer breiter.

 

In der Vormoderne glaubten die Philosophen und Theologen, damit – wiederum wegen der Identität von Denken und Sein –  die Wirklichkeit selbst zu erreichen, so daß diese hierarchische Struktur zu der von Ihnen angeführten Seins- oder Wirklichkeits-Pyramide führt, an deren Spitze natürlich Gott steht.

In der Moderne wuchs dann immer stärker die Überzeugung, daß diese Über- und Nebenordnung nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, sondern lediglich das Resultat unserer zweiwertigen Logik darstellt. A, B, C . . . sind dann keine Seienden mehr, sondern werden zu Begriffen.

So wurde die Seins- zu einer Begriffs-Pyramide, und wir müssen sauber zwischen Wirklichkeit und Logik unterscheiden. Letztere bewirkt tatsächlich die angedeutete Struktur, die jedoch nicht nur unabhängig von der Wirklichkeit ist, sondern ihrer gar nicht bedarf

 

Mit einer rein logischen Begriffs-Pyramide habe ich keinerlei Schwierigkeiten; aber der vormoderne Glaube, sie auf die Wirklichkeit beziehen zu können, sollte uns heute doch als etwas verwegen erscheinen:

Es gibt Pflastersteine, Kreativität, Wahrheit, Menschen, Kunst, Treue, Lügen, Liebe, Verbrechen, Orgasmen, Fragen, Kindertränen, Märchen . . . Soll all das auf die gleiche Art und Weise sein? Was kann Wirklichkeit bedeuten, wenn sie im kleinsten gemeinsamen Nenner auch nur der explizit aufgezählten Beispiele besteht?

 

Uns ficht diese Problematik zum Glück nicht an, weil wir die traditionelle Wirklichkeit der Welt bereits aufgegeben haben.

Außerhalb meiner Psyche befinden sich also keine Seienden, deren Existenz mir schlaflose Nächte bereiten könnte. Wir müssen weder erkennen, um welche speziellen Seienden es sich angeblich handelt, noch darum, worin ihr Sein besteht.

Im Außen sind lediglich meine eigenen Projektionen, die wir oben als Referenten allein der Vorstellungen erkannt hatten, so daß ihre Wirklichkeit völlig durchsichtig im bejahenden Von-mir-vorgestellt-Sein besteht.

 

Autos beispielsweise existieren also

– für mich, weil ich

– sie mir vorstelle,

– dadurch weiß, wovon die Rede ist,

– an die Existenz des Vorgestellten – der Auto-Referenten – glaube,

– mich im Straßenverkehr demgemäß verhalte und

– damit bisher nur positive Erfahrungen gesammelt habe, die ich gerne weitergebe.

 

Der Teufel existiert dagegen

– für mich nicht, weil ich

– ihn mir vorstelle,

– dadurch weiß, wovon die Rede ist,

– an die Existenz des Vorgestellten – des Teufel-Referenten – aber nicht glaube,

– mich im Leben demgemäß verhalte und

– damit bisher nur positive Erfahrungen gesammelt habe, die ich gerne weitergebe.

 

Traditionell Denkende zeigen mir zumindest innerlich den Vogel:

„Autos existieren wie alle Seienden objektiv – ohne jedes ‚weil . . .‘.“

Wenn Sie ihnen zustimmen, kann ich nur bitte, dieses Kapitel nochmals zu lesen. 

2.4.2. Das Gesamtkonzept der Seienden ist widersprüchlich

Die traditionellen Seienden entsprechen den Elementen einer (mathematischen) Menge; sie sind getrennt, unabhängig oder isoliert voneinander und könnten folglich alle einzeln aufgezählt werden; es gibt Sonne, Mond, Sterne. . . Daß wir dabei niemals fertig würden, ist natürlich richtig, für unsere Überlegungen aber nicht von Belang.

Zu diesen Seienden gehören auch wir Subjekte.

Die Trennung entspricht einer 100%-igen Isolation; sie läßt sich am besten veranschaulichen, indem wir uns als blind, taub und gefühllos vorstellen; dann gibt es für uns kein einziges anderes Seiendes.

 

Wir können, mit anderen Worten, sinnvoll über die Elemente einer Menge sprechen, sofern wir ihr nicht angehören, sondern sie lediglich von außen sehen.

Sind wir jedoch selbst eines dieser Elemente, so werden wir zum Solipsisten, denn die Frage, ob noch andere Seiende existieren, ist ebenso unentscheidbar wie belanglos:

Wir sind ganz allein, denn zwischen

– der Inexistenz der anderen Seienden und

– unserer Trennung oder Isolation von ihnen

besteht kein Unterschied, der einen Unterschied macht.

 

Die Tradition verwickelt sich also notwendigerweise in einen Widerspruch, weil wir Subjekte

– einerseits den getrennten Seienden angehören,

– sie aber andererseits trotzdem abbilden können und folglich mit ihnen verbunden sein müssen.

Das ist natürlich unmöglich; entweder . . ., oder . . .

Inzwischen ist auch klar geworden, daß wir nicht für eine der beiden Seiten Partei ergreifen, sondern das Gesamtkonzept der Seienden ablehnen.

 

AD: „Hier bin ich; dort ist die Sonne; hübsch getrennt voneinander – und trotzdem sehe ich sie.“

Der räumliche Abstand zwischen Ihnen und der Sonne hat nichts mit einer Trennung zu tun; daß Sie die Sonne sehen, ist nur möglich, weil eine Wechselwirkung und damit eben keine Trennung besteht. Das Licht der Sonne erreicht Ihre Augen.

 

AD: „Wechselwirkung und Trennung widersprechen sich doch nicht:

Erde und Sonne sind zwei getrennte Seiende, obwohl sie durch die Gravitationskraft aufeinander wirken.“

Nein; wenn ersteres stimmt, tun sie letzteres nicht!

 

Die Tradition geht diesbezüglich notwendigerweise von drei sauber getrennten Seienden aus; Erde, Sonne sowie Gravitationskraft.

Würde letztere tatsächlich wirken und die „Erde“ mit der „Sonne“ verbinden, hätte dies nämlich zwei Konsequenzen, die das gesamte traditionelle Konzept ins Wanken brächten:

Zum einen wäre die Gravitationskraft als Verbindung von „Erde“ und „Sonne“ kein Seiendes, sondern eine Relation.

Zum anderen gäbe es nicht Erde, Sonne und Gravitation, sondern nur deren Einheit – { Erde + Sonne + Gravitation }. Wo soll die Erde enden und die Sonne beginnen? Denken Sie zum Verdeutlichen beispielsweise an Siamesische Zwillinge.

Wenn eine Wechselwirkung tatsächlich „zwei Seiende verbindet“, dann haben wir nicht mehr zwei oder drei Seiende, sondern nur noch ein einziges Seiendes.

 

Krass formuliert bedeutet dies, daß – wenn wir die Idee der Seienden ernstnehmen – immer nur ein einziges Exemplar von ihnen existieren kann:

„Wechselwirkende Seiende“ bilden gemeinsam ein einziges Seiendes.

Wechselwirkungsfreie Seiende sind alle allein oder Solipsisten.

 

Um diesen Widerspruch zu beseitigen, mauschelt die Tradition, indem sie uns Subjekte

– als Seiende betrachtet, aber

– mit einem Kontakt zum Nous, dem Gott der Philosophen oder Blick von nirgendwo und -wann ausstattet,

so daß wir

– sowohl der Menge der Seienden angehören

– als auch sie von außen sehen können.

2.4.3. Urbilder und Abbilder – im logischen Zirkel

Ein Kind sieht zum ersten Mal in seinem Leben den Mond. Der merkt natürlich nichts von seinem Bestaunt-Werden, so daß wir es mit einem völlig einseitigen Verhältnis zu tun haben. Das scheint sich zwar am besten durch ein Abbilden beschreiben zu lassen – geht aber nicht.

 

AD: „Wieso soll das unmöglich sein? Das Abbilden ist doch etwas ganz Alltägliches; denken wir nur an das Photographieren, Malen und Beschreiben, an Landkarten, technische Zeichnungen oder Veranschaulichungen.“

Das stimmt; Sie übersehen aber, daß wir es hier mit zwei völlig verschiedenen Formen des „Abbildens“ zu tun haben. Das philosophische Abbilden(P) hat mit dem von Ihnen gemeinten alltäglichen Abbilden(A) nahezu gar nichts gemein.

 

Wir stehen – traditionell gedacht – vor dem objektiv-realen Eiffelturm, bilden ihn in unserer Psyche ab und schießen ein Erinnerungsphoto, so daß sich zwei verschiedene Arten von „Abbildern“ ergeben.

Die Anführungsstriche soeben waren wichtig, denn es ist mehr als verwegen, hierbei Abbild als gemeinssamen Oberbegriff zu benutzen: 

 

Natürlich ist ein Photo vom Eiffelturm nicht der Eiffelturm, sondern lediglich ein Abbild(A) von ihm. Aber das Photo, das wir in der Hand halten oder auf dem Handy sehen, ist ebenso real, wie der Eiffelturm selbst. Wenn er ein Urbild sein soll, muß dies für sein Photo also ebenfalls gelten.

In Paris befinden sich folglich an der frischen Luft zwei Urbilder und in unserer Psyche die beiden zugehörigen Abbilder(P).

Wir könnten noch ein Photo vom Photo vom Photo vom . . . machen, aber an die Abbilder(P) kommen wir natürlich nicht heran.

 

 

Seiende oder Urbilder Eiffelturm Photo vom Eiffelturm Photo vom Photo vom . . .
  ——— Abbilden(A) ——
  | | |
  Abbilden(P) Abbilden(P) Abbilden(P)
 
Abbilder(P) vom . . .
Eiffelturm Photo vom Eiffelturm Photo vom Photo vom . . .
in der eigenen Psyche
     

Abbildung 2.4.3.-1

 

Beim Abbilden(A) sind uns sowohl Ur- als auch Abbild(A) gegeben; beim Photographieren können wir beispielsweise die aufgenommene Landschaft unmittelbar mit dem Bild davon vergleichen, und wir sehen – lax ausgedrückt – doppelt; das Original und sein Photo. Dem Künstler steht ein Mensch gegenüber, von dem er ein Porträt malt; wir orientieren uns in der Natur mittels einer Wanderkarte usw.

 

Mit Ur- bzw. Abbild(P) im traditionell-philosophischen Sinne haben diese Beispiele nicht viel zu tun, denn beim Abbilden(P) ist uns immer nur ein Exemplar gegeben.

Die Tradition behauptet, dies sei das Abbild(P), das jedoch ohne sein Urbild(P) nicht existieren könnte.

Wir glauben diese Urbilder(P) nicht, so daß die „Abbilder(P)“ nun auch keine Abbilder(P) mehr sind, sondern ganz simpel unsere Wahrnehmungen, wodurch sich die Darstellung von soeben massiv vereinfacht.

 

 

————– ————– ————– ————–
  ——— Abbilden ——
  ————– ————– ————–
  ————– ————– ————–
  ————– ————– ————–
Wahrnehmungen
Eiffelturm Photo vom Eiffelturm Photo vom Photo vom . . .
in der eigenen Psyche
      

Abbildung 2.4.3.-2

 

AD: „Wir sehen nicht doppelt; das Urbild(P) Mond ist natürlich unsichtbar, weil es sich außerhalb der Psyche befindet; aber unsere Vernunft verlangt seine Existenz:

Wir könnten keinen Mond sehen, wenn er sich nicht dort befände.“

Ihr letzter Satz ist zumindest zweideutig.

Zum einen stellt er eine Tautologie dar: Gäbe es dort nicht den Mond als Sehung, würden wir auch keinen sehen; dem vermag niemand zu widersprechen.

Zum anderen – und nur das können Sie zur Verteidigung der Tradition gemeint haben – läßt sich Ihr Satz auch so verstehen, daß zwei Monde unterschieden werden müssen: 

Die Mond-Sehung X in unserer Psyche wäre unmöglich, wenn sich der Ur-Mond Y nicht dort im Weltraum befände.

 

In diesem Fall erfinden Sie einen unsichtbaren Ur-Mond Y im Außerhalb der Psyche, um Ihre Mond-Sehung X erklären zu können. Ich bezweifle jedoch sehr stark, daß es sich hierbei um eine Erklärung, das heißt, um etwas Akzeptables handelt:

1. Gegeben ist die Mond-Sehung X.

2. Deren Zustandekommen möchten Sie verstehen.

3. Dazu erfinden Sie einen unsichtbaren Ur-Mond Y.

4. Der einzige Hiinweis auf ihn, besteht in unserer Mond-Sehung X.

5. Sie interpretieren letztere als Abbild(P) des erfundenen Ur-Monds Y.

 

Damit

– leiten Sie aus der Mond-Sehung X den Ur-Mond Y – als eine mögliche Erklärung – ab und

– schließen zugleich aus der Existenz der Mond-Sehung X auf deren Richtigkeit.

 

Kann ein logischer Zirkel perfekter sein?

Sie erklären die Mond-Sehung X mittels des Ur-Monds Y, von dem Sie nur durch die Mond-Sehung X wissen:

Von den Urbildern wissen wir allein durch ihre Abbilder(P).

Die Urbilder machen uns die Abbilder(P) verständlich.

→   Es gibt Urbilder.

 

Diese „Logik“ kannten schon die alten Germanen:

Von Donar wissen wir allein durch den Donner.

Donar macht uns den Donner verständlich.

→   Es gibt Donar.

 

Rein logisch besteht zwischen diesen beiden Zirkelschlüssen auch nicht der geringste Unterschied:

Das Wissen, das sich aus den Abbildern(P) ergibt, macht uns die Abbilder verständlich(P).

Das Wissen, das sich aus dem Donner ergibt, macht uns den Donner verständlich.

Nicht nur Donar, sondern auch die Urbilder sind meiner tiefsten Überzeugung zufolge pure Erfindungen, mit denen wir uns selbst belügen, solange wir glauben, etwas erklärt zu haben.

Es handelt sich bei diesen zwei Beispielen um einen (relativ weit verbreiteten) logischen Fehlschluß, den wir rein formal folgendermaßen darstellen können:

 

Prämisse 1 p → q Regnet es, wird die Straße naß. Das Urbild(P) erklärt das Abbild(P).
Pränisse 2 q Die Straße ist naß. Das Abbild(P) liegt vor.
falsche Konklusion → p Also hat es geregnet. Also existiert das Urbild(P).

Die erste Schlußfolgerung – „Also hat es geregnet“ – ist offensichtlich nicht zwingend, weil zum Beispiel auch Schnee geschmolzen, ein Wasserrohr geplatzt oder der Sprengwagen gefahren sein könnte. Die Prämisse lautete nicht „Wenn es regnet, aber auch  nur dann, wird die Straße naß“.  

Da die Logik nicht vom Inhalt abhängt, kann die zweite Konklusion – „Also existiert das Urbild“ – ebenfalls nicht zwingend sein. Natürlich wäre das eine mögliche Lösung dieses traditionellen Problems; aber daß wir uns gegenwärtig gar keine andere vorstellen können, beweist nicht ihre Richtigkeit, sondern unsere mangelnde Phantasie (oder Denkfaulheit).

Sowohl Donar als auch die Urbilder stellen Versuche dar, etwas zu erklären; sie mögen vielleicht ihre Zeit und ihr Recht gehabt haben; das muß uns nicht interessieren. Aber wenn wir ihre Schwachstellen kennen und die traditionellen Schlüsse nicht mehr intellektuell redlich nachvollziehen können, müssen wir nach etwas Konsistenterem Ausschau halten

 

AD: „Für Sie existieren außerhalb Ihrer Psyche nur Referenten von Vorstellungen. Diese Referenten sind somit nicht als Erklärungen von Wahrnehmungen erschlossen, sondern ergeben sich als Denknotwendigkeit aus Ihrem Wirklichkeits-Bild.

Hiermit entfällt zwar der traditionelle Zirkel, aber dafür übertragen Sie die Projektions-Theorie, die Ludwig Feuerbach bezüglich Gottes vertrat, auf alles, was sich außerhalb Ihrer Psyche befindet.“

Natürlich; Feuerbach hatte doch vollkommen Recht:

Die „Seienden“, die wir wissen, können keine Seienden, sondern müssen Projektionen oder die Referenten unserer Vorstellungen sein.

Da es Feuerbach jedoch im wesentlichen um seine Religionskritik ging, war er allein auf Gott fixiert, obwohl seine logisch saubere Argumentation auch nicht das Geringste mit Gott zu tun hat und sich damit wortwörtlich auf sämtliche Seienden überträgt.

Wieso ist Gott eine Projektion, aber die Materie nicht?

 

Feuerbach wollte mit seinen Überlegungen plausibel machen, wie die Traditionell-Gläubigen auf die Idee kommen, es gäbe einen Gott, der zwar als „transzendent“ bezeichnet, aber völlig immanent vorgestellt wird. Diese naiv-realistische Position in Bezug auf Gott nennt man „Theismus“; sie entspricht Bonhoeffers Gott, den es gibt.

Theisten haben eine Vorstellung von Gott, projizieren diese aus ihrer Pyche heraus und glauben (an) ihre eigene Projektion. Folglich hat dieser Gott nicht die Menschen nach seinem Bild, sondern sie haben ihn nach ihren Vorstellungen erschaffen – was die Gläubigen, die so denken, natürlich massiv bestreiten und völlig anders sehen werden.

 

Mir geht es nicht um eine Kritik der Religion, sondern um eine solche des traditionell-philosophischen Aberglaubens, und deswegen wende ich mich zwangsläufig auch gegen den Theismus.

Überzeugte Christen können nicht nur „a-theistisch glauben“ (Hartmut von Sass), sondern müßten es sogar, um intellektuell redlich zu sein.

2.4.4. Es gibt kein Abbilden

Der Naive Realismus geht davon aus, unsere Wahrnehmungen mittels der entsprechenden Urbilder vernünftig erklären zu können. Wir bestreiten das wegen des logischen Zirkels, der in dieser „Erklärung“ notwendigerweise enthalten ist.

Um einen Schritt weiterzukommen und unsere eigene Position besser zu verstehen, lassen wir uns aber nochmals auf das angebliche Abbilden ein. Dann bestehen hinsichtlich unserer Wahrnehmungen theoretisch zwei Möglichkeiten; sie könnten selbst die Urbilder(P) oder bereits deren Abbilder(P) sein. 

 

Wenn uns die Urbilder(P) selbst in Form der Wahrnehmungen gegeben sind, benötigen wir weder ein Abbilden noch Abbilder(P); beide sind völlig überflüssig.

Bestehen die Wahrnehmungen dagegen in den Abbildern(P), liegt das Abbilden bereits hinter ihnen. Weder wissen wir etwas davon, noch haben wir abgebildet, denn die Wahrnehmungen sind diesbezüglich das Erste, das uns begegnet.

Bei beiden Denkmöglichkeiten – Wahrnehmungen sind Ur- bzw. Abbilder(P) – gibt es also kein Abbilden. Das eine Mal entfällt es gemeinsam mit den Ab- und das andere Mal gemeinsam mit den Urbildern(P). Das paßt genau; eine Bild-Sorte fehlt immer, denn wir sehen nie doppelt.

 

Üblicherweise wird argumentiert:

Weil der Naive Realismus das Abbilden erforderlich macht – denken Sie an unser Baby, das erstmals den Mond sieht –, muß es irgendwie vonstatten gehen.

Wir kehren die Logik um:

Weil das Abbilden niemals vorkommt, muß der Naive Realismus, der es unbedingt benötigt, falsch sein.

 

AD: „Wenn die Wahrnehmungen keine Abbilder(P) sind, die sich von ihren Urbildern(P) her verstehen lassen, hängen sie also gewissermaßen in der Luft oder fallen vom Himmel?“

Nein; diese Konsequenz ist nicht zwingend:

Die Tradition versucht, unsere Wahrnehmungen von einer objektiven Welt her zu erfassen. Ohne letztere werden wir versuchen, die – natürlich gleichen und unbestreitbaren – Wahrnehmungen von unserem subjektiven Leben her zu verstehen.

Es gibt keine Seienden oder Urbilder, das heißt, . . .

. . . keinen Regenbogen, ohne daß wir ihn sehen.

. . . keine Festigkeit, ohne daß wir sie fühlen.

. . . keine Anzahl, ohne daß wir sie zählen oder berechnen.

. . . keine Materie, ohne daß wir sie messen.

. . . keine Seele, ohne daß wir sie fühlen.

. . . keinen Geist, ohne daß wir ihn erfahren.

 

2.4.5. Das Sehen ist irreführend I

AD: „Daß es kein Abbilden(P) geben soll, will ich immer noch nicht glauben. Ihre Argumentation war stark, und ich finde keinen Fehler darin – aber:

Wir kennen doch alle aus unserer Schulzeit noch die physikalische Theorie des Sehens, derzufolge beispielsweise der Baum am Straßenrand als Urbild dienen kann. Die Lichtstrahlen, die er reflektiert, werden von unseren Pupillen, die als Sammellinsen fungieren, fokussiert, so daß auf der Netzhaut der Augen ein kopfstehendes, verkleinertes Abbild des urbildlichen Baumes von der Sraße entsteht. Das Funktionieren unserer Brillen, Lupen und Fernrohre beweist doch hinreichend, daß wir es hier tatsächlich mit einem – zumindest nicht völlig falsch beschriebenen – Abbilden zu tun haben.

Die Netzhaut mit ihren Stäbchen und Zäpfchen wirkt auf den Sehnerv, und dieser feuert mit einer Frequenz, die bei Erhöhung der Erregung ansteigt. Die dabei gesandten Signale sind jedoch völlig neutral oder sinnesunspezifisch; beispielsweise benutzt der Sehnerv exakt den gleichen Code wie der Hörnerv. Es werden also, einfacher formuliert, nicht einmal Bildchen und einmal Tönchen übertragen, sondern stets einheitliche Weder-Bildchen-noch-Tönchen.

Wir verstehen bisher kaum, wieso ein und dieselben Impulse einmal zu Bildern und ein andermal zu Tönen – oder auch Gerüchen, Gefühlen oder Geschmacksvarianten – werden. Hier besteht zwar noch eine von den meisten Autoren anerkannte ‚Erklärungslücke‘, die aber meines Erachtens den physikalischen Teil unseres Abbildens überhaupt nicht tangiert.“

 

Ich komprimiere Ihren Einwand auf eine Kurzform, mit der wir besser arbeiten können:

Die physikalische Theorie des Sehens beschreibt sehr gut, wie der Ur-Baum vom Straßenrand auf der Netzhaut abgebildet wird. Den Ur-Baum sehen wir alle, und sein Abbild nimmt der Optiker wahr, der uns in die Augen schaut.

Das war wohl Ihre Intention. Dabei übersehen Sie jedoch, daß wir unseren obigen Überlegungen zufolge zwei Formen des „Abbildens“ unterscheiden müssen; das philosophische und das alltägliche. Was Sie gesagt bzw. im Physikunterricht gelernt haben,

– war völlig in Ordnung,

– bezieht sich aber nur auf das alltägliche Abbilden(A) und

– hat demzufolge mit dem angeblichen philosophischen Abbilden(P) nichts zu tun.

Um dem widersprechen zu können, müßten Sie behaupen, daß der Optiker uns nicht in die Augen, sondern in die Psyche schaut; bestenfalls hier wäre das Abbild(P) zu finden.

 

Ich korrigiere also in unserem postmodernen Sinne:

Die physikalische Theorie des Sehens beschreibt sehr gut, wie die Sehung Baum vom Straßenrand auf die Netzhaut abgebildet(A) wird. Die Sehung Baum haben wir alle, und ihr Abbild(A), eine weitere Sehung – wie oben das Foto vom Eiffelturm –, nimmt der Optiker wahr, der uns in die Augen schaut.

(Straßenrand, Netzhaut, Optiker und Augen sind natürlich ebenfalls Sehungen; sie stehen bei diesem Beispiel lediglich nicht im Zentrum.)

 

Damit sollte deutlich werden, daß die physikalische Theorie des Sehens das philosophische Abbild-Scheinproblem nicht nur weder löst noch beseitigt, sondern auch nicht im entferntesten tangiert. Von Urbildern(P) und deren Abbildern(P) ist in der Physik gar nicht die Rede; sie kennt lediglich zwei Arten von Sehungen; die jeweils ursprünglichen – Eiffelturm oder Baum am Straßenrand zum Beispiel – und deren Abbilder(A).

Genau dadurch, daß Ihre Beschreibung eine rein physikalische ist und mit unserem philosophischen Abbild-Scheinproblem nichts zu tun hat, wird diese Beschreibung nicht nur sinnvoll und verständlich, sondern kann sogar zum Bau optischer Geräte genutzt werden.

Hier wird nicht erklärt, wie Sehungen zustandekommen, indem angebliche Urbilder(P) abgebildet werden. Vielmehr zeigt diese Theorie, wie – bereits bestehende – Sehungen durch den Raum tranportiert und damit in andere Sehungen transformiert werden können.

 

AD: „Jein; es stimmt doch sehr vieles von dem, was die physikalische Theorie zum Sehen sagt. Schließen wir beispielsweise die Augen oder unterbricht ein Hindernis unseren Sehstrahl, so sehen wir nichts (mehr); folgt daraus nicht, daß diese Theorie das Sehen einigermaßen richtig darstellt?“

Nein; in keiner Weise!

Wenn eine „Theorie des Sehens“ adäquat beschreibt, unter welchen Bedingungen letzteres nicht gelingt, ist sie noch lange keine Theorie des Sehens, sondern lediglich eine seiner notwendigen Voraussetzungen. Sie beziehen sich auf das Nervensystem, die Augen, den Sehstrahl, die Beleuchtung und noch vieles mehr.

Sind nicht alle notwendigen Voraussetzungen erfüllt – und allein von ihnen spricht diese Seh-Voraussetzungs-Theorie –, sehen wir nichts; das ist die Bedeutung von „notwendig“.

Wir sehen natürlich nicht, wenn unsere Augen geschlossen sind; aber daraus folgt doch absolut nicht, daß wir sehen, weil sie offen sind. Eine Puppe kann ihre Augen noch so weit aufreißen; sie bleibt blind.

Offene Augen sind für das Sehen notwendig; aber das Hinreichende besteht nicht in ihnen, sondern in unserem Leben.

 

AD: „Ich verstehe; und deswegen möchten Sie die Wahrnehmungen von unserem Leben her erklären . . .

Aber einen Joker habe ich doch noch, nämlich die vielen Abbildungsfehler, die uns die Physik wunderbar erklären kann.

Wir sehen beispielsweise den urbildlichen geraden Stab, wenn er schräg ins Wasser taucht, als gebrochen; unsere Sehung ist dann ein falsches Abbild, über das die Optik uns aufklärt.“

Nein; der gerade Stab ist kein Urbild, sondern bereits eine Sehung – wie der obige Baum am Straßenrand. Wir sehen ihn doch auch, bevor er in das Wasser eintaucht; also muß er sich da bereits in unserer Psyche befinden.

Der „Widerspruch“ gebrochener contra gerader Stab besteht also zwischen zwei Sehungen – Stab im Wasser bzw. nicht im Wasser – und stellt somit wieder ein rein physikalisches Problem dar; das ist kein falsches Abbild(P), sondern ein unerwartetes Abbild(A).

Urbilder(P) befinden sich nicht außerhalb des Wassers, sondern (angeblich) außerhalb der Psyche; deswegen sind sie unerreichbar – und damit auch verzichtbar.

2.4.6. Das Sehen ist irreführend II

Dort steht ein Herd; er befindet sich inmitten des Raumes, ist aus Eisen und heiß, so daß er sich unmöglich in unserer Psyche befinden kann. Natürlich nicht; das Problem haben wir ja schon lange gelöst:

Das soeben Angedeutete ist traditionell der wirkliche Herd als Urbild(P) oder Seiendes. Nur ein Abbild(P)  davon gehört unserer Psyche an und repräsentiert den Herd.

 

Wir laufen unachtsam durch die Küche und stoßen oder verbrennen uns an ihm. Woran genau; am Ur- oder Abbild(P) des Herdes? 

Letzteres scheidet sofort aus, weil wir uns an – dem „Inhalt“ – der Psyche weder stoßen noch verbrennen können.

Bleibt nur das Urbild(P) des Herdes, an dem sich – nicht unsere Psyche, sondern – unser Körper stößt und verbrennt.

 

Aber auch das ist wieder zweideutig; stößt sich das Ur- oder das Abbild(P) unseres Körpers am Urbild(P) des Herdes? 

Da sich auch das Abbild(P) des eigenen Körpers nur in unserer Psyche befinden kann, ergibt sich zwingend:

Das Urbild(P) unseres Körpers stößt und verbrennt sich am Urbild(P) des Herdes.

 

Die beiden zugehörigen Abbilder werden also gar nicht benötigt.

Wir trinken auch kein Abbild des Bieres, riechen kein Abbild des Parfüms, fahren kein Abbild des Autos und bauen kein Abbild des Hauses. Das ist auf der einen Seite alles so selbstverständlich, daß ich mir fast nicht getraue, es hier aufzuzählen.

Und trotzdem beschleicht mich auf der anderen Seite das Gefühl, es tun zu müssen, weil wir (fast) alle überzeugt sind, Abbilder der Seienden in unserer Psyche zu haben

 

Wir kommen dem Grund dieses Widerspruchs näher, wenn wir die Bezeichnungen „Ur-“ bzw. „Abbilder“ wörtlich nehmen: Es sind Bilder, und die gibt es nur beim Sehen.

Damit ist unser Problem noch nicht gelöst, aber es wird zunächst einmal nachvollziehbar, daß das Sehen auf der einen Seite ganz allein dem Stoßen, Verbrennen, Trinken, Riechen, Fahren, Bauen usw. auf der anderen Seite gegenübersteht:

Die Unterscheidung zwischen Ur- und Abbildern 

– scheint zwar für das Sehen erforderlich zu sein,

– ist aber bei allen anderen Tätigkeiten nicht nur unnötig, sondern sogar irritierend.  

Nun müßten wir lediglich noch klären, weshalb es sich so verhält.

 

Kommen wir dazu auf unseren Herd zurück; er steht wirklich dort, und es liegt mir fern, dies zu bestreiten. Ich verstehe ihn lediglich anders als die Tradition:

Sie

– macht den Herd zu einem Seienden,

– das im Sehen abgebildet wird,

– wozu die Psyche erforderlich ist.

Wir

– betrachten den Herd als eine Sehung,

– die sich im Raum befindet,

– weil das Sehen den Raum erzeugt.

 

Ich wäre überrascht, würde die letzte Zeile Sie nicht arg verwundern; sie ist jedoch ganz ernst gemeint. Deutlich wurde mir diese Erkenntnis erstmals durch einen Artikel von Heinrich Rombach; er schrieb dort unter anderem:

„Wir sehen nicht den Baum dort, sondern

wir sehen dort“ – alles; zum Beispiel auch diesen Baum.

Das Dort-Sein ist

– nicht die Eigenschaft des Baumes, sich im Raum zu befinden, sondern

– die Eigenschaft des Sehens, den Raum hervorzubringen.

Alles, was wir sehen, gehört dem Raum an dadurch, daß wir es sehen.

 

Traditionell stellt man sich den Raum als ein leeres Seiendes vor, in dem sich die immanenten oder physikalischen Seienden befinden.

Entsteht der Raum jedoch erst durch das Sehen, müssen wir diese Sichtweise korrigieren; dann sind die Sehungen primär, und der Raum ist lediglich der  -Raum zwischen ihnen.

(Überraschenderweise sah bereits Aristoteles den Raum lediglich als einen Zwischen-Raum – aber freilich zwischen den Seienden.)

AD: „Dann gibt es ohne uns als den Sehenden auch keinen Raum; das ist schon wieder ein gewichtiger Punkt, der für Ihren Ansatz spricht, alles von unserem Leben – und nicht von einer angeblichen objektiven Welt – her zu verstehen:

Als lebende Subjekte können wir zum Beispiel sehen, und dadurch existieren für uns Körper im Sinne von Sehungen.“

Gewiß gibt es auch Körper als Tastungen, Greifungen oder ähnliches – aber eben niemals ohne uns; das wären Körper an sich, traditionelle Körper oder Seiende.

 

Es ist also wohl kein Zufall, daß Kant den Raum als Anschauungs– und nicht als Wahrnehmungsform verstanden hat. Dem Sehen kommt unter all unseren Tätigkeiten sowohl traditionell als auch postmodern eine Sonderrolle zu:

Traditionell leben die Subjekte als Körper im Raum und benötigen für das Sehen den Nicht-Raum der Psyche, um ihre Abbilder(P) unterzubringen.

Postmodern leben wir Subjekte im Nicht-Raum und erzeugen durch das Sehen den Raum.

 

AD: „Aber das Hören oder Schnuppern erfolgen doch ebenfalls räumlich, und Schmerzen können ziehen, pochen, stechen, ausstrahlen, in die Tiefe gehen usw.“

Sie haben nicht nur Recht, sondern intuitiv meine Antwort schon vorweggenommen.

Ich bleibe dabei: nur das Sehen erzeugt den Raum, weil sich allein die Sehungen dort befinden; alle anderen Wahrnehmungen – Hörungen, Tastungen, Schmeckungen . . . – sind notwendigerweise hier.

Nichtsdestotrotz können auch sehr viele andere Formen des Wahrnehmens räumlich erfolgen.

Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn wir uns klarmachen, daß hier von zwei sehr unterschiedlichen Eigenschaften die Rede ist und für das Räumliche kein Raum benötigt wird.

 

Die einfachste Begründung besteht vielleicht in der Einsicht, daß der Raum, aber nicht das Räumliche Dimensionen besitzt und die beiden folglich unabhängig voneinander sind.

Haben wir gestern zu viel getrunken, umhüllt heute möglicherweise eine räumliche, jedoch nicht dreidimensionale bleierne Schwere unseren Kopf. Lehnen wir uns an einen Baum, stößt sie nicht an, sondern geht problemlos hindurch; diese Schwere ist zwar nur endlich, kennt folglich aber dennoch keine Grenzen – ganz anders, als das im Raum wäre.

Analoges gilt auch für Phantomschmerzen. Schieben wir einen Amputierten mit seinem Rollstuhl so an die Wand, daß das räumlich gefühlte, im Raum aber fehlende Bein sie durchdringen müßte, merkt der Kranke die Wand gar nicht.

Beide Effekte wären nicht möglich, würde sich das Räumliche in den Dimensionen des Raumes erstrecken.

2.5. Das Subjekt und sein Körper

Traditionell falle ich (im Kern) mit meinem Körper zusammen; postmodern habe ich ihn nur und bin ein – mir völlig unbekanntes – Subjekt. Ich kann unter anderem sehen und erzeuge damit meinen subjektiven Raum; sämtliche Körper darin gehören zu meinen Sehungen.

Damit wird überdeutlich, daß die Tradition falsch liegt, weil ich unmöglich einer der Körper sein kann, die es ohne mein Sehen gar nicht gäbe.

 

Durch letzteres entstehen alle Körper, und einer von ihnen ist der meinige; welcher?

Wir können uns das mit Hilfe von Pfeilen veranschaulichen, die von mir als Subjekt zu allen Sehungen bzw. Körpern führen. Dann nimmt unsere Frage die Form an, wodurch der eine Pfeil, der auf meinen Körper zeigt, vor allen anderen Pfeilen ausgezeichnet ist.

 

Sämtliche Sehungen oder „Sehstrahlen“ wirken so, als würden sie nicht von mir, sondern von meinem Körper ausgehen; er scheint der Sehende zu sein. Damit wird nicht nur verständlich, weshalb die Tradition mich als Subjekt fälschlicherweise mit meinem Körper identifiziert, sondern haben wir auch bereits die Antwort auf unsere Frage von soeben gefunden:

Wir glauben, mein Körper sei der Sehende, weil allein er mich als Subjekt vertritt oder auf mich verweist.

In unserem Bild führen also einfache oder gerichtete Pfeile von mir zu allen fremden Körpern, während mich ein symmetrischer Doppelpfeil mit meinem eigenen Körper verbindet. Seine zu mir zeigende Richtung verweist darauf, daß in Wirklichkeit ich der Sehende bin.  

 

Mein Körper ist also diejenige Sehung, die der Träger oder Adressat aller meiner Sehungen zu sein scheint.

Lösen wir uns von der Beschränkung auf das Sehen, läßt sich verallgemeinern:

Mein Leib ist diejenige Erfahrung, die der Träger oder Adressat aller meiner Erfahrungen zu sein scheint.

 

AD: „Ich begreife noch nicht, wie eine Sehung – wenn auch nur zum Schein – als Träger oder Adressat der Sehungen fungieren kann.“

Das Sehen läßt sich nicht verstehen, weil es erst den Raum hervorbringt, der für die Erklärungen benötigt wird. Dadurch können wir mit ihnen erst beginnen, wenn der Raum bereits existiert, das heißt, nach dem Sehen.

Dann liegen aber auch die Körper-Sehungen bereits vor, und wir gelangen zu den üblichen traditionellen Erklärungen – die allein vom Körper ausgehen (können) und kein Subjekt benötigen.

 

Dieses Ergebnis scheint mir so fundamental zu sein, daß ich es noch einmal in unseren Gesamtzusammenhang einordnen möchte:

Es gibt keine Körper – denn das wären Seiende –, sondern nur Körper-Wahrnehmungen. Letztere dürfen wir somit nicht als Wahrnehmungen von Körpern mißverstehen; sie sind vielmehr Körper als oder in Form von Wahrnehmungen.

Auf der einen Seite scheinen nahezu alle (lebenden) menschlichen und tierischen Körper-Wahrnehmungen wahrzunehmen, aber auf der anderen Seite wäre eine solche Annahme natürlich absurd; Wahrnehmungen können unmöglich wahrnehmen.

Die Tradition kennt diesen Widerspruch nicht: Wenn die Körper-Wahrnehmungen als Wahrnehmungen von seienden Körpern verstanden werden, übernehmen letztere völlig problemlos das Wahrnehmen.

 

Dieser Ausweg ist uns versperrt: Nahezu alle (lebenden) menschlichen und tierischen Körper-Wahrnehmungen scheinen wahrzunehmen, obwohl sie selbst nur Wahrnehmungen sind und dies also partout nicht können.

Damit erübrigt sich die traditionelle Frage, wer wirklich wahrnimmt; Menschen und Hunde, aber vielleicht auch Amöben, Bäume oder Roboter? Nein; natürlich niemand, weil es gar keine seienden Körper gibt.

Statt einer solchen Einteilung unterscheiden wir zwei Arten des Scheins von Körper-Wahrnehmungen:

Die Hunde-Wahrnehmungen scheinen wahrzunehmen, aber deren Schein-Wahrnehmungen sind mir nicht zugänglich. So geht es mir natürlich auch bei allen anderen Körper-Wahrnehmungen – mit einer einzigen Ausnahme:

Die Schein-Wahrnehmungen meines eigenes Körpers sind die wirklichen Wahrnehmungen von mir als Subjekt.

 

AD: „Das klingt ganz vernünftig, aber ich sehe noch eine Schwierigkeit:

Körper sind inexistent.

Körper-Wahrnehmungen scheinen wahrzunehmen, können es aber nicht. 

Warum sollten die Körper-Wahrnehmungen so tun, als würden sie wahrnehmen?“

Bei meiner Antwort muß ich ein wenig vorgreifen; richtig verständlich kann sie also erst im dritten Teil unserer Überlegungen werden.

 

Wir glauben weitgehendst – mit der Tradition –, die Wirklichkeit sei in dem Sinne zeitlich, daß sie sich auf einem Strahl mit dem Parameter t adäquat beschreiben ließe. Hinter dieser Überzeugung steckt das universale Denken der Kausalität: Alles muß eine Ursache haben, und die geht ihrer Wirkung natürlich voraus. In der Sprache von John und Ellis McTaggart entspricht dies der B-Reihe, die keine zeitlichen Tempi – Früher, Jetzt oder Später –, sondern nur die Relationen „früher als . . .“, „gleichzeitig mit . . .“ bzw. „später als . . .“ kennt.   

  Da eine solche Zeit ein Seiendes wäre, kann auch sie für uns nicht existieren; ganz analog zum Raum; dieser entsteht durch das Sehen, und jene durch das Denken oder Vorstellen.

 

An die Stelle der inexistenten seienden Zeit treten bei uns zwei Zeitigungen:

Alle Wirkliche muß möglich sein ermöglicht werden.

Ist das geschehen, kann, aber muß es noch nicht sein.

Alles Wirkliche muß nämlich nicht nur ermöglicht, sondern – in einem zweiten Schritt – auch verwirklicht werden.

In einem geläufigeren Sprachspiel entsprechen dem Ermöglichen die notwendigen und dem Verwirklichen die hireichenden Voraussetzungen.

 

Damit kann ich Ihre Frage halbwegs beantworten:

Die Körper-Wahrnehmungen nehmen nicht(s) wahr – „tun aber so, als würden sie es“.

Nein; sie tun auch nicht so, als würden sie es, sondern die Körper-Wahrnehmungen ermöglichen die Wahrnehmungen oder erfüllen die dafür notwendigen Voraussetzungen. Das Verwirklichen bzw. die hinreichenden Voraussetzungen liegen nicht bei den Körper-Wahrnehmungen – und deswegen nehmen sie auch nicht wahr.

 

Ich habe sogar noch ein zweites, in meinen Augen ebenfalls sehr starkes Argument gegen die traditionelle Überzeugung, wir seien unser Körper (Leib), denn sie ist schon rein logisch falsch, weil widersprüchlich:

Ich kann nur von meinem Körper (Leib) sprechen und mich damit zu seinem Besitzer erklären, wenn ich nicht mit ihm zusammenfalle, sondern ihn nur habe; A besitzt niemals A.

Natürlich habe ich den Körper (Leib) anders als ein Auto. Nur er – nicht aber das Auto – scheint mir der Träger oder Adressat aller meiner Sehungen (Erfahrungen) zu sein.

 

AD: „Das habe ich verstanden und kann es auch gut nachvollziehen; aber daraus resultiert schon wieder das nächste Problem:

Wenn mein Körper – kein Seiendes, sondern – nur eine Sehung ist, kann er nichts tun; Wahrnehmungen handeln nicht; Körper werden nur gesehen. Aber Sie wollen doch nicht ernstlich bestreiten, daß unsere Körper beispielsweise laufen, arbeiten oder spielen.“

Meine Antwort ist überraschend einfach, weil sie partout nichts Neues enthält.

 

Wir verstehen den eigenen Körper als diejenige Sehung, die der Träger oder Adressat all unserer Sehungen zu sein scheint; nicht ist, sondern zu sein scheint.

Mein Körper steht zumeist nicht wie ein Denkmal auf dem Sockel, sondern ist ein veränderlicher Körper, das heißt, eine veränderliche Sehung (unter Einschluß des unveränderlichen Grenzfalls). Er scheint beispielsweise zu laufen, zu arbeiten oder zu spielen – tut es jedoch nicht.

Ich laufe, arbeite oder spiele, aber mich kann niemand sehen, weil sich Subjekte nicht im Raum befinden.

Von meinem Handeln zum Schein-Handeln meines Körpers

ist exakt der unbeschreibbare Weg zurückzulegen, der auch – wie soeben dargelegt –

von mir zu meinem Sockel-Körper führt,

denn es gibt mich nur als Handelnden und meinen Körper als Schein-Handelnden.

 

Ich hatte, mit anderen Worten, oben bereits exakt das Gleiche sagen wollen wie jetzt, aber dabei vergessen zu erwähnen, daß es mich ja ohne irgendein Handeln gar nicht gibt. Schlafende, meditierende oder betende Subjekte handeln ebenfalls, und deswegen „handeln“ auch „schlafende“, „meditierende“ bzw. „betende“ Körper.  

 

Ich weiß aus Erfahrung, daß diese Stelle unseres Roten Fadens schwierig ist, und erkläre sie deshalb nochmals anders, indem wir zwischen philosophischen und grammatischen Subjekten unterscheiden.

Letztere bestehen in Anschauungen (Wahrnehmungen oder Vorstellungen) und können somit gar nicht aktiv werden. Natürlich fahren Autos und Bomben explodieren vielleicht sogar – aber nicht aus sich heraus. Ihr „Handeln“ kommt nicht aus ihnen und ist darum auch kein Handeln, sondern Teil einer bloßen Veränderung. Unsere Anschauungen bestehen dann in Prozessen, Abläufen, Entwicklungen oder ähnlichem, enthalten aber keine Aktivität.

Das ist bei den philosophischen Subjekten anders; sie handeln aus eigenem Antrieb – oder können es zumindest.  Deswegen bildet ihr Handeln auch keine bloße Veränderung, sondern eine Veranderung.

 

Damit sind wir endlich bei der Erklärung angelangt, die ich Ihnen noch schuldig geblieben war – und leider zum Großteil auch weiterhin bleibe:

Daß Anschauungen veränderlich sind, bedeutet, daß in ihnen letztlich nichts geschieht; sie laufen ab, statisch unter einem konstanten Begriff,  nichts ereignet sich.

Handlungen bilden dagegen verandernde oder dynamische Ereignisse, die sich nicht auf einen konstanten Begriff bringen lassen.

 

AD: „Ich kann niemals Subjekte sehen, sondern immer nur Körper. Woher weiß ich dann bei letzteren, ob – wie bei meinem Körper – ein Subjekt dahintersteht, oder es sich beispielsweise nur um eine Roboter-Sehung handelt?“

Das wissen wir ganz genau, weil hinter keiner Sehung ein Subjekt steht; meine Begründung ist sogar recht einfach:

Was hinter einer Sehung stehen soll, müßte

– das Urbild zu dieser als Abbild verstandenen Sehung oder

– ein Referent von ihr sein.

Es gibt jedoch kein philosophisches Abbilden; das haben wir ebenso aufzuzeigen versucht wie die Tatsache, daß nur Vorstellungen, aber keine Wahrnehmungen Referenten besitzen können.

 

AD: „Nein; daß hinter keiner Sehung ein Subjekt steht, kann nicht stimmen; zum Widerlegen von Allaussagen genügt jedoch zum Glück ein Gegenbeispiel:

Sie müssen zugeben, daß ich als Subjekt hinter meinem eigenen Körper stehe.“

Nein; das muß ich nicht!

 

Das Sehen bzw. die es symbolisierenden Pfeile zeigen von mir zu meinen Sehungen; das ist völlig problemlos, weil letztere als Körper im Raum verteilt sind.

Für meinen eigenen Körper benötige ich jedoch einen Doppelpfeil. Aber wie kann etwas – woher auch immer – auf ein unsichtbares Subjekt verweisen? Wir wissen absolut nicht, worauf sich das „sein“ in „sein Körper“ bezieht, sondern nennen es einfach „ich“, „Subjekt“ oder „Sehender“.

Und trotzdem ist dieser Bezug durch das Sehen möglich:

Mein Körper ist derjenige, der zu sehen scheint und dadurch auf mich als den wirklich Sehenden verweist.

Oder kürzer gefaßt:

Das ist mein Körper, weil er durch das Sehen – sein „Sehen“ – auf mich verweist.

 

Diesen Satz kann aber nur das betreffende Subjekt, das heißt, ich selbst sprechen; aus der Perspektive des Körpers besitzt er keinen Sinn.

Das bedeutet, daß wir niemals vor der Frage stehen, hinter welchem Körper sich ein Subjekt befindet. Das ist ein falsch konstruiertes und deswegen nur scheinbares Problem, weil es für mich nur ein einziges Subjekt gibt – nämlich mich selbst.

Dieses Ergebnis ist grund-legend und rechtfertigt meines Erachtens, daß ich in dem gesamten Buch nur von mir und meinem Leben schreibe. Das hat nichts mit Egozentrismus zu tun, denn Sie lesen ebenfalls nur von sich und Ihrem Leben.

 

AD: „Das hatte ich nicht erwartet, obwohl überraschenderweise alles ganz gut zusammenzupassen scheint . . . Darf ich bitte einmal mit meinen eigenen Worten wiederholen?

Sie haben sich in diesem Kapitel auf das Sehen beschränkt; aber ich denke, nur um verständlicher schreiben zu können, und werde deshalb wieder auf das gesamte Wahrnehmen verallgemeinern.

Alle Wahrnehmungen können als grammatische Subjekte fungieren; Maschinen, Tiere, Menschen, Götter. Sie sind integriert in irgendwelche Prozesse, Abläufe, Entwicklungen oder ähnliches; am besten sprechen wir von Veränderungen, die die Nicht-Veränderungen als asymptotischen Grenzfall enthalten. Ob das Auto schnell fährt oder das Haus fest steht, ist völlig einerlei. 

Keines der grammatischen Subjekte kann ein philosophisches sein und damit wirklich aus sich heraus etwas tun. Das sieht nur immer so aus; wenn der Roboter Schach spielt, die Katze Mäuse fängt, Menschen zur Arbeit gehen oder Götter in die Geschichte eingreifen.

 

Wahrnehmungen gibt es nur für Subjekte, denn sie entstehen durch deren Wahrnehmen. Daß dieses nicht wieder wahrgenommen werden kann, versteht sich von selbst:

Das Wahrnehmen führt zwar stets zu den Wahrnehmungen, aber traditionell bilden letztere eine bloße Repräsentation der Seienden, während sie postmodern eine kreative Präsentation darstellen. Damit ist klar, daß wir weder Subjekte noch deren Handeln, zu dem auch das Wahrnehmen gehört, wahrnehmen können.  

 

Die Frage nach der Anzahl der Subjekte ist zweideutig.

Auf der einen Seite läßt sie sich natürlich nicht beantworten, denn es sind beliebig und vielleicht auch unbestimmt viele.

Aber auf der anderen Seite können wir konkretisieren zu der Frage, wieviele Subjekte in meinem Leben vorkommen. Dann lautet die Antwort: Nur ein einziges, nämlich ich selbst

Das war bisher meine überraschendste Erkenntnis in Ihrem Buch; aber sie ergibt sich so zwingend, daß ich sie schlucken muß:

Ohne philosophisches Abbilden kann es in meinem Leben keinen zweiten Wahrnehmenden oder Vorstellenden geben, sondern nur Wahrnehmungen und Vorstellungen. Höchstens letztere besitzen Referenten; aber auch sie sind keine Subjekte, sondern lediglich geglaubte Vorstellungen.“

2.5.1. Ethische Konsequenzen

Die Konsequenzen, die sich aus unseren letzten Überlegungen ergeben, lassen sich wohl kaum erahnen. Wir betrachten ein Beispiel, bei dem es zugleich noch einmal darum geht, die neuen Gedanken besser zu verstehen. 

 

Fairness, die Goldene Regel oder das „Wie du mir, so ich dir“ werden häufig als ethische Prinzipien dargestellt. Ich halte das aus zwei Gründen für völlig falsch.

Zum einen gehen Geschäftsleute oder womöglich sogar Gangster so miteinander um und bewegen sich damit ausschließlich innerhalb eines im weiteren Sinne ökonomischen Rahmens. Es ist nicht moralisch, sondern clever, dem anderen das, was wir von ihm nicht möchten, auch selbst nicht anzutun; vielleicht treffen wir uns ja noch einmal.

Zum anderen – und allein das ist neu – kann eine Ethik nicht symmetrisch sein, weil sie an die Subjekte gebunden ist und ich das einzige Subjekt in meinem Leben bin. Insbesondere Emmanuel Levinas wies immer wieder darauf hin, daß die Ethik absolut einseitig ist, weil sie allein von mir ausgehen muß; „Ich bin der Hüter meines Bruders“ oder „Geisel für den Anderen“.

Was er – der Bruder oder Andere – tut, kann mir gewaltige Schwierigkeiten bereiten, sehr wehtun, Orientierungs-Möglichkeiten rauben usw. Aber das sind seine Entscheidungen, und weder kann ich sie direkt beeinflussen noch bin ich dafür verantwortlich.

 

Nehmen wir an, ich hätte Streit mit meinem Nachbarn. Taditionell ist das eine ganz symmetrische Situation; ich bin ja auch sein Nachbar, und so müssen wir eben beide ein bißchen nachgeben, vernünftig sein und guten Willen aufbringen. 

Postmodern entfällt diese Symmetrie; ich bin weiterhin ein Subjekt, aber der Nachbar ist nur noch ein Körper in Form von Wahrnehmungen. Es sind allein meine Wahrnehmungen, und sie beziehen sich auf nichts, weder gibt es Referenten noch Seiende.

Aus dem „er ist böse“ wird somit ein „ich erlebe ihn als böse“; er ist gar nichts, weil Wahrnehmungen keine moralische Qualität besitzen – sehr wohl aber ihr Träger; ich also. Wenn sich jemand andern muß, komme dafür folglich nur ich infrage. 

Ich bin der Hüter meines Bruders; aber nicht derjenige seines Gewissens, denn meine Wahrnehmungen besitzen gar keines.

 

Daß wir in unserem Leben keinen anderen Subjekten begegnen können, ist also nicht das Ende der Ethik, sondern ihr Anfang.

2.5.2. Fundamentale Anderung unserer Fragerichtung

Das war, wie gesagt, nur ein Beispiel; die entscheidende Korrektur betriift unsere Denkrichtung.

Wir wissen absolut nicht, wer wir als Subjekte sind, und dann muß natürlich auch unser Tun verborgen bleiben, denn schon die Frage, was Subjekte überhaupt tun könnten, läßt sich nicht beantworten. Was vermögen sie ohne Augen, Mund, Hände und Beine überhaupt noch?

Es geht also nicht wie bei einem Krimi darum, innerhalb einer bekannten Gruppe von Verdächtigen den Täter herauszufinden; die Gruppe existiert gar nicht, weil völlig unklar ist, was ihre Mitglieder charaktierisiert oder auszeichnet.

Ich erkenne nicht mein Tun, sondern stehe nur vor seinen Resultaten – den Wahrnehmungen.

Der Täter scheint mein Körper gewesen zu sein; aber i Glauben daran besteht die traditionelle Fehleinschätzung:

Dadurch, daß ein bestimmter Körper der Täter gewesen zu sein scheint, gibt er sich unseren Überlegungen zufolge als mein Körper zu erkennen.

Nochmals anders:

Ich tue das, was mein Körper zu tun scheint – aber in Wirklichkeit nicht tut, sondern dadurch auf mich verweist – und zu meinen Wahrnehmungen führt. Wir kennen nur das blau Hervorgehobene; das Rote bleibt uns verborgen.

 

Die Tradition fällt fällt darauf herein, kümmert sich „von Jonien bis Jena oder von den Vorsokratikern bis zu Hegel“ (Franz Rosenzweig) praktisch nur um das Sichtbare und vernachlässigt mich und mein wirkliches Tun sträflich.  

Das zeigt sich nicht zuletzt daran, daß sich nahezu alles um die Frage „Was ist . . .?“ dreht. Die Wirklichkeit wird traditionell stets als Einheit vorausgesetzt, und es ändert sich lediglich deren Zentrum, von dem aus dieses All erklärt bzw. verstanden werden soll. Die Antike geht kosmologisch von der Welt aus, das Mittelalter theologisch von Gott und die Moderne anthropologisch vom Menschen. Welt, Gott sowie Mensch bilden eine Totalität, und die Philosophie sieht sich vor die Aufgabe gestellt herauszubekommen, worin diese besteht oder eben was das ist.

Thales von Milet versuchte es mit „Wasser“; die nachfolgenden Antworten wurden natürlich immer komplizierter – die Fragestellung anderte sich jedoch nicht:

Es wird immer nur über das blau Hervorehobene nachgedacht und gesprochen – aber das Rote getan.

 

Den Übergang von Blau zu Rot meinte Rosenzweig mit seinem „Neuen Denken“ im „Stern der Erlösung“, das heißt, den Wechsel vom zeitlosen Sein zum zeitlichen Tun

An letzterem können wir den Täter oder Absender auf der einen Seite vom Perzipienten oder Adressaten auf der anderen unterscheiden. Diese Konkretiserung ermöglicht uns eine systematische Herangehensweise:

 

Anschauungen können natürlich nichts tun. Unsere subjektive Welt besteht aus geglaubten Vorstellungen, die möglicherweise von den Wahrnehmungen bestätigt werden. Zusammenfassend bedeutet dies, daß weder die Welt noch ihre Bestandteile als Täter infrage kommen; natürlich können sie Perzipienten sein.

Ich als Subjekt tue und das führt zu meiner Welt – aber auch nur zu meiner Welt. Damit haben wir eine saubere Definition Gottes:

Er stellt – gegebenenfalls – denjenigen Teil der Wirklichkeit dar, den ich durch mein Tun nicht erreichen kann.

Nach christlichem Verständnis schafft Gott die Welt und offenbart sich mir. Verstehen wir mit Rosenzweig unser Tun an der Welt als Erlösung, so ergibt sich die nachstehende Tabelle.

 

 

Täter Perzipient Leben    
         
Gott ich als Subjekt Offenbarung    
Gott Welt Schöpfung    
ich als Subjekt Gott ———–    
ich als Subjekt Welt Erlösung    
Welt Gott ———–    
Welt ich als Subjekt ———–    

Abbildung 2.5.2.

 

AD: „Diese Systematik von Rosenzweig gefällt mir; aber wir zahlen natürlich einen zu hohen Preis dafür:

Es kann doch nicht sein, daß alle Was-ist-Fragen als sinnlos abgetan werden?“

Nein; das werden sie auch nicht; unsere „Kehre“ bedeutet lediglich die Erkenntnis, daß es sich dabei nicht (mehr) um philosophische Probleme handelt.

Sowohl Fragen als auch Antworten sind doch nur innerhalb unseres Weltbilds möglich. Hier geht also immer um unsere subjektiven Vorstellungen, anhand derer wir uns orientieren. Ohne sie könnten wir zwar gar nicht leben, aber nichtsdestotrotz verbleiben sämtliche Fragen und Antworten auf einer rein pragmatischen Ebene.

Wir müssen wissen, was Giftpilze, Blitze und Autos sind, um zu überleben. Aber wenn wir wissen wollen, was Subjekte oder Gott sind, führt das zu Widersprüchen. Denn ein gewußter „Gott“ ist niemals Gott, und ein gewußtes „Ich“ kein Ich, denn beide werden als Gewußte zu Teilen der Welt.

 

AD: „Die Philosohie handelt also nicht von dem, was wir wissen oder wissen können. Das hatten Sie im Anschluß an Wittgenstein schon einmal in anderen Worten ausgedrückt: Fragen, die einmal definitiv beantwortet werden, waren auch zuvor keine philosophischen Fragen.

Aber wovon handelt dann die Philosophie überhaupt? Wenn sie ‚ihre‘ Fragen beantwortet, wird klar, daß es nie ihre Fragen waren.“ 

Der philosopische Gegenstand besteht ausschließlich in der Offenbarung; weder konstruieren wir ihn noch gehört er zur Welt. Aber als Offenbarung – und damit Nicht-Welt(bild) – bleibt dieser Gegenstand unverständlich; wir müssen ihn in die Sprache unserer Welt übersetzen und damit zu einem Teil der letzteren werden lassen. 

Wittgensteins Formulierung hat uns zunächst einmal geholfen, um hierher zu gelangen; legen wir sie bitte nicht auf die Goldwaage. Vielleicht meint er genau das mit seiner Leiter:

Wir benötigen Aussagen, die nicht 100%-ig richtig sind, um mit ihrer Hilfe ein etwas höheres Reflexionsniveau unseres Denkens zu erreichen. Sind wir zu ihm emporgestiegen, wird deutlich, daß wir die Leiter wegwerfen, das heißt, die betreffenden Aussagen vegessen können; sie stimmen ja ohnehin nicht ganz – waren als Verständnishilfe aber notwendig oder zumindest hilfreich. 

 

Daß wir nichts von Gott wissen (können), ist einerseits tiefste Überzeugung christlichen Glaubens. Andererseits führt es zu dem Widerspruch, daß dann auch unklar bleibt, von wem oder was wir nichts wissen (können). Was unterscheidet Gott vom Teufel, wenn das Unterscheiden an ein Wissen gebunden ist, über das wir nicht verfügen?

Da Gott sich mir in der Offenbarung mitteilt oder mein Philosophieren letztere in Aussagen der subjektiven Welt übersetzt, können wir diesen Widerspruch auflösen: 

Ich wandle das eine in das andere um; die unwißbare Offenbarung Gottes wird durch mein Philosophieren zum Wissen und verandert meine Welt. Im Verlaufe der Zeit kann dadurch immer mehr von der Offenbarung auf die Welt übergehen.

 

AD: „Die Tradition geht davon aus, daß wir als Körper in der objektiven Welt leben.

Ihren Überlegungen zufolge sind wir Subjekte, die den Raum aller Anschauungen durch ihr Tun – insbesondere das Sehen – erst hervorbringen, so daß sich die Frage nach dem Worin unseres Lebens gar nicht stellt.

Aber was kommt stattdessen?“

Mein Leben besteht im Zusammenspiel von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung.

Gott tritt aus sich heraus

– in der Schöpfung zur Welt sowie

– in der Ofenbarung zu mir und

ich trete aus mir heraus

– zur Welt.

 

Gott, ich und Welt kommen also explizit gar nicht vor; wir benötigen sie aber, um unser Leben als das Zusammenspiel von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung verstehen zu können.

2.6. Die objektive Wirklichkeit als Hinterwelt

Die objektive Wirklichkeit bildet eine Hinterwelt, weil traditionell Denkende mit ihr etwas zu wissen behaupten, was prinzipiell niemand wissen kann – weil es außerhalb der Psyche liegt – und sich damit in einen Widerspruch verwickeln.

AD: „Also kann es auch kein Unbewußtes bzw. Nicht-Psychisches geben?“

 

Doch; das ist etwas ganz anderes:

Die objektive Wirklichkeit soll uns außerhalb der Psyche vorgegeben sein, in dem Sinne. daß sie vollkommen unabhängig von uns ist. Das „traditionelle Wunder“ besteht darin, sie trotzdem zu kennen.

Das Unbewußte befindet sich natürlich ebenfalls außerhalb der Psyche, ist uns aber nicht vorgegeben, sondern bildet ein Erfordernis unseres Wirklichkeits-Bildes. Letzteres stimmt nicht ohne das Unbewußte; dieses ist also nicht erkannt, sondern – ganz offen und ehrlich – projiziert. Wir stehen beim Unbewußten zu dem, was traditionell Denkende mit ihren Seienden heimlich oder zumindest unbeabsichtigt tun.

 

AD: „Die Vertreter der Postmoderne setzen sich überall für Toleranz, Vielfalt, Harmonie, Pluralismus, Gesprächsbereitschaft und dergleichen ein. Das geht soweit, daß ihnen von traditionell-konservativer Seite ein ‚Abschied von der Wahrheit‘ oder eine ‚Diktatur des Relativismus‘ vorgeworfen werden.

Da überrascht mich Ihre Überschrift trotz der Klärung soeben doch ein bißchen: Wenn Sie die objektive Wirklihkeit als Hinterwelt betrachten, bedeutet dies doch, daß der postmoderne Spaß spätestens hier endet. Wer daran glaubt, darf nicht länger mitspielen.“  

 

Nein; das wäre ein völliges Mißverständnis:

Die Toleranz der Postmoderne allen – (natürlich) menschlichen, freiheitlichen, demokratischen, friedlichen . . . – Weltbildern oder Religionen gegenüber, ist nur möglich, wenn wir auf sämtliche – Behauptungen von – Hinterwelten verzichten. Was Sie als leidige Grenze der postmodernen Offenheit geschildert haben, bildet also in Wirklichkeit ihre notwendige Voraussetzung und ermöglicht erst die Freiheit als Verantwortung, die nach meinem Dafürhalten im Zentrum der Postmoderne steht.

Meine Begründung erweist sich als denkbar einfach:

Wenn es eine (erkennbare) objektive Wirklichkeit gäbe, sollten sich unsere Wirklichkeits-Bilder auf diese beziehen, so daß letztere mehr oder weniger richtig und sogar völlig falsch sein könnten. Wer sich im Besitz eines adäquaten Abbilds(P) wähnt, wird kaum sonderlich tolerant sein und die ihm vielleicht unverständliche Selbstbestimmung seiner anders – und somit eo ipso falsch – abbildenden Mitmenschen achten (können). Die Andersgläubigen müssen ja entweder naiv bzw. dumm oder böse sein.

Toleranz bedeutet dann nicht, sie mit ihren Überzeugungen als gleichwertige Subjekte anzuerkennen, sondern ihnen auf Teufel komm raus zur richtgen Einsicht zu verhelfen.

 

Das Fehlen einer objektiven Wirklichkeit beendet also nicht den postmodernen Spaß, um Ihre Formulierung aufzugreifen, sondern ermöglicht ihn erst.

Er endet dort, wo irgendwelche Menschen der postmodernen Offenheit widersprechen und hinterwäldlerisch beanspruchen, über richtiges Wissen von einer angeblichen objektiven Wirklichkeit zu verfügen, dem sich alle anderen unterzuordnen haben.

Beweist die Geschichte nicht hinreichend deutlich, daß ein solcher angemaßter Besitz der „Wahrheit“ immer wieder die schlimmsten Verbrechen – in der Politik, Wirtschaft, Religion, im Alltag oder wo auch immer – zu rechtfertigen scheint?

Wir können und sollen die Wirklichkeit verbessern; aber hierfür ist kein Abbild(P) von ihr erforderlich, sondern genügt es, einfach dort, wo wir sind, das heißt, im eigenen Leben damit zu beginnen.

 

Die objektive Wirklichkeit bildet eine Hinterwelt, und das völlig unabhängig von ihrer konkreten Gestaltung.

In Antike und Mittelalter bestand sie in der Einheit von Immanenz und Transzendenz.

Während der Moderne setzte sich immer stärker der Gedanke durch, daß letztere eine bloße Hinterwelt sei und wir uns auf die naturwissenschaftliche Seite der Immanenz konzentrieren sollten, die (dadurch) immer mehr zum physikalischen Kosmos degenerierte.

Das nannte sich wohl „Aufklärung“, brachte aber sehr viel Polemik ins Spiel. Der antik-mittelalterliche Absolutheitsanspruch der Religion wurde – zu Recht – beseitigt, aber – zu Unrecht – durch den der exakten Wissenschaften ersetzt.

 

In der Postmoderne entsteht möglicherweise wieder eine fruchtbare Balance, weil nun die gesamte objektive Wirklichkeit als Hinterwelt durchschaut wird; die diesseitige ebenso wie die jenseitige.

Ich erhoffe mir hiervon eine wirkliche Aufklärung, das heißt, eine Aufklärung über die „Aufklärung“, die durch die Einsicht, daß wir uns keinerlei – weder religiöser noch wissenschaftlicher – Fremdbestimmung zu unterwerfen haben, zur eigenen Selbstbestimmung befreit.

 

Hinterwäldlerisch sind also niemals die jeweiligen konkreten Vorstellungen oder Überzeugungen, sondern hinterwäldlerisch ist allein die Annahme, von einer objektiven Wirklichkeit zu wissen; von welcher auch immer. Wer deren Materie im Auge hat, ist folglich keinen Deut aufgeklärter als derjenige, der vom objektiv-wirklichen Teufel spricht.

AD: „Ich darf also an nichts mit Sicherheit glauben oder von keiner Entität fest überzeugt sein, denn ich würde auf diese Weise hinterwäldlerisch und mich damit von jedem vernünftigen Diskurs verabschieden?“

Nein; das wäre ja furchtbar, würde ich dergleichen – Absurditäten – behaupten!

Ob wir etwas und gegebenenfalls was wir subjektiv mit 100%-iger Sicherheit glauben, spielt überhaupt keine Rolle. Wir könnten uns beispielsweise todsicher sein, daß es sowohl Materie als auch eine Evolution gibt oder Gott mit seinem Hofstaat von Engeln und der Teufel nebst Unterteufeln existieren. Es wird kaum etwas Widerspruchsfreies geben, das wir nicht für selbstverständlich halten dürften.

 

Die Begründung für unseren möglicherweise tiefen Glauben müßte dabei jedoch sinngemäß stets etwa folgendermaßen lauten:

„Aufgrund meines bisherigen Lebens ergibt sich für mich zwingend, daß es sich so verhalten muß; ich kann gar nicht anders denken, will ich mir nicht selbst widersprechen, unvernünftig sein, mich absichtlich dumm stellen oder selbst belügen.

Aber hier geht es nur um meine subjektiven Überzeugungen und nicht um eine objektive Richigkeit. Ich will wahrhaftig sein – und sage deswegen ganz ehrlich, wie ich es sehe; mehr ist gar nicht möglich und vermag niemand. Das Lutherische ‚Hier stehe ich und kann nicht anders‘ trifft die Situation recht gut.

Wir können uns gegenseitig um Wahrhaftigkeit bitten, aber von niemandem die Wahrheit erwarten.“

 

Ohne den Glauben an eine objektive Wirklichkeit können wir völlig problemlos die offensichtliche Tatsache anerkennen, daß Kinder und Erwachsene, Soziahilfeempfänger und Manager, Christen und Muslime sowie um Regen tanzende Hopiindianer oder atheistische Abendländer, psychisch „Kranke“ sowie Nobelpreisträger mit ihren jeweiligen subjektiven Realitäten leben, zwischen denen wohl häufig keinerlei Berührungspunkte bestehen.

Nietzsche wußte das schon lange vor uns und schrieb am Ausgang der Moderne, daß „die wahre Welt zur Fabel geworden ist“. Das führt zu dem postmodernen Pluralismus der subjektiven Wirklichkeiten, den wir heute alle bereits erleben, der aber erst am Anfang seiner Entfaltung stehen und sämtliche „Bastionen einer objektiven Wirklichkeit oder Wahrheit“ hinwegfegen dürfte.

Ob wir die Heraufkunft dieses Pluralismus begrüßen oder bedauern und die damit verbundenen neuen Freiheiten feiern oder den verlorenen Gewißheiten nachtrauern, spielt dabei keine Rolle, weil die Geschichte irreversibel ist, so daß ohne Katastrophen wie Kriege, Umweltzerstörung, Genmanipulation, Gehirnwäsche, Diktaturen usw. die eindimensionale – Naivität der – Tradition (zum Glück) nicht wiederkehren wird.

 

Ein Hinter-die-„Aufklärung“-zurück kann sich ohnehin niemand wünschen, dem die (subjektive) Vernunft und Freiheit als die Grundlagen der Menschenwürde sowie eines erfüllten Lebens wichtig sind.

In diesem Sinne verstehe ich die gesamte Menschheitsgeschichte als eine Offenbarungsgeschichte, das heißt, als den Versuch Gottes, sich uns mitzuteilen. Er ist ein Gott des Lebens, und der Glaube soll uns zu dessen Fülle befreien. Alle Institutionen, die wir schaffen, um dem Leben und der Freiheit zu dienen, gehören nach Ansicht von Gianni Vattimo zur Menschwerdung Gottes.

 

Wir müssen also, wie bereits ausgeführt, Überzeugung und Wahrheit deutlich auseinanderhalten.

Letztere besitzt niemand, weil man sie gar nicht besitzen kann. Behaupten wir in einem Disput, die eigene Überzeugung sei wahr, dann ist das kein – weiteres – Argument für unsere Position, sondern lediglich die unseren Gesprächspartner beleidigende Behauptung, daß seine Überzeugung falsch sein muß, insoweit sie der unsrigen widerspricht.

Krass ausgedrückt bedeutet „Ich sage die Wahrheit“ im Sreitgespräch das Gleiche wie „Sie irren – und irgendwann ist meine Geduld mit Ihnen am Ende“.

Wer so redet, sehnt sich nicht nach Wahrheit, sondern will Recht haben. Denn wer die Wahrheit sucht, kann nicht behaupten, sie (bereits) zu haben; entweder . . ., oder . . .

Ich bin überzeugt, daß sich das, was wir haben (können), gemessen an der Wahrheit einmal als entsetzlich lächerlich erweisen wird und wir uns dann für diese kleinkarierte „Wahrheit“ schämen werden. Das meinte beispielsweise Karl Rahner von seiner eigenen Theologie; er stellte sich vor, wie Gott darüber lacht: „Das soll ich sein?“

 

Wir können bestenfalls – und sollten natürlich auch – wahrhaftig sein; das heißt, im Sinne unserer eigenen Überzeugungen leben und damit ohne alle diesbezüglichen Wahrheitsansprüche das sagen, was wir wirklich glauben oder denken und auch dementsprechend handeln.

André Gide warnte uns vor allen Menschen, die mit dem Anspruch auftreten, die Wahrheit gefunden zu haben, und empfiehlt uns diejenigen, die nach ihr suchen.

 

In einer frommen Sprache formuliert heißt das meines Erachtens:

Christen, die sich im Besitz der Wahrheit wähnen, erwarten vom Reich Gottes lediglich die – lobhudelnde – Bestätigung, daß Sie Recht hatten; das wäre meines Erachtens entsetzlich wenig und grauselig langweilig.

Ich bin dagegen überzeugt, daß wir in unserem ganzen irdischen Leben keine Wahrheit finden können, aber nichtsdestotrotz Suchende bleiben sollen und das Reich Gottes uns mit seiner Wahrheit trotz aller Suche noch umwerfen wird.

Zumindest hoffe ich das ganz stark; es würde mich fuchtbar enttäuschen, wäre Gott nicht viel mehr und absolut Besseres eingefallen als mir.

 

Daß wußte schon Lessing vor bald 300 Jahren, und weil er mir aus der Seele spricht, zitiere ich ihn ausnahmsweise einmal recht ausführlich:

„Wenn mir in der einen Hand die Wahrheit, in der anderen das Streben nach ihr geboten würde und ich wählen müßte, ich würde das letztere wählen, und des Apostels Aufforderung lautet: Prüfet alles! Ohne Prüfung kann man nicht erfahren, ob der Geist, der in uns spricht, und die Geister, die zu uns reden, aus Gott sind oder nicht. Nur durch redliche von reiner Liebe zur Wahrheit ausgehende Prüfung wird sie allmählich unser Eigentum.

Darum fühlen wir uns zu dem hingezogen, der uns zur Prüfung seiner angeblichen Wahrheit auffordert, und wenden uns von dem ab, der uns seine Wahrheit aufdrängen will. Ein solcher erweckt mit Recht in uns das Vorurteil, daß er selbst nicht an die Wahrheit seiner Lehren glaube.

Denn die Wahrheit kann durch Prüfung nur gewinnen; die Wahrheit besteht in der bestandenen Prüfung, die Lüge und der Wahn aber verschwinden durch sie. Wer daher die Prüfung vorgeblicher Wahrheiten scheut und verhindern will, ist kein Freund der Wahrheit, sondern ihr Feind.

Kein Mensch auf Erden hat daher Ansprüche auf sogenannte Untrüglichkeit. Wer als unbedingte Autorität gelten will, wird daher verworfen.“

 

Sie sagten zu Beginn dieses Kapitels: „Wer an eine objektive Wirklichkeit glaubt, darf nicht länger mitspielen.“ Selbst diese Formulierung ist also noch zu einschneidend; Sie dürfen sogar an eine objektive irklichkeit glauben.

Nehmen wir als Beispiel das heute herrschende evolutive Weltbild mit Urknall und reinem Physikalismus. Es könnte Ihnen so überzeugend erscheinen, daß Sie sagen: „Das ist es! Ich glaube ganz fest, daß dieses Weltbild die objektive Realität adäquat wiedergibt, und danke den Physikern für ihre großartige Umsicht. Daß J. S. die Existenz dieser objektiven Realität bestreitet, ist mir doch gleichgültig; dann täuscht er sich eben.“ 

Denken Sie so, kann ich 100%-ig mitgehen: Sie stellen sich eine bestimmte Art von objektiver Wirklichkeit vor und glauben, die letztere damit adäquat wiederzugeben. Das ist völlig unproblematisch, denn wir können uns (nahezu) alles Widerspruchsfreie vorstellen und natürlich auch die eigenen Vorstellungen glauben. 

Das gilt selbstverständlich auch für die objektive Wirklichkeit; bei ihr kommt sogar noch hinzu, daß wir den Zusammenhang in diesem Fall auch umkehren können:

Sie ist das, was sich nur vorstellen und glauben läßt.

 

Und damit sind wir wieder bei dem einzigen „Verbot“, dessen Übertretung uns in die Hinterwelt führt:

Sie dürfen nicht behaupten, die objektive Wirklichkeit erkannt bzw. abgebildet zu haben und dadurch von ihr wissen; erst durch diese widersprüchliche Zusatzannahme würde sie zu einer Hinterwelt.

Nun also endgültig:

Der postmoderne Spaß endet nicht, wenn Sie (an) eine objektive Wirklichkeit glauben, sondern erst, falls Sie

– diese als adäquat abgebildet,

– somit als erkennbar und

– folglich auch intersubjektiv verbindlich

behaupten.

 

Damit muß ich auch meine bisherige Ausdrucksweise nachträglich ein wenig relativieren, behalte sie aber der Deutlichkeit halber bei:

Wenn wir keinerlei Zugang zum Außerhalb unserer Psyche besitzen, kann ich natürlich auch nicht erkennen, daß keine objektive Wirklichkeit existiert

AD: „Also steht es zwischen Ihnen und den modernen Traditionalisten 1 : 1; letztere glauben (an) die objektive Wirklichkeit und Sie nicht.“

Möglicherweise „ja“; das ging aber jetzt etwas zu schnell, denn wir müssen zwei Fälle unterscheiden.

 

Wenn die modernen Traditionalisten nur sagen, es gäbe eine objektive Wirklichkeit ohne deren Form zu konkretisieren, haben Sie mit Ihrem 1 : 1 theoretisch Recht.

Praktisch erhebt sich in diesem Fall jedoch die Frage, worin eigentlich der Unterschied zwischen der Existenz bzw. Nicht-Existenz einer vollkommen unbekannten objektiven Wirklichkeit bestehen soll. Ist das tatsächlich ein Unterschied, der einen Unterschied macht?

 

Legen sich die traditionell Denkenden jedoch auf eine spezielle Realität fest, stimmt das 1 : 1 nicht mehr, weil ihr Glaube möglicherweise zu spezifischen Konsequenzen für unser Leben führt. Beispielsweise könnten Kühe heilig, der Koran wörtlich inspiriert und unser Leben durch die Naturgesetze oder den Willen Gottes determiniert sein. 

Wer etwas Spezielles oder Konkretes behauptet, steht in der Beweispflicht; nicht der staunende Gesprächspartner.

Daß gerade Kühe heilig sein sollen, müßte von den Gläubigen begründet und braucht nicht von uns Ungläubigen widerlegt zu werden. Es beweist (meines Erachtens) auch niemand, weshalb Flöhe – angeblich – nicht heilig sind.

 

Unsere Vorfahren haben Wege gefunden, Oliven genießbar zu machen; das ist bei dieser Frucht nicht selbstverständlich, sondern eher ein kleines Wunder. Und das, sagen die Mythen, verdanken wir der Göttin Athene, die uns Menschen gelehrt hat, die Oliven entsprechend aufzubereiten.

Wer diese dem traditionellen Denken entsprechende Erklärung für richtig hält, dem kommt eine Begründungspflicht zu.

Mit dem bloßen Ablehnen dieses Mythos vertreten wir jedoch keine ebenso konkrete gegenteilige Meinung, sondern distanzieren uns lediglich von dem Mythos. Weder bedarf das einer Rechtfertigung, noch bedeutet es, sich um eine andere Erklärung bemühen zu müssen; die Athene-Geschichte interessiert uns doch vielleicht gar nicht.

 

Solange es, anders formuliert, um unsere subjektive Wahrhaftigkeit und nicht um eine angebliche objektive Richtigkeit geht, sind wir absolut nicht hinterwäldlerisch, wie „hinterwäldlerisch“ auch immer unsere Überzeugungen sein mögen.

Dann sagen wir jedoch auch nicht „so ist es“; diese traditionelle Anmaßung entspricht dem Hinterwäldlerischen.

 

AD:  „Und sie entspricht dem Sein-Wollen-wie-Gott?“

Ich glaube „ja“. Ohne das traditionelle Denken ist ein objektiver Richtigkeitsanspruch gar nicht möglich; es bildet eine notwendige Voraussetzung dafür, muß aber nicht zu ihm führen. Menschen können traditionell denken und sich dennoch ganz bescheiden weit entfernt von jeder Richtigkeit wähnen.

Wer jedoch den Anspruch erhebt, sie vor sich zu haben,

– will wie Gott sein,

– ist in Wirklichkeit aber hinterwäldlerisch.

2.6.1. Wissenschaft und Hinterwelt

Warum ver(sch)wende ich so viel Zeit und Mühe darauf, Ihnen die objektive Wirklichkeit oder Hinterwelt wegzunehmen, die Sie ohnehin niemals erfahren haben bzw. werden?

Weil dieser traditionelle Glaube zu weitreichenden Konsequenzen führt.

Das gilt nicht zuletzt für die empirischen Wissenschaften. Obwohl in ihnen nur Wahrnehmungen und Vorstellungen auftreten (können) und noch niemandem Seiende begegnet sind, glauben sehr viele ihrer Vertreter, von deren objektiver Realität zu sprechen.

Warum eigentlich?

 

Können Wissenschaftler plausibel machen, das Ziel ihrer Forschung bestehe in der neutralen Abbildung der objektiven Wirklichkeit – unabhängig davon, ob sie das nun selbst glauben oder nicht –, läßt sich letztlich jede Forschung rechtfertigen, weil sie dann voraussetzungslos sowie wertfrei sein muß und Wissen stets besser ist als Nicht-Wissen. Allein Lügner, Verführer oder Scharlatane müssen Angst vor der Wirklichkeit haben; die Zunahme des Wissens ist purer Fortschritt und immer gut.

Und außerdem befinden wir uns als diejenigen, die lediglich die objektive Wirklichkeit wiedergeben, in einer beneidenswerten Position: Wie entsetzlich auch immer unsere Ergebnisse sein mögen – wir sind nicht verantwortlich und finden sie auch einfach nur schrecklich. Beschwert Euch aber bitte an einer anderen Stelle, bei Gott, der Evolution oder wo auch immer, jedenfalls nicht bei uns; wir haben das nicht gemacht, sondern bilden es ganz neutral ab. Wir zeigen Euch nur, wie schlimm alles ist; seid uns bitte dankbar“.

Nun können wir wieder den ersten rot hervorgehobenen Absatz anschließen.  

 

Eine objektive Realität zu behaupten oder eine entsprechende Hinterwelt zu erfinden, ist letztlich die Lüge, es gäbe eine Kotrollinstanz für unsere Forschung:

„Würden wir die Seienden nicht adäquat abbilden oder wären wir nicht auf dem richtigen Wege, träten Widerstände und Widersprüche auf, hätten wir keine technischen Erfolge und es entstünde ein großes Tohuwabohu. All das geschieht nicht; wir befinden uns also auf einem guten Weg, und laßt uns bitte so weitermachen. Wenn wir etwas Unrechtes tun, wird sich die Natur – der Seienden – gewiß zu Wort melden.“

 

Deswegen sehe ich im traditionellen Denken einen gewichtigen Grund für unsere aktualen Menschheitsprobleme.

Die als Kontrollinstanz behauptete objektive Realität, die dem Forschen eine Richtung vorgeben und es begrenzen oder unseren Eingriffen einen Riegel vorschieben könnte, existiert nicht. Was auch immer geschieht, wir ecken kaum an – weil gar nichts existiert, das sich uns in den Weg zu stellen vermag – und nutzen dieses Gar-nicht-Anecken-Können weidlich aus; entweder naiv oder berechnend, aber gewiß verantwortungslos.

Wir mißbrauchen, mit anderen Worten, den weit verbreiteten Glauben an eine objektive Realität, um unseren bisherigen Weg rückblickend als richtig darstellen zu können – „es hat nicht geknallt“ – und in diesem Sinne weitermachen zu dürfen – „die Seienden werden sich melden, sollten wir tatsächlich einmal danebenliegen“.

 

So geht unser „Fortschritt“ immer weiter; aber ohne angebbares Ziel können wir nicht sinnvoll von Fortschritt sprechen, denn er wird zu einem bloßen Nur-schnell-weg von diesem Hier und Jetzt.

Natürlich bliebe es ein lohnenswertes praktisches Ziel, allen Menschen ein Leben in  Freiheit und Würde zu ermöglichen; aber ich bezweifle ernsthaft, daß diese Intention in der abendländischen Moderne sonderlich stark ausgeprägt war.

Ihr Ziel ist eher ein theoretisches und bestand ursprünglich darin, die objektive Welt zu erkennen. Wenn sich in der Postmoderne der Gedanke durchsetzt, daß es diese  gar nicht gibt und wir Jahrhunderte lang ein Pseudoziel verfolgt haben, besteht vielleicht wieder die Chance, uns den wirklich brennenden Problemen zuzuwenden. 

 

AD: „Wenn die Realität nicht objektiv ist, können die empirischen Wissenschaften es auch nicht sein.“

Stimmt; der Glaube an eine erkenntnis-theoretische Objektivität ist hinterwäldlerisch; davon können wir uns schnell überzeugen:

Es gibt keine voraussetzungslose Wissenschaft – ganz einfach, weil aus nichts auch nichts folgt. Setzen wir keine – mehr oder weniger willkürlichen – Prämissen, fehlen also auch sämtliche Konklusionen; das voraussetzungsfreie Fachbuch bleibt völig leer. 

Mit anderen Worten heißt dies, daß die exakten oder Modell-Wissenschaften als Resultate nur die Konseqenzen ihrer eigenen Voraussetzungen enthalten können. Weder die Logik noch das Experiment sind kreativ; sie steuern nichts bei, sondern die Ergebnisse dieser Wissenschaften bestehen lediglich in den – freilich explizierten, ausgefalteten oder entwickelten und dadurch möglicherweise auch sehr überraschenden – Konsequenzen ihrer Modelle.

 

Ist die Wissenschaft – durch die Notwendigkeit von Prämissen – jedoch nicht voraussetzungslos, kann sie auch nicht wertfrei sein, denn mit den unabdingbaren Voraussetzungen, ohne die es gar keine Wissenschaft gibt, setzen wir zugleich ganz spezielle Werte.

Das daraus resultierende Ergebnis besteht also nicht in der, sondern in einer Wissenschaft.

So wie es beliebig viele Mathematiken gibt, wären auch die verschiedensten Physiken möglich. Wir haben uns für eine entschieden, mit deren Hilfe sich „phantastisch(e)“ Waffen bauen lassen, und können uns eine andere Physik gar nicht vorstellen. Es bleibt also insbesondere offen, ob die negativen Möglichkeiten unserer Physik zwangsläufig auch jeder anderen angehören würden.    

 

Es gibt natürlich auch eine ethisch-praktische Objektivität der Wissenschaften. Ihr zufolge sollen alle Ergebnisse ehrlich zustandekommen, unabhängig von den Wünschen der Forscher und somit nicht manipuliert sein. Subjektive Interessen dürften keine Rolle spielen; messen wir, was wir nicht wollten, dann messen wir eben, was wir nicht wollten; „schade“!

Eine solche Objektivität wird hoffentlich stets das Ziel der Forschung bleiben, hängt jedoch mit unseren Überlegungen bestenfalls am Rande zusammen.

 

AD: „Wenn die objektive Wirklichkeit eine Hinterwelt darstellt, können unsere diesbezüglichen Vorstellungen weder richtig noch falsch sein. Warum – und worum – streiten wir dann im Alltag, vor Gericht, in der Industrie oder Wissenschaft eigentlich häufig so erbittert?“ 

Das ist ganz einfach: Weil Alltag, Gericht, Industrie und Wissenschaft absolut nichts mit einer objektiven Wirklichkeit zu tun haben; immer und überall geht es nur um unsere Wahrnehmungen und Vorstellungen. Der Meteorologe sagt im Wetterbericht beispielsweise nicht voraus, daß die Ur-Sonne morgen Abend 20:16 Uhr untergeht, sondern welche Sonnen-Wahrnehmungen wir um diese Zeit erleben können.

Beim Streiten geht es zumeist um die Übereinstimmung zwischen unseren Vorstellungen und bestimmten Wahrnehmungen sowie um intersubjektive Konventionen. Es ist zum Beispiel falsch anzunehmen, daß der Klapperstorch die Eier und der Osterhase die Babys bringt.

2.6.2. Das moderne Weltbild als Mythos

Wir – das heißt, die erwachsenen und angeblich gesunden Abendländer um die zweite Jahrtausendwende – glauben zumeist, vom physikalischen Kosmos als einer objektiv-wirklichen Realität zu sprechen, während alle anderen Kulturen der Vergangenheit und Gegenwart aus unserer Sicht nur über bloße Weltbilder verfügen. Das sind Vorstellungen, die höchstens irrtümlich als Abbilder geglaubt werden – wovon aber bei vielen, besonders exotischen Weltbildern partout nicht die Rede sein kann. Unser Weltbild ist dagegen weitestgehend adäquat, und die anderen Varianten stellen bestenfalls seine Vorstufen dar oder sollten eher unter „Mythen“ kategorisiert werden.

Diese heute weit verbreitete Einstellung halte ich jedoch selbst für einen Mythos; es ist derjenige vom Fortschritt als der großen modernen „Metaerzählung“ (Jean-François Lyotard), die natürlich – wie könnte es auch anders sein – direkt zu uns als der Krone der Schöpfung Evolution führt und deshalb nur allzugerne geglaubt wird.

 

Ich halte die kosmische Evolutionstheorie dagegen für den „Weltentstehungsmythos des Atomzeitalters“ (Georg Picht).

Letzteres begann mit dem little bang von Hiroshima und Nagasaki, ist aber auch sonst ein Zeitalter der Explosionen; Bevölkerungszahlen, Wissungen, Informationen, Verfügbarkeiten, Fördermengen, Ansprüche, Geschwindigkeiten, Erwartungen, Produktionsraten usw. schnellen plötzlich in die Höhe. Damit einher gehen Zerstörungen beispielsweise von Lebensgrundlagen, Traditionen, Religionen, Werten, Sprachen, Minderheiten, Tieren oder Pflanzen.

Kann es uns überraschen, daß die Menschen einer solchen Zeit glauben, sich einem großen Knall verdanken zu müssen?

Die Urknalltheorie ist natürlich eine physikalische, aber ihre Akzeptanz wird nicht von einer angeblichen objektiven Realität her verständlich – Physiker sind keine Hinterwäldler –, sondern meines Erachtens allein psychologisch.

 

Ich bin – gegen den Zeitgeist – fest überzeugt, daß wir keine Ausnahmekultur sind und lediglich über (inter-)subjektive Wirklichkeits-Bilder verfügen, wie alle anderen Kulturen auch. Sämtliche Varianten haben ihre Vor- und Nachteile; weder sind sie nahezu gleichwertig im Sinne von Paul Feyerabends „anything goes“, noch befinden sich richtige Wirklichkeits-Bilder darunter

Wir glauben nicht, was richtig ist, sondern was zu glauben wir für richtig halten.

Das stellt fast eine Tautologie dar; alle gehen so vor und müssen so vorgehen. Das ist alternativlos; und ob es tatsächlich richtig war, wird bestenfalls die Zukunft zeigen.

Das gilt also auch für die traditionell Denkenden; sie erzählen ebenfalls nur, was zu glauben sie für richtig halten, und sind dabei überzeugt, uns die objektive Wirklichkeit zu schildern.

 

Das traditionell verstandene Wirklichkeits-Bild verstellt den Blick auf die Wirklichkeit des Lebens, indem es uns eine objektive Realität vorgaukelt,

– die ursprünglich oder primär sein soll und

– der wir unser Leben als sekundär unterzuordnen haben,

– weil wir angeblich in und von dieser Realität leben.

Mit einem solchen Denken belügen wir uns selbst; wir könnten das wissen, wollen es aber nicht wissen, und dafür bestehen mindestens fünf Gründe:

 

1. Zunächst interessiert uns sehr, „wie es wirklich ist“; postmodern läßt sich diese Sehnsucht jedoch nicht erfüllen.

 

2. Des weiteren wünschen wir uns Sicherheit, und die scheint nicht zuletzt dadurch gewährleistet zu sein, daß wir auf die uns als wichtig erscheinenden Fragen sowohl eindeutige als auch einfache Antworten geben können.

Es gibt sogar eine „Faszination des Primitiven“, die wir nicht nur bei politischen oder sportlichen Großveranstaltungen, sondern auch im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien mitunter ungeschminkt erleben können.

 

3. Wir suchen nach wärmender Gemeinschaft und möchten gerne in ihrem Strom mitschwimmen.

Die Mehrheit denkt aber nicht, und zahlreiche Umfragen zeigen, daß sie das auch gar nicht möchte. Selbst in Freiheit zu denken, vermag nur der Einzelne – wenn er denn will und den dafür notwendigen Mut aufbringt.

 

4. Viele Vorstellungen erscheinen uns als alternativlos, so daß wir scheinbar felsenfest von ihnen überzeugt sein müssen. Aber gegen die Annahme, Denknotwendigkeit hätte etwas mit Richtigkeit zu tun, sprechen zumindest zwei sehr starke Argumente.

Zum einen resultiert die angedeutete „Evidenz“ möglicherweise aus unserer Einseitigkeit, Denkfaulheit, Ignoranz oder mangelnden Phantasie. Wer kreativer ist, intensiver überlegt oder mehr Zeit investiert, findet vielleicht noch ganz andere Antworten.

Zum anderen ist alles Argumentieren, Beweisen oder Widerlegen an unser Wirklichkeits-Bild gebunden; Denken heißt, sich innerhalb von ihm geistig zu bewegen, denn kein einziger Gedanke, der nicht zumindest implizit zum Wirklichkeits-Bild gehört und somit aus ihm hergeleitet werden kann, ist uns zugänglich.

Sämtliche Schlüsse, Begründungen oder Widerlegungen, derer wir fähig sind, tragen also den heimlichen Vermerk „im Rahmen meines Wirklichkeits-Bilds“, denn sie setzen dieses als unhintergehbares Nonplusultra voraus. Das eigene Wirklichkeits-Bild legt, anders formuliert, beispielsweise fest, was – für uns – 100%-ig sicher bzw. absolut unmöglich ist.

„A kann nicht und B muß sein – in meinem Wirklichkeits-Bild.“

Letzteres und keine angebliche objektive Wirklichkeit, liefert die einzige Begründung; eine Hinterwelt kann weder etwas rechtfertigen noch anfechten.

 

5. In unserer Technik werden die exakten Wissenschaften angewandt, und daß wir technisch unglaublich erfolgreich sind, scheint zu beweisen, daß die exakten Wissenschaften die objektive Realität adäquat wiedergeben.

Dem würde ich entgegenhalten, daß andere Kulturen mit ihren – dann natürlich – „falschen“ Wirklichkeits-Bildern teilweise sehr lange bestanden; das ägyptische Pharaonentum beispielsweise 3000 Jahre. Unser „richtiges“ modernes Wirklichkeits-Bild stellt uns dagegen bereits nach vier Jahrhunderten vor immer größer werdende Probleme.

AD: „Das mag theoretisch stimmen, praktisch ist aber von keiner anderen Kultur jemand zum Mond geflogen.“

 

Vielleicht wollte es auch keiner!

Nicht nur, was man tun, sondern auch was man wollen kann, hängt doch vom Wirklichkeits-Bild ab. Andere Kulturen strebten vielleicht nach einem Kontakt mit ihren Göttern oder Ahnen; den haben sie möglicherweise erreicht. Wir können ihn nicht einmal wollen, weil das unserem Wirklichkeits-Bild zufolge Nonsens wäre.

Wenn die Ägypter beispielsweise unsere Sonne als ihren Gott Re verehrt haben, mußte ihnen der Gedanke hinzufliegen, einfach als absurd erschienen sein – sofern er überhaupt möglich war. Kennen Sie einen Gläubigen, der ernstlich in die Transzendenz fliegen möchte? Wo müßte er dann eigentlich starten und in welche Richtung?

 

Unsere diesbezügliche „Logik“ ist doch völlig verquer:

Alle wollten das, was wir können, haben es aber nicht geschafft – wodurch der Fortschritt zu und durch uns bewiesen wäre; q. e. d.

Vielleicht ließe sich auch so denken:

Keiner wollte das, was wir können; aber was unsere Vorfahren wollten und vielleicht auch konnten, können wir nicht einmal mehr wollen

 

Damit verlängern wir die Liste der allgemein bekannten Kränkungen des Menschen duch die moderne Wissenschaft über Galilei, Darwin, Freud, Turing, Gödel usw. hinaus:

1. Die angebliche objektive Wirklichkeit ist nur eine Hinterwelt.

2. Sämtliche Wissungen sind durch das eigene subektive Wirklichkeits-Bild begrenzt, so daß sie mit diesem auch völlig danebenliegen könnten.

3. Was „danebenliegen“ bedeutet, verstehen wir jedoch bereits nicht mehr, weil es sich eo ipso nur „neben“ unserem Wirklichkeits-Bild befinden kann.

4. Dort spielt auch die Wirklichkeit des Lebens, so daß die Helle des Verstandes sie nicht erreicht.

2.6.3. Entweder Hinterwelt oder Schau Gottes

AD: „Auf der einen Seite kann ich Ihre Position, daß die objektive Wirklichkeit wegen ihrer prinzipiellen Unerreichbarkeit nur eine willkürlich behauptete Hinterwelt sein kann, sehr gut verstehen und finde sie nahezu zwingend.

Auf der anderen Seite will ich aber nicht glauben, daß die überwiegende Mehrzahl der Menschen in Antike, Mittelalter und Moderne das nicht gesehen haben soll und wir letztlich auf die Postmoderne warten mußten.“

Da gehe ich völlig d’accord mit Ihnen und möchte auch jeglichen Verdacht, ich könnte unsere Vorfahren uns gegenüber als weniger intelligent einschätzen, weit von mir weisen. Hiermit gewinnt Ihr Einwand jedoch nochmals an Gewicht:

Wie ist es möglich, daß kritische Geister durch viele Jahrhunderte hinweg eine offensichtliche Hinterwelt nicht als eine solche durchschauen und ablehnen, sondern als objektive Wirklichkeit glauben?

Mir fällt nur eine einzige halbwegs befriedigende Antwort ein.

 

Antike und Mittelalter waren zutiefst religiös geprägt. Das Christentum versteht den Menschen als Ebenbild Gottes, und diese Beziehung führte bei vielen der damaligen Philosophen und Theologen zu der Annahme, daß wir in unserem endlichen Geist Anteil am unendlichen Geist Gottes erlangen können.

Einzelne Denker widersprachen dem stets; Blaise Pascal zum Beispiel legte Wert auf die Feststellung, daß es einen solchen „Gott der Philosophen“ wohl geben mag, er aber nicht mit dem Gott des christlichen Glaubens gleichgesetzt werden dürfe.    

Dieser Gott der Philosophen – sieht nicht, sondern – schaut von außen auf die objektive Wirklichkeit und erkennt sie somit unmittelbar, das heißt, – im Gegensatz zu uns – ohne alles Abbilden. Bei den Griechen war dieser Gott zumeist der Nous, und Thomas Nagel charakterisierte dessen Schau als den „Blick von nirgendwo“ – „und nirgendwann“ würde ich gerne ergänzen, denn: Der Nous muß nicht nur nicht abbilden, sondern ist auch allgegenwärtig und nicht wie wir an das Hier und Jetzt unseres endlichen Lebens gebunden.

 

Wenn unsere Vorfahren sich wie selbstverständlich in einer solchen Unmittelbarkeit zu Gott verstanden, war die objektive Wirklichkeit für sie keine Hinterwelt, sondern sie wußten von ihr durch eine Erkenntnis, die sie ihrem Gott verdankten, aber niemals aus eigener Kraft hätten erlangen können.

Daraus ergab sich zwingend ein Grundproblem der Moderne:

Allein die Verbindung mit Gott eröffnet uns die objektive Wirklichkeit; verblaßt der Glaube an ihn, wird sie zu einer Hinterwelt.

Sein Wiedererstarken wäre aber keine Lösung dieses Problems, denn mit – einem prinzipiell unwiß- oder unverstehbaren – Gott lassen sich natürlich keinerlei Fragen beantworten, Konsequenzen begründen oder Argumente finden. Weil man, anders formuliert, mit Gott alle Probleme lösen kann, läßt sich auf diesem Wege gar kein Problem lösen; was immer „geht“, geht nie.

Die intellektulle Redlichkeit verlangt von uns also einen methodischen Atheismus – und der macht die objektive Wirklichkeit definitiv zu einer Hinterwelt..   

 

2.7. Markus Gabriel als Naiver Realist

Dieses Kapitel enthält einen (leicht abgeänderten) Artikel, den ich spontan-verärgert für die „Neue Züricher Zeitung“ geschrieben hatte, um damit einer meines Erachtens grotesken Fehleinschätzung von Bruno Latours Denken durch Markus Gabriel entgegenzutreten. Sollte ich mich darin möglicherweise beleidigend ausdrücken, bitte ich um Entschuldigung; auch Gabriels Mißgriff rechtfertigt dies nicht.

Ich drucke die Rezension hier ab; zum einen in der Hoffnung, daß sie Ihrem Verständnis dient, und zum anderen um diesen zweiten Teil mit einem gegenwärtig vielzitierten Naiven Realisten abzurunden.

 

Gabriel schrieb in der NZZ vom 26. 3. 2020 unter anderem:

„. . . Doch auch progressive Intellektuelle, die sich Wissenschaftlichkeit auf die Fahnen schreiben, haben sich in den letzten Jahren einem heillosen Relativismus verschrieben. Zu ihren prominentesten Vertretern zählt der französische Soziologe Bruno Latour. Er hat sich sogar zu der absurden These verstiegen, Ramses II. könne nicht an der Tuberkulose verstorben sein, weil der Erreger erst im 19. Jahrhundert entdeckt worden sei. Das ist metaphysische Absurdität, wie der analoge Fall der Corona-Krise zeigt:

Hätten wir keine Virologen eingeschaltet, um Covid-19 zu studieren, hätte die Krankheit sich gemäß Latour nicht verbreitet, weil sie nicht einmal existiert hätte. . .“

 

An dieser Argumentation stimmt absolut nichts; Latour hat völlig Recht, und die „metaphysische Absurdität“ liegt allein bei Gabriel, weil er scheinbar keinerlei Verständnis für eine ihm fremde Sichtweise aufbringt!

Sein „Neuer Realismus“ ist so neu nicht; er kam um 1912 in den USA auf, wurde aber danach – mit Recht – schnell wieder vergessen, weil der Glaube an eine objektive Realität mindestens seit Kant philosophisch unhaltbar geworden ist und unter ernstzunehmenden Fachleuten bereits im 20. Jahrhundert als zumindest frag-würdig galt.

Wir haben Überzeugungen, denn wir glauben, was zu glauben wir für richtig halten. Mehr kann niemand leisten – sehr wohl aber weniger, nämlich Denkfehler begehen und völlig unsinnige Behauptungen aufstellen.

 

Um zu verdeutlichen, daß dies bei Gabriel der Fall ist, betrachten wir einen Patienten aus dem Jahre 2018, der sich miserabel fühlt, zum Arzt geht und von diesem untersucht wird.

Noch kommt in keinem Weltbild Covid vor, so daß eine entsprechende Diagnose absolut ausgeschlossen ist.

AD: „Es kann sich aber trotzdem ausbreiten und den Patienten infizieren.“

Diesen Satz verstehe ich nicht, weil mir das „es“ unbekannt ist.

AD: „Covid, natürlich!“

„Covid“ hat den Menschen 2018 ebensoviel gesagt wie „es“ – nämlich  nichts. Was infiziert, wenn „Covid infiziert“, aber keiner weiß, was Covid ist?

 

Gabriel spricht über sein Wirklichkeits-Bild; insoweit sind wir uns natürlich einig.

Des weiteren geht er aber – entgegen meiner Überzeugung – hinterwäldlerisch davon aus, daß sein Wirklichkeits-Bild – zumindest in dem uns interessierenden Zusammenhang – ein adäquates Bild der objektiven Realität darstellt und Covid somit auch unabhängig von unserem Wissen bereits 2018 existiert hätte.

Damit werden die wirklichen Verhältnisse auf den Kopf gestellt:

1. Es gibt Covid postmodern allein für und durch unser Wissen oder innerhalb des eigenen Wirklichkeits-Bilds.

2. Letzteres wird jedoch von Gabriel hinterwäldlerisch – das heißt, prinzipiell ohne jede Möglichkeit einer Begründung oder Widerlegung – als adäquates Bild der objektiven Realität behauptet.

3. Durch diese Naivität gibt es Covid nun an sich, das heißt, auch ohne unser Wissen.

 

Wer nicht hinterwäldlerisch ist, muß den zweiten Punkt streichen, womit automatisch auch der dritte entfällt. Der erste Punkt besagt lediglich die Selbstverständlichkeit, daß sich für mich natürlich nichts ausbreiten kann, was in meinem Weltbild gar nicht vorkommt.

Eine „Erklärung“ ist keine Erklärung für mich – und damit gar keine Erklärung –, wenn ich sie nicht verstehe und als Erklärung anerkenne.

 

Latour behauptet doch keineswegs, daß es dem Patienten von 2018 – ohne die Covid-Diagnose – gut gegangen wäre, was Gabriel unausgesprochen vorauszusetzen scheint; natürlich nicht. Aber niemand kann haben, was keiner kennt. Der Patient würde sich miserabel fühlen; wir wüßten nicht warum, und es begänne möglicherweise ein fieberhaftes Suchen nach der Ursache.

Dieses Sich-miserabel-Fühlen hängt nicht vom Wirklichkeits-Bild ab, und wird daher weder von Latour noch von anderen (mir bekannten) Postmodernen bestritten.

Aber jedes Subjekt geht außerhalb des Raumes über seinen Körper hinaus, hatten wir oben erkannt, und zu dieser „Fortsetzung“ des Subjekts gehört auch sein Sich-Unwohl-Fühlen. Dem Raum sowie Realitäts-Bild gehört der Körper an, und darin befinden sich auch die Viren – sofern sie bereits erfunden wurden. 

Es geht dem Patienten miserabel wie zuvor; aber nun kennen wir die Ursache. Sie ist zwar nur erfunden, aber auch als bloße Erfindung bietet sie eine Erklärung und liefert uns damit einen Ansatzpunkt zum Eingreifen.  

 

Was soll man tun gegen ein Sich-Unwohl-Fühlen ohne Diagnose? Die Erfindung macht – sofern sie als Diagnose akzeptiert wird – das unverfügbare Sich-Unwohl-Fühlen partiell verfügbar.

Alles Erklären oder Akzeptieren ist an die jeweiligen Wirklichkeits-Bilder gebunden. Und wenn eine „Erklärung“ – ich wiederhole mich bewußt – in einem bestimmten Wirklichkeits-Bild unverständlich oder inakzeptabel ist, stellt sie für das betreffende Subjekt keine Erklärung dar.

Daß die Erde um die Sonne rotiert wäre für die (meisten) Menschen der Antike wohl keine Erklärung der Jahreszeiten gewesen. Aber die Existenz der letzteren hätte wahrscheinlich trotzdem ein antiker Latour nicht bestritten.

 

Covid-19 bildet eine Vorstellung in unserem Wirklichkeits-Bild, die nur mittels der anderen Vorstellungen erklärt werden kann und mit ihnen in einem integralen Zusammenhang – eben unserem Wirklichkeits-Bild – steht. Es ist hinreichend rund, stimmig und widerspruchsfrei; deswegen glauben wir – fast alle – die Corona-Theorie.     

Einige Verschwörungstheoretiker nicht.

Gabriel ist das Gegenteil von ihnen, denn er glaubt noch viel mehr als wir, nämlich die naive „metaphysische Absurdität“, daß es Tuberkulose-Erreger und Covid-Viren an sich oder objektiv-real geben und somit unser gegenwärtiges Wissen oder Wirklichkeits-Bild diesbezüglich überhaupt keine Rolle spielen würde.

Damit mißbraucht Gabriel die Corona-Krise als Werbung für seinen metaphysischen Aberglauben an eine Hinterwelt, stellt ihn als Wissenschaft dar und bezichtigt kritische Denker wie Latour eines „heillosen Relativismus“, nur weil sie seine Naivität nicht teilen.

 

Im Mittelalter hätte ein Priester angesichts unseres sich miserabel fühlenden Patienten – im Rahmen seines Wirklichkeits-Bilds – vielleicht von dämonischer Besessenheit gesprochen. Die meisten von uns sind sich mit Recht völlig sicher, daß diese Diagnose natürlich nichts mit einer objektiven Realität zu tun hat, denn in das heutige Wirklichkeits-Bild passen weder Dämonen noch Besessene.

In das heutige Wirklichkeits-Bild; das war im Mittelalter eben noch ein ganz anderes. Damals erwies sich die Erklärung des Priesters wahrscheinlich als hinreichend rund, stimmig und widerspruchsfrei; deswegen glaubten fast alle die dämonische Besessenheit.

Daraus wurden in der Zwischenzeit zumeist psychische Erkrankungen; was es wirklich ist – die Gabriel-Frage nach der objektiven Wirklichkeit –, stellt ein Scheinproblem dar. Im Mittelalter befriedigten jene Antworten, und in der Moderne finden wir diese; um ewige Wahrheiten wissen zu können, müßten wir sein wie Gott.

Das sind wir nicht; wer trotzdem über ewige Wahrheiten zu verfügen glaubt, ist hinterwäldlerisch

 

Als Priester hätte ich damals sicherlich auch versucht, den Patienten durch eine Austreibung des Dämons zu heilen. Die meisten Zeitgenossen werden geglaubt haben, daß Patienten wirklich – im Sinne von objektiv-real – besessen sein und Dämonen in ihnen ihr Unwesen treiben können, obwohl das „nur“ ihrem Wirklichkeits-Bild entsprach.

Das ist für uns kaum nachvollziehbar. Aber Gabriel müßte sich schon fragen lassen, ob er nicht auch im Mittelalter, das Denken, das damals – berechtigterweise – en vogue war, als Abbild „seiner neuen Realität“ verstanden hätte.

Wenn nicht, warum tut er es heute?

 

Das  Argument, es gäbe doch offensichtlich einen Fortschritt vom Mittelalter zu uns, denn wir können die Viren unter dem Mikroskop sehen, sticht nicht, denn im Mittelalter hat man die dämonische Besessenheit bei geschultem Blick ebenfalls gesehen. Das gelingt uns heute nicht mehr – so wie im MIttelalter auch keiner Corona sah.

Und da hätten auch die tollsten Mikroskope nicht helfen können. Es gehört zum „Mythos des Gegebenen“ (Wilfrid Sellars), daß objektive Covid-Viren existieren würden, die von uns nur noch einen – und vielleicht sogar den „richtigen“ – Namen bekommen müßten; wie in der Schöpfungsgeschichte.

Aber Namen sind völlig inhaltsleer; was ein Covid-Virus ist, läßt sich weder zeigen noch sagen, sondern folgt einzig und allein aus dem jeweiligen Wirklichkeits-Bild – sofern es ihn enthält. Tut es dies nicht – existieren keine Covid-Viren.

Wer Corona oder Tuberkolose für objekiv-real hält, soll uns bitte erklären, warum er dies bei der dämonischen Besessenheit nicht tut.

2.8. Zusammenfassung

Das Fehlen der Seienden bedeutet, daß wir uns von einem behauptenden oder doktrinären Denken verabschieden können – und der größeren Freiheit wegen auch sollten. Mir geht es um eine selbstkritische Aufklärung, die erzieherisch oder therapeutisch wirken und damit befreien will; für Ludwig Wittgenstein besteht allein darin die Aufgabe der Philosophie.

Letztlich spreche ich auch lediglich von Philosophie und Theologie, weil das die beiden einzigen Disziplinen sind, die von der Wirklichkeit handeln (sollten), während die Einzelwissenschaften nur Modelle kennen. Darin besteht beileibe keine Kritik, sondern unsere – zu Beginn der Moderne entdeckte – überaus erfolgreiche Forschung ist nur auf diese Weise, das heißt, im Wechselspiel von hypothetischen Modellen und falsifizierenden Experimenten möglich.

Aber natürlich nicht verallgemeinerbar; Hypothesen über die Wirklichkeit oder Modelle von ihr nutzen uns nichts, sobald es um die Wirklichkeit selbst geht, so daß jegliche Forschung in Philosophie bzw. Theologie ausgeschlossen ist.   

Viele Gläubige würden dem wohl zustimmen, mich dabei aber, wie ich fürchte, trotzdem völlig mißverstehen:

 

Zum einen bin ich überzeugt, daß wir die Bedeutung der Vernunft für den Glauben kaum überschätzen können.

„Ein der Vernunft widersprechender ‚Glaube‘ ist Aberglaube oder schlichtweg Unsinn“ schreibt Peter Knauer meines Erachtens zurecht.

Was aus der Vernunft folgt, hat natürlich nichts mit dem christlichen Glauben zu tun, denn dieser bezieht sich ausschließlich auf die Selbstoffenbarung Gottes.

Was der Vernunft widerspricht, können und sollen wir aber ebenfalls nicht glauben. 

 

Zum anderen warnen einzelne Christen immer wieder, der Glaube dürfe sich nicht dem Zeitgeist anpassen. Das scheint mir ebenso richtig zu sein wie – aus mindestens drei Gründen – schwierig umzusetzen.

Wer spricht, benutzt notwendigerweise die Sprache seines Umfelds und taucht damit in deren Geist ein; andernfalls würden die Mitmenschen ihn gar nicht verstehen. Die Sprachen sind jedoch ebenso zeit- wie ortsabhängig, und das Übersetzen ist kein rein sprachliches, sondern ein kulturelles Problem.

Des weiteren erweist sich immer sehr vieles am Zeitgeist als irrelevant für das, was uns am Herzen liegt; dann stört er aber auch nicht. Jesus lebte beispielsweise in der Naherwartung des Reiches Gottes und sagte kaum etwas zur Gleichberechtigung der Frauen oder gegen Sklaverei und Ständedenken. All das ist uns heute mit Recht wichtig, weil sich der Zeitgeist – unabhängig von Jesus‘ Botschaft – gandert hat.

Und schließlich ist Zeitgeist nicht gleich „Zeitgeist“. Natürlich kann man mit bestem Wissen und Gewissen zum Beispiel gegen jegliche Form von Wissenschaftsgläubigkeit sein und muß die Stars der Medien nicht anhimmeln. Aber das Ignorieren oder gar Ablehnen der großen Philosophen – insbesondere Kant im 18., Nietzsche im 19. oder Heidegger und Wittgenstein im 20. Jahrhundert – ist für den Glauben tödlich, weil er dann bei immer mehr Menschen nicht vor deren subjektiver Vernunft bestehen kann und deshalb von ihnen abgelehnt werden muß.

„Ein der Vernunft widersprechender ‚Glaube‘ ist Aberglaube oder schlichtweg Unsinn“ . . .

 

Ich wiederhole mich:

Denkbar ist bekanntlich vieles,

konsistent denkbar schon erheblich weniger und  

plausibel denkbar– das heißt, in Einklang mit unserem übrigen Wissen von der Welt – gar nicht mehr so viel.“ (Martin Seel)

Wer etwas Altes glaubt, ohne zeigen zu können, daß es auch heute plausibel gedacht werden kann, „ist von gestern“ und hätte sich vielleicht doch ein wenig um Kant, Nietzsche, Heidegger oder Wittgenstein bemühen sollen.

 

Ohne Seiende gibt es insbesondere keine menschlichen Körper, und die werden traditionell im wesentlichen mit uns Subjekten identifiziert; das führte postmodern zum „Tod des Subjekts“. Aber das ist meines Erachtens unrichtig; das traditionelle Subjekt konnte gar nicht sterben, weil es nie gelebt hat.

Was in diesem Zusammenhang „Leben“ genannt wird, gehört lediglich unserer biologisch-medizinischen Reflexion an, die höchstens irrtümlich glauben kann, vom Leben zu sprechen. Ihr zufolge drückt es sich vielleicht durch Bewegung, Reizbarkeit, Fortpflanzung, Wachstum und Stoffwechsel aus.

Mit mir hat das alles nichts zu tun, obwohl es doch um mein Leiben gehen müßte. Wo bleiben meine Freiheit, meine Hoffnungen und Ängste? Warum studieren die Biologen, um das Leben kennenzulernen, Amöben und Pantoffeltierchen, statt sich auf sich selbst als Lebend(ig)e zurückzuwenden?

 

Um von der Leibhaftigkeit unseres Lebens zu erfahren, müßten wir nicht studieren, sondern „nur“ in uns gehen. Dann würde sich zum Beispiel zeigen, daß unsere Annahme, es gäbe keine Seienden, bei weitem nicht so exotisch ist, wie sie einem eingefleischten Zeitgenossen erscheinen muß.

Hier liegt jedoch ein Teufelskreis vor:

Eingefleischte Zeitgenossen wissen nicht nur, daß Seiende existieren, sondern auch weitgehendst, um welche (Arten von) Seienden es sich dabei handelt, das heißt, worin sie bestehen. Je sicherer sie aber diesbezüglich sind, um so unverständlicher wird die Aufforderung, in sich zu gehen:

Was soll denn dabei Tolles herauskommen? Innen befinden sich die Organe unseres Körpers, und diese Dinge entsprechen vollkommen den Gegenständen außerhalb von ihm. Seiende sind Seiende; die einen bestehen aus Fleisch, und die anderen zum Beispiel aus Stein oder Holz.   

 

Nicht nur der „gesunde Menschenverstand“, sondern auch Philosophie wie Theologie schlossen sich diesem traditionellen Denken bisher weitgehendst an und fügten dem Körper gegebenenfalls noch eine unsterbliche Seele hinzu, um ein Leben nach dem biologischen Exitus denkbar zu machen. Abgesehen von dieser vordergründigen Absicht – die natürlich niemals als Begründung taugen kann – scheint mir eine solche Vorstellung jedoch sogar unchristlich zu sein:  

Unsterbliche Seelen bedürfen keines Gottes, denn sie leben aus eigener Kraft für immer; was anders bedeutet Unsterblichkeit? Das ist griechische Mythologie, die zu einem ewigen Kosmos ohne Anfang sowie Ende paßt, weil sie auf das Selbsterhaltungsvermögen der Seelen setzt.

 

Christen glauben dagegen keine vollautomatische Auferstehung, sondern daß Gott, der die Liebe ist, uns sowohl Freiheit als auch Geborgenheit schenkt. Beides zusammen ermöglicht es uns, zu einem Selbst zu werden.

Schon vor 150 Jahren war dieser Gedanke schwer zu vermitteln; Fichte schrieb damals:

„Die meisten Menschen wären leichter dahin zu bringen, sich für ein Stück Lava im Monde, als für ein Ich zu halten.“

Geborgen in Gott glauben Christen, daß er sie nicht dem Tod überläßt, sondern auferweckt. Ohne ihn geht für den Gläubigen gar nichts – nicht einmal Auferstehung.

Selbst Christus ist nicht – dank einer unsterblichen Seele – „auferstanden von den Toten“, sondern durch Gott auferweckt worden. Wer wirklich mausetot ist, kann nicht von sich aus auferstehen.

Daß eine Auferweckung durch Gott überhaupt geschehen kann und somit kein bloßer Wunschtraum bleiben muß, können wir an dieser Stelle noch nicht sauber denken – und folglich auch nicht intellektuell redlich glauben.

 

Um dies zu ermöglichen, müssen wir meines Erachtens die traditionelle Identifizierung der Subjekte mit ihrem Körper überwinden. Auch wenn Ihnen dieses Ansinnen als absurd erscheinen mag: Wir hatten bereits ein sehr starkes Argument dafür gefunden, nicht unser Körper sein zu können, und wiederholen es – wegen seiner Bedeutung – noch einmal in anderen Worten.

Beim Vorstellen des Sehens positionieren wir unseren Körper in Gedanken beispielsweise vor dem Eiffelturm, richten die Augen auf ihn und halten sie offen. Dadurch entsteht ein unwirkliches Abbild des wirklichen Eiffelturms in unserer Psyche. 

Dieses Bild scheint die logischste und einfachste Sache der Welt zu sein – hat tatsächlich aber auch gar nichts mit unserem Sehen zu tun.  

 

Wir sehen Sonne, Mond und Sterne; wir sehen den ganzen physikalischen Kosmos oder die objektive Realität.

Die Tradition sagt, das wären die Seienden der Moderne.

Diese Behauptung haben wir versucht zu widerlegen; natürlich ist das Sehen von Sonne, Mond und Sternen unbestreitbar, sehr wohl aber, daß es sich bei ihnen um Seiende handeln soll. So neutral wie nur möglich läßt sich formulieren:

Wir sehen Sonne, Mond und Sterne; wir sehen den ganzen physikalischen Kosmos oder die objektive Realität – und betrachten all das als Sehungen. Nicht diese bestreiten wir also, sondern lediglich ihr traditonelles Verständnis; das haben wir in eine bloße Tautologie umgeformt, gegen die sich schwerlich etwas vorbringen lassen dürfte.

 

Diese Sehungen bestehen zumeist aus Körpern und befinden sich im Raum. Beide, sowohl die Körper als auch der Raum, kommen somit erst nach dem Sehen, weil sie durch dieses erzeugt werden; ohne Sehen gibt es weder die Körper noch einen Raum.

Spätestens jetzt sollte klar sein, weshalb ich soeben schreiben konnte, daß unsere Vorstellung von Sehen aber auch gar nichts mit ihm zu tun hat:

Wir können beim Erklären des Sehens nicht von Körpern im Raum ausgehen, weil beide erst nach dem oder durch das Sehen existieren.

 

Unsere Einsicht, das Sehen nicht mittels der Sehungen erklären zu können, teilen natürlich auch viele traditionell Denkende. Sie „lösen“ das Problem, indem sie die Seienden erfinden und die Sehungen als deren Abbilder behaupten:

 

Sehung A   →   Seiendes A   +   dessen Abbild oder Sehung A

 

Nun funktioniert die angezielte Erklärung widerspruchsfrei:

Der seiende Körper richtet seine Augen auf den seienden Eiffelturm und erhält dadurch dessen Abbild als Sehung.

Durch diese praktische Erfindung können wir auch uns selbst sehen:

Der seiende Körper richtet seine Augen auf sich selbst und erhält dadurch ein Abbild von sich als Sehung.

 

Was die traditionelle Philosophie von den verschiedenen postmodernen Konstruktivismen unterscheidet, ist also lediglich, daß diese ihr Konstruieren zugeben, während jene es verheimlicht und stattdessen behauptet – oder wohl zumeist auch selbst glaubt – abzubilden.   

Die traditionelle Erfindung der Seienden läuft darauf hinaus, die Leibhaftigkeit unseres subjektiven Lebens durch eine (partiell) intersubjektive Reflexion desselben zu ersetzen oder damit zu verwechseln:

Nicht ich als Subjekt sehe wirklich den Eiffelturm, sondern

ich als Subjekt stelle mir wirklich vor, den Eiffelturm zu sehen.

Aber die Vorstellung des Sehens ist kein Sehen, sondern eine Vorstellung.

So wie die Vorstellung des Laufens nicht läuft und die des Essens nicht ißt, sieht die Vorstellung des Sehens nicht.

Letztlich ist an der Vorstellung des Sehens also nichts, was sie zu einer Vorstellung des Sehens macht. Genügt es, bei der Vorstellung des Hörens die Augen durch die Ohren zu ersetzen?

 

Diese gegenwärtigen Überlegungen verdanke ich George Spencer-Brown, der sehr tief über das Leben und die dafür notwendige irreversible Zeit nachgedacht hat. Sein Hauptwerk, die „Gesetze der Form“, ist leider nahezu unverdaulich. Daraus resultiert wohl auch, daß die Wertschätzung, die Spencer-Brown von seinen Lesern erfährt, zwischen genial und . . . extrem schwankt; für mich ist er ein grandioser (mathematischer) Denker.

Ihm zufolge entspricht das Vorstellen oder Reflektieren einem bloßen Unterscheiden; solange wir das tun, steht unser Leben in seiner Leibhaftigkeit still; es setzt sich erst fort, wenn wir wieder vom reversiblen Unterscheiden zum irreversiblen Entscheiden übergehen.

 

An jedem Unterscheiden sind prinzipiell vier Elemente beteligt:

1. Das Ganze oder Umgreifende, innerhalb dessen wir unterscheiden

    Unser Körper in Paris

2. Das innerhalb dieses Umfassenden liegende Ziel A.

    Der Eiffelturm

3. Die dieses Ziel begrenzende geschlossene Linie (oder Fläche)

    Der Fuß des Turmes

4. Die andere Seite der Grenze; alles außer A, rein logisch also non-A

    Die Weite der uns umgebenden Stadt

Der erste Punkt scheint vielleicht nicht ganz zwingend; er ist jedoch erforderlich, weil es ohne ihn kein „alles außer A“ gibt und damit die andere Seite der Grenze oder das non-A fehlt.

Weder unsere Katze noch der Satz des Pythagoras spielen beim Unterscheiden eine Rolle; sie sind nicht in non-A enthalten, weil sie nicht „unserem Körper in Paris“ angehören.

 

Gehen wir jedoch zum Entscheiden, das heißt, zur Leibhaftigkeit unseres Lebens über, wird das Ganze oder Umgreifende zur völlig ungewissen Offenheit der Zukunft, so daß von unseren vier Punkten lediglich das Ziel A verbleibt

Wir entscheiden uns für das Ziel A und erleben ausschließlich die Folgen dieser Entscheidung.

 

Zum einen müssen diese keineswegs unserer ursprünglichen Intention – dem Ziel A – entsprechen.

Wir wollten beispielsweise bei Francesco Himbeereis essen, bekommen aber durch unsere Entscheidung – vielleicht kein Eis, sondern – Streit mit der Bedienung, ein Geschenk als tausendster Gast oder beim Eintreten eine Dachschindel auf den Kopf.

 

Und zum anderen kommt das, was bei einer anderen Wahl geschehen wäre  – innerhalb von non-A also –, weder vor noch spielt es irgendeine Rolle.

Die Zeit in der wir leben, ist irreversibel, und wir sind nicht in ein sauber definiertes Umgreifendes eingetreten, sondern in eine adventische, absolut unbekannte Zukunft. Das andere war lediglich eine Vorstellung, das heißt, ein Ausschnitt unseres Wirklichkeits-Bildes; und für letzteres interessiert sich die Wirklichkeit nicht im geringsten.

 

AD: „Warum beschränken Sie sich auf das Sehen? Alle Wahrnehmungen kommen doch erst nach dem oder durch das Wahrnehmen.“

Natürlich; aber nur die Sehungen sind eindeutig Körper im Raum, so daß wir allein wegen ihnen definitiv sagen können:

Das Wahrnehmen muß durch einen und in einem Zustand ausgelöst oder bewirkt, der weder Körper noch einen Raum kennt.

 

AD: „Damit löst sich auch das traditionelle Seinsproblem in Wohlgefallen auf:

Sie hatten des öfteren darauf hingewiesen, daß niemand erklären kann, worin die angebliche Existenz der Seienden besteht oder was es bedeuten würde, daß sie vorhanden sein sollen.

Das dürfte uns freilich auch kaum überraschen; die Seienden wurden erfunden und werden benötigt, um eine fundamentale Schwierigkeit des traditonellen Denkens zu beseitigen – aber es gibt sie doch gar nicht; oder vorsichtiger ausgedrückt:

Es macht keinen Unterschied, ob die Seienden existieren oder nicht, da sie nicht einmal Luft für uns sind.

Wie soll man dann herausfinden können, worin ihr Sein besteht? 

Wir haben die Seienden auf Wahrnehmungen zurechtgestutzt, und deren Sein besteht darin, von uns Subjekten wahrgenommen zu werden.“

 

Ja; ohne Subjekte keine Wahrnehmungen oder „Seienden“.

AD: „Das würde jedoch bedeuten, daß es ohne uns zum Beispiel auch keine Erde gäbe?“

Das ging zu schnell, denn wir müssen mindestens drei Bedeutungen von „Erde“ unterscheiden:

 

Das Wort „Erde“ kann zum einen den Begriff Erde bezeichnen. In unserem Wirklichkeits-Bild entspricht dem ein heliozentrischer Planet, und eine solche Erde gibt es vielleicht noch keine 2500 Jahre.

Durch ihren Begriff kann diese Erde für uns zu der entsprechenden Wahrnehmung oder Vorstellung werden.; das war vor drei Jahrtausenden noch unmöglich. Damals hätten die Menschen mit dem „gleichen“ Wort „Erde“ einen ganz anderen Begriff bezeichnet und damit auch differente Wahrnehmungen sowie Vorstellungen angezielt.

 

Lernt ein Kleinkind zu laufen, so geht das zum anderen auch nicht ohne die Erde. Aber in diesem Fall bezeichnet das Wort „Erde“ überhaupt keinen Begriff, sondern ist lediglich ein Name.

AD: „Wofür?“

Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten, ohne mir selbst zu widersprechen:

Wenn wir sagen, wofür der „Name“ ein Name ist, hört er auf, ein Name zu sein.

Er wird zur Bezeichnung, und das von ihm Bezeichnete – „das Wofür des Namens“ – wird zum Begriff.  

   

Nur die dritte, die seiende – „wirkliche“ oder „richtige“ – Erde im Sinne der Tradition existiert postmodern nicht (mehr). Aber was bedeutete eigentlich „existierte“, als sie noch existierte?

Was es gar nicht gibt, läßt sich natürlich weder bezeichnen noch benennen, so daß wir im weiteren auch den traditionellen Dualismus von Sprache und Wirklichkeit – das Wort „Sonne“ meint das Seiende namens „Sonne“, gehört aber nicht zur Wirklichkeit  – überwinden müssen.

3.1. Zum Ausgangspunkt unseres Nachdenkens

Den meisten Menschen gilt Philosophie heute als ein bloßes Glasperlenspiel.

„Das bringt uns nicht weiter; die Philosophie kann kein einziges der Probleme lösen, vor denen wir wirklich stehen. Dazu werden die exakten Wissenschaften benötigt sowie eine sich daraus ergebende ausgefeilte Technik. Ob ‚das Nichts nichtet‘, wie Martin Heidegger meinte, oder vielleicht doch nicht, kann uns dabei ziemlich gleichgültig sein.“

 

Wer so redet, sitzt vielleicht am Stammtisch und meint, ganz genau zu wissen, sowohl daß letzterer und er selbst existieren als auch was ein Stammtisch bzw. ein Subjekt ist. Nur ein Philosoph könnte auf die Idee kommen, solcherlei Wissen infrage zu stellen.

Hinter derartigen Selbstsicherheiten stecken jedoch unausgesprochene Voraussetzungen, die wir fast alle teilen:

Natürlich entwickelten sich unsere Überzeugungen im Verlaufe des Lebens. Als Kind und noch als Jugendlicher hatten wir vieles geglaubt zu wissen, was sich später als unhaltbar herausstellte. Aber jetzt – vielleicht seit dem Abitur oder Studium – sind wir erwachsen und haben damit diese Phase der Irrtümer hinter uns gelassen.

Zumindest zwei Punkte halte ich an einer solchen Vorstellung jedoch für höchst bedenklich:

 

Erstens besaßen wir bereits als Kinder oder Jugendliche Wissen und haben fest daran geglaubt. Es bedeutet also offensichtlich keinen Widerspruch, vom eigenen Wissen überzeugt zu sein – auch wenn ihm keine gewußte Wirklichkeit entspricht.

Wir haben uns jeweils später irgendwie eines Besseren belehren lassen; nachträglich oder rückwirkend. Aber zu der Zeit, in der wir wußten, waren wir uns ganz sicher. Ein gegenwärtiger Irrtum innerhalb der eigenen Überzeugungen ist widersprüchlich und damit ausgechlossen, denn wir können nicht fest an etwas glauben und es zugleich für falsch halten:

Zu der Zeit, in der wir wissen, sind wir uns immer ganz sicher, weil klar ist, daß es stimmt.

 

Zweitens befinden wir uns heute als Erwachsene ebenfalls in exakt dieser Situation.

Warum rechnen wir nicht mehr damit, vielleicht in Bälde eines Besseren belehrt werden zu können? Wieso wurde aus dem kindlich- oder jugendlich-revidierbaren „Ich bin mir ganz sicher“ ein erwachsen-verabsolutiertes „So ist es“?

Das ist nicht nur eine andere Sprechweise, sondern  die beiden Formulierungen sind sogar völlig unabhängig voneinander:

Die erste benötigt gar keinen Außenbezug; was hat meine Überzeugung mit einer Welt zu tun?

In dem „So ist es“ soll dagegen die Adäquation mit letzterer zum Ausdruck kommen  – die urplötzlich besteht, obwohl keiner weiß, woher sie kommt.

 

Möglicherweise erkennen wir den Zenit unseres Wissens; aber was hat er mit einer solchen Übereinstimmung zu tun? Bei einem bestimmten Level der eigenen Sichtweise hört sie angeblich auf, nur meine Sichtweise zu sein und wird zur adäquaten Erkenntnis der angeblich objektiven Seienden; das Bild wird zum Weltbild im Sinne eines adäquaten Bildes von der objektiven Welt.

Meines Erachtens entspricht die Anmaßung eines solchen Perspektivenwechsels dem biblischen Sein-wollen-wie-Gott. Wir beanspruchen damit den Besitz eines Wissens von der Welt, der in sich widersprüchlich ist, weil dieser Besitz in dem Maße, in dem das Wissen stimmt, unmöglich wird:  

Wie sollten wir aus unserem kitzekleinen Hier und Jetzt heraus, in dem wir leben, ein in Raum und Zeit praktisch unendliches Universum erkennen können?

 

Ich bin daher überzeugt, daß das Erwachsen-Werden gar nicht das geistige Ankommen bei der Wirklichkeit und damit den Besitz der Wahrheit Richtigkeit bedeutet, sondern lediglich das Ende unseres Sich-etwas-Sagen- oder –eines-Besseren-Belehren-Lassens.

Verzichten wir darauf und bleiben bescheiden wie die Kinder, so bedeutet das, auch als Erwachsener von einer Entwicklung oder Genese unseres Weltbbilds auszugehen, die möglichst ein Leben lang positiv verlaufen sollte, praktisch aber zumeist einen Höhepunkt erreicht und rückläufig wird.

Die Meinung, die sich am Ziel glaubt, blockiert das Verstehen, hatte ich oben bereits einmal zitiert.

 

Wir übertragen dieses individuell-biographische „Schlau-Werden“ auch auf das kulturell-geschichtliche, so daß die übliche Überzeugung etwa lautet:

In „primitiven Kulturen“ steht hinter deren Wissungen natürlich keine Wirklichkeit – wie bei unseren Kindern. Deshalb sprechen wir von Aberglaube, wenn wir die Hinterwelt dieser Kulturen mit ihren Göttern, Geistern und ähnlichen Phantastereien beschreiben. 

Das haben wir alles nicht mehr (nötig); hinter unserem wissenschaftlichen Wissen steht die Wirklichkeit in Form der objektiven oder physikalischen Realität.

 

Woher wollen wir das wissen, wenn ein gegenwärtiger Irrtum unmöglich ist?

Daraus ergibt sich doch eher die gegenteilige Konsquenz, daß alle anderen Menschen und Kulturen ebenso wie wir an die Richtigkeit ihrer Überzeugungen glauben müssen. Somit haben sie auch exakt den gleichen Grund, eine objektive Welt anzunehmen bzw. ihre subjektive Welt als objektive mißzuverstehen.. 

 

AD: „Ich muß, wohl im Namen vieler Leser, Einspruch erheben:

Gegenwärtige Irrtümer sind nicht widersprüchlich; wir können uns sehr wohl irren; widersprüchlich würde das erst, wenn wir gleichzeitig wüßten, daß es sich um einen Irrtum handelt.

Viele unserer Vorfahren glaubten zum Beispiel, die Erde sei eine Scheibe. Damit haben sie sich geirrt; aber das war kein Widerspruch, denn sie wußten nicht, daß die Erde in Wirklichkeit eine Kugel ist.“

Es tut mir leid, aber Sie bestätigen mit Ihrem Einwand meine oben geäußerte Vermutung, im traditionellen Denken komme das Sein-Wollen-wie-Gott zum Ausdruck:

Sie wissen zum Beispiel, daß „die Erde in Wirklichkeit eine Kugel ist“, und maßen sich damit die allgegenwärtige Schau Gottes oder den Blick von nirgendwo und nirgendwann an. Verzichten wir darauf – das ist die postmoderne Bescheidenheit, von der oben die Rede war –, bleibt nur die subjektive Perspektive aus unserem Hier und Jetzt.

 

Begründet läßt sich also nur sagen, daß beispielsweise die Voodoo-Gläubige von der Existenz ihrer Geister und Zombies ebenso überzeugt sind wie wir Abendländer der Moderne von der Existenz unserer objektiven Realität. Ordnen wir erstere einer Hinterwelt zu, wird nicht ersichtlich, weshalb dies bei unserer objektiven Realität anders sein sollte.

Es handelt sich nicht – wie zumeist behauptet wird – um die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Mythos, sondern um den jeweils festen Glauben entweder an diesen oder an jenen Mythos.

Zur Postmoderne gehört es also insbesondere, die abendländische Kultur der Neuzeit nicht mehr als etwas Besonderes, als Fortschritts- oder gar Endziel zu sehen, sondern ebenso wie die anderen Kulturen auch:

Alle Weltbilder oder Mythen sind Versuche, einen Weg zum wahren Leben oder dessen Fülle zu finden.

 

Aber damit stehen wir natürlich vor einem Riesenproblem:

Wenn ein Haitianer verspricht, uns systematisch und stringent, das heißt, möglichst ohne Glaubensbekenntnisse jeglicher Couleur in die Philosophie einzuführen, und dann sein Buch mit der höchst speziellen Voodoo-Realität beginnt, sind wir wahrscheinlich kaum motiviert weiterzulesen.

Sie gehört so zur Haitianischen Hinterwelt wie die objektive Realität zu der unsrigen. Natürlich habe ich ein extremes Beispiel gewählt; aber es ist nicht absurd, sondern lediglich deutlich:

Welchen Bestandteil unseres Weltbilds auch immer wir wählen – Materie, Naturgesetze, Evolution, Urknall . . . –, all das entstammt der traditionellen Hinterwelt der Moderne und entspricht damit den Geistern und Zombies der Voodoo-Kultur

Wenn ein moderner Abendländer verspricht, uns systematisch und stringent, das heißt, möglichst ohne Glaubensbekenntnisse jeglicher Couleur in die Philosophie einzuführen, und dann sein Buch mit Materie, Naturgesetzen, Evolution oder Urknall beginnt, sollten uns demzufolge ähnliche Zweifel befallen.

 

Wir benötigen als verläßliches Fundament für unsere Überlegungen einen „neutralen“ Ausgangspunkt, und müssen dazu die „wissenschaftlichen Weltbilder“ ebenso hinter uns lassen wie die „abergläubischen Mythen“. 

3.2. Begriffe und Anschauungen

Franz Rosenzweig entwickelt in seinem „Stern der Erlösung“ ein „Neues Denken“. Er stellt es dem alten gegenüber, das im Kern mit unserem traditionellen übereinstimmt, und macht diesem insbesondere drei Vorwürfe:

 

Zunächst gehen alle Philosophen von „Ionien bis Jena“, das heißt, von Parmenides bis Hegel davon aus, daß das (logisch saubere) Denken den (einzigen) Weg zur Wirklichkeit darstellt; „Denken und Sein sind identisch“ (Parmenides) lautet kurzgefaßt die dahinterstehende Überzeugung. 

Sie ist natürlich mehr als verblüffend, wenn wir beachten, wie vielseitig, bunt, mannigfaltig oder chaotisch unser Leben ist. Das Denken führt dagegen stets zu eindeutigen Ergebnissen, die sich den logischen Prämissen fügen (müssen).

Das alte Denken löst beseitigt diesen Widerspruch, indem es die Vieldeutigkeit unserer wirklichen Erlebnisse zum bloßen Schein erklärt und auf das zurückführt, was „eigentlich“ dahintersteht. Dies geschieht mittels der traditionellen Fundamental-Frage „Was ist . . .?“, und ihre Antwort besteht in zeitlos-konstanten Wesenheiten.

Daß ich sterbe beispielsweise, ist für die alte Philosophie letztlich belanglos; für sie gibt es den Tod, und damit stehen wir vor der Wesensfrage, was das ist. Wahrscheinlich das Nichts, denn wenn der Tod ist, sind wir nicht mehr, wie bereits Epikur vor über 2000 Jahren argumentierte.

Aber das stimmt meines Erachtens nicht: „Der Tod ist als die Realität des Nicht-mehr-Daseins das positive Faktum der existentiellen Ebene – ein ‚Nichts‘, das etwas ist, weil man es erfährt.“ (Eva Birkenstock)

Daraus ergeben sich unmittelbar die beiden weiteren Vorwürfe:

 

Zum einen kann ich selbst – als Person, Subjekt oder Einziger – im alten oder traditionellen Denken überhaupt nicht vorkommen, weil es nur nach dem Wesen des – und damit aller – Menschen fragt. Sie als Leser haben exakt das gleiche wie ich; die Unterschiede zwischen unseren beiden Leben gehören nicht in die Philosophie, denn sie sind lediglich oberflächlicher Schein.

 

Zum anderen wird das philosophische Denken zeitlos; Wesen(heiten) können sich weder ändern noch andern. Beispielsweise sind Menschen eben Menschen; völlig unabhängig davon, ob sie im Paradies oder der Steinzeit gelebt haben bzw. der Postmoderne angehören.

Wer glaubt, daß ein solches Denken zur Wahrheit führt, muß diese als ewig-konstant voraussetzen.

 

Mit Rosenzweig lassen wir die Identität von Denken und Sein hinter uns. Ersteres führt lediglich zu Begriffen; sie sind etwas rein Geistiges, und es besteht auch nicht der geringste Grund zu der Annahme, daß hinter ihnen irgedetwas anderes stünde. Wir lösen das Denken restlos vom Sein; weder enthalten unsere Begriffe etwas Substanzielles, Materielles oder Stoffliches, noch verweisen sie darauf.

Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut oder mit Leib, Seele sowie Geist (in diesem Zusammenhang). Aber der Mensch – als Begriff oder Wesen(heit) – enthält nichts davon; auch keinen Geist, denn Begriffe können natürlich nicht denken.   

 

Begriffe sind leer oder hohl, könnten wir dafür auch sagen; sie verweisen nur wechselseitig aufeinander, kennen kein Außen oder Anderes und bilden so ein in sich abgeschlossenes System, das wir im zweiten Teil als Wirklichkeitsbild eigeführt haben.

Jedes Subjekt besitzt (im Prinzip) ein anderes; das Wirklichkeitsbild als Horizont unseres Denkens andert sich im Verlaufe des Lebens, muß aber trotzdem für eine bestimmte Dauer näherungsweise konstant sein, um in ihr sinnvoll denken zu können.

 

An den rein geistigen Begriffen können wir uns natürlich nicht stoßen; sie sind unsichtbar, lassen sich be-, aber nicht ergreifen und weder fühlen noch spüren.

Im zweiten Teil sollte deutlich werden, daß auch nichts anderes existiert, woran wir uns stoßen könnten, denn das müßten Seiende sein.

Aber selbstverständlich gibt es Stoßungen, Sehungen, Ergreifungen, Fühlungen, Spürungen usw. Wir fassen sie alle als Erfahrungen zusammen, so daß wir zu einem sauberen Dualismus von Begriffen und Erfahrungen gelangen, bei dem die einen nichts mit den anderen zu tun haben.

Das zeigt sich zum Beispiel daran, daß die Erfahrungen – im Gegensatz zu den näherungsweise konstanten Begriffen – nur aktual oder jetzt sind.

 

AD: „Aber heute Morgen hatte ich Hunger, und am Abend werde ich müde sein; Erfahrungen sind also auch sowohl früher als auch später möglich.“

 

 

Früher Jetzt Später    
         
Vorstellungen Vorstellungen Vorstellungen Anschauungen  
= = =    
Erinnerungen i. w. S.
 Ergänzungen i. w. S.
Antizipierungen i. w. S.
   
  + – Erwartungen    
  – Befürchtungen    
  Erfahrungen   Anschauungen  

Abbildung 3.2.

 

Nein; Erfahrungen gibt es nur jetzt.

Vorstellungen sind stets möglich, und wir ordnen sie als Erinnerungen, Ergänzungen bzw. Antizipierungen den drei Tempi zu. Zusammen mit den Erfahrungen bilden sie die Anschauungen. Das „im weiteren Sinne“ soll andeuten, daß wir die Charakterisierungen nicht biographisch engführen dürfen; natürlich erinnern wir uns nicht persönlich an den Bauernkrieg.

Bei Ihren beiden Beispielen handelt es sich also um Vorstellungen von Erfahrungen. Oben sollte deutlich werden, daß erstere und nur sie Referenten besitzen können. Theoretisch sind natürlich Vorstellungen von Vorstellungen möglich; aber sie entsprechen auch nur einfachen Vorstellungen ohne Wovon, so daß als Referenten praktisch nur Erfahrungen und Begriffe verbleiben. 

 

AD: „Sie bemühen sich zwar um eine möglichst exakte Ausdrucksweise, aber eine Zweideutigkeit verbleibt meines Erachtes dennoch:

Bilden die Erinnerungen selbst das Früher, oder handelt es sich um Erinnerungen an ein – von ihnen unabhängiges – Früher?“

In diesem zweiten Fall besteht das Früher auch ohne meine Erinnerung und ist folglich konstant. Da wir Seiende ausschließen (können), muß es sich hierbei also um eine Erinnerung an Begriffe handeln. Die Wende von 1989 und mein 40. Geburtstag sind also Begriffe, an die ich mich aktual erinnern kann.

Treffen wir dagegen einen scheinbar unbekannten Menschen und stellen im Verlaufe unseres Gespräches fest, uns schon einmal begegnet sein zu müssen, so gehört diese Erinnerung selbst zum Früher.