Gliederung

0.Zitate1.Einleitung1.1.Kopernikanische Wende1.2."Methode"1.3.Igel und Fuchs1.4.Religiöser Hintergrund1.5.Philosophischer Hintergrund2.Das (traditionelle) Denken der Moderne2.1.Das Seins-Bild als Orientierungsmöglichkeit2.2.Wirklichkeit und Seins-Bild2.3.Naiver Realismus der Moderne2.4.Kosmos – Welt – Leben2.5.Wahr – wirklich – richtig – gewiß – nützlich2.6.Begriffe2.7.Wissungen2.8.Schwierigkeiten mit den Seienden2.8.1Von der Psyche zum Bewußtsein2.8.2.Sein ist kein Prädikat2.8.3.Das Gesamtkonzept der Seienden ist widersprüchlich2.8.4.Von der statischen Seins- zur dynamischen Jetzt-Pyramide2.9.Das Handeln der Subjekte2.9.1.Die beiden Pole des Wissens2.9.2.Die beiden Ebenen des Handelns2.10.Urbilder und Abbilder – im logischen Zirkel2.11.Es gibt kein Abbilden2.12.Die objektive Realität als Hinterwelt2.12.1.Wissenschaft und Hinterwelt2.12.2.Das moderne Weltbild als Mythos2.13.Markus Gabriel als Naiver Realist2.14.Zusammenfassung2.14.1.Bewußtseins- oder Subjektphilosophie3.Der Ausgangspunkt unseres Nachdenkens4.Metaphysischer Explikationismus

0. Zitate

„Der Glaube an den Kausalnexus ist der Aberglaube.

Ich wollte damit keineswegs sagen, der Glaube an den Kausalnexus sei ein Aberglaube unter mehreren, sondern es ging mir darum, daß jeder Aberglaube eben nichts anderes ist als der Glaube an den Kausalnexus.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Es gibt viele Wege, auf denen das, was ich vergeblich zu sagen versuche, vergeblich zu sagen versucht werden kann.«

Samuel Beckett

 

„Sollten die Gesetze des (bisherigen) Denkens niederbrechen, dann wird es die tiefste Wandlung im intellektuellen Leben des Menschen geben, verglichen mit welcher die Kopernikanische und die Einstein’sche Revolution nur Scheinschlachten sind.“

Oliver Leslie Reiser

 

„Das Gegenteil von Liebe ist nicht Haß, sondern Gleichgültigkeit.“

Elie Wiesel

 

„Die Welt ist ein erstaunlicher Ort, und der Gedanke, daß wir über die wichtigsten Werkzeuge verfügen, die nötig sind, um sie zu verstehen, ist heute nicht glaubwürdiger als zu Aristoteles‘ Zeiten.“

Thomas Nagel

 

„Der vernünftige Glaube weiß, daß er ein Glaube ist.“

Rainer Forst

 

„Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dieses Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.“

Max Weber

 

„Das nicht erforschte Leben ist es nicht wert, gelebt zu werden.“

Sokrates

 

„Es ist eine furchteinflößende, eine ehrfürchtige Wahrheit, daß die Anerkennung der Andersheit der anderen, unserer unausweichlichen Trennung, die Bedingung menschlichen Glücks darstellt. Gleichgültigkeit ist die Verleugnung dieser Bedingung.“

Stanley Cavell

 

„Keiner kann sagen, was er meint, obwohl jeder nur das sagt, was er meint.“

Bruno Liebrucks

 

„Glaube nie, was in den Büchern steht. Selbst sei dir Weiser, selbst Prophet!

Glaubst du, was die Leute glauben, dann glaube nicht, daß du was weißt.

Das Wissen nur kann niemand rauben, das bei den Menschen Glauben heißt.“

Erich Mühsam

 

„Der Perspektivismus bildet keine Relativität des Wahren, sondern ganz im Gegenteil die Wahrheit des Relativen.“

Gilles Deleuze und Felix Guattari

 

„Das Böse in der Welt entspringt beinahe immer dem Unwissen, und der gute Wille kann genauso viele Schäden anrichten wie die Bosheit, wenn er nicht aufgeklärt ist. Die Menschen sind eher gut als schlecht, doch in Wahrheit ist das gar nicht die Frage.“

Albert Camus

 

„Wir müssen entweder lernen, als Brüder miteinander zu leben, oder wir gehen als Narren unter.“

Martin Luther King

 

„Ich suche nicht – ich finde.

Suchen, das ist das Ausgehen von alten Beständen und das Finden-Wollen von bereits Bekanntem.

Finden, das ist das völlig Neue. Alle Wege sind offen, und was gefunden wird, ist unbekannt. Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer. Die Ungewißheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen, die sich im Ungeborgenen geborgen wissen, die in der Ungewißheit geführt werden, die sich vom Ziel ziehen lassen und nicht selbst das Ziel bestimmen.“

Pablo Picasso

 

„Wir sind alle als Originale geboren – wie kommt es, daß so viele von uns als Kopien sterben?“

Edward Young

 

„Ich erkenne meine Verwandtschaft“ (mit allen Wesen), „ich bin nichts als ein Vermögen, ihnen Widerhall zu geben, sie zu verstehen und zu antworten.“

Maurice Merleau-Ponty

 

„Der philosophische Diskurs ist die Musik des Denkens.“

Georg Steiner

 

„Was mich betrifft, so bezweifle ich, daß der Mensch jemals eine völlige religiöse Unabhängigkeit und eine vollkommene politische Freiheit ertragen kann, und ich bin geneigt zu denken, daß er, ist er frei, gläubig sein muß.“

Alexis de Tocqueville

 

„. . . wieder versuchen, wieder scheitern, besser scheitern . . .“

Samuel Beckett

 

„Die Geschichte ist nämlich nicht, wie es die herrschende Ideologie gern sieht, die Hingabe des Menschen an die lineare, kontinuierliche Zeit, sondern die Befreiung des Menschen von ihr.“

Giorgio Agamben

 

„Theologie verliert ihr Thema, wenn sie nicht mit dem völlig Verändernden zu tun hat.“

Gerhard Ebeling

 

„Wir befinden uns in einer summenden Welt, inmitten einer Demokratie von Mitgeschöpfen; wohingegen die orthodoxe Philosophie, in welcher Gestalt auch immer, uns nur zwischen einsame Substanzen stellen kann, die alle scheinhafte Erfahrungen machen.“

Alfred North Whitehead

 

„Der Weg entsteht im Gehen.“

Antonio Machado

 

„Wir fühlen, daß, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Probleme beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. . . Die Lösung des Rätsels von Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Keine andere Wahrheit ist zeitlicher als die des Religiösen.“

Klaus Hemmerle

 

„Die Entgegensetzung der fest gewordenen Subjektivität und Objektivität ist aufzuheben und das Gewordensein der intellektuellen und reellen Welt als ein Werden, ihr Sein als Produkt, als ein Produzieren zu begreifen. . . Alle Unterscheidungen werden dabei ver-rückt; diese Tätigkeit ist die Kraft und Arbeit des Verstandes, das Fixe zu verflüssigen. . . Es ist aber weit schwerer, die festen Gedanken in Flüssigkeit zu bringen, als das sinnliche Dasein.“

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

 

„Als wir das Ziel aus den Augen verloren, verdoppelten wir die Anstrengung.“

Mark Twain

 

„Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Erlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun.“

Theodor W. Adorno und Max Horkheimer

 

„Bewahre dir in allen Dingen die Freiheit des Geistes und sieh zu, wohin er dich führt!“

Ignatius von Loyola

 

„Die wichtige Frage bezüglich der Tiere ist doch nicht, ob sie denken oder sprechen können; entscheidend ist vielmehr allein, ob sie leiden können.“

Jeremy Bentham

 

„Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen; ein Werdender wird immer dankbar sein.“

Johann Wolfgang von Goethe

 

Das Wie des Lebens ist als der Status quo die notwendige Voraussetzung seines eigenen Warum, der Fülle des Lebens.“

Johannes Soukup

 

„Die Wissenschaft versteht es bestens, metaphysische Annahmen zu zerstören; aber sie liefert keinen Ersatz dafür.“

Francisco Varela

 

„Ein Wort muß man nicht ‚verstehen‘. Man kennt es, oder man kennt es nicht.“

Philipp Wegener

 

„Wir müssen uns wohl von dem naiven Realismus, nach dem die Welt an sich existiert, ohne unser Zutun und unabhängig von unserer Beobachtung, irgendwann verabschieden.“

Anton Zeilinger

 

„Sprechen wir sinnvoll von Realität, so sprechen wir von Realität; spricht niemand von Realität, so ist von Realität nicht die Rede.“

Carl Friedrich von Weizsäcker

 

„In dem Maße, wie wir uns bemühen zu verstehen, um weniger glauben zu müssen, vertieft sich der Glaube.“

Johannes Soukup

 

„Ich möchte ein Buch schreiben, das die Menschen verwirrt, . . . und das sie dahin führt, wo hinzugehen sie niemals eingewilligt hätten.“

Antonin Artaud

 

„Ich beginne zu glauben, daß die einzige wirkliche Sünde der Selbstmord ist oder das Faktum, nicht wir selbst zu sein.“

George Tyrell

 

„Man sollte die Wahrheit dem anderen wie einen Mantel hinhalten, daß er hineinschlüpfen kann – und nicht wie ein nasses Tuch um den Kopf schlagen.“

Max Frisch

 

„Die Welt bietet nicht Wahrheiten, sondern Liebesmöglichkeiten.“

Albert Camus

 

„Glaube, der nicht Erkenntnis ist, aus Erkenntnis kommt und auf Erkenntnis beruht, ist ohne Kontakt zur Wirklichkeit. Glaube ohne Kontakt zur Wirklichkeit ändert an der Wirklichkeit des Glaubenden nichts. Er ist ohne soteriologische Kraft.“

Johannes Fischer

 

„Jeder tue das Seine, der Leser aber das Meiste.“

Søren Kierkegaard

 

„Welchen Sinn hätte unser ganzes Sein, wenn nicht den, daß in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst als Problem zum Bewußtsein gekommen wäre? An diesem Sich-bewußt-werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an – daran ist kein Zweifel – die Moral zugrunde: jenes große Schauspiel in hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten Europas aufgespart bleibt, das furchtbarste, fragwürdigste und vielleicht auch hoffnungsreichste aller Schauspiele.“

Friedrich Nietzsche

 

„Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Physikalische Objekte sind gelegen kommende Vermittler – nicht durch Definition aufgrund von Erfahrung, sondern einfach als nicht reduzierbare Setzungen, epistemologisch den Göttern Homers vergleichbar. . . . Der Mythos der physikalischen Objekte ist den meisten anderen Mythen darin überlegen, daß er sich als wirksamer erweist, dem Fluß der Erfahrungen eine handliche Struktur aufzuprägen.“ 

Willard Van Orman Quine

 

„Denken ist Schöpfung, nicht Wille zur Wahrheit.“

Gilles Deleuze

 

„Die Welt ist ein sehr labiles Gebilde, abhängig . . . von der satzförmigen Rede des Menschen.“

Hermann Schmitz

 

„‚Alles klar‘ oder ‚kein Problem‘ – beide Formeln sind zutiefst unwahr . . .

   Die Rätselhaftigkeit ist unsere fundamentale Wahrheit; alles übrige ist Interpretation . . .

   Zu wissen, was man nicht wissen kann, ist ein bedeutendes Stück Erkenntnis – denn es ermöglicht Toleranz, Kommunikation und Frieden.“

Heinz Robert Schlette

 

„Nichts fordert so viel Treue wie lebendiger Wandel.“

Johann Baptist Metz

 

„Die Sprache ‚vermittelt‘, wenn man so sagen will, zunächst nur in dem Sinne zwischen dem Menschen und seiner Welt, daß sie diese seine Welt überhaupt erst als eine solche für ihn entstehen läßt. In diesem Sinne ist die ‚Welt‘ immer schon sprachlich vermittelte Welt.“

Theodor Bodammer

 

Existieren heißt Differieren; die Differenz ist in gewissem Sinne das Wesen der Dinge.“

Gabriel Tarde

 

„Wer existiert, ist beständig im Werden und versetzt sein Denken ins Werden. . .  Wer ein objektives Christentum und nichts anderes hat, der ist eo ipso ein Heide, denn das Christentum ist gerade eine Sache des Geistes, der Subjektivität und Innerlichkeit.“

Søren Kierkegaard

 

„Definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat.“

Friedrich Nietzsche

 

„Die Lehre vom Gottsein Jesu würde nicht angetastet, wenn Jesus aus einer normalen menschlichen Ehe hervorgegangen wäre.“

Joseph Ratzinger

 

„Freiheit ist heute die Aufgabe und Chance der Kirche.“

Hermann Krings

 

„Es gibt keinen Rückzugsort des Christen von der Welt, weder äußerlich noch in der Sphäre der Innerlichkeit. Jeder Versuch, der Welt auszuweichen, muß früher oder später mit einem sündigen Verfall an die Welt bezahlt werden.“

Dietrich Bonhoeffer

 

„Man vergisst immer wieder, auf den Grund zu gehen, und setzt die Fragezeichen nicht tief genug.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Christlicher Glaube richtet sich nicht auf Sätze und Lehren, sondern auf die Wirklichkeit, von der Sätze und Lehren handeln.“

Thomas von Aquin

 

„Das Eigenartige am Schicksal ist, daß es auf keine Seite der Trennung zwischen Ich und Nicht-Ich richtig paßt.“

Jonathan Lear

 

„Je begreiflicher uns das Universum wird, um so sinnloser erscheint es auch.“

Steven Weinberg

 

„Leuten, die an Esoterik glauben, sage ich: Studiert Quantenmechanik, das ist noch viel seltsamer, aber im Gegensatz zu euren Behauptungen experimentell bewiesen!“

Anton Zeilinger

 

„Ich glaube keiner Theorie, sondern ich benutze sie nur. Ich benutze von der Theorie jeweils das Teilstück, das mir hilft, . . . solange es mir hilft.“

Eckard Sperling

 

„Glauben heißt nicht Propaganda betreiben; es heißt auch nicht schockieren.

Es heißt so leben, wie es unerklärlich wäre, wenn es keinen Gott gäbe.“

Emmanuel Célestin Suhard

 

„Die gegenwärtige, weit verzweigte Realismus-Debatte wirft manche Rätsel auf, deren größtes sein könnte, warum sie überhaupt geführt wird.“

Peter Janich

 

„Um der Zukunft willen vernichten wir alles, was der Zukunft eine Chance ließe.“

Friedrich-Wilhelm Marquardt

 

„Nicht nur Gott kennen wir allein durch Jesus Christus, auch uns selbst kennen wir nur durch ihn. Ohne Jesus Christus wüßten wir weder, was unser Leben noch was unser Tod noch was Gott ist noch was wir selber sind.“

Blaise Pascal

 

„Die Kunst gibt nicht das Sichbare wieder, sondern macht sichtbar,“

Paul Klee

 

„Es ist immer etwas Lächerliches im philosophischen Diskurs, wenn er von außen den anderen vorschreiben und vorsagen will, wo ihre Wahrheit liegt und wie sie zu finden ist.“

Michel Foucault

 

„Das Wort ist ans Wort gebunden; niemals jedoch an Dinge.“

Edmond Jabès

 

„Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“

William Faulkner

 

„Es gehört schon zu den Widersprüchen des Menschen, daß er welche zu haben glaubt.“

Jean Paul

 

„Das Bild des Menschen, das wir für wahr halten, wird selbst ein Faktor unseres Lebens. Er entscheidet über die Weisen unseres Umgangs mit uns selbst und den Mitmenschen, über Lebensstimmung und Wahl der Aufgaben.“

Karl Jaspers

 

„Der Auferstehungsglaube ist nicht die ‚Lösung‘ des Todesproblems.“

Dietrich Bonhoeffer

 

„Eines Tages wird man offiziell zugeben müssen, daß das, was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch größere Illusion ist als die Welt des Traumes“

Salvador Dali

 

„Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen.“

Friedrich Nietzsche

 

„Hoffnung ist nicht die Überzeugung, daß etwas gut ausgehen wird, sondern daß es Sinn hat – unabhängig davon, wie es ausgehen wird.“

Václav Havel

 

„Meine Philosophie lautet, daß alles viel komplizierter ist, als man gemeinhin glaubt.“

Kwame Anthony Appiah

 

„Ich bin kein Revolutionär, aber ich bin der Meinung, daß die Kirche im besten Sinne des Wortes unterwandert werden muß, und zwar durch eine größere Wahrheit, durch die ursprüngliche Wahrheit, und daß das Gebäude der Kirche, um dieser Wahrheit Rechnung zu tragen, irgendwann nachgeben muß, um so diese Wahrheit zur Geltung kommen zu lassen.

  Das kann keine andere als die Wahrheit Jesu Christi sein.“ 

Eugen Biser

 

„Ein Zyniker ist ein Mensch, der von allem den Preis und von nichts den Wert kennt.“

Oscar Wilde

 

„Ohne Mythus aber geht jede Kultur ihrer gesunden schöpferischen Kraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Kulturbewegung zur Einheit ab.“

Friedrich Nietzsche

 

„Wo man der Zweifel nicht fähig ist, ist man auch der Wahrheit nicht fähig.“

Fulbert Steffensky

 

„In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt. . . Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sünden unserer Väter und Vorväter. Wir sind nur noch Kindeskinder. Das ist unser Pech, nicht unsere Schuld.“

Friedrich Dürrenmatt

 

„Kommunikation ist ein produktives Mißverständnis.“

Jacques Lacan

 

„Um die Menschen zu lieben, muß man sehr stark hassen, was sie unterdrückt.“

Jean-Paul Sartre

 

„Unsere Kultur ermutigt uns nicht, Philosophen zu sein, und dies ist vielleicht die verheerendste Verneinung von Freiheit in unserem Leben.“

William Warren Bartley

 

„Nein; gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen.“

Friedrich Nietzsche

 

„Die großartigste Lehre in beiden Religionen, der jüdischen wie der christlichen, ist – ich berufe mich hier auf ein Wort Schopenhauers – die Lehre von der Erbsünde. Sie hat die bisherige Geschichte bestimmt und bestimmt heute für den Denkenden die Welt. Möglich ist sie nur unter der Voraussetzung, daß Gott den Menschen mit einem freien Willen geschaffen hat.“

Max Horkheimer

 

„Wir verstehen nicht einmal das Leben – wie können wir den Tod verstehen?“

Konfuzius

 

„Die meisten Menschen, die sich schämen, mit einem abgelegten Hut oder Mantel zu gehen, laufen freudig mit abgelegten Meinungen herum.“

Sören Kierkegaard

 

„Wie kann der Mensch sich verstehen, wenn er den Tod nicht versteht?“

Karl Rahner

 

„Daß es dieser Arbeit in ihrer Dürftigkeit und der Finsternis dieser Zeit bschieden sein sollte, Licht in das eine oder andere Gehirn zu werfen, ist nicht unmöglich; aber freilich auch nicht wahrscheinlich.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Glaube nicht alles, was Du denkst; aber bedenke alles, was Du glaubst.“

Johannes Soukup

 

„Der fundamentale Widerspruch unserer Existenz . . . ist die gleichzeitige Notwendigkeit der Hierarchie, die Athen lehrt, einerseits, und des abstrakten und in gewisser Weise anarchischen ethischen Individualismus, den Jerusalem zur Aufhebung der Gewalt lehrt, andererseits.“

Emmanuel Levinas

 

„Man muß die Erklärung geben, die akzeptiert wird. Darauf kommt es beim Erklären an.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Die Götter anderer Menschen zu verachten, bedeutet, diese Menschen selbst zu verachten, denn sie und ihre Götter gehören zusammen.“

Sarvepalli Radhakrishnan

 

„Entfremdung ist die freiwillige Unterwerfung unter eine angebliche Objektivität.“

Johannes Soukup

 

„Wenn ich mich nicht täusche, ist die Innenseite dieser äußeren Reserviertheit nicht nur Gleichgültigkeit, sondern, häufiger als wir es uns zum Bewußtsein bringen, eine leise Aversion, eine gegenseitige Fremdheit und Abstoßung, die in dem Augenblick einer irgendwie veranlaßten nahen Berührung sogleich in Haß und Kampf ausschlagen würde.“

Georg Simmel

 

„Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens“ . . . und . . . „Denken ist Danken“.

Martin Heidegger

 

„Die Macht des Menschen, aus sich zu machen, was ihm beliebt, bedeutet . . . die Macht einiger weniger, aus anderen zu machen, was ihnen beliebt.“

Clive Staples Lewis 

 

„Achtung ist Beachtung der Andersheit . . . Ohne diese Achtung versteht man nichts.“

Josef Simon

 

„Schließlich geht es in der Offenbarung Gottes gerade darum, daß er, der Lebendige und Wahre, in unsere Welt einbricht und so auch den Kerker unserer Theorien aufbricht, mit deren Gitterstäben wir uns selbst gegen dieses Kommen Gottes in unser Leben absichern wollen.

Jede – auch die frömmste – Theorie entspricht einem Kerker, weil sie die (Wirklichkeit der) Zeit leugnet und damit die Offenbarung oder eine neue Fülle des Lebens verunmöglicht.“

Joseph Ratzinger

 

„Exaktheit ist ein Schwindel.“

Alfred North Whitehead

 

„Ich möchte nicht mit meiner Schrift Anderen das Denken ersparen, sondern, wenn es möglich wäre, jemand zu eigenen Gedanken anregen.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Freiheit ist das Wahrheitskriterium des Christentums.“

Eberhard Jüngel

 

„Es ist schwer, jemandem etwas auseinanderzusetzen, wenn er dafür bezahlt wird, es nicht zu verstehen.

Upton Sinclair

 

„Glaube ist die Unmöglichkeit, unbedeutend zu sein.“

Peter Sloterdijk

 

„Was ist das Allgemeine? Der einzelne Fall.

Was ist das Besondere? Millionen Fälle,“

Johann Wolfgang von Goethe

 

„Kurz: ‚Substanz‘ ist ein metaphysischer Irrtum, der dadurch entsteht, daß die Struktur von Subjekt-Prädikat-Sätzen auf die Struktur der Welt übertragen wird.“

Bertrand Russel

 

„Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind. Wir sehen die Dinge, wie wir sind.“

Talmud

 

„Viele Bewunderer der Wissenschaft meinen, sie unterscheide sich gerade darin von der Religion, daß sie Glauben durch Vernunft ersetzt. Eben diese Meinung ist nach meiner Ansicht eine Äußerung ihres Glaubens. Wir dürfen nur den Begriff des Glaubens nicht zu eng fassen.“

Carl Friedrich von Weizsäcker

 

„Nicht behaupten ’so ist es‘, sondern leben, als wäre es so.“

Johannes Soukup

 

„Die Religionen, . . . die diesen freiwilligen Abstand begriffen haben, dieses freiwillige Verschwinden Gottes, seine scheinbare Abwesenheit und seine verborgene Anwesenheit hienieden, – diese Religionen sind wahre Religionen, die Übersetzung der großen Offenbarung in unterschiedliche Sprachen.

Die Religionen, welche die Gottheit überall dort, wo sie die Macht dazu haben, als befehlend darstellen, sind falsch. Selbst wenn sie monotheistisch sind, sind sie Götzendienst.“  

Simone Weil

 

„Wir ertrinken in Informationen, aber uns dürstet nach Wissen.“

Paul Nurse

    

„Der Szientismus fügt zur Wissenschaft zwei Begleitsätze hinzu:

Erstens, daß die wissenschaftliche Methode, wenn nicht die einzige, so doch zumindest die am meisten verläßliche Methode ist, zur Wahrheit zu gelangen.

Und zweitens, daß die Dinge, mit denen sich die Wissenschaft beschäftigt – materielle Entitäten –, die grundlegendsten Dinge sind, die existieren.“

Huston Smith 

 

„Wir haben nicht zu viel Verstand und zu wenig Seele, sondern wir haben zu wenig Verstand in den Fragen der Seele.“

Robert Musil

 

„In einer werdenden Welt ist ‚Realität‘ immer nur eine Simplifikation zu praktischen Zwecken oder eine Täuschung aufgrund grober Organe oder eine Verschiedenheit im Tempo des Werdens.“

Friedrich Nietzsche

 

„Wir glauben – nicht, was richtig ist, sondern – was zu glauben wir für richtig halten.“

Johannes Soukup

 

„Philosophen sind Gewalttäter, die keine Armee zur Verfügung haben und sich deshalb die Welt in der Weise unterwerfen, daß sie sie in ein System sperren.“ 

Robert Musil

 

„Nur Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden.“

Heinz von Förster

 

„Der entscheidende Punkt ist, daß nur der Verzicht auf eine Erklärung des Lebens im üblichen Sinne uns die Möglichkeit schafft, den charakteristischen Merkmalen des Lebens Rechnung zu tragen.“

Niels Bohr

 

„Glaube ist das Denken eines religiösen Geistes.“

John Henry Newman

 

„Das schlechthin Unvernünftige – wir zerstören unsere Welt – tritt ein, weil alle vernünftig handeln.“

Thomas Ruster

 

„Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, aber bei Gruppen Parteien, Kirchen oder Völkern die Regel.“

Friedrich Nietzsche

 

„Unablässig versucht der moderne Mensch, die Welt in Reichweite zu bringen.

Dabei droht sie uns jedoch, stumm und fremd zu werden.

Lebendigkeit entsteht nur aus der Akzeptanz des Unverfügbaren.“

Hartmut Rosa

 

„Nichts ist stärker als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“

Victor Hugo

 

„Möglicherweise hat nicht die Gesellschaft Gott vergessen, sondern wir Christen haben verlernt, richtig über Gott zu reden.“

Manfred Lütz 

 

„Wir brauchen ein Ministerium für Ruhestörung, das kalkuliert Ärger erzeugt; die Routine zerstört und die Selbstzufriedenheit untergräbt.“

Cyril Dean Darlington

 

„Du und ich, wir sind nicht zwei.“

Emmanuel Levinas

 

„Wirklich ist das, wovon wir ausgehen, selbst wenn wir es im einzelnen bezweifeln.“

Bernhard Waldenfels

 

„Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind, – oder doch ähnliche Gedanken – schon selbst einmal gedacht hat.

Es ist also kein Lehrbuch.

Sein Zweck wäre erreicht, wenn es einem, der es mit Verständnis liest, Vergnügen bereitete. . .

Denn wenn ich auch nur selten ins Schwarze getroffen habe, wird der aufmerksame Leser doch erkennen, nach welchen Zielen ich unablässig geschossen habe.“

Ludwig Wittgenstein.

1. Einleitung

Das waren sehr viele Zitate; sie sollten die Richtung andeuten, in die wir uns bewegen werden, und Ihnen damit eine Entscheidung ermöglichen, ob es sich für Sie möglicherweise lohnen könnte, mein Buch zu lesen.  

Haben Sie keine Sorge, daß es in diesem Sinne – also auch ein wenig langweilig und ermüdend – weitergehen könnte. Ganz im Gegenteil; ich versuche, selbst zu denken, finde das unheimlich spannend – es ist mein Hobby – und lade Sie dazu ein.

Wenn Sie mitspielen und Fehler finden, hat sich das Thema für Sie höchstwahrscheinlich erledigt. Sympathisch und der Wahrheit dienlich wäre es freilich, mich kurz auf die entsprechenden Schwachstellen hinzuweisen. Ich danke Ihnen schon im Voraus und bitte um Entschuldigung für meine Versehen.

 Unter Fehlern verstehe ich insbesondere logische Widersprüche, fehlende Denkmöglichkeiten und ungerechtfertigte Annahmen jeglicher Couleur, also nicht nur weltanschaulich-religiöse, sondern auch wissenschaftliche oder alltägliche.

 

Kein Fehler ist es freilich, gegen den Strich zu denken, vom Zeitgeist mit seinen Selbstverständlichkeiten und Plattitüden abzuweichen, von dem also, was „man sagt“ oder „jeder weiß“. Dabei darf es natürlich nicht um das Widersprechen als Selbstzweck gehen, wie wir es heute in unserer Gesellschaft tagtäglich – mit nahezu beliebigen „Begründungen“ und „Argumenten“ oder auch ganz ohne sie – erleben.

Entscheidend ist vielmehr, daß insbesondere logische Widersprüche, fehlende Denkmöglichkeiten und ungerechtfertigte Annahmen jeglicher Couleur auch dann zu vermeiden sind, wenn sie von vielen Menschen geteilt werden und somit dem Zeit- oder einem beliebigen Gruppen- bzw. Korpsgeist entsprechen.

Bloße Meinungen interessieren mich nicht, und eine „Meinungsfreiheit“, derzufolge doch jeder sagen darf, was er „denkt“, ist keine Errungenschaft der Demokratie, sondern arbeitet an deren Zerstörung. Meinungs-Freiheit setzt Meinungs-Bildung im engeren Sinne voraus, und ohne letztere wäre es häufig besser zu schweigen.

 

Die meisten von uns können es sich heute kaum leisten, Zeit und Mühe in die Auseinandersetzung mit einem Buch zu investieren, die sie anschließend bereuen würden, weil sich sein Inhalt rückblickend als oberflächlich, uninteressant oder sinnleer herausstellt.

Mit dem letzten Prädikat meine ich nicht die übliche Frage „Was bringt mir das?“, weil sie selbst oberflächlich, uninteressant und sinnleer ist. Wer dergleichen sucht, ist hier falsch und sollte besser Ratschläge zur Selbstverwirklichung, Anleitungen zur Erbauung oder Tips vom Baumarkt und Finanzberater lesen.

(„Tips“ stimmt; ich halte mich an die alte Rechtschreibung, denn sie wurde gerade geändert, als ich endlich einigermaßen sicher darin war. Die vorreformerische Orthographie ist offiziell auch für Bücher gestattet; sie muß nur konsequent „von gestern sein“, und das versuche ich zu befolgen.) 

 

Das Buch will Ihnen unter anderem helfen,

selbst zu denken und

– hierbei einzusehen, daß

  — Aussagen oder Sätze niemals wahr sind, sondern sich höchstens zwischen richtig und falsch bewegen,

  — Überzeugungen und Wahrheit dadurch zwei völlig verschiedene Dinge sind,

  — niemand die Wahrheit haben kann, weil

  — sie nicht die Form von Aussagen bzw. Sätzen besitzt,

  — eigene Überzeugungen sowohl für ein erfülltes Leben wichtig als auch für fruchtbare Gespräche notwendig sind und

  — der Widerstreit erst dort beginnt, wo diese Überzeugungen als Wahrheit geglaubt werden.

 

Ich möchte Ihnen möglichst deutlich aufzeigen, daß wir alle nur einen Zugang zum eigenen subjektiven Leben besitzen und unser Weltbild oder Wissen nicht darüber hinausreicht. Sämtliche weitergehenden Theorien über die Welt an sich und ihre Rettung oder Transzendenz sind reine Illusionen; die Geschichte zeigt uns im Übermaß, daß sie häufig ins Unglück führen – privat wie  gesellschaftlich.

Unsere Wahrheit ist bestenfalls die subjektive Wahrheit des eigenen Lebens – denn nur letzteres ist uns gegeben – und niemals diejenige irgendwelcher angeblich objektiver Theorien. Naturgesetze beispielsweise mögen richtig sein; aber das ist etwas ganz anderes als „wahr“, und die Unterscheidung zwischen beiden – sowie „wirklich“ als einem dritten Kandidaten in dieser Hinsicht – wird sich als wesentlich herausstellen:

Sätze – oder besser: Aussagen – variieren zwischen richtig und falsch.

Wirklich ist für mich nur mein subjektives Leben, zu dem das eigene Denken sowie Handeln – und damit natürlich auch das Sagen von richtigen oder falschen Sätzen – gehört, und deshalb gibt es auch in ihm allein Wahrheit.

 

Das bedeutet des weiteren, daß wir auch „die Welt nur retten können“, indem wir bei uns selbst bzw. dem eigenen Leben beginnen – und verbleiben. Erreicht diese Einsicht unser Herz, führt sie vielleicht dazu, im tiefsten Inneren ein wenig bescheidener, offener, gelassener und toleranter zu werden. François Jullien nennt dies „unser zweites Leben“ – natürlich hier und jetzt im Diesseits –, in dem wir „an keiner Idee hängen“, weil sie im günstigsten Falle richtig, aber niemals wahr ist.

Ich kann niemandem sagen, was – für ihnwahr ist, sondern lediglich versuchen, ihm meine Wahrheit als attraktiv vorzuleben.

 

AD:  „Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle, bevor ich Ihnen ins Wort falle:

Mein Name ist ‚Advocatus Diaboli‘, kurz ‚AD‘ genannt; ich vertrete Ihre Leser und versuche, ihnen ein wenig zu helfen, wenn Sie etwas – nennen wir es einmal vorsichtig – ‚Befremdliches‘ zum Ausdruck bringen.“

Sie haben uns noch gefehlt . . .; aber trotzdem: „Herzlich willkommen!“

AD: „Daß Sie sich von vornherein auf das eigene Leben beschränken und dieses als die einzige und gesamte Wirklichkeit überhaupt darstellen, ist schon mehr als befremdlich. Wo bleibt denn die gesamte ‚restliche‘ Welt – also eigentlich alles? Nehmen Sie sich dabei nicht selbst zu wichtig? Und welcher Leser sollte Ihnen darin folgen?“  

 

Könnte ich Ihre Fragen kurz und bündig beantworten, brauchten wir das Buch nicht. Aber mit ein paar einführenden Gedanken lassen sich vielleicht die schlimmsten Vorbehalte etwas abschwächen:

 

1. Es geht natürlich nicht um mich; ich bin ein Subjekt wie Sie, und für alle Subjekte besteht die gesamte, vollständige Wirklichkeit ausschließlich im eigenen Leben

 

2. Ist die Wahrheit daran gebunden, der Wirklichkeit zu begegnen, so bedeutet dies lediglich die Selbstverständlichkeit, daß die Wahrheit nur eine einzige Quelle besitzt und diese in unseren subjektiven (Lebens-)Erfahrungen oder Erlebungen besteht.

 

3. Ihre Erfahrungen sind nicht die meinigen, weil wir differente Leben leben; also können auch unsere Wahrheiten nicht übereinstimmen.

 

4. Natürlich bekommen wir auch vieles erzählt, berichtet oder mitgeteilt; Märchen, Fußballergebnisse, das Wetter auf Tasmanien und die Zahl der Jupitermonde zum Beispiel. Derartige Informationen befinden sich nicht außerhalb unseres Lebens oder transzendieren es nicht, sondern gehören ihm als Verstehungen integral an.

Viele von ihnen ignorieren wir einfach als belanglos oder glauben sie nicht.

Halten wir unsere Verstehungen dagegen für interessant und ihre Überbringer für vertrauenswürdig, so lassen wir uns vielleicht auf die Verstehungen ein:

– Könnten sie etwas mit meinem Leben zu tun haben oder dafür irgendwie relevant sein?

– Ist dies der Fall, überprüfen wir, ob die entsprechenden Verstehungen durch unsere eigenen Erfahrungen bestätigt werden; wenn nicht, sind auch sie hinfällig.

 

5. Was „über unser subjektives Leben hinausgeht bzw. es transzendiert“, 

– ist also entweder belanglos

– oder geht nicht über unser Leben hinaus.

Es existiert also keine zweite Quelle der Wahrheit neben unseren subjektiven (Lebens-)Erfahrungen oder Erlebungen.

 

Wir benötigen die subjektive Wahrheit unseres Lebens allein für dieses Leben selbst, nämlich um erfüllt leben zu können. Das ergibt sich meines Erachtens daraus, daß der Sinn unseres Lebens allein in dessen Fülle besteht; mehr als sie oder ein wahres Leben ist gar nicht möglich.

Der Glaube kann und sollte die Freiheit schenken, die wir benötigen, um dieses Ziel zu erreichen. 

Wenn Theodor W. Adorno Recht hat mit seinem Bonmot „Es gibt kein wahres Leben im falschen“, führen wir ein unwahres Leben bis zu unserem Tod. Das wahre Leben im wahren erhoffen sich die Gläubigen von der Zukunft.

Ich widerspreche dem nicht, sondern ergänze lediglich:

Und zuvor, das heißt, hier und jetzt besteht unsere Aufgabe darin, uns im falschen Leben um ein wahres zu bemühen.

 

Daß die Wahrheit „nur“ subjektiv ist, merken wir gar nicht, weil sie dem eigenen „Innen“ angehört und uns somit prinzipiell keine anderen Leben – mit ihren differenten Wahrheiten – begegnen können. Wir treffen lediglich auf uns fremde Verhaltenweisen, Handlungen oder Aussagen, aber die sind bestenfalls richtig.

Und allein ihnen gegenüber benötigen wir auch Toleranz. Sie bedeutet keineswegs, das Tolerierte zu achten oder gar zu bewundern; wir lehnen es ab – andernfalls wäre keine Toleranz erforderlich. Aber das liegt alles nicht auf der Ebene der Wahrheit und hat folglich insbesondere nichts damit zu tun, daß wir der Toleranz wegen unsere eigene Wahrheit aufgeben oder opfern müßten.

„Das Ziel der Toleranz ist nicht die Wahrheit, sondern die Wahrung des Friedens“ (John Gray). 

 

Da wir „natürlich“ von der Richtigkeit unserer eigenen Gedanken, Verhaltenweisen, Handlungen oder Aussagen überzeugt sind, bedeutet Toleranz zwar nicht den Verzicht auf die eigene Wahrheit, sehr wohl aber auf Rechthaberei oder jegliches Sein-Wollen-wie-Gott.

Selbst unsere tiefsten Überzeugungen können prinzipiell nicht wahr sein – ganz einfach weil es in ihrer Sphäre keine Wahrheit gibt –, so daß wir sie, ohne uns selbst untreu zu werden oder verraten zu müssen, problemlos relativieren können: 

 

Warum denke ich so, wie ich denke?

Weshalb bin ich sogar überzeugt, so denken zu müssen?

Welche Scheuklappen versperren mir den Blick auf andere Möglichkeiten?

Glaube ich ernstlich, weiser zu sein als Karl Jaspers‘ „maßgebliche Menschen“ – Sokrates, Buddha, Nagarjuna, Jesus oder Konfuzius –, so daß ich deren Gedanken einfach ignorieren könnte?

Muß ich nicht selbst über diese Einschätzung lachen? Wieso soll gerade ich über einen heißen Draht zu Gott oder Hegels „Weltgeist“ verfügen?

Woraus resultiert überhaupt Descartes‘ Überzeugung, daß ich denken würde?

Könnte es nicht auch sein, daß es in mir bzw. durch mich (hindurch) denkt; so wie „es regnet“, „blitzt“ (Georg Christoph Lichtenberg) oder – mir – dämmert?

Kann es denken? „Ja“; denn wer kann abschätzen, wie stark ein spezieller Gruppengeist an seiner Stelle denkt oder gar „die Sprache spricht“ (Martin Heidegger)?

Ist meine „ewige Wahrheit“ vielleicht nur ein alter Zeitgeist und die angeblich „großartige Idee“ lediglich der neue?

 

AD: „Ich fürchte, mit Ihrer Behauptung, wir könnten keine Wahrheit besitzen, widersprechen Sie sich selbst, denn das soll doch auch eine Wahrheit sein – die Sie bereits haben und mir bzw. den Lesern vermitteln möchten.“

Nein; das stellt einen alten Einwand dar, der an dieser Stelle häufig wiederkehrt. Aber er ist trotzdem falsch, denn ich erhebe keineswegs den Anspruch, daß mein Satz „Niemand kann die Wahrheit habenwahr sein soll; natürlich nicht; Sätze sind niemals wahr, hatten wir oben bereits festgestellt. 

Ich bin jedoch überzeugt, daß

– der Satz „Niemand kann die Wahrheit habenrichtig ist und

– es zu meinen Aufgaben gehört, ihn in diesem Buch zu verteidigen.

 

Wahr sein kann allein unser Leben. Das enthält aber keine Sätze – Behauptungen, Versprechen, Befehle, Entschuldigungen, Dogmen, Gesetze, Bitten, Appelle und dergleichen –, sondern höchstens das Äußern bzw. Ausdrücken – Denken, Sagen oder Schreiben – von ihnen. Es gibt also insbesondere weder wahre Naturgesetze noch wahre Dogmen – jeglicher Couleur –; aber meine Aufgabe im situativen Hier und Jetzt kann sehr wohl darin bestehen, derartige Aussagen zu treffen

In Abhängigkeit davon, ob und wie ich das tue, wird mein Leben – im Sinne einer Verantwortungs- oder Situationsethik – wahr bzw. unwahr; das betrifft jedoch nur mein Sagen, während das Gesagte bestenfalls richtig ist:

Ich halte es unter anderem für meine Aufgabe, hier den meines Erachtens richtigen Satz „Niemand kann die Wahrheit haben“ zu schreiben. Für Christen sollte das eine Selbstverständlichkeit sein, denn da sie glauben, daß Gott die Wahrheit ist,  hätten sie mit ihr zugleich Gott selbst. 

 

Wir müssen sogar noch einen Schritt weitergehen, denn auch die nachstehende Situation ist beileibe nicht absurd:

„Ich muß mich um der Wahrheit willen hier und jetzt so äußern – obwohl das, was ich sage, meiner tiefsten Überzeugung zufolge falsch ist.“

Dieser Unterschied zwischen Sagen und Gesagtem, der bei Emmanuel Levinas eine sehr große Rolle spielt, läßt sich leicht an Fällen verdeutlichen, in denen wir lügen müssen, um Leben zu retten. Dann „müssen“ wir – der Wahrheit zuliebe – lügen.

 

AD: „Das war etwas kompliziert; hätten Sie vielleicht noch ein verständliches Beispiel zu der von Ihnen offensichtlich favorisierten Verantwortungs- oder Situationsethik?“

Ja; natürlich:

„1 + 1 = 2“ kann unmöglich wahr sein, weil es nichts mit meinem Leben zu tun hat. Mathematische Laien würden also wahrscheinlich annehmen, diese Gleichung wäre richtig; aber nicht einmal das stimmt.

 

Es gibt nicht nur die – eine – Mathematik, die wir in der Grundschule kennengelernt haben, sondern (beliebig) viele Mathematiken.

Die „normale“ Mathematik von damals wird nach dem italienischen Mathematiker Peano benannt. Sie beginnt mit seinen fünf Axiomen; das sind mehr oder weniger willkürlich gewählte Sätze, die sich nicht beweisen lassen – ganz einfach weil sie am Anfang stehen und zunächst nur sie allein vorhanden sind; es gibt einfach noch nichts, mit dessen Hilfe wir sie beweisen könnten; wir beginnen erst, Mathematik zu betreiben. Die Konsequenzen, die sich aus diesen Axiomen ziehen lassen, bilden in ihrer Gesamtheit die Peanosche Mathematik oder Algebra, und dazu gehört auch, daß beispielsweise „1 + 1 = 2“ gilt.

 

Völlig analog läßt sich aus den Booleschen Axiomen unter anderem „1 + 1 = 1“ ableiten.

Das ist nicht falsch, und das „normale“ Ergebnis nicht richtig, vielmehr ist beides ableit- oder „beweisbar“. Bei unterschiedlichen Voraussetzungen – den Peanoschen bzw. Booleschen Axiomen – stellt es weder einen Widerspruch noch eine Überraschung dar, daß die beiden Summen unterschiedlich ausfallen.

 

Mathematik studieren heißt, möglichst viele Mathematiken kennenzulernen und ein Fingerspitzengefühl dafür zu entwickeln, bei welchen Problemen man welche Mathematik benutzen muß, um sie zu lösen.

Mit ein wenig Phantasie finden wir auch beliebig viele Beispiele, bei denen die Boolesche Algebra die angemessene ist: Zwei Wolken, zwei Geschichten, zwei Wahrheiten, zwei Leerstellen, zwei Tropfen . . . Das wichtigste Beispiel bilden natürlich die Digitalrechner; es gäbe sie nicht ohne die Boolesche Mathematik.

(Natürlich auch nicht ohne duale Zahlen; ich schreibe das jedoch nur, um darauf hinzuweisen, daß das etwas ganz anderes ist – nämlich lediglich eine Darstellungsweise innerhalb der peanoschen Algebra – und mit unserem Thema aber auch gar nichts zu tun hat. Hier gibt es selbstverständlich auch die 2; sie wird lediglich als „10“ geschrieben; in der Boolschen Mathematik existiert dagegen keine 2; nur 0 sowie 1. Und eben deswegen mußte Boole sich entscheiden, ob 1 + 1 nun 0 oder 1 sein soll; möglich gewesen wäre beides.) 

 

Wird mir also die Frage gestellt, ob „1 + 1 = 2“ stimmt, hängt meine Antwort von der jeweiligen Situation und insbesondere von den Fragestellern ab.

Sind letztere unsere Enkel aus der Kita, kann meine Antwort nur „ja“ lauten; ich will ihnen doch keine Schwierigkeiten in der Schule bereiten.

Würde ich das Gleiche jedoch zu Ihnen sagen, wäre es unwahrhaftig und damit eine Lüge, weil ich mit dieser Aussage – nicht der Wahrheit, sondern – meiner eigenen Überzeugung widersprechen würde; ganz abgesehen von der Beleidigung, Sie wie unsere Enkel zu behandeln.

Wahrhaftigkeit kann ja unmöglich bedeuten, die – prinzipiell unwiß- und unsagbare – Wahrheit auszudrücken; sie bedeutet vielmehr, der eigenen Überzeugung zu folgen. Der Lügner spricht nicht die Unwahrheit aus, sondern etwas, was er selbst nicht glaubt.

 

Damit sollte meine Unterscheidung zwischen „wahr“ und „richtig“ schon verständlicher werden:

Die Gleichungen „1 + 1 = 1“ oder „1 + 1 = 2“ sind – wie alle Sätze bzw. Aussagen – natürlich weder wahr noch unwahr und in diesem speziellen Fall nicht einmal richtig oder falsch. Unser verbales Denken, Sprechen oder Schreiben gehört dagegen zum Leben, und das allein kann bzw. sollte wahr sein. Dafür müssen wir freilich – je nach Situation – das eine Mal „ja“ und das andere Mal „nein“ sagen, wenn wir nach der Gültigkeit der (ersten bzw.) zweiten Gleichung gefragt werden.

Deswegen ist allein eine Verantwortungs- oder Situationethik möglich, denn sich um ein wahres Leben zu bemühen, bedeutet, im Hier und Jetzt jeweils das zu tun, worin wir unsere Aufgabe oder Verantwortung sehen. Ohne das eigene, prinzipiell unkontrollierbare Gewissen gibt es also auch keine – eo ipso subjektive und situative – Wahrheit.

Das Gewissen bietet uns eine Orientierung für das Leben, zu dem auch das Sagen gehört – aber nicht das Gesagte. Und ersteres ist wichtiger oder primär, denn falls das Sagen fehlt, existiert auch kein Gesagtes.

 

AD: „Wer dagegen die Verantwortungs- bzw. Situationsethik ablehnt, an ewige Wahrheiten glaubt und diese in Sätzen oder Aussagen sucht, muß mitunter böse sein. Das wird bei Kant, den ich ansonsten sehr verehre, überaus deutlich; seiner Auffassung nach dürften wir niemals lügen.

Wir müßten also beispielsweise dem Nazi-Soldaten, wenn er uns fragt, ‚ehrlich‘ antworten, wo sich der versteckte Jude aufhält; oder dem labilen Patienten seine Diagnose mitteilen – wie schlimm auch immer sie ausgefallen sein mag. Und wenn das noch unwissende adoptierte Nachbarkind uns nach seinen Eltern fragt, . . .“

Ja; es mag übertrieben fromm klingen, wenn wir sagen „Alles, was zählt, ist die Liebe“ oder mit Augustinus „Liebe und tu, was Du willst“, aber ich bin überzeugt, daß uns schwerlich etwas viel Besseres einfallen wird.

 

Wir dürfen, anders formuliert, die Leibhaftigkeit unseres Lebens – die in der Sphäre von wahr und unwahr spielt – nicht durch eine bloße Reflexion darüber – die bestenfalls richtig sein kann – ersetzen; die Praxis durch die Theorie oder die Wirklichkeit durch ihre Abstraktion.

Es ist völlig belanglos, ob zum Beispiel Christen bekennen äußern, Gott sei dreifaltig; das ist – wenn es hochkommt – vielleicht Reflexion, Theorie oder Gesagtes; kann aber auch bloßes, papageienhaftes Gerede darstellen.

Wichtig könnte höchstens sein, ob die Dreifaltigkeit Gottes in ihrem Leben zum Ausdruck kommt; wenn „ja“, wäre dies ein Bekenntnis.

Und sofort wird es spannend:

Wie müßte denn mein Leben aussehen, wenn darin die Dreifaltigkeit Gottes zum Ausdruck käme?

Wie hängt sie überhaupt mit meinem Leben zusammen?

Wie läßt sich das verstehen, wenn wir Gott nicht verstehen können?

 

AD: „Demzufolge kann Glauben nicht darin bestehen, einfach die Existenz Gottes zu bejahen?“

Möglicherweise gab es Zeiten und existieren auch heute noch Orte, wo es selbstverständlich war bzw. ist, was der Name „Gott“ bedeutet; aber das ist bei uns gewiß nicht (mehr) der Fall. Hat Gott jedoch seine Offensichtlichkeit verloren, werden sowohl die Frage nach als auch das Bekenntnis zu seiner Existenz gegenstandslos; wir müsen erst einmal klären, wovon überhaupt die Rede sein soll.    

Selbst ein Schöpfer-Gott wäre auch teuflisch, gemein und hinterhältig möglich; er könnte zum Beispiel völlig sinnlos einen sehr schönen Baum in seinem Garten pflanzen und uns bei Strafe verbieten, davon zu essen.

Daß sich die Frage, zu welchem Gott wir „ja“ bzw. „nein“ sagen, nicht durch das Nennen eines Namens beantworten läßt – JHWH, Baal, Allah, Re oder Zeus beispielsweise –, versteht sich von selbst, denn Namen sagen nichts, das heißt, sie enthalten nichts Gesagtes und können damit weder richtig noch falsch sein.

 

Wir müssen diesbezüglich also mindestens drei Fragen unterscheiden:

1. Wer oder was ist der wahre Gott – sofern es ihn überhaupt gibt?

2. An welchen Gott glaube ich gegebenenfalls?

3. Wie wirkt sich dieser Glaube bzw. Nicht-Glaube auf mein Leben aus?

 

AD: „Jetzt verstehe ich, weshalb Sie oben so locker und – wie – selbstverständlich von Gott sprechen konnten:

Damit legen Sie nicht – in vorauseilendem ‚frommen Gehorsam‘ – bereits fest, daß es ihn gibt, sondern verbieten sich lediglich, etwas auszuschließen, von dem Sie gar nicht wissen, worum es sich handelt. Das ist dann keine fromme Vorentscheidung, sondern gehört zu den notwendigen Voraussetzungen kritischen Denkens – wie sehr auch immer es dem Zeitgeist widersprechen mag.“

1.1. Kopernikanische Wende

Die Denkrichtung unserer Überlegungen können wir in einfachen Worten anhand von vier für die betreffenden Philosophen charakteristischen Fragen andeuten:

George Berkeley: „Verursacht ein fallender Baum Lärm, wenn es niemand hört?“

Martin Heidegger: „Waren die Gesetze Newtons schon vor Newton wahr?“

Thomas S. Kuhn: „Lebten Aristoteles und Galilei in derselben Welt?“

Max Black: „Existierte die Rückseite des Mondes, bevor wir sie gesehen haben?“

Wohl viele von uns dürften sich ob solch naiver Fragen fast beleidigt fühlen und sie natürlich alle mit einem glatten „ja“ beantworten.

Ich will Ihnen dagegen zeigen, daß manches für das ebenso eindeutige „nein“ der genannten Denker spricht, dem wir uns 100%-ig anschließen.

 

Mir ist bewußt, daß diese „Kopernikanische Wende“ (Kant) natürlich „keineswegs eine Empfehlung für mein Buch darstellt, sondern eher das Gegenteil. Denn Neues will weder der Fachmann noch der Laie. Jener ist froh, wenn er so weitermachen kann, wie er es gelernt hat, . . . und dieser will auch nicht eine neue und revolutionäre Philosophie vorgesetzt bekommen, sondern – wenn überhaupt eine Philosophie, dann schon – die richtige oder die Philosophie der Gegenwart.“ (Franz Rosenzweig)

Bei beiden Wünschen muß ich Sie allerdings enttäuschen:

Die richtige Philosophie kann es nicht geben, weil philosophische Fragen keine endgültigen Antworten kennen – genau das macht sie zu philosophischen Fragen: Was einmal definitiv beantwortet sein wird, war schon zuvor keine philosophische Frage.

„Die Meinung, die sich am Ziel glaubt, blockiert das Verstehen“ (Josef Simon) und damit die Zukunft, würde ich ergänzen.

Und ob mein Denken gegenwärtig en vogue ist – der zweite Wunsch –, interessiert mich nicht. Ich möchte, soweit dies überhaupt möglich ist, jeglichen Zeitgeist hinter mir lassen; freilich denjenigen, der zur Zeit des Sokrates, Jesus, Thomas oder Newton herrschte, ebenso wie den heutigen.

 

Das Buch basiert auf der Annahme, daß ein Bewußtseinswandel im Sinne negativer Antworten auf die obigen Fragen bei hinreichend vielen Menschen gegenwärtig wichtiger wäre als alle pragmatischen Fortschritte, auf die wir in den letzten vier Jahrhunderten ebenso einseitig wie stolz gesetzt haben und in denen noch immer viele die Lösung unserer stetig zunehmenden Probleme sehen – anstatt ihrer Ursache.

Dieser moderne Irrglaube ist freilich nicht nur nachvollziehbar, sondern sogar nahezu zwingend, solange wir glauben, in den exakten Wissenschaften den Königsweg – vielleicht nicht nur zur Richtigkeit, sondern sogar – zur Wahrheit gefunden zu haben.

Die exakten Wissenschaften – für mich pesönlich insbesondere die Theoretische Physik – sind großartig und eine unglaubliche Kulturleistung sowie ein Segen für uns alle. Aber zum einen haben sie nichts mit der Wahrheit zu tun, und zum anderen gibt es noch sehr viele andere Wege.

 

AD: „Letzteres verstehe ich nicht; wenn A richtig ist, muß non-A als seine Negation falsch sein.“

Nein das ist zu simpel gedacht. Wir werden ausführlich darauf zurückkommen, so daß ich Sie bitte vorerst mit einem Beispiel, das auf Ernst von Glasersfeld zurückgeht, abspeisen darf:

Um den vor ihm liegenden Wald zu duchqueren, tastet sich ein Blinder Schritt für Schritt mühsam vorwärts. Auf der Gegenseite angekommen hat er einen Weg gefunden, um sein Ziel zu erreichen. So, wie der Blinde gelaufen ist, geht es also – auch. Es paßte; aber nicht wie der Schlüssel zum Schloß, sondern wie einer von 1000 Dietrichen. Dieser Weg war möglich – 999 andere wären es freilich auch gewesen.

 

Ihr Fehlschluß besteht also in Folgendem:

Natürlich gilt „Wenn A richtig ist, muß non-A als seine Negation falsch sein“; aber um Logik geht es gar nicht:

Wenn A geeignet ist, um ein davon unabhängiges B zu erreichen, folgt daraus doch keineswegs, daß non-A ungeeignet sein muß. Was hat ein von A unabhängiges B mit dem Negieren von A zu tun?

 

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch; das ist keine Ungerechtigkeit; ich bin dankbar und froh, heute hier in Mitteleuropa zu leben, und genieße die abendländischen Errungenschaften der Moderne. Den meisten von uns geht es zum Glück besser als vielen mittelalterlichen Fürsten. Das betrifft nahezu alle Bereiche unseres Lebens; selbst die relative Anzahl der Menschen, die gewaltsam umkommen, nimmt – allem Augenschein zum Trotz – wohl stetig ab (Thomas Piketty). 

Das entspricht dem Wie unseres Lebens.

Ich habe in diesem letzten Satz ganz bewußt kein einschränkendes „aber“ bzw. “ jedoch nur“ eingefügt, weil derartige Ermahnungen meiner Überzeugung zutiefst widersprechen würden. Wir wollen und – dürfen nicht nur, sondern – sollen das Leben genießen. Der Sinn des Lebens besteht in seiner eigenen Fülle oder Tiefe; es ist letzte Wirklichkeit, Selbstzweck und kein bloßes Mittel – wofür auch immer.

Es geht „nur“ um unser Leben – weil das unüberbietbar ist!

 

Das bezieht sich nicht nur auf ein „Jenseits“, sondern beginnt – wenn wir überhaupt diesen unseligen Dualismus probehalber übernehmen – im „Diesseits“; im Falschen des Lebens sollten wir uns um sein Wahres bemühen. Das „Diesseits“ ist weder Prüfungs- noch Bewährungsort und dürfte auch kein Jammertal sein, denn die Lust am Leben bildet nach meinem Dafürhalten das ent- und unterscheidend Christliche. Jesus wurde unter anderem bekanntlich vorgeworfen, er sei ein „Säufer und Fresser“.

Der katholische Dominikaner-Theologe Marie-Dominique Chenu sagte zu Maria Caterina Jacobelli, der Autorin von „Ostergelächter. Sexualität und Lust im Raum des Heiligen“:

„Sprechen Sie niemals von der Freude, Madame, sprechen Sie immer von der Lust, sonst wird man Sie spiritualistisch mißverstehen.“

 

Trotz dieser positiven Wertung von Lust und Genuß ist das freilich – jetzt kommt das bereits befürchtete „aber nur“ also doch noch – lediglich die halbe Wahrheit, denn es gibt neben dem Wie des Lebens auch sein Warum, seinen Inhalt oder Sinn.

Viktor E. Frankl – der „dritte Wiener Psychotherapeut“ – faßte seine Lebenserfahrungen in dem Leitsatz der Logotherapie zusammen, daß „wer ein Warum zum Leben besitzt, nahezu jedes Wie erträgt“. Aus seinem Munde hat eine solche Überzeugung meines Erachtens Gewicht, denn Frankl überlebte Dachau sowie Auschwitz, wo sein Bruder, seine Frau und Eltern ermordet wurden.

Selbstverständlich können wir das Warum unseres Lebens – seine mögliche Tiefe also – völlig ignorieren und mit ungezügeltem Prassen, seichter Unterhaltung bzw. langweiligem Zeitvertreib oder Nicht-Denken in seinem Wie aufgehen.

Aber dieses Wie ist doch nichts anderes als der Status quo unseres Lebens auf dem Weg zu seiner Fülle, seinem Warum oder Telos; es ist also weder sekundär noch vermeidbar, sondern notwendig. Ein Warum des Lebens ohne Wie würde doch erfordern, daß ersteres einfach so vom Himmel fiele.   

 

Ich bleibe also – mit der Tradition – dabei, zwischen dem Wie und Warum des Lebens zu unterscheiden, weigere mich aber – entgegen der Tradition –, die beiden voneinander zu trennen oder gar gegeneinander auszuspielen:

Das Wie des Lebens ist – als der Status quo des letzteren – die notwendige Voraussetzung seines eigenen Warum, der Fülle des Lebens; ohne Wie kein Warum; ohne Status quo kein Telos.

In unserem Buch geht es also um beides; deswegen mein obiges Plädoyer für Lust und Genuß. Wer das Leben will oder wem es gar – Schiller zum Trotz – als „der Güter höchstes“ gilt, kann das Wie nur als den Übergang des Lebens zu seinem Warum verstehen.

Die Fülle des Lebens kann nicht einfach so vom Himmel fallen, denn falls sie das tun würde, wüßten wir nichts von ihr und damit wäre es auch keine Fülle des Lebens.  Zu meinen Aufgaben im Zuge unserer weiteren Überlegungen gehört es, Ihnen die Stringenz dieses Schlusses möglichst deutlich aufzuzeigen.  

 

Zahlreiche prominente Wissenschaftler deuten unser Zeitalter als das Anthropozän, weil erstmals auch wir Menschen über das Schicksal des Lebens auf der Erde (mit)bestimmen – nicht mehr Sonneneruptionen, tektonische Verschiebungen, Meteoriteneinschläge, Seebeben oder Vulkanausbrüche allein. Für Ernst Ulrich von Weizsäcker ist es „das Zeitalter, in dem der Mensch das gesamte Geschehen dominiert, bis hin zur bio-geochemischen Zusammensetzung der Erde“. Man muß weder Apokalyptiker oder Weltuntergangs-Prophet noch Verschwörungstheoretiker sein, um derartige Szenarien ernstnehmen zu können, sondern nur die täglichen Nachrichten verfolgen.

Gemessen an den Privilegien, die ich angesichts der bisherigen Menschheitsgeschichte genieße, indem ich hier und jetzt leben darf, tue ich nahezu nichts. Das Schreiben dieses Buches ist mein Versuch, mit oder trotz dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit leben zu können.

 

Obwohl ich seit bald 50 Jahren über seinen Inhalt nachdenke, gelingt mir leider immer noch keine leicht verständliche Darstellung, so daß Ihnen die vorliegende gewiß einige Mühe abverlangt. Dahinter steckt jedoch nicht die mitunter anzutreffende Wichtigtuerei, die eigenen Ausführungen unnötig verkomplizieren zu wollen.

Die Schwierigkeit besteht vielmehr darin, daß meine Gedanken zum einen recht ungewohnt sind und es zum anderen absolut keinen Sinn hätte, wenn Sie mir glauben würden. Das sollen und „dürfen“ Sie nicht; vielmehr müßten Sie sich bemühen,

– entweder möglichst jeden Schritt als folgerichtig zu erkennen und – wenn es sein muß auch zähneknirschend – mitzugehen

– oder ihn – mit guten Gründen – abzulehnen.

Ein „ja, aber . . .“ hilft beim Denken nicht weiter.

 

Um Ihnen das Lesen zu erleichtern, versuche ich, alle Gedankengänge möglichst vollständig wiederzugeben. Bei einem Geflecht von Überlegungen ergeben sich daraus zwangsläufig viele Überschneidungen, das heißt, redundante Wiederholungen. Die nehme ich bewußt inkauf, um Ihnen laufendes Grübeln oder Blättern zu ersparen; aber vielleicht sind Ihnen die Wiederholungen mitunter sogar ganz recht.

Hinter mir liegt ein Denkweg, für den ich, wie schon gesagt, Jahrzehnte benötigt habe. Wenn Sie immer noch ein Stückchen brauchen, um meine Überlegungen nachvollziehen zu können, ist das also nicht sonderlich schlimm, denn Sie haben trotzdem noch erheblich an Zeit gespart. Mein Buch kann in diessem Sinne als eine „Abkürzung“ verstanden werden, mit der ich dem einen oder anderen Leser erfreulicherweise bereits helfen konnte. 

 

Ich antworte Ihnen auf jede Kritik, die sich sachlich auf den Ansatz einläßt und meine darin enthaltenen Fehler, Lücken bzw. Unsauberkeiten im Auge hat. Daß man auch anders denken oder es ganz unterlassen kann, weiß ich bereits, und bloße Meinungen interessieren mich nicht – völlig unabhängig davon, wer sie äußert.

„Herr Müller sagt aber . . .“

Na und? Frau Meier meint auch etwas.

 

Winston Churchill schrieb: „Eine gute Rede soll das Thema erschöpfen, nicht die Zuhörer.“

Bezüglich des Themas habe ich kein ganz schlechtes Gefühl . . .

Den tapferen Lesern wünsche ich die Erfahrung, daß letztlich nur eigene Anstrengungen vor Langeweile bewahren, zur Sinnfindung im zweiten Leben beitragen und zu einer inneren Erfüllung führen oder glücklich machen können. Ich hoffe, daß Sie am Ende nicht das Gefühl haben, um Ihre Zeit betrogen worden zu sein.

Aber vielleicht ist es auch nur halb so schlimm, weil irgendwann der flow einsetzt, und dann wollen oder können Sie gar nicht mehr aufhören – so wie es auch mir erging.

1.2. "Methode"

Unsere „Methode“ ist so denkbar einfach, daß ich den Titel mit Anführungszeichen versehen mußte; eine (wirkliche) Methode ist etwas anderes, aber für unser Ziel (zum Glück) auch gar nicht erforderlich.

Wir versuchen einfach, Kants „sapere aude“ zu befolgen: „Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen“ und dabei auch gegen scheinbare Selbstverständlichkeiten der Zeit anzudenken, wenn Du sie vor Deiner Vernunft nicht rechtfertigen kannst. Plappere nicht einfach leere Begriffshülsen nach, nur weil man – in Deiner Kommunität – so redet, sondern „versuche zu verstehen, was Du selbst sagst“.

In diesem Bemühen sah Georg Picht den Sinn des Philosophierens.

 

Ich glaube nicht an die eine objektive (Welt-)Vernunft, die der Tradition zufolge für alle Menschen die gleiche – und womöglich auch noch „die bestverteilte Sache der Welt“ (René Descartes) – ist.

Es gibt jedoch unsere subjektive Vernunft, die auf den eigenen Lebenserfahrungen beruht. Ein objektiver – objektiverer oder „höherer“ – Maßstab ist uns nicht zugänglich, denn wir sind Menschen, die stets an ihr singuläres Hier und Jetzt gebunden bleiben – ohne Kontakt zu einem angeblichen „Weltgeist“ (Hegel) oder „transzendentalem Subjekt“ (Kant).

Dem widerspricht nicht, daß in allen Bereichen des Lebens „Wahrheitspraktiken“ (Michael Hampe) – ich würde gerne korrigieren: „Richtigkeitspraktiken“ – bestehen, die uns zumeist deutliche Kriterien dafür liefern, was wir in der betreffenden Sphäre als richtig anerkennen sollten. Das sind natürlich in der Pathologie ganz andere Praktiken als in der Ornithologie, der Physik und Religion, dem Sport, Alltagspragmatismus oder Sprachverständnis.

 

Bis zum Mittelalter galten weitgehend die jeweiligen Autoritäten als Garanten der Richtigkeit, so daß letztere (ihnen) in einem profanen Sinne geglaubt werden mußte. Die Aufklärung wandt sich mit Recht gegen ein solches Nicht-Denken und setzte auf die Vernunft. Ihr Traum von einer einheitlichen fundamentalen Wahrheitstheorie erwies sich jedoch als überzogen und wird von der Postmoderne nicht mehr geteilt.

Sowohl vor als auch in der Moderne ging man folglich davon aus, daß – veranschaulicht durch das obige Bild mit dem Blinden – der eine richtige Weg durch den Wald existiert. Ursprünglich kannte ihn nur die jeweilige Autorität, während die Aufklärung dafür eintrat, daß jeder gesunde Erwachsene sich aus dieser selbstverschuldet-naiven Unmündigkeit befreien und mittels seiner eigenen Vernunft selbst erkennen, verstehen sowie begründen sollte.

Postmodern gibt es 1000 mögliche Wege, Dietriche oder Richtigkeitspraktiken. Wer sie ausschlägt, stößt sich die Nase an den Bäumen wund und verfällt zwar nicht dem Phantasma der Aufklärung, fällt aber möglicherweise trotzdem hinter deren Niveau zurück.

 

Gesunde Erwachsene sind folglich nicht nur für das verantwortlich, was sie tun oder sagen, sondern auch für ihr Denken, Glauben und Wissen. Wer die Bestimmung hierüber anderen anvertraut, entmündigt sich an dieser Stelle selbst und scheidet damit als ernstzunehmender Gesprächspartner aus.

Reinhard Kreissl fragt in seinem Buchtitel spitz: „Wo lassen Sie denken?“

Ich wollte es vor der Wende nicht in Ost-Berlin oder Moskau, will es aber auch heute weder in Rom bzw. Riad noch im Silicon Valley.

 

Besonders bei weltanschaulich-religiösen Fragen, die schwerlich durch Erfahrungen beantwortet werden können, ist das eigene Denken überaus wichtig. Der Verzicht auf letzteres entspricht dem Freifahrtschein, alles Widerspruchsfreie – und natürlich auch das glatte Gegenteil davon – behaupten zu können, weil dann jede Möglichkeit einer Überprüfung entfällt.

Wegen eines solchen Fehlens der Falsifizierbarkeit wurden beispielsweise viele Schulen der Tiefenpsychologie von ihren Gegnern nicht als seriös oder gar wissenschaftlich anerkannt. Das gilt natürlich auch für jede „Theologie“, die sich auf blinden Glauben, bloße Textstellen oder andere unbegründete Äußerungen beruft.   

 

Das Denken bedingt unter anderem, sich im Streitgespräch „dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (Jürgen Habermas) zu beugen. Das bringt beide Seiten weiter; unabhängig davon, welcher von ihnen es entstammt. Der damit einhergehende Verzicht auf willkürlich-beliebige Meinungen bringt zugleich einen Gewinn an Freiheit mit sich, denn letztere besteht nicht im Umfang der wählbaren Angebote, sondern in der Möglichkeit einer gerechtfertigten, weil wohlüberlegten Wahl. 

Freiheit bedeutet, begründet – nicht kausal verursacht – entscheiden zu können, und unsere Fähigkeit dazu ist die Vernunft. Sie führt zu einem „Müssen“; „ich ‚muß‘ das jetzt zugeben, sagen, tun oder überdenken.“

Friedrich Nietzsche konnte deswegen formulieren: „Ich habe nie eine Wahl gehabt“; stets lagen „zwingende“ Gründe für seine Freiheitsentscheidungen vor. „Zwingende“ Gründe und das Entscheiden bilden die beiden notwendigen Seiten der Freiheit, von denen es die eine niemals ohne die jeweils andere gibt, so daß jegliche Wahl entfällt.

Wählen können wir zwischen Lamm- und Rindfleisch; aber das tun auch die Katzen.

 

Da wir über keinen höheren Maßstab als unsere subjektive Vernunft verfügen, kann es mir auch nicht um eine angeblich aus uns selbst kommende Autonomie gehen. Wir stehen – nur optisch, aber – nicht wirklich auf eigenen Beinen; mit der gleichen Überzeugung wie oben setze ich Kants Zitat also fort:

Ignorare aude; habe ebenfalls den Mut, Deine Verwundbarkeit, Endlichkeit, Kontingenz, Grenzen usw. anzuerkennen. Du hast Dich nicht selbst hervorgebracht, bleibst damit abhängig, und die Wirklichkeit geht nicht nur über Dich hinaus, sondern bleibt letztlich auch unverfügbar; Selbstbestimmung bedeutet dann keine Autonomie, sondern geschenkte Freiheit.

 

Wir bestimmen uns selbst in Freiheit zu dem, der wir dann sein werden; nur so ist ein – mit sich selbst übereinstimmendes, das heißt – kongruentes Selbst möglich. Kein Gott kann das schaffen; das können wir nur selbst – aber eben nicht autonom, aus eigener Kraft oder uns selbst heraus, sondern allein, weil uns die Freiheit zur Selbstbestimmung ermöglicht wird.

Diese Ermöglichung der Freiheit entspricht meines Erachtens der Schöpfung, die traditionell zumeist als ein Machen oder Herstellen von Seienden – insbesondere von uns Subjekten – mißverstanden wird.

Wir können nur mit dem kongruent sein, wozu wir uns selbst bestimmt haben. Ein „von Gott geschaffenes Selbst“ wäre als ein fremdbestimmtes „Selbst“ kein Selbst; es müßte etwas sein, was es vielleicht gar nicht sein will und wozu es sich niemals bestimmt hätte; dann ist dieses „Selbst“ auch nicht mit sich kongruent.

 

Beide Aussagen zusammengenommen – Kants Zitat und seine Fortsetzung durch uns – bedeuten, daß uns eine Freiheit auszeichnet, die wir einem oder einer Ganz-Anderen verdanken.

Viele „Atheisten“ lehnen dieses Ganz-Andere mit Recht ab, weil sie eine hinterwäldlerische Vorstellung davon haben, zu der ich ebenfalls „nein“ sagen müßte.

Viele „Rechtgläubige“ wissen dagegen nicht nur genau, daß das Andere existiert, sondern kennen es auch sehr gut und können uns viel darüber erzählen; zum Beispiel, daß es „der Andere“ heißen muß. Völlig unabhängig von den konkreten Inhalten glaube ich das jedoch ebenfalls alles nicht.

Wir bemühen uns um einen Mittelweg zwischen Skylla und Charybdis, der aus dem Willen resultiert, das Ganz-Andere zugleich

– sowohl in seiner Notwendigkeit

– wie auch als Geheimnis

deutlich werden zu lassen.

 

Nichtsdestotrotz ist dieses Buch ein rein philosophisches – auch wenn Gott darin eine wesentliche Rolle zukommt. Er ist freilich nicht der traditionelle (Lückenbüßer-)Gott, mit dem wir aufgrund seiner Allmacht sämtliche „Probleme lösen“ und „Fragen beantworten“ können. Mit einem Allmächtigen dieser Art läßt sich denkerisch natürlich gar nichts anfangen:

„Kann Gott einen runden Würfel herstellen?“

„Natürlich; was fragst Du überhaupt? Er kann doch alles; daß wir nicht verstehen, wie er das macht, liegt an unserer Endlichkeit, in der wir die großartigen Handlungen Gottes niemals erfassen werden. Das betrifft insbesondere auch sein Dulden des Leids in der Welt, die Theodizee-Frage oder den ‚Fels des Atheismus‘ (Georg Büchner). Wir werden in der Ewigkeit (hoffentlich) einmal sehen, daß Gott alles herrlich für uns gefügt und wahrscheinlich sogar ‚die beste aller möglichen Welten‘ (Lebniz) geschaffen hat.“

Ein runder Würfel ist logisch widersprüchlich und bildet deshalb vielleicht ein unglückliches Beispiel für die Schwierigkeiten, die Gottes angebliche Allmacht uns bereitet. Aber kann ein Gott, der selbst die Liebe ist, auch hassen – oder muß er trotz seiner Allmacht lieben?

 

Für mich ergibt sich – ein völlig anderer, wenn Sie wollen: postmoderner – Gott allein aus dem Bemühen, stringent denken, das heißt, möglichst keine logischen Fehler begehen zu wollen; in diesem Sinne ist Gott für mich notwendigdenk-notwendig.

Um ein theologisches Buch handelt es sich aber trotzdem nicht, weil angebliche Offenbarungen nicht denk-notwendig sein und somit darin keine Rolle spielen können. Der Versuch, sie logisch herleiten zu wollen, ist selbstwidersprüchlich, denn wenn er gelänge, handelte es sich eben deswegen nicht um eine offenbarte, sondern um eine vernünftige Erkenntnis.

 

Natürlich kann uns die subjektive Vernunft nahelegen, bei speziellen Fragen bestimmte Autoritäten anzuerkennen, weil diese ihre Kompetenz auf dem betreffenden Gebiet – unseres Erachtens – deutlich nachgewiesen haben. Aber weder kann eine Autorität diesen Anspruch von sich aus erheben oder blindlings unser Vertrauen einfordern, noch delegieren wir damit unsere Verantwortung an sie; es war doch gegebenenfalls unsere Entscheidung, die jeweilige Autorität für uns denken, glauben oder wissen zu lassen.

Diese unübertragbare Verantwortung bildet gemeinsam mit der subjektiven Vernunft meines Erachtens den Kern der Menschenwürde; letztere entspricht einer Medaille mit jenen beiden als ihren zwei Seiten. Sprechen wir einem Menschen – durch Indoktrination – seine Verantwortung oder subjektive Vernunft ab, so berauben wir ihn seiner Würde und machen ihn zu einer Marionette an den Fäden unserer Macht.

 

„Niemand hat das Recht zu gehorchen“ (Hanna Arendt) und sich damit hinter anderen zu verstecken. Es gibt nach der Aufklärung – über die „Aufklärung“ – keine Ausrede mehr. Jean-Paul Sartre mag damit Unrecht haben, daß wir „zur Freiheit verdammt“ seien; aber richtig bleibt hieran, daß auch das „Nicht-Entscheiden-Wollen“ – demzufolge andere für uns denken, glauben oder wissen – ein freies Entscheiden darstellt, für das wir selbst verantwortlich sind.

Die meisten von uns würden bei größeren Geldgeschäften keinem Fremden blind vertrauen, sondern versuchen, sich möglichst selbst kundig zu machen. Ich schließe mich dem 100%-ig an – und ergänze lediglich, daß mir grundlegende existenzielle, religiöse oder weltanschauliche Fragen wichtiger sind als finanzielle.  

 

Schlußendlich nimmt meine „Methode“ die Selbstverständlichkeit ernst, daß wir über Dinge, die uns prinzipiell unzugänglich sind, auch weder sinnvoll nachdenken noch sprechen können. Natürlich läßt sich alles Mögliche vorstellen bzw. behaupten; aber Meinungen bezüglich eines Bereichs, der uns grundsätzlich verborgen bleibt, erweisen sich als unkontrollierbar und damit als willkürlich oder beliebig.

Das bedeutet freilich nicht, daß ein derartiges Gedöns belanglos sei oder keine Konsequenzen hätte. Wäre dem so, könnten wir es generös auf sich beruhen lassen; aber alle politischen, religiösen, wirtschaftlichen oder sonstigen Diktaturen zeigen, daß zwischen diesem und jenem Blablabla ein himmelweiter Unterschied bestehen kann

 

Mit dem für uns Unerreichbaren meine ich natürlich keine Tabus, Denkverbote oder von irgendwelchen „Experten“ zu Geheimnissen erklärte Bereiche. Soetwas gibt es für mündige Menschen meines Erachtens nicht; nur Scharlatane, Lügner, Karrieristen oder Despoten benötigen dergleichen.

Damit entzaubere ich die Wirklichkeit nicht; ganz im Gegenteil; sie ist ambig und voller Geheimnisse. Aber worin diese bestehen, vermag uns niemand zu sagen, sondern das können wir nur selbst erfahren, indem wir uns ernstlich um die Aufhellung der Geheimnisse bemühen.

Tun wir das nicht, liegen auch keine Geheimnisse vor, sondern an deren Stelle treten bloße Worte; „Gott“, „Transzendenz“, „Dreifaltigkeit“, „Subjekt“, „Leben“, „Tod“ und „Teufel“ oder „das Böse“ beispielsweise. Wer sagt, sie würden Geheimnisse bezeichnen, mag für sich persönlich Recht haben, kann dies aber nicht wie selbstverständlich auf andere übertragen:

Ein objektives Geheimnis ist ein Widerspruch in sich, denn was gar nicht interessiert, ist kein Geheimnis, sondern Peanuts. Die einzige Wirklichkeit, die es für uns gibt, hatten wir oben gesagt, besteht im eigenen Leben; das entspricht einem unmittelbaren Ich-Erlebe.

Die Existenz einer objektiven Wirklichkeit läßt sich dagegen nur behaupten, so daß wir sämtliche Konsequenzen, die sich aus ihrem angeblichen Sein ergeben, ignorieren können. Der eine behauptet dieses, und der andere jenes; beides braucht uns nicht zu interessieren.

 

Geheimnisse unterscheiden sich gewaltig sowohl von Rätseln als auch von Geheimlehren.

Letztere bilden Märchen für Erwachsene; versuchen wir ihnen auf die Spur zu kommen, verflüchtigen sie sich zumeist sehr schnell und wir schämen uns vielleicht der Aufmerksamkeit, die wir dem Unsinn zunächst geschenkt hatten.

Geheimnisse sind dagegen umso größer, phantastischer, umwerfender – eben geheimnisvoller –, je intensiver wir uns mit ihnen beschäftigen; sie werden niemals gelöst, und das unterscheidet sie von bloßen Rätseln.

Die exakten Wissenschaften lösen lediglich Rätsel, kennen aber keine Geheimnisse, denn sie – sowohl die Wissenschaften als auch die Rätsel – sind nur (von uns) konstruiert.

Geheimnisse gehören jedoch zur Wirklichkeit und sind keine bloßen Konstruktionen. Insbesondere das Leben stellt für mich persönlich ein Geheimnis dar, so daß ich unter anderem die Biologie und Medizin nicht als Wissenschaften vom Leben betrachten kann. Wer es tut, verwechselt meines Erachtens die Leibhaftigkeit des Lebens mit bloßen Modellen oder die wirklichen Geheimnisse mit theoretischen Rätseln.

Die Hüter von ersteren müssen keine Angst um ihren Schatz haben; je offener sie ihn präsentieren, desto mehr werden sie ihrer Aufgabe gerecht, das Geheimnis als solches zu (be)wahren und weder zu einem leeren Wort noch zur Geheimniskrämerei verkommen zu lassen.

Geheimnisse verteidigen sich selbst gegen ihre „Entzauberung“ (Max Weber), weil sie bei jedem ernsthaften Versuch, sie aufzudecken, tiefer werden. 

 

AD: „Also bestreiten Sie, daß wir in den letzten 300 Jahren – oder vielleicht auch schon viel länger – die Wirklichkeit entzaubert haben?“

Ja; das tue ich!

Wir haben die Wirklichkeit nicht entzaubert – was auch unmöglich wäre –, sondern vergessen, ignoriert und sogar bestritten. Das wahre Leben oder seine Fülle interessiert nicht mehr; statt danach zu fragen, uns danach zu sehnen und darum zu bemühen, perfektionieren wir den Status quo als komfortables Luxusgeprotze im falschen Leben.   

1.3. Igel und Fuchs

Von Archilolos ist das Fragment „Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel kennt eine große Sache“ überliefert.

Ich behaupte keineswegs, ein Igel zu sein, aber es ist letztlich eine einzige Idee, die mich seit fast 50 Jahren umtreibt. Provoziert wurde sie nicht zuletzt durch meine berufliche Arbeit an Grundfragen der Quantentheorie, und das vor Ihnen liegende Buch stellt im Kern den Status quo dar, den die (nicht-physikalische) Entfaltung dieser Idee bisher angenommen hat.

 

Wer sich intensiv mit der Quantentheorie beschäftigt, wird meines Erachtens vor die Alternative gestellt, ob er weiterhin an die objektive Existenz einer traditionellen Wirklichkeit glaubt oder die phantastischen experimentellen Bestätigungen der Quantentheorie ernstnimmt. Beides zusammen scheint nicht möglich zu sein; entweder objektive Welt oder Quantentheorie.

(Wenn Sie sich selbst ein Bild davon machen wollen, ob ich das richtig sehe, wären vielleicht die Bücher von Anton Zeilinger sehr empfehlenswert. Insbesondere „Einsteins Spuk“ und „Einsteins Schleier“ schrieb Zeilinger, der 2022 den Physik-Nobelpreis erhielt, für Laien.)    

 

Albert Einstein hatte sich bekanntlich dafür entschieden, den traditionellen Glauben an die objektive Realität beizubehalten, und leider bis zu seinem Lebensende versucht, Fehler oder widersprüchliche bzw. absurde Konsequenzen der Quantentheorie aufzuspüren.

Ich habe mich auf die Gegenseite geschlagen und gedacht:

Unsere Physik ist die grundlegende Naturwissenschaft, die in der Moderne mit dem Ziel antrat, die objektive Realität der Welt zu erkennen. Wenn selbst sie zu dem Ergebnis kommt, daß keinerlei Objektivität existiert, dann gibt es in den anderen wissenschaftlichen Disziplinen oder sonstigen Sphären unseres Lebens erst recht keine.

(Ich wechsle – wie soeben – mitunter zur ersten Person Singular, ohne im weiteren nochmals darauf hinzuweisen. Darin kommt keine Egomanie zum Ausdruck, sondern mein Bemühen, mich möglichst verständlich und eindeutig auszudrücken; das gelingt mitunter in der Ich-Form besser.)

 

Wieso sind sich die meisten von uns mit Einstein der objektiven Welt so sicher?

Weil wir überzeugt sind, problemlos über das Außerhalb unserer Psyche – wo sich die objektive Welt ja befinden müßte – nachdenken und sprechen zu können.

 

Damit sind wir bereits bei meiner Grundidee; sie ist nicht sonderlich schlau, pfiffig, spitzfindig oder ausgefallen, sondern ich empfinde sie eher als selbstverständlich:

„Außerhalb meiner Psyche“ bedeutet, daß mir dieser Bereich nicht zugänglich oder gegeben ist.

Dann vermag ich jedoch absolut nicht(s) davon zu wissen und kann folglich auch keinen einzigen sinnvollen Gedanken darüber denken oder Satz dazu sagen. Sämtliche diesbezüglichen Annahmen sind willkürlich oder beliebig – weil nicht kontrollierbar –, könnten ebenso völlig widerspruchsfrei durch ihr Gegenteil ersetzt werden und entsprechen somit einem bloßen, sinnleeren Blablabla.

 

Positiv formuliert lautet meine Grundidee also:

Alles sinnvoll Gedachte, Vorgestellte, Erlebte oder Gesagte gehört notwendigerweise der eigenen Psyche an. Wer von ihrem Außerhalb zu handeln meint, gibt lediglich seine diesbezüglichen Überzeugungen wieder, und die müssen sich natürlich in der Psyche befinden.

„Außen ist die Materie“ stellt also lediglich die Vorstellung eines naiven Physik-Gläubigen innerhalb seiner Psyche dar, daß außerhalb von ihr die Materie sei; wissen kann das natürlich niemand – selbst wenn es so wäre.

Moritz behauptet dagegen, daß außerhalb seiner Psyche der grasgrüne Steinbeißer lebe. Natürlich ist das Quatsch; aber daß sich dort die Materie befinde, ist keinen Deut intelligenter, aufgeklärter oder vernünftiger, denn wenn wir Moritz‘ grasgrünen Steinbeißer durch die Materie der Physiker ersetzen, ändert sich für uns absolut nichts – außer diesem Glaubensbekenntnis.

 

Natürlich kann sich der „Inhalt“ unserer Psyche vergrößern; dann sprechen wir von einer umfangreicheren Psyche. Aber die Annahme, daß sich dieser Zuwachs zuvor Außerhalb von ihr befunden haben muß,

– gehört selbst zum prinzipiell Unwißbaren und

– ist auch keineswegs logisch zwingend.

AD: „Doch; das ist sie!

Wenn ich jetzt etwas weiß, was mir gestern noch unbekannt war, muß es notwendigerweise in den letzten 24 Stunden vom Außen meiner Psyche in sie hineingekommen sein.“ 

 

Nein; das kann schwerlich stimmen.

Beethoven hatte irgendwann die großartige Intuition, die zu seiner „Ode an die Freude“ führte. Ist sie in den Tagen zuvor von außen in seine Psyche eingedrungen? Wenn „ja“ – was bedeutet dann „außen“? Wo befand sich die Ode zuvor? Im Musik-Himmel?

Newton griff eines Tages den Gedanken auf, Massen würden sich gegenseitig anziehen. Das war und bleibt eine geniale Idee, auch wenn sich heute praktisch alle Physiker einig sind, daß es keine Gravitationskraft gibt, so daß Newton seinen Gedanken unmöglich der Natur abgelauscht haben kann – wie  er wohl selbst glaubte.

Die Massenanziehung existierte nicht bereits außen, so daß Newton sie erkennen, das heißt, irgendwie von außen nach innen transportieren konnte. Er hat diese Idee vielmehr in seiner Psyche erzeugt, generiert oder konstruiert.

Wie anders hätten auch die Imaginationen der Märchenfiguren, Romanhelden, Götter oder Unterwelten entstehen sollen?

 

Das wäre meine erste Entgegnung auf Ihren Einwand, neues Wissen könne nur durch den Übergang von außen nach innen entstehen; eine zweite dürfte jedoch ebenso wichtig sein: 

Sie stellen sich die Psyche wahrscheinlich ganz traditionell als in Ihrem Körper befindlich vor. Er ist außen oder im Raum; deswegen können wir ihn zum Beispiel sehen; die zugehörige Psyche jedoch nicht, weil sie per definitionem innen bzw. nicht im Raum ist.

Aber diese Überlegung ist falsch, denn nur von räumlichen oder ausgedehnten Dingen können wir sinnvoll sagen, sie befänden sich innen; der Kern in der Kirsche, der Käfer in der Schachtel oder das Gehirn im Kopf. Beide Bestandteile eines solchen Ineinanders müssen räumlich sein; das Innere ist natürlich kleiner – aber nicht unräumlich.

Die Psyche befindet sich dagegen nicht im Raum; dann kann sie aber auch nicht innen und der Körper nicht relativ dazu außen sein; ein „unräumliches Innen im räumlichen Außen“ ist widersprüchlich.

 

Obwohl mir das alles als sehr zwingend erscheint, sehen es viele Menschen offensichtlich ganz anders. Sie

– haben sehr bestimmte Vorstellungen vom Außerhalb ihrer Psyche,

– sind von deren Richtigkeit felsenfest überzeugt und

– möglicherweise sogar bereit, Andersdenkende für deren widersprechende Annahmen zu töten; Inquisition, real existierender Sozialismus, Islamischer Staat . . . 

Die abstrusesten Bekenntnisse können also, wenn sie fanatisch als „wahr“ geglaubt werden, sowohl bei den „Gläubigen“ als auch bei den „Ungläubigen“ (über) das Leben entscheiden. Viele Menschen sind leider überzeugt, das eine richtige Blablaba von jedem falschen unterscheiden zu können. Hierbei ist es natürlich völlig belanglos, ob es sich dabei um religiöse, wissenschaftliche, politische, esoterische, verschwörungstheoretische oder sonstige Willkürlichkeiten handelt.

 

Das muß man sich einmal ernsthaft durch den Kopf gehen lassen – 300 Jahre nach der „Aufklärung“:

Eine willkürlich-leere Annahme, die bzw. deren Richtigkeit durch absolut nichts zu rechtfertigen ist und völlig widerspruchsfrei durch ihr glattes Gegenteil ersetzt werden könnte, kann weitreichende bis verheerende Folgen nach sich ziehen, wenn sie fanatisch geglaubt wird!

Was wir vom Außerhalb unserer Psyche denken, kann zwar keinen nachweisbaren Anspruch auf seine Richtigkeit erheben, sich aber nichtsdestotrotz ganz massiv auf ihr Innerhalb, das heißt, auf unser Leben auswirken.

Wer annimmt, außerhalb seiner Psyche befinde sich ein Schwarzes Loch, daß uns am 29. Februar 2028 alle verschlingen wird, lebt höchstwahrscheinlich anders als „Ungläubige“.

 

AD: „Natürlich; aus tiefster Überzeugung tut er das – und ihr zufolge auch vollkommen zu Recht. Damit habe ich auch keinerlei Schwierigkeiten, denn das ist unser aller Situation, in der wir uns ständig befinden. Problematisch wird dieses selbstverständliche Verhalten aber doch erst, wenn der Gläubige seine subjektive Überzeugung für allgemeinverbindlich erklärt, so daß ich in seinen Augen dumm, böse oder stur sein muß, wenn ich ihm nicht nachfolge.  

Diese Schwierigkeit lösen Sie mit einem Handstreich, indem jegliches Außerhalb der Psyche und damit sämtliche Objektivität entfällt. Mit der fehlenden Natur würden unter anderem auch gleich noch alle ökologischen Probleme hinfällig. Das klingt genial, setzt aber entweder bei mir den Glauben an Zauberei oder bei Ihnen einen Denkfehler voraus, denn daß alles so einfach gehen soll, glauben Sie ja wohl selbst nicht.“

 

Ich nehme den Denkfehler als Lösungsvorchlag, suche ihn jedoch nicht bei mir, sondern bei der Tradition, weil sie unser ökologisches Fehlverhalten nur fälschlicherweise als ein Vergehen an der Natur interpretiert. Daß letztere postmodern entfällt, bedeutet dann nicht, daß es kein Fehlverhalten gibt, sondern daß die Tradition dieses als ein Versagen gegenüber der inexistenten Natur mißverstanden haben muß. 

Meines Erachtens handeln wir nicht an der Natur, Realität oder Welt sträflich, sondern an den Natur-, Realitäts bzw. Welt-Erfahrungen anderer, insbesondere zukünftiger Subjekte. Da es andere sind, tut es uns letztlich nicht weh, so daß auch die offensichtlichsten Erkenntnisse sowie besten Einsichten nichts nützen.  

 

AD: „Einverstanden; aber ich habe noch eine zweite kritische Anfrage:

Solange wir ernstlich miteinander diskutieren, treffen Argumente – Konsequenzen, Begründungen oder Widerlegungen – aufeinander. Hierfür kann es keine Rolle spielen, ob im Außerhalb angeblich eine objektive Wirklichkeit existiert oder nicht, denn argumentativ ist sie nicht erreichbar.

Tangiert diese Welt unsere Gespräche dann überhaupt?

Wie soll die willkürliche Antwort auf eine prinzipiell unentscheidbare Frage jemals in einem vernünftigen Diskurs virulent werden können?“

Das ist eine berechtigte Frage, denn in vernünftigen Diskursen ist das in der Tat unmöglich; aber sie enden ganz schnell, wenn (auch nur) ein Teilnehmer ihn verläßt und sich auf eine objektive Welt beruft. Denn seine leeren Worte ermöglichen ihm das Totschlag-Argument den Totschlag-Satz „So ist es – basta!“, der jedes fruchtbare Gespräch zum Erliegen bringt.

Allein die Tatsache, daß der Knalleffekt dieses Satzes völlig unabhängig davon ist, welche Welt als objektive Wirklichkeit behauptet wird, müßte uns alle überzeugen, daß es sich bei ihm nicht um ein Argument handeln kann.

 

Daß meine an Holzschnitt- oder eher noch Kettensägekunst erinnernde Darstellungsweise sinnvoll sein kann, versucht Heinzpeter Hempelmann – in einem anderen Zusammenhang, aber ganz in meinem Sinne – zu verdeutlichen:

„Ich rechne damit, daß dieser Text auf ebenso energischen, teilweise empörten Widerspruch stoßen wird wie auf dankbare Zustimmung. Möglicher Hauptangriffspunkt ist die notwendige flächige, weit ausgreifende und nicht um tausend Differenzierungen bemühte Darstellung, die auch als gewalttätig, unfair und ungerecht empfunden werden kann.

Der moderne Diskurs ist gekennzeichnet durch das Bemühen um Differenzierungen. So notwendig diese an ihrem Ort sind, so sehr kann der Diskurs eine im Endeffekt lähmende Wirkung entfalten. Schlicht formuliert: Man sieht vor lauter Bäumen, Ästen und Zweigen den Wald nicht mehr.

Es fehlt zumeist das Gesamtbild, das letztlich handlungsleitend und zielgebend sein muß.

Mein Resultat ist ein Wucht-, aber kein Wut-Text; apodiktisch im Ton, ohne Ausreden und Schminke, sicherlich korrektur- und ergänzungsbedürftig, mindestens aber ein Versuch, verschiedene Gründe zu benennen, warum . . .“

. . . wir uns vom traditionellen Denken mit seiner objektiven Realität verabschieden sollten.

 

Das tun auch die verschiedenen Spielarten des Radikalen Konstruktivismus. Mit ihnen hat unser Ansatz aber auch gar nichts zu tun, und es hilft vielleicht manchem Leser, von vornherein deutlich zu sehen, weshalb wir einen anderen – wenn auch noch nicht erkennbaren – Weg einschlagen werden.

Die einzige Übereinstimmung zwischen unserem Ansatz und dem Radikalen Konstruktivismus besteht im Verzicht auf die objektive Realität. Aber daraus resultieren bei letzterem zwei Probleme, die der Radikale Konstruktivismus meines Erachtens nicht lösen kann.

 

Das erste betrifft die Stellung oder Rolle des Gehirns.

Wenn die gesamte Realität nur eine Konstruktion darstellen würde, hätten wir keinen Konstrukteur, denn dieser kann nicht seiner eigenen Konstruktion angehören; das wäre widersprüchlich. 

Der Radikale Konstruktivismus „löst“ dieses Problem mit sehr viel unsauberem Gerede, indem er das Gehirn zum Konstrukteur erklärt. Als Rechtfertigung dient ihm hierbei zumeist die angebliche  „neurophilosophische Erkenntnis“, unser Ich sei das Gehirn.

Das ist natürlich ganz großer Humbug; die unbestreitbare Aktivität bestimmter Gehirnareale beim Sehen beispielsweise lehrt uns – so gut wie gar nichts über das Sehen, sondern lediglich –, daß es höchstwahrscheinlich nicht funktioniert, wenn die entsprechenden Regionen ausfallen.

Viele „Neurophilosophen“ kennen die Geistesgeschichte kaum, argumentieren treuherzig-naiv und legen zumeist nur Glaubenbekenntnisse ab, so daß ihre „schlechte Wissenschaft zu einer schlechten Religion“ (Guido Rappe) wird.

 

Abgesehen von der grundlegenden Frage, woher die Vertreter des Radikalen Konstruktivismus von dem prinzipiellen Unterschied zwichen dem Gehirn als Konstrukteur und der gesamten „restlichen“ Welt als dessen Konstruktion wissen (wollen), entstehen natürlich zahllose weitere Probleme.

Eines davon resultiert ganz simpel daraus, daß es zwar sehr viele Gehirne gibt, aber jeder von uns nur sein eigenes als Konstrukteur – für alles andere – benötigt. Das bedeutet beispielsweise, daß Ihr Konstrukteur den Konstruktionen meines Konstrukteurs angehören müßte und umgekehrt; ich bezweifle sehr stark, daß sich dies sauber denken läßt.

Der Radikale Konstruktivismus ist, mit anderen Worten, nicht radikal genug, weil er das eigene Gehirn ganz traditionell als Seiendes denkt und wohl auch denken muß, um einen Konstrukteur für alles andere, das heißt, für die subjektive Differenz „Welt minus Gehirn“ bei jedem Subjekt zu gewinnen.

 

Wir denken zum einen radikaler; bei uns spielt das Gehirn keine Sonderrolle, sondern stellt lediglich eine der ganz normalen Erlebungen dar. Zumeist handelt es sich nur um eine Vorstellung; insbesondere beim Chirurgen kann das Gehirn jedoch auch eine Wahrnehmung sein.

Zum anderen distanzieren wir uns ganz massiv von der „Neurophilosophie“. Ich bin ein freies Selbst – oder kann es zumindest sein –, und das Gehirn ist lediglich eine Erlebung, die von mir abhängt, denn sie existiert nur, sofern ich sie habe; ohne mich und mein Leben kein Gehirn.

 

Meine zweite Schwierigkeit mit dem Radikalen Konstruktivismus besteht darin, daß der Übergang von einer angeblichen objektiven Realität zu bloßen Konstruktionen den gewaltigen Unterschied zwischen Wahrnehmungen und Vorstellungen nicht einfach ignorieren kann. Vor der Wahrnehmung „Krokodil im Swimmingpool“ erschrecken wir – mit Recht –, während die entsprechende Vorstellung bestenfalls ein wohliges Gruseln hervorruft.

Im Radikalen Konstruktivismus habe ich – sehr interessiert, aber – leider vergebens nach einer befriedigenden Aufarbeitung dieses Problems gesucht:

Was unterscheidet die Krokodil-Wahrnehmung von der Krokodil-Vorstellung, wenn beide – und hierin stimmen wir mit dem Radikalen Konstruktivismus überein – konstruiert sind?

1.4. Religiöser Hintergrund

Ich bin zufällig katholisch, aber das ist völlig belanglos für dieses Buch. Letzteres scheint mir dagegen sehr wichtig zu sein: Wir müssen verstehen, wieso der religiöse Glaube für das Philosophieren irrelevant zu sein hat.

Es gibt ebensowenig ein christliches oder gar katholisches Philosophieren wie ein islamisches, kapitalistisches oder nationalistisches: Wir haben nur die Alternative zwischen einem ergebnisoffenen Selbst-Denken – sprich: Streben nach Wahrheit, denn das Selbst-Denken gehört zum Lebenoder dem Vertreten einer Ideologie, das heißt, dem angeblichen Besitz der Wahrheit. Jeder, der – völlig unabhängig von der Farbe – zu Beginn schon sagen kann, wohin sein „Denken“ führt bzw. was „wahr“ ist, weiß nicht, was Denken bedeutet, und ist Ideologe.

 

Mich interessiert demzufolge auch absolut nicht, wer irgendwas sagt, sondern lediglich, welche grundlegenden Antworten irgendwer vernünftig begründet. Würde die Relativitätstheorie von Adolf Hitler stammen, wäre sie keinen Deut weniger genial als die Einsteinsche.

Ich lese also keine Bücher katholischer Autoren, nur weil sie katholisch sind, sondern solche jeglicher couleur, sofern ich hoffen kann, daß sie mir helfen, selbst zu denken und damit meiner eigenen Wahrheit näher zu kommen. Das ist diejenige meines Lebens, und die kann natürlich in keinem Buch stehen; dort gibt es bestenfalls richtige oder hilfreiche Sätze.

Auch bei meinem eigenen Schreiben versuche ich stets, mir dessen bewußt zu sein. Weder will ich Ihnen etwas mitteilen, noch sollen Sie mir glauben; vielmehr möchte ich Sie anregen zum eigenen Fragen, Sich-Orientieren und Weiterdenken.

 

Hochkomplexe bzw. abstrakte Objekte – wie Liebe, Demokratie, Freiheit oder Recht – können wir als solche nicht erfahren; das ist nur möglich, wenn sie eine konkrete Gestalt annehmen, sich verleiblichen, ausdrücken oder darstellen.

Sage ich beispielsweise zu einem Menschen „Ich liebe Dich; das haben wir damit für ein und allemal geklärt“, und er erfährt dann diesbezüglich tatsächlich nichts mehr, war es gelogen. Eine „Liebe“, die sich nicht ausdrückt oder verleiblicht, ist keine Liebe; sie bedarf notwendigerweise irgendwelcher Darstellungsformen; Zärtlichkeit, Schutz, Einsatz, Verständnis, Verantwortungsgefühl, Hilfsbereitschaft, Sexualität, Geborgenheit usw.

Kein Ausdruck ist die Liebe, aber ohne Ausdruck ist auch keine Liebe.

 

Das können wir nahezu wörtlich auf den Glauben übertragen. Auch er kann nicht als solcher oder rein erfahren werden, sondern nur in seinen Ausdrucksformen bzw. durch diese. Sie können zum Beispiel in der Kunst oder Lebensführung bestehen, in Gebet, Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Verkündigung, gesellschaftlichem Engagement und Meditation, in Geschichten oder Theologie. Ein „Glaube“ ohne alle Verleiblichungen, ist kein Glaube; er ist auch nicht rein, sondern rein gar nichts.

Auf der einen Seite darf keine einzelne Darstellungsform mit dem Glauben identifiziert werden; Sex allein ist auch keine Liebe. Der Glaube kann also beispielsweise nicht mit dem Für-wahr-Halten irgendwelcher Geschichten gleichgesetzt werden – welcher auch immer –, obwohl er sich natürlich auch in ihnen ausdrücken kann; bei einem Kind beispielsweise in der Schöpfungs-, Weihnachts- oder Ostergeschichte. 

Auf der anderen Seite ist natürlich auch niemand gezwungen, seinen Glauben auf eine ganz bestimmte Art zu leben.

 

Wer dies jedoch in Form der Theologie tun möchte, muß sich notwendigerweise den Maßstäben unterordnen, die auch sonst mit Recht an eine Wissenschaft gestellt werden – andernfalls ist es keine Theo-Logie. Das bedeutet insbesondere, daß der Theologie sich möglichst exakt ausdrücken sowie logisch sauber denken sollte und in seiner Argumentation nicht auf Zitate als Beweise, Prämissen oder gar Letztbegründungen zurückgreifen kann.

„Heilige“ Schriften sind dabei nicht bessergestellt als profane, weil ihre angebliche Heiligkeit – vielleicht nicht für den Glauben, gewiß aber – theologisch ebenfalls auf dem Prüfstand steht. So wenig sich ein guter Physiker auf Werner Heisenberg oder Nils Bohr berufen wird, darf dies ein passabler Theologe mit Jesus oder Paulus tun – völlig abgesehen von allen damit verbundenen exegetischen, hermeneutischen und sprachlichen Problemen.

Im Zen-Buddhismus „sind die Heiligen Schriften nichts anderes als schmutzige Papierabfälle“ (Shizuteru Ueda), in denen zum Beispiel bezogen auf das Meditieren steht: „Wenn Du den Buddha siehst, töte ihn.“

 

Theologisch sind die Aussagen des Lehramts für mich ebenfalls nur Meinungen; einen Mehrwert würden auch sie erst durch eine originelle Sichtweise, ihre integrierende Kraft oder Fruchtbarkeit, saubere Begründung, Kreativität, Zeitgemäßheit und ähnliches erhalten.

Wenn Johannes Paul II beispielsweise höchst offiziell die Meinung vertritt, Frauen könnten nicht zu Priestern geweiht werden – „Basta!“ –, dann bereitet er vielleicht einigen gutgläubig-naiven Christen größere Probleme, aber nicht einer denkenden, das heißt, freien Theologie, denn der haben meines Erachtens sämtliche bloßen, das heißt, schlecht oder gar nicht argumentierenden Meinungen gleichgültig zu sein.

Um sie ernstnehmen zu können, müssen Stellungnahmen so begründet werden, daß ich ihre Rechtfertigung verstehen und dieser guten Gewissens zustimmen kann. Eine „Begründung“, die mir nicht einleuchtet, ist für mich keine Begründung, denn im Verstanden-Werden und Nachvollziehen-Können besteht der Sinn aller Erklärungen oder Rechtfertigungen – nicht im bloßen Beteuern ihrer angeblichen Richtigkeit oder gar Wahrheit.

Bleibt es bei einem solchen Beteuern, interessiert mich die Meinung nicht.

 

Wie anders wollen wir den Glauben von jeglichem Aberglauben unterscheiden?

AD: „Müssen wir das tun? Gott ist in seiner Schöpfung – als Heiliger Geist – gegenwärtig; und ich dachte immer, es sei seine Aufgabe, für den wahren Glauben zu sorgen.“

Vielleicht tut er es auch; aber es gibt das Gotteswort ausschließlich in dem und durch das Menschenwort, denn sonst würden wir absolut nichts davon verstehen.

Der Glaube läßt sich nicht mittels des Verstandes oder seiner Logik und nicht einmal aus der Vernunft herleiten, sondern verdankt sich nach christlichem Verständnis der Offenbarung als Selbstmitteilung Gottes. In dem Maße, wie sie durch das Wirken des Heiligen Geistes – im Menschenwort – bei uns ankommt, sprechen wir vom – eo ipso subjektiven –Glauben.

Er folgt zwar nicht aus dem Verstand oder der Vernunft, widerspricht ihnen aber auch nicht. Jeden „Glauben“, der letzteres tut, weist der Heilige Geist dadurch als Aberglauben aus.

 

Die Ergebnisse, zu denen die Theologen gelangen, sollten ihnen helfen, ihren Glauben besser zu verstehen. Das Verstehen kommt – sofern wir uns für die Theologie als Ausdrucksweise entscheiden – natürlich stets vor dem Glauben bzw. Nicht-Glauben, denn diese bestehen darin, verstandene – und damit insbsesondere auf ihre Widerspruchsfreiheit geprüfte – Inhalte anzunehmen und zu leben resp. abzulehnen und zu ignorieren. 

Was wir nicht verstanden haben, können wir theologisch weder glauben noch nicht-glauben; wir wissen doch gar nicht, worum es geht. Wer „glaubt“, ohne zu verstehen, glaubt nicht, sondern wiederholt lediglich leere Worte; entsprechend lehnt natürlich auch nur leere Worte ab, wer ohne zu verstehen „nicht-glaubt“.

Deswegen gibt es heute theologisch relativ selten nicht nur Gläubige, sondern auch Nicht-Gläubige; es wird wenig gedacht, aber viel geredet, geeifert und vor allem gefühlt. Der weltweite Aufschwung der Evangelikalen oder Pfingstkirchen bestätigt letzteres meines Erachtens.

Damit sage ich nichts gegen deren Gläubige, sondern lediglich wertfrei, daß ihre Ausdrucksform des Glaubens nicht die theologische ist – aber natürlich auch nicht sein muß.

 

AD: „Von meinem Bauchgefühl her mißfällt mir, daß das Verstehen so eindeutig vor dem Glauben kommen soll. Tertullians ‚Ich glaube, weil es absurd ist‘ erscheint auch mir als eine sehr schwache Argumentation; aber beispielsweise mit Anselm zu glauben um zu verstehen, dürfte ebenfalls wichtig sein.“

Gut, daß Sie anhand Ihrer Emotionen argumentieren; da kann ich problemlos mitgehen:

Meine Favorisierung des Verstehens bezieht sich ja nur auf die Theologie; hier halte ich sie jedoch für fundamental, weil die Wissenschaftlichkeit der letzteren daran gebunden ist. Aber außerhalb der Theologie gilt mit Sicherheit auch, daß der Glaube zum Verstehen führen kann.

Das entspricht dem Vertrauensvorschuß, von dem unter 1. bereits die Rede war und den wir dem Überbringer einer Information stets gewähren müssen, um uns überhaupt auf sein Projekt einlassen zu können. 

Diese Notwendigkeit ist aber nicht glaubensspezifisch; auch Liebe und Freundschaft, Bildung und Erziehung, Wirtschaftskontakte oder Urlaubsreisen gelingen nicht ohne einen Vertrauensvorschuß, der sich bestenfalls im Nachinein als berechtigt erweisen kann.

 

Nur wer selbst denkt, kann sich irren; das ist also eine Auszeichnung. Wer nicht denkt, irrt zwar nicht, besitzt aber auch keine Überzeugung – sondern höchstens eine „Autorität“, der er blind und kindisch folgt. Das Irren macht den Denkenden auch niemals zum Häretiker oder Ketzer, denn dazu wird man nicht durch Denken, sondern allein durch das Häretiker- bzw. Ketzer-Sein-Wollen.

AD: „Das kann nicht stimmen; wozu brauchten wir überhaupt Religionen, wenn sich jeder selbst überlegen könnte, was er glauben will?“   

 

Zunächst einmal erscheint es mir als selbstverständlich, nur allein entscheiden zu können, was ich glaube, und mir diesbezüglich von niemandem Vorschriften machen zu lassen; das gilt um so mehr, je existenzieller die jeweiligen Fragen sind. Nur eine tiefe Überzeugung, die wirklich Herzenssache ist, kann als religiöser Glaube ernstgenommen werden.

Ich nehme an, daß Sie so weit mitgehen können.

Dann wird aber auch deutlich, wie unsinnig die Aufforderung ist: „Jetzt sage ich Dir, was – welche Bekenntnisse – Du aus tiefstem Herzen zu glauben hast.“

Glauben läßt sich ebensowenig anordnen wie Lieben, Glücklich-, Frei- oder Dankbar-Sein.

 

Traditionell denkende Christen würden Ihnen wahrscheinlich beipflichten und als „Argument“ vielleicht das Zitat „Der Glaube kommt vom Hören“ aus dem Römerbrief bemühen. 

Ich stimme Paulus 100%-ig zu und ergänze lediglich, daß es in unserem Leben sehr viel Verschiedenes zu hören gibt und wir deshalb bereits denken müssen, um vernünftig auswählen zu können, worauf wir hören wollen, das heißt, was wir möglicherweise glauben könnten.

 

Es wäre die eminent wichtige Aufgabe eines postmodernen Lehramts, durch sauberes Argumentieren – und nicht durch leeres Machtgehabe – auf eventuelle Denkfehler hinzuweisen, damit sie gegebenenfalls korrigiert werden können. Ein so verstandenes Lehramt wäre nicht nur kein unnötiger Stein des Anstoßes und damit kein Handicap der katholischen Kirche (mehr), sondern eine höchst willkommene, weil wirkliche Lebenshilfe für alle Menschen; und als eine solche verstehe ich den Glauben ganz allgemein:

Er ist weder eine Theorie noch ein Ge- oder Verbotssystem, sondern Unterstützung und Ansporn, um die Fülle eines wahren freiheitlichen Lebens zu erreichen.

Ohne eine objektive Realität kann niemand sagen, was an sich richtig ist; aber um Denkfehler zu erkennen, benötigen wir auch keine objektive Realität – „zum Vergleichen“.

 

AD: „Ich staune, wie Sie als Katholik das traditionelle Lehramt abkanzeln. Woraus resultiert Ihre diesbezügliche Sicherheit?“

Drei Punkte dürften in meiner Antwort besonders wichtig sein:

 

1. Ich glaube, daß Gott in seiner Schöpfung anwesend ist; diese Präsenz wird „Heiliger Geist“ genannt.

Zum einen weht er dem Johannes-Evangelium zufolge, „wo er will“, und zum anderen bin ich überzeugt, daß Gott trotz seiner Selbstmitteilung oder Offenbarung ein Geheimnis bleibt. Dann ist es ebenso absurd wie widersprüchlich, den Heiligen Geist an das Lehramt zu binden. Das läßt sich meines Erachtens weder vor der Vernunft noch aus dem Glauben rechtfertigen.

 

2. Ich halte es für unmöglich, einen Sinn, Bedeutungen, Inhalte, Werte, Ge- oder Verbote unverändert durch eine Geschichte hindurch tragen oder bewahren zu wollen, in der sich alles andere verändert. Das würde voraussetzen, daß die beiden Sphären – die historische und die ahistorische – völlig getrennt voneinander sein müßten.

Hierfür gibt es keinerlei Kennzeichen oder Argumente; unser Leben zerfällt nicht in zwei separate Teile, die sich nichts zu sagen haben.

Der traditionelle Versuch, die Unveränderlichkeit durch das Wiederholen der alten Worte zu garantieren, dürfte angesichts der Situation unserer Kirchen als gescheitert erkannt sein. 

 

3. Wir hätten uns den zweiten Punkt sogar ersparen können, denn

– weder ist der Glaube eine Lehre,

– noch geht es darum, das, was sich vor 2000 Jahren in Galiläa ereignete – insbesondere vielleicht die Worte, die Jesus gesprochen hat –, möglichst genau wiederzugeben. 

Glauben bedeutet meines Erachtens vielmehr den Versuch, das eigene Leben im Lichte der Möglichkeiten zu betrachten, die die Selbstoffenbarung Gottes uns zur Verfügung stellt, und dadurch ein ganz anderes Leben vor Augen zu haben.

 

 

Mit den nachfolgenden drei Zitaten von Hans-Joachim Höhn kann ich mich voll identifizieren:

„Wer Theologie studiert, muß lernen, daß Frömmigkeit nicht vor Leichtgläubigkeit schützt. Wer nur etwas bezeugt, ohne davon auch überzeugen zu können, hat ein Glaubwürdigkeitsdefizit. Den Glauben zu festigen, vermag keine Theologie, der die Frömmigkeit ihres Anstrichs wichtiger ist als ihre wissenschaftliche Redlichkeit.“

„Wie man durch das Medizinstudium nicht gesünder wird, sondern am Ende weiß, was Gesundheit und Krankheit sind – wie man durch ein Jurastudium nicht gerechter wird, sondern am Ende Recht und Unrecht zu unterscheiden weiß, so wird man durch ein Theologiestudium nicht gottesfürchtiger, sondern lernt zu unterscheiden, wer oder was es in Wahrheit nicht verdient, ‚Gott‘ genannt zu werden, und auf wen man sich stattdessen im Leben und Sterben verlassen sollte.“

„Die Theologie ist nicht dazu da, ihre Adressaten gläubiger zu machen. Sie hat vielmehr jenes Wissen über und vom christlichen Glauben zu vermitteln, das zugleich nachdenklich und hoffnungsvoll macht. Sie hat zu zeigen, daß man nicht an Gott glauben kann, ohne dabei auf neue Weise ins Nachdenken zu kommen, und daß man beim Nachdenken über erste und letzte Fragen mit guten Gründen auf den Gedanken kommen kann, dabei an Gott zu denken.“ 

 

Was Höhn nach meinem Dafürhalten damit meint, „an Gott zu denken“, können wir uns am Beispiel der Dreifaltigkeit Gottes gut verdeutlichen.

Ich bestreite sie in keiner Weise, sondern ergänze wiederum nur, was an dieser Stelle zumeist vergessen wird; nämlich, daß ein solcher Glaube unter anderem die Behauptung impliziert, Gott sei weder zwei- noch vierfaltig.

Das sind drei verschiedene Möglichkeiten, von denen nur die „mittlere“ stimmen soll.

Wem dies wichtig ist, der müßte also erklären können, was bei einem zwei- bzw. vierfaltigen Gott an unserem Leben anders wäre. Übergehen wir das nonchalant oder finden wir keine vernünftige Antwort auf diese Frage, dann ist die Aussage, Gott sei dreifaltig, gegenstandslos, denn sie bezieht sich nur auf das Außerhalb unserer Psyche – und da kann man alles sagen.

Gregory Bateson sprach diesbezüglich von „einem ‚Unterschied‘, der keinen Unterschied macht“. Können wir nicht angeben, zu welchem abweichenden Ergebnissen in unserem Leben bzw. unserer Psyche ein zwei- oder vierfaltiger Gott führen würde, macht der Glaube an den dreifaltigen keinen Unterschied, und wir reden nur, ohne etwas zu sagen.

 

Die philosophisch denkenden Theologen, denen ich am meisten zu verdanken habe, sind vielleicht Kurt Appel, Eugen Biser, Dietrich Bonhoeffer, Ingolf U. Dalferth, Georg Essen, Klaus Hemmerle, Hans-Joachim Höhn, Gregor Maria Hoff, Klaas Huizing, Hans Joas, Gordon D. Kaufman, Peter Knauer, Jörg Lauster, Meister Eckhart, Eduard Prenga, Willibald Sandler, Hartmut von Sass, Magnus Striet, Miroslav Volf und Jürgen Werbick.

Würden Sie mir die Pistole auf die Brust setzen „Nur einer!“, wäre dies wohl Hartmut von Sass mit seiner „Hermeneutischen Theologie“.

 

Auf die Frage, ob Menschen, denen mein Verständnis des Glaubens, zu komplex ist, auf „die liebe alte Art weiterglauben“ dürften, antworte ich mit Stefan Schütze:

„Sehr gerne; ich habe doch nicht die Absicht, jemandem seinen Glauben wegzunehmen“, mit dem er glücklich und in Frieden leben kann. „Das wäre furchtbar überheblich und absolutistisch. Nur erwarte ich von diesen Gläubigen, daß sie ebenfalls andere Einstellungen akzeptieren und auch ihre Glaubensweise nicht fanatisch, unhinterfragbar oder gar gewalttätig vertreten.“     

 

Ich schreibe dieses Buch nicht für die fraglos Glücklichen, um ihnen völlig unnötige Probleme einzureden, sondern für diejenigen, die Schwierigkeiten mit ihrem Glauben haben und nach intellektuell redlichen Antworten suchen.

Vielleicht ist es hoffnungslos naiv von mir anzunehmen, das gegenwärtige Verdunsten des christlichen Glaubens in Mitteleuropa hätte etwas mit der Form unserer Verkündigung zu tun. Noch gehe ich aber davon aus und suche folglich nach einer Sprache, die Außenstehende bei ihren Lebensproblemen  voller Spannung und Neugierde fragen lassen könnte:

„Welche konstruktiven Gedanken würden wohl gläubigen Christen hierzu einfallen?

Uns fallen aber leider zumeist keine ein, so daß wir unseren Mitmenschen nichts mehr zu sagen haben, was sie als Lebenshilfe verstehen könnten. Deshalb fragt uns auch kaum noch jemand danach, und so werden natürlich – mit Recht – auch die Kirchen leer. 

 

Der Gott des Lebens muß Freiheit wollen, weil nur mit ihr ein erfülltes Leben möglich ist. Dann existieren jedoch notwendigerweise so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt, und wir sollten einander helfen, daß möglichst jeder von uns den seinigen findet.

AD: „Besteht hier nicht ein Widerspruch? Können Sie sich zum Christentum bekennen und gleichzeitig zugestehen es gäbe so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt?“

Ich bin überzeugt, daß sich diese beiden Seiten ergänzen.

Christ-Sein ist eine intersubjektive Lebensform und zwar meines Erachtens eine solche, in der

der Sinn, das Ziel, Wozu oder Warum des Lebens – wie bereits ausgeführt – in dessen Fülle bzw. Tiefe gesucht und dabei

Jesus Christus als unüberbietbarer Fixpunkt betrachtet wird.

Innerhalb dieses vorgegebenen Rahmens – der natürlich auch problemlos überstiegen werden kann und keinem Gefängnis entspricht – bleibt unendlich viel Raum für die persönliche Lebensgestaltung als Christ.

 

Ich veranschauliche mir dieses Zusammenspiel von intersubjektiver Vorgabe und subjektiver Freiheit, Miroslav Volf folgend, an der musikalischen Improvisation; insbesondere etwa beim Jazz:

Jeder Musiker spielt zwar frei seine persönliche Musik, aber letztlich macht keiner hemmungslos, was er will, sondern die Einzelinstrumente fügen sich wie von selbst zu einer Harmonie.

Jeder spielt bzw. glaubt anders – vor dem gleichen Hintergrund oder im Bemühen um das gleiche Ziel, das wahre Leben im wahren.

1.5. Philosophischer Hintergrund

Mir liegt sehr daran, daß dieses Buch allen Lesern zugänglich ist, die meine Intention annähernd teilen und bereit sind, gegen jeden Strich zu denken. Deshalb setze ich keinerlei explizites Wissen der Philosophie voraus und mache einen möglichst großen Bogen um ihre Geschichte.

Gilles Deleuze schreibt ganz in meinem Sinne: „Ich gehöre zu einer Generation, einer der letzten Generationen, die man mehr oder weniger mit der Philosophiegeschichte umgebracht hat. Die Philosophiegeschichte übt in der Philosophie eine ganz offenkundig repressive Funktion aus.“

Das entspricht zudem meiner festen Überzeugung, daß es Philosophie als Lehrfach (wie Mathematik oder Ökonomie beispielsweise) ohnehin nicht gibt, sondern nur (eigenständiges) Philosophieren im Sinne von Selbst-Denken.

Gelegentliche Angaben von Namen setzen also kein anderweitig erworbenes Wissen voraus, sondern sollen auf eventuell bekannte hilfreiche Zusammenhänge oder Möglichkeiten zu einer gründlicheren Auseinandersetzung hinweisen bzw. auch einfach nur andeuten, daß wir beide nicht allein sind, wenn Sie inhaltlich mitgehen.

Bemerkungen der Form „wie man weiß . . .“, „es ist allgemein bekannt, daß . . .“ oder „. . . im Sinne von X. Y.“ sind nach meinen Erfahrungen ebenso leserunfreundlich wie mathematische Zusammenhänge. Derartige „Hinweise“ deuten einen Unterschied zwischen uns an, auf den ich gerne verzichten möchte.

 

„Jede philosophische Abhandlung muß in gewissem Sinne eine ‚Einführung in die Philosophie‘ sein, denn dadurch bewahrt sie sich vor der Gefahr, bloße Lehrmeinungen, die doch zumeist nur Leermeinungen sind, zu reproduzieren“ (Leo Dümpelmann und Rafael Hüntelmann). (Ich will Sie nicht auf den Arm nehmen; die beiden Autoren heißen wirklich so.)

Das versuche ich zu beherzigen und schreibe das Buch für Nachdenkliche oder Suchende; weder für Ignoranten noch für Alles- oder Besserwisser. Als sein Motto wäre auch dasjenige Michel Foucaults möglich: „Ich denke gern!“ Wer das von sich ebenfalls sagt, ist herzlich zum Dialog eingeladen.

Meine wichtigsten Gewährsleute bei den Philosophen sind Isolde Charim, Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Paul Feyerabend, Michel Foucault, Michael Hampe, Michel Henry, François Jullien, Julia Kristeva, Bruno Latour, Emmanuel Levinas, Josef Mitterer, A. M. Klaus Müller, Friedrich Nietzsche, Corine Pelluchon, Georg Picht, Paul Ricœur, Heinrich Rombach, Richard Rorty, Josef Simon, George Spencer-Brown, Georg Steiner, Gianni Vattimo, Beatrix Vogel, Carl Friedrich von Weizsäcker und Ludwig Wittgenstein.

Letzterer wäre es wohl auch, müßte ich mich wieder auf einen einzigen Autor beschränken.

 

Ich entschuldige mich nicht, daß sich unter all meinen „Kronzeugen“ mit Isolde Charim, Julia Kristeva, Corine Pelluchon sowie Beatrix Vogel nur vier Frauen befinden; es hat sich ganz einfach so ergeben. Hanna Arendt, Judith Butler oder Natalie Depraz beispielsweise sind für mich phantastische Denker, die ich auch sehr gerne lese, es aber eben nicht in meine Top-40 geschafft haben.

Ich gendere nie und tangiere dieses Thema auch nicht nochmals – weil wir meines Erachtes vor wesentlich gravierenderen Problemen stehen –, sondern versichere hiermit allen Frauen, keinerlei Schwierigkeiten mit ihrem Geschlecht zu haben; im Zweifelsfalle fragen Sie bitte meine Gattin.

 

Vor gut zehn Jahren habe ich mit dem Buch „Ursprüngliche Wirklichkeit“ die Hinführung zu einem etwas avantgardistischen, das traditionelle Denken sprengenden Ansatz vorgelegt, die insbesondere wissenschaftsgläubigen Lesern helfen sollte, Michel Henrys „Philosophie des Johannesevangeliums“ ernstnehmen zu können.

Die ersten 100 Seiten davon würde ich Ihnen heute noch guten Gewissens empfehlen, den Rest nicht mehr; an seine Stelle tritt das vorliegende Buch.

 

Das Philosophieren oder Theologisieren darf bei keinerlei unhinterfragbaren Zitaten beginnen, hatte ich oben geschrieben.

Das ist aber nur die eine Seite, von der ich auch nichts zurücknehme.

Auf der anderen Seite können wir jedoch nur hoffen, daß die Ergebnisse, die wir durch unser eigenes Nachdenken erzielen, einer möglichst großen Tradition entsprechen. Sie sollen diese freilich nicht einfach wiederholen – für bloßes Nachplappern ist kein Denken erforderlich –, sich jedoch als ihre zeitgemäße Interpretation verstehen lassen.

Denn wäre dies nicht der Fall und wir würden ohne alle Berührungspunkte etwas völlig Neues finden, blieben dafür wohl nur zwei Erklärungsvarianten:  

Theoretisch könnten wir Genies sein; praktisch liegt aber die Vermutung wesentlich näher, daß unsere in der Geschichte erstmaligen „Denkergebnisse“ nur Unsinn darstellen, der so absurd ist, daß kein Mensch vor uns jemals auf dergleichen kommen konnte

Ich nenne bereitwillig Namen, um mich nicht mit fremden Federn zu schmücken, „erhebe aber überhaupt nicht den Anspruch auf Neuheit; und darum gebe ich auch keine Quellen an, weil es mir gleichgültig ist, ob das, was ich gedacht habe, vor mir schon ein anderer gedacht hat“ (Wittgenstein). 

 

Damit läßt sich ein wichtiger Bogen zum Beginn des vorigen Kapitels schlagen:

Erst im Nachhinein ist feststellbar, in welcher Tradition wir philosophisch oder theologisch wirklich stehen, das heißt, welche wir – weiter – interpretieren. Und so kann ich auch als offizieller Katholik erkennen, daß mein Denken beispielsweise (zen-)buddhistischen, jüdischen oder atheistischen Ansätzen teilweise sehr nahesteht.

Bei letzteren habe ich freilich einen „anderen, das heißt, durchdachten Atheismus“ (Gregor Maria Hoff) vor mir, wie wir ihn etwa von Albert Camus, Gilles Deleuze, Martin Heidegger, François Jullien, Bruno Latour, Richard Rorty, Jean-Paul Sartre, Peter Sloterdijk, Martin Walser oder Slavoj Zizek kennen.

Aber das wird natürlich erst deutlich, indem wir selbst denken, und steht nicht auf unserer Taufurkunde, die zumeist vor allem eigenen Denken ausgestellt wird, dieses aber zum Glück nicht festlegt.

 

Daß wir inmitten eines fundamentalen Bewußtseinswandels leben, dürften wohl die Wenigsten von uns bestreiten; weder seine Protagonisten noch die Skeptiker. Ich hatte versprochen, daß die Philosophiegeschichte für unsere Überlegungen nicht relevant wird, aber wir sollten diese wenigstens in jene einordnen können:

Meines Erachtens geht das traditionelle Denken im Zuge des gegenwärtigen Bewußtseinswandels in das postmoderne über.

Ersteres unterteilen wir in das antike, mittelalterliche und moderne Denken, so daß sich auch vom Übergang des letzteren in das postmoderne Denken sprechen läßt.

Der spezielle Ansatz, den ich Ihnen hiermit anbiete, könnte sinnvoll als „metaphysischer Explikationismus“ bezeichnet werden und bildet natürlich nur eine – eben meine persönliche – Variante der postmodernen Philosophie. Ich betone das nicht immer wieder, denn andere postmoderne Ansätze – mit einer sehr breiten Palette – spielen praktisch keine Rolle.

 

Explikationismus bedeutet hierbei, wie sich noch ausführlich zeigen wird, daß unsere Wahrnehmungen – nicht von einer angeblichen objektiven Realität abgebildet, sondern – aus dem subjektiven Leben expliziert werden.

„Explikationismus“ allein würde als Kennzeichnung aber nicht genügen, weil wesentliche Teile von Hegels recht anderer Philosophie unter der Überschrift „Erkenntnistheoretischer Explikationismus“ kursieren.

Da die Ontologie eine Lehre von den Seienden der objektiven Realität darstellt und ich die Existenz der letzteren bestreite, kam „ontologisch“ als ergänzendes Prädikat nicht infrage, so daß sich die gewählte Bezeichnung als „metaphysischer Explikationismus“ recht geradlinig ergab.

 

Metaphysik ist keine Physik der Hinterwelt, sondern der Versuch, die unbestreitbaren Grenzen des eigenen Denkens, so weit wie möglich auszudehnen, um – ohne hinterwäldlerisch zu werden – mehr als Physik betreiben zu können

„Philosophie der Orientierung“ hätte ebenfalls sehr gut gepaßt, aber den Namen nutzt (leider) bereits Werner Stegmaier für seinen eigenen, dem unsrigen teilweise recht nahestehenden Entwurf.

 

Diese groben Umrisse dürften den Aufbau des Buches bereits ein wenig verständlich werden lassen. Der Einleitung folgen (vorerst) drei Hauptteile:

Im ersten von ihnen – „Das traditionelle Denken der Moderne“ – steht die Kritik des alten, aber außerhalb der Philosophie immer noch quasi allgegenwärtigen Abbild-Modells im Vordergrund, das wir versuchen, mittels recht starker Argumente zu destruieren. Meines Erachtens ist das gesamte traditionelle „Denken“ sowohl unverständlich als auch widersprüchlich und hat folglich wenig mit Denken zu tun.

Beim zweiten Hauptteil – „Der Ausgangspunkt unseres Nachdenkens“ – fragen wir, womit eine Philosophie, die so stringent wie möglich vorgehen und auf alle unnötigen Voraussetzungen verzichten möchte, am sichersten beginnen könnte. Die  Antwort wird uns bereits tief in unsere eigentliche Problematik hineinführen.

Das hierdurch entstandene Gerippe füllen wir im dritten Hauptteil mit dem Fleisch von Ludwig Wittgensteins „solipsistischer“ Sprachphilosophie, Jacques Derridas‘ différance-Denken sowie der Radikalen Lebensphänomenologie von Michel Henry und der Theologie von Eduard Prenga.

2. Das (traditionelle) Denken der Moderne

Traditionell existiert eine objektive Wirklichkeit, an die sich unser Wissen immer besser oder weiter annähern soll. Ihre Bestandteile werden in der Philosophie als „Seiende“ bezeichnet. Vor diesem Wort muß man nicht erschrecken; es klingt sehr hochtrabend, ist aber völlig normal:

Was – beim Bäcker –  gebacken wird, bildet Gebäck; was – von Archäologen – gefunden wird, ist ein Fundstück; und was – für traditionell Denkende – ist, stellt ein Seiendes dar. Sie könnten also problemlos Tausende von Seienden nennen und müßten dazu lediglich die Dinge aufzählen, von deren Existenz oder Sein sie überzeugt sind; Gebäck, Fundstücke, Ihr Körper, Sonne, Mond und Sterne . . .

 

Die Tradition geht wie selbstverständlich davon aus, daß wir diese Wirklichkeit nicht nur wissen können, sondern sogar müssen, um unser Leben daran zu orientieren. Die Seienden sind also – vielleicht von ganz wenigen Ausnahmen wie Gott einmal abgesehen – wißbar oder bilden das potentiell Gewußte.

Zum Auffinden der Seienden dienen uns die Wahrnehmungen in der eigenen Psyche. Sind sie adäquat, das heißt, entsprechen unsere Wahrnehmungen den Seienden, so sprechen wir von Ab- und im gegenteiligen Fall von Trugbildern. Diese sind falsch und jene richtig; aber um Wahrnehmungen handelt es sich in beiden Fällen; die falschen stellen Irrtümer oder Täuschungen dar, die richtigen geben die Seienden oder Urbilder als das Gewußte in hinreichender Näherung wieder.

 

Natürlich existieren auch „Zwischenbereiche“, denn unsere Wahrnehmungen müssen sich nicht auf Seiende beziehen und dadurch entweder richtig oder falsch sein. Wir haben beispielsweise Tinnitus und Schmerzen oder verspüren Fernweh. Die wenigsten Menschen werden Lichtreflexe, Regenbogen oder Schatten als Abbilder verstehen und hinter ihnen Seiende vermuten – aber behaupten läßt sich deren Existenz natürlich immer.

Wieso soll gerade hinter einer Spiegelung kein Urbild stehen?

Diesen Gedanken nehmen wir in unserem Ansatz konstruktiv auf:

Die Existenz von Seienden hinter unseren Wahrnehmungen

läßt sich nicht nur stets behaupten – auch wenn sie nicht vorliegt –, sondern

ist immer lediglich behauptet – und besteht nie.

Es gibt keinerlei Seiende; Bäume ebensowenig wie deren Schatten.

 

Das Ziel all unserer Überlegungen besteht darin, das eigene Leben möglichst konstruktiv und in einem weiten Horizont zu verstehen.  

Wir versuchen dies nicht unter der „Nebenbedingung“ oder „Einschränkung“, daß keine objektive Wirklichkeit existiert; vielmehr betrachten wir diese Voraussetzung

– nicht nur als die Befreiung von willkürlichen Einschränkungen, sondern zugleich

– als die notwendige Voraussetzung unserer endlichen oder geschöpflichen Freiheit.

 

Schauen wir zunächst, was die (traditionelle) Moderne zu unserem Leben sagt.

Ihr zufolge setzt es sich aus dem Innen- sowie Außen-Leben zusammen.

Letzteres gehört der objektiven Wirklichkeit an und besteht in den Handlungensowie Widerfahrnissen unseres Körpers; wir graben den Garten um, hören Musik, sprechen miteinander, lesen oder schreiben Bücher.

Das Innen-Leben dagegen spielt nicht nur vollständig in der eigenen Psyche, sondern fällt sogar mit ihr zusammen. Seine exakte Charakterisierung ist gewiß unmöglich, aber wir wissen alle aus unserer Selbsterfahrung als Lebend(ig)e, was mit Innen-Leben oder Psyche gemeint ist:

Wir hoffen und bangen, sind freudig oder traurig, wollen dieses und fürchten jenes, denken oder lassen es sein. Nicht zuletzt gehören auch unsere Wissungen dazu sowie die Wahrnehmungen, die wir zu den Erfahrungen erweitern und um die Vorstellungen ergänzen, so daß sich zusammenfassend ergibt:

 

Leben in der (traditionellen) Moderne

– Außenleben

   Handlungen und Widerfahrnisse des eigenen Körpers

– Innenleben oder Psyche

       ∋

  — Wissungen

  — Erkennungen  

      — Erfahrungen   ∋   Wahrnehmungen

      — Vorstellungen

 

Babys und Tiere zeigen, daß ein Leben auch ohne Wissungen oder Erkennungen (in unserem Sinne) möglich ist. Wir erfahren das jedoch ebenfalls, nämlich bei sämtlichen Formen von „Geistesabwesenheit“ wie beispielsweise dem Meditieren und Dösen, der Ohmacht bzw. dem traumlosen Schlaf oder wenn wir einfach versonnen bzw. „ganz woanders sind“.

Wir gehen gedankenversunken den täglichen Arbeitsweg und wundern uns plötzlich, schon angekommen zu sein. Ohne auf das Treppensteigen im eigenen Haus zu achten oder gar die Stufen zu zählen, „wissen unsere Füße“, wann es eben weitergeht.

 

Das Wort „Wissungen“ brauche ich erstens aus grammatischen Gründen; zum einen um gegebenenfalls den substantivischen oder nicht-verbalen Charakter des Wissens anzuzeigen, und zum anderen auch als Plural von „das Wissen“.

Ein zweiter, inhaltlicher Grund für diese vielleicht gekünselt wirkende Wortbildung besteht darin, daß Paare der Form „Wahrnehmungen – Wahrgenommene“ oder „Vorstellungen – Vorgestellte“ bei uns eine sehr exakte Bedeutung erhalten werden und ich diese, um eine möglichst konsistente Systematik entwickeln zu können, auf „Wissungen – Gewußte“ ausweiten möchte.

 

Das (traditionelle) Denken der Moderne ist streng dualistisch; Descartes‘ Philosophie bildet lediglich ein charakteristisches Aushängeschild dafür:

Der objektiv-wirklichen Wirklichkeit mit ihren Seienden im Außen stehen immer die subjektiv-unwirklichen Psychen oder Innen-Leben gegenüber. Nahezu alles in den Psychen ist, wenn wir hinreichend pingelig sind, rein subjektiv; lediglich die richtigen Wahrnehmungen müssen – als adäquate Abbilder der objektiven Seienden – natürlich intersubjektiv sein.

Die nachstehende Abbildung soll ihnen helfen, die traditionellen Grundbegriffe leichter zu überschauen. Das ist wichtig, denn sie bilden das verständliche, weil altbekannte Gerüst, anhand dessen wir im weiteren unsere eigene Begrifflichkeit entwickeln werden.

 

 

Traditioneller Dualismus
     
objektive Wirklichkeit Innen-Leben
Seeinde oder Urbilder Psyche
– Immanenz oder Welt    
– Transzendenz oder Gott    
  Leibliches, Seelisches, Gesitiges und Sinnliches
außen innen
wirklich unwirklich
objektiv subjektiv – rein subjektiv oder partiell intersubjektiv
     
Leben
(∋)
Außen-Leben – Wissungen
Körperhandlungen
– Erkennungen
und -widerfahrnisse — Erfahrungen ∋ Wahrnehmungen
  — Vorstellungen
  (∋)
  Seins-Bild – { Welt-Bild + Gottes-Bild }
     

Abbildung 2.

 

 

Wir stellen das traditionelle Denken dem postmodernen gegenüber und verstehen den gegenwärtigen Bewußtseinswandel damit als Übergang von der Moderne bzw. Tradition zur Postmoderne.

Letztere stellt einen schillernden Begriff mit 1000 verschiedenen Bedeutungen dar. Ich spreche aber dennoch zumeist einfach von der Postmoderne und beziehe mich damit, soweit nichts Gegenteiliges vermerkt ist, stets auf meine spezielle Interpretation, die wir als „Metaphysischen Explikationismus“ bezeichnet hatten.

Andere Varianten der Postmoderne spielen in unseren Überlegungen praktisch keine Rolle. Sie stehen zumeist dem Poststrukturalismus nahe, von dem mir Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Michel Foucault und Bruno  Latour die wichtigsten Autoren sind.  

 

Ein starkes Argument für unseren grund-legenden Wechsel kommt in der obigen Abbildung sehr schön zum Ausdruck:

Ich wehre mich gegen die traditionelle „Selbstverständlichkeit“, daß unser Innen-Leben als unwirklich betrachtet wird und der als wirklich verstandene Kosmos wichtiger sein soll. Für mich sind meine Wünsche, Sorgen oder Freuden wesentlich entscheidender als alle Schwarzen Löcher, Roten Riesen und Weißen Zwerge zusammen.    

Wir kehren dieses Verhältnis jedoch nicht nur um, sondern bestreiten die Existenz der gesamten objektiven Wirklichkeit vollkommen.

 

In der Moderne wird das traditionelle Denken nicht überwunden, aber sehr stark simplifiziert und damit zum naiven Realismus. Im vorliegenden zweiten Teil soll unter anderem deutlich werden, daß sich dieses „naiv“ sehr sachlich verstehen läßt und nicht beleidigend sein soll.

Die moderne Vereinfachung beginnt mit einer massiven Beschränkung:

 

Der immanente Teil der objektiven Wirklichkeit wird im wesentlichen auf den physikalischen Kosmos reduziert. Er beinhaltet also sämtliche künstlichen und natürlichen – leblosen, pflanzlichen, tierischen und menschlichen – Körper; „Körper“ zwar im weitesten Sinne, aber eben auch nur Körper.

Traditionell denkende Gläubige dehnen diese objektive Wirklichkeit auf die Transzendenz aus, indem sie Gott zwar zumeist als reinen Geist behaupten, sich ihn aber dennoch nach dem Modell des Körpers vorstellen. Dieser Gott gehört dann zwar offiziell dem Jenseits an, aber es wird häufig kaum deutlich, worin letzteres sich überhaupt vom Diesseits unterscheiden soll:

Es gibt das eine wie das andere; der transzendente Gott existiert neben der immanenten Materie, weil beide sind, vorhanden sind oder vorkommen.

Wir können diese Unsauberkeit jedoch ignorieren, da für uns die gesamte objektive Wirklichkeit entfällt.

Das heißt nicht, daß ich die Transzendenz bestreite, sehr wohl aber die Immanenz und Transzendenz in ihrer traditionellen Denkform.

 

Eine Beschränkung stellt der Übergang zur objektiven Wirklichkeit der Moderne dar, weil diejenige von Antike und Mittelalter durchweg erheblich darüber hinausging. Dieses Surplus bestand in den rein geistigen Seienden, die uns am ehesten in Form der Platonischen Ideen zum Beispiel des Guten, der Gerechtigkeit oder Wahrheit bekannt sind.

Platon meinte damit:

Menschen können gerecht sein; Sokrates bildet diesbezüglich sein Paradebeispiel. Aber das ist nur möglich, weil es die – Idee der – Gerechtigkeit gibt, die in jedem gerechten Menschen Gestalt annimmt oder sich in ihm verleiblicht; Sokrates war für Platon die personifizierte Gerechtigkeit.

Unsere Sonne verfügt über Planeten; aber das ist nur möglich, weil es die – Idee des – Planeten gibt, die in Merkur, Venus, Erde, . . . Gestalt annimmt oder sich in ihnen verkörpert.

Platon war diesbezüglich so konsequent, daß er auch eine Idee des Schmutzes, Kots oder Bettgestells annahm; andernfalls könnte es diese Dinge in unserem Leben ja gar nicht geben. 

Der moderne Kosmos benötigt die Idee des Planeten ebensowenig wie wir diejenige der Gerechtigkeit. Aus den Platonischen Ideen sind in der Moderne, wie noch deutlich werden soll, unsere Begriffe geworden.

 

Mein entscheidender Grund, nicht die antik-mittelalterliche, sondern nur die moderne Wirklichkeit zu berücksichtigen, besteht darin, daß an der Existenz ihrer immanenten Seite – dem physikalischen Kosmos – heute außer Philosophen und Künstlern nur sehr wenige Menschen zweifeln. Im Gegenteil; die allermeisten von uns werden meine Überzeugung, daß es weder eine immanente noch eine transzendente objektive Wirklichkeit gibt, für absurd halten.

Damit, daß Gott nicht irgendwo vorhanden ist, haben die wenigsten unserer Zeitgenossen Schwierigkeiten; aber ich behaupte exakt das Gleiche zusätzlich vom gesamten Kosmos mit all seinen physikalischen Bestandteilen; auch wer allein daran glaubt, ist ein naiver Realist.

Es wäre also kontraproduktiv gewesen, hätte ich Ihnen die mögliche Existenz von solchen Seienden wie den Platonischen Ideen – die Sie bisher vielleicht gar nicht auf dem Schirm hatten – erst plausibel machen wollen, um dann zu zeigen, weshalb wir sämtliche traditionellen Seienden ablehnen (müssen); die objektiv-wirklichen ebenso wie die geistig-immanenten.

 

Sie haben im Moment Laptop-Wahrnehmungen. Ich zweifle weder diese noch Ihren gesunden Menschenverstand an, sondern lediglich die traditionelle Theorie, die den Wahrnehmungen zugrunde liegt. Ihr zufolge handelt es sich bei ihnen um die Abbilder eines in der objektiven Wirklichkeit befindlichen Laptops; eines Seienden oder Urbilds.

Allein um dessen Existenz geht es mir; Ihre unbestreitbare Laptop-Wahrnehmung ist keine Abbidung eines solchen Laptops.

Der einzige Laptop, der tatsächlich irgendwie oder irgendwo vorkommt, befindet sich – als Wahrnehmung – in Ihrer Psyche. Pardon; das war nicht ganz richtig; natürlich – als Vorstellung – auch in der meinigen; aber es gibt – exakt formuliert – keinen einzigen Laptop außerhalb aller Psychen oder in der objektiven Wirklichkeit; das ist ausgeschlossen, weil letztere gar nicht existiert.

Natürlich ist dieses „in Ihrer“ bzw. „in meiner Psyche“ ein bißchen unglücklich. Die Psyche bildet kein Gefäß sondern besteht in unserem Innen-Leben. „Gefäß“ und „Inhalt“ fallen damit zusammen, so wie auch jede einzelne Zahl – als „Inhalt“ – der Menge aller Zahlen – als „Gefäß“ – angehört.

 

Wir Menschen bilden mit unseren Körpern einen Bestandteil der objektiven Realität, besitzen eine Psyche und bestehen somit traditionell in der Einheit von Körper und Psyche. Dafür schreibe ich auch abkürzend { Körper + Psyche }; die geschwungenen Klammern bedeuten immer die Einheit dessen, was zwischen ihnen steht.

Ein „∈“ in runden Klammern – (∈) – meint, daß die betreffenden Elemente zu der Menge dazugehören können, aber nicht müssen.

Der Rest von Abbildung 2. sollte selbsterklärend sein; ein letztes Wort nur noch zum „Seins-Bild“:

Die objektive Wirklichkeit der Moderne besteht aus Seienden, aus dem also, was der Tradition zufolge wirklich ist. Davon haben wir alle eine recht ähnliche, aber natürlich nicht identische Vorstellung; sie ist gemeint, wenn vom Seins-Bild die Rede ist.

Die übliche Bezeichnung als „Welt-Bild“, die Sie vielleicht vorschlagen würden, ist mir nicht recht, weil damit zumindest assoziativ der Schwerpunkt einseitig auf die Immanenz gelegt wird. Ob sich letztere prinzipiell von der Transzendenz unterscheidet – und wenn „ja“, wie –, kann ja bestenfalls das Ergebnis unserer Überlegungen zeigen und darf nicht bereits als Voraussetzung für diese benutzt werden. 

„Total-Bild“ wäre inhaltlich also auch möglich, klingt mir aber zu martialisch.

2.1. Das Seins-Bild als Orientierungsmöglichkeit

Wenn Menschen sich als unglücklich erleben, hängt das natürlich eng mit ihren persönlichen Lebensumständen zusammen. Aber daß das eigene Seins-Bild ebenfalls massiv menschliches Leid befördern kann, scheint mir auch unbestreitbar zu sein.

Wir haben in der Moderne darauf gesetzt, dem angeblich richtigen Welt-Bild immer näherzukommen, und uns vom Erreichen dieses Zieles letztendlich die Lösung all unserer Probleme versprochen.

Ich halte das nicht für falsch, sondern für unmöglich, weil es keine objektive Wirklichkeit gibt. Konnten Sie schon einmal Ihr Welt-Bild mit der Welt vergleichen? Wenn „ja“, wie haben Sie das gemacht? Wo befindet sich die objektive Welt – außerhalb unserer Psyche? Wohin muß man schauen, um sie  zu sehen?

 

Die Seins-Bilder haben meines Erachtens eine ganz andere Aufgabe; sie handeln nicht von einer angeblichen objektiven Wirklichkeit, sondern beeinflussen unser subjektives Leben. Wir orientieren uns an ihnen und müssen dies tun, weil gar nichts anderes dafür zur Verfügung steht.

Wer ein „falsches“ Seins-Bild besitzt, hat, mit anderen Worten, keine unrichtigen Vorstellungen von der Wirklichkeit, sondern könnte – durch ein besseres Seins-Bild – wesentlich wahrer, tiefer oder erfüllter und in diesem Sinne „mehr“ leben.

 

Die Postmoderne stupst uns mit der Nase auf diese Funktion der Seins-Bilder, die in der Moderne nahezu vollkommen übersehen wurde.

„Hurra; wir haben bald die Weltformel gefunden!“

Na und?

Michel Henry spricht von uns als den „verlorenen Menschen“, die sich durch „ihr einseitig objektivistisches Denken in eine Masse von geistig Behinderten verwandeln“ werden, denn „jeder reine Objektivismus ist eine Philosophie des Todes“.

„Masse von geistig Behinderten“ und „Philosophie des Todes“ klingen nicht sehr ermutigend. Aber wenn wir uns umschauen – bis in die Universitäten und Kirchen hinein –, wo heute noch

– konsequent und tiefgründig nachgedacht,

– das Erbe der Aufklärung hochgehalten,

– das Subjekt ernstgenommen und

– nach der Wirklichkeit seines Lebens gefragt wird,

werden wir vielleicht doch erschrecken und Henry stillschweigend-verzweifelt ein wenig Recht geben.

 

AD: „Daß würde aber doch bedeuten, daß unser Seins-Bild mehr mit Philosophie, Theologie und Ethik zu tun hätte als mit Physik?“

Ja; wenn Sie beispielsweise glaubten, daß die Erdscheibe von einem Elefanten getragen wird, der auf einer Schildkröte steht, während diese im Ozean des Nichts schwimmt, würde ich mich gewiß sehr wundern und vielleicht nachfragen, wie Sie davon überzeugt sein können.

Daß diese Sichtweise „von gestern“ oder „unwissenschaftlich“ sein soll, ist dabei völlig belanglos; es geht nicht um Modetrends bzw. den Zeitgeist, sondern um das wahre Leben.

Als entscheidend kann somit immer nur die Frage gelten, ob und gegebenenfalls wie Ihr Seins-Bild Ihnen bei der Suche nach dem wahren Leben hilft. „Was bringt Ihnen dieser Glaube?“ – verstanden freilich in einem existenziellen Sinne.

Wenn Sie mit Ihrem Tier-Seins-Bild glücklich und zufrieden sind, ziehe ich den Hut und mich diskret zurück, weil ich Ihnen dann nichts Konstruktives zu sagen hätte. Niemand kann mehr, als seinen eigenen Weg zur Fülle des Lebens finden. Ich möchte denen helfen, die intellektuell redlich danach suchen, ihren Weg aber noch nicht gefunden haben.

 

Mein Protest – im gesamten Buch und speziell in diesem zweiten Teil – richtet sich folglich absolut nicht gegen Ihr Seins-Bild, sondern allein gegen die traditionelle Behauptung, mit ihm die objektive Wirklichkeit erkannt zu haben, so daß alle anderen hinreichend schlauen Menschen zustimmen müßten.

Postmodern sollten diese ein bestimmtes Seins-Bild jedoch nur dann oder in dem Maße übernehmen, wie sie es als Hilfe für ihr eigenes Leben erkennen

Daß ich das Gleiche auch sagen würde, wenn wir Ihr Tier-Fundament durch den Kreationismus oder einen evolutiven Kosmos mit Urknalltheorie und Zufallsmutationen ersetzen, bedürfte wohl kaum noch der Erwähnung. Es gibt keine wahren, sondern höchstens richtige Seins-Bilder – und das sind die hilfreichen oder lebensdienlichen.

 

Traditionell-modern sagt man:

Unsere Vorfahren haben beispielsweise eine Himmelsglocke, Götter und Dämonen wahrgenommen – als wahr (an)genommen –, die natürlich alle nicht existieren. Wir sind dagegen aufgeklärt und bilden die objektive Wirklichkeit so ab, wie sie wirklich ist.

Den zweiten Satz müßten wir erheblich korrigieren: 

Wir sind nicht aufgeklärt in dem Sinne, daß etwas grundsätzlich anders geworden wäre, sondern haben lediglich, wie dies immer geschieht, die Wissungen unserer Vorfahren – vor allem mittels der exakten Wissenschaften – uminterpretiert, aufgehoben oder überformt und sind so zu unserem modernen Seins-Bild gelangt. 

 

Aus den Göttern wurden vielleicht „Zufall und Notwendigkeit“ (Jacques Monod), aus der Himmelsglocke ein potentiell unendlicher Kosmos und aus den Dämonen psychische Störungen.

All das – Zufall und Notwendigkeit, einen unendlichen Kosmos oder psychische Störungen – gibt es jedoch objektiv-wirklich ebensowenig wie Götter, eine Himmelsglocke oder Dämonen.

Wir haben lediglich unsere Wissungen geandert, so wie das alle Kulturen stetig tun (müssen), um ein hinreichend gemeinsames Seins-Bild aufrechterhalten zu können, das die Menschen der jeweiligen Deutegemeinschaft zusammenleben läßt. Wir merken doch gegenwärtig sehr deutlich, wie die Gesellschaft dissoziiert, wenn zu viele verschiedene und einander widersprechende Seins-Bilder geglaubt werden.

Ihr intersubjektiver Effekt, der als gesellschaftlicher Kitt dient, kommt zu dem rein subjektiven Effekt des glückenden individuellen Lebens hinzu und ist ebenso wichtig wie dieser. 

 

Traditionell Denkende halten unseren Bewußtseinswandel – vom Abbilden der objektiven zum Konstruieren oder Erfinden einer subjektiven Wirklichkeit – natürlich für unsinnig.

Gäbe es uns nicht, wäre die objektive Wirklichkeit ihrem Denken zufolge exakt die gleiche; jede leicht abschwächende Formulierung – „natürlich ohne unsere Körper“ – würde zwar theoretisch stimmen, grenzte aber angesichts der praktischen Unendlichkeit dieser objektiven Wirklichkeit an Größenwahn.

Anders herum bedeutet das freilich, daß wir im physikalischen Kosmos pure Nichtse sind; jede Ameise ist für ihren Haufen millionenfach wichtiger als wir für die traditionelle Welt.

 

Jacques Monod schrieb in seinm Bestseller „Zufall und Notwendigkeit“ ganz in diesem Sinne:

„Das Universum trug weder das Leben, noch trug die Biosphäre den Menschen in sich. Unsere ‚Losnummer‘ kam beim Glücksspiel heraus.

Der Mensch weiß endlich, daß er in der teilnahmslosen Unermeßlichkeit des Universums allein ist, aus dem er zufällig hervortrat. Wir sind Zigeuner am Rande eines Universums, das taub ist für unsere Musik und unempfindlich für unsere Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.

Nicht nur sein Los, auch seine Pflicht steht nirgendwo geschrieben. Es ist an ihm, zwischen dem Reich und der Finsternis zu wählen.“

Monod ist nicht zynisch oder verletzend, sondern einfach nur ehrlich und bereit, konsequent traditionell-modern zu denken; lediglich sein Mut unterscheidet ihn von den meisten der heutigen Traditionalisten.

 

Ich kann mir kaum vorstellen, wie sich die Fragen nach Sinn, Liebe, Wahrheit, Glück, Leben und Sterben in einem solchen Seins-Bild befriedigend beantworten lassen sollen. Wir Menschen werden ihm zufolge einmal ausgestorben sein – und weder ist dann im Kosmos etwas Entscheidendes geschehen, noch wird uns jemand vermissen.

Robert Spaemann und Reinhard Löw hatten gewiß Recht damit, daß wir „Die Frage Wozu?“ subjektiv gar nicht ernst genug nehmen können. Aber müßte dies nicht auch für den Kosmos gelten? Wozu der Aufwand mit den unermeßlichen Dimensionen – wenn es dem christlichen Glauben zufolge doch allein um uns als die Krone der Schöpfung geht?

 

Schon Blaise Pascal konstatierte:

„Ich sehe diese entsetzlichen Weiten des Weltalls, die mich einschließen, und ich finde mich an einen Winkel dieses gewaltigen Raums gefesselt, ohne daß ich weiß, warum ich an diesen Ort und nicht vielmehr an einen anderen gestellt bin und warum diese kurze Frist, die mir zu leben gegeben ist, mir gerade zu diesem Zeitpunkt und nicht vielmehr zu einem anderen der ganzen Ewigkeit, die mir vorausgegangen ist, und der ganzen Ewigkeit, die auf mich folgt, bestimmt ist . . . 

Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume und Zeiten erschreckt mich.“

 

Veranschaulichen wir uns die gewaltige Differenz zwischen dem traditionellen und dem von uns angezielten postmodernen Denken noch an einer einfachen, aber sehr deutlichen Konsequenz:

Wenn ein Subjekt stirbt, gibt es traditionell einen lebenden Körper weniger im Kosmos, was darin freilich auch nicht die geringste Rolle spielt. Selbst wenn wir Menschen vollständig ausstürben, hätte dies für den Kosmos keine Konsequenzen, würde von ihm gar nicht bemerkt und noch weniger betrauert.

Ohne objektive Wirklichkeit – bei unserem Ansatz also – können keine Körper verschwinden; dazu hätten sie ja erst einmal vorhanden sein müssen. Die Verstorbenen entziehen sich aber trotzdem; wo?

Natürlich allein dort, wo sie sich auch zuvor schon befunden haben, nämlich in den subjektiven Psychen derjenigen zurückbleibenden Subjekte, denen die Verstorbenen nahestehen.

Damit läßt sich möglicherweise auch eine positive Antwort auf die Frage nach dem Wozu, Warum oder Sinn unseres subjektiven Lebens finden. In einer objektiven Welt halte ich das für ausgeschlossen, weil der Sinn keine physikalische Kategorie darstellt; Henry muß nicht übertrieben haben.

 

AD: „Aber wäre es nicht auch denkbar, daß dieser ganze Aufwand mit seinen Wahnsinns-Ausdehnungen notwendig ist, damit wir überhaupt existieren können? Dann sind wir vielleicht doch sogar die ‚Krone der Schöpfung‘, weil Gott all das um unseretwegen schaffen ‚mußte‘.“

Natürlich darf man das nicht ausschließen; diese Idee allein genügt jedoch ebensowenig wie die eigene Überzeugung davon. Auch mit dem festesten Glauben an das Absurde diene ich niemanden; da wirke ich – mit Recht – lediglich als dickköpfig, stur oder beratungsresistent. Wer etwas Altes glaubt, ohne zeigen zu können, daß es auch heute sinnvoll gedacht werden kann, „ist von gestern“.

Diese Denkbarkeit ist ein wesentliches Kriterium des Glaubens; Martin Seel konkretisierte sie  sehr schön:

Denkbar ist bekanntlich vieles,

konsistent denkbar schon erheblich weniger und  

plausibel denkbar– das heißt, in Einklang mit unserem übrigen Wissen von der Welt – gar nicht mehr so viel.“

 

Vielleicht darf ich Sie auch nochmals an das obige Zitat von Höhn erinnern:

„Wer Theologie studiert, muß lernen, daß Frömmigkeit nicht vor Leichtgläubigkeit schützt. Wer nur etwas bezeugt, ohne davon auch überzeugen zu können, hat ein Glaubwürdigkeitsdefizit. Den Glauben zu festigen, vermag keine Theologie, der die Frömmigkeit ihres Anstrichs wichtiger ist als ihre wissenschaftliche Redlichkeit.“

Ihr Gedanke kann also allein dann von Interesse sein, wenn eine entsprechende Denk-Möglichkeit besteht und auch deren Realisierung nicht völlig absurd ist. Erst und allein dann läßt sich mit dieser Idee argumentieren; ein vernünftiger Glaube ist kein Wunschkonzert – obwohl er „nur“ Glaube ist.

 

Man nennt den Gedanken, daß alles so beschaffen sein müsse, wie es ist, damit – physikalisch formuliert – im Kosmos Beobachter auftreten können, für die es diesen Kosmos gibt, das („starke“ oder „schwache“) „anthropische Prinzip“. Auf einem enorm hohen Reflexionsniveau wurde es beispielsweise von John Archibald Wheeler, dem letzten großen Schüler Albert Einsteins, ausgearbeitet. Aber selbst sein Versuch – nachzuweisen, daß der traditionelle Kosmos für unsere Existenz erforderlich ist, – scheiterte.

Anton Friedrich Koch unternimmt gegenwärtig einen neuen Anlauf in diese Richtung; sein Ergebnis ist wohl noch offen, aber leider auch nicht besonders leicht nachvollzieh- oder gar überprüfbar.

2.2. Wirklichkeit und Seins-Bild

Die beiden Begriffe, die im Zentrum dieses Kapitels stehen, sollen nun so deutlich herausgearbeitet werden, daß wir logisch sauber mit ihnen arbeiten können:

1. Es gibt keine objektive Wirklichkeit; weder eine diesseitig-immanente Welt noch einen jenseitig-transzendenten Gott.

2. Jedes Subjekt besitzt seine eigene subjektive Wirklichkeit mit ihrem zugehörigen Seins-Bild.

 

AD: „Jetzt würde mich erst einmal interessieren, warum Sie nach Ihren bisherigen Ausführungen überhaupt noch von einem ‚Seins-Bild‘ sprechen.

Zum einen scheidet die wortwörtliche Bedeutung – Bild von dem Sein bzw. der Wirklichkeit – ohne letztere zwangsläufig aus.

Und zum anderen haben Sie uns oben erklärt, daß das Seins-Bild weniger mit der Wirklichkeit als vielmehr mit der Orientierung in unserem Leben zu tun hat, so daß ‚Lebensorientierungs-Bild‘ doch besser wäre.“

Gegen diese Bezeichnung hätte ich nichts einzuwenden, aber wir müssen Trotzdem verstehen, weshalb auch „Seins-Bild“ sinnvoll und richtig ist.

 

Traditionell stellen die Seienden die vorgegebene Wirklichkeit dar, und die Wahrnehmungen bilden jene adäquat ab oder repräsentieren sie. (Die hierbei stets möglichen Fehler erwähnen wir im weiteren der Einfachheit halber nicht mehr, weil ihre Berücksichtigung unseren Gedankengang unnötig aufplustern, seine entscheidenden Ergebnisse aber nicht beeinflussen würde.) 

Daß unsere Wahrnehmungen die Seienden repräsentieren, bedeutet, daß letztere das Wovon oder die Referenten der Wahrnehmungen bilden. Die Wahrnehmung namens „Venus“ ist eine solche von der wirklichen oder seienden Venus.

Die traditionelle Denkrichtung führt – natürlich – von den Seienden zu den Wahrnehmungen.

 

Postmodern fehlen die Seienden, so daß unsere Wahrnehmungen keine Referenten (mehr) besitzen. Wir verfügen unbestreitbar über Wahrnehmungen; aber daraus folgt doch gar nichts hinsichtlich ihrer Entstehung.  

Die Tradition schlägt ein Erklärungsmodell vor; sie erfindet Seiende und versteht die Wahrnehmungen als deren Abbilder. Das ist uns vertraut und (dadurch) sehr anschaulich, aber keineswegs zwingend. Wir haben bisher gar nicht über eine andere Erklärungsmöglichkeit nachgedacht; jetzt suchen wir sie, denn mir – und hoffentlich auch Ihnen – mißfällt es, willkürlich Seiende zu erfinden, deren einzige Rechtfertigung darin besteht, daß sie unser Problem lösen. Wir begründen doch auch das Wetter nicht mehr mit dem Wettergott.

Mein Lösungsvorschlag zum Thema „Wahrnehmungen ohne Referenten“ kommt erst im dritten Teil; noch sind wir bei unserer Kritik der Variante „Wahrnehmungen mit Referenten“.   

 

Traditionell drängt sich der Gedanke auf, den Weg, der von den Seienden zu den Wahrnehmungen führt, bis zu den Vorstellungen fortzusetzen: 

Ohne Seiende keine Wahrnehmungen, und aus ihnen leiten wir – zumindest im wesentlichen – unsere Vorstellungen ab. Ich glaube letzteres ebensowenig wie ersteres und versuche, unsere Vorstellungen ganz anders zu erklären. 

 

Im Verlaufe unseres Lebens wurden uns kontinuierlich Vorstellungen angeboten; die Eltern haben uns vieles gelehrt, wir besuchten die Schule, haben mit Freunden gesprochen und Bücher gelesen. Viele weitere Vorstellungen könnten noch dazugehören, sind uns aber nicht begegnet. Wären wir beispielsweise mit einem Schamanen befreundet oder einem Mathematik-Genie, ständen uns vielleicht noch ganz andere Vorstellungen zur Verfügung.

Viele Angebote haben wir bewußt ausgeschlagen, einige haben uns nur oberflächlich erreicht oder fielen dem Vergessen anheim, und die verbliebenen Vorstellungen wurden durch neu hinzukommende laufend überformt, modifiziert und korrigiert oder geandert.

Die daraus resultierende Gesamtheit der Vorstellungen bildet unser gegenwärtiges subjektives Seins-Bild.

 

Darin können wir zum einen wählen, welche der Vorstellungen unserer subjektiven Wirklichkeit angehören sollen. Ich persönlich sage zum Beispiel „ja“ zu Feldhasen und Tasmanischen Teufeln, „nein“ zu Osterhasen und dem „richtigen“ Teufel. Vielleicht sind Sie anderer Meinung; aber überhaupt austauschen können wir uns natürlich nur über den gemeinsamen Bereich unserer beiden Seins-Bilder, das heißt, über ihre Schnittmenge.

Damit wird gut verständlich, daß wir wahrscheinlich alle Menschen kennen, mit denen einfach kein – aus unserer Sicht – sinnvolles Gespräch möglich ist. Natürlich werden sie dann von uns das Entsprechende denken (müssen). 

 

Zum anderen bildet das Seins-Bild die Gesamtheit unserer gegenwärtigen Wissungen. Beim Denken bewegen wir uns darin; vielleicht einigermaßen frei, aber mit Sicherheit begrenzt auf den Inhalt unseres eigenen Seins-Bildes.

Wir können nur über unsere eigenen Vorstellungen oder Wissungen nachdenken und sprechen. Wer glaubt, es handle sich dabei um Vorstellungen bzw. Wissungen von der objektiven Wirklichkeit, ist ein naiver Realist.

AD: „Und bei einer subjektiven Wirklichkeit wäre das anders?“

Ja; weil wir in diesem Fall nicht behaupten, etwas Objektives erkannt zu haben, sondern eigene Vorstellungen von uns aus zur subjektiven Wirklichkeit erklären.

 

Das geschieht dadurch, daß ich die betreffenden Vorstellungen annehme, glaube oder akzeptiere. Nur sie kommen – für mich – als potentielle Wahrnehmungen infrage; ich kann nicht die Vorstellung Osterhase ablehnen und zugleich damit rechnen, irgendwann einem Osterhasen zu begegnen. Geschieht letzteres wider Erwarten doch, muß ich meine Vorstellungen von der subjektiven Wirklichkeit, das heißt, mein Seins-Bild korrigieren.

Wird eine potentielle Wahrnehmung verwirklicht, bestätigt sich damit meine Vorstellung von der subjektiven Wirklichkeit, denn ein Stückchen derselben liegt doch vor mir. Wahrnehmungen sind also – keine bloßen Abbilder von, sondern – selbst Bruchteile der Wirklichkeit.

Und daß wir es immer nur mit Körnchen der Wirklichkeit zu tun haben, versteht sich von selbst und bestreitet auch die Tradition nicht.

 

Damit ist ein kleines Zwischenziel erreicht; aus dem traditionellen Denkeg

 

objektive Wirklichkeit   →   Wahrnehmungen   →   Vorstellungen

 

ist der postmoderne geworden:

 

  Vorstellungen   →   Wahrnehmungen   =   Teil der subjektiven Wirklichkeit

 

 

 

AD: „Hier muß ich Sie wegen zweier Verständnisfragen unterbrechen:

Zum einen war ich mir sicher, daß die Wahrnehmungen wichtiger sind als unsere x-beliebigen Vorstellungen; alle Erfahrungswissenschaften setzen doch eine solche Priorität voraus.

Und zum anderen scheint mir der Begriff ’subjektive Realität‘ in sich widersprüchlich zu sein. Jeder kann natürlich sein subjektives Totalbild haben, aber daß für den einen dieses und für den anderen jenes wirklich als Realität vorhanden sein soll, halte ich für absurd.“

 

Ihr Hinweis auf unsere Erfahrungswissenschaften ist völlig berechtigt, und ich sehe auch keinen Widerspruch zu meiner Favorisierung der Vorstellungen:

Sie haben wahrscheinlich übersehen, daß wir nichts wahrnehmen können, was wir uns nicht einmal vorzustellen vermögen. Das ist letztlich eine Selbstverständlichkeit, die aber traditionell keine Rolle spielt, weil wir angeblich unmittelbar – das heißt, unabhängig von allen Vorstellungen – die Seienden wahrnehmen – wie auch immer sie gestaltet sein mögen. Daraus leiten sich dann die eo ipso nur sekundären Vorstellungen ab.

Postmodern berücksichtigen wir dagegen die Selbstverständlichkeit, nichts Unvorstellbares wahrnehmen zu können. Damit eröffnen die uns angebotenen Vorstellungen Wahrnehmungsmöglichkeiten, die es ohne jene nicht gäbe. Viele von ihnen mögen unsinnig sein, so daß die Wahrnehmungen – auch im Sinne der Erfahrungswissenschaften – darüber mitentscheiden, welche Vorstellungen wir ernstnehmen und welche nicht.

Zusammengefaßt ermöglichen die Vorstellungen also einerseits die Wahrnehmungen, die andererseits wiederum als Filter für jene dienen.

 

Zu Ihrer zweiten Frage:

Unterschiedliche subjektive Realitäten sind natürlich in der Tat absurd, wenn wir sie uns nach dem Modell der objektiven Realität vorstellen, das heißt, als substanziell, stofflich oder materiell und als vorhanden. Soetwas gibt es postmodern gar nicht und wird auch – allem Augenschein zum Trotz – nicht benötigt.  

Wir definieren die subjektive Realität als die Gesamtheit der potentiellen Wahrnehmungen, das heißt, als diejenigen Wahrnehmungen, die das jeweilige Subjekt erwartet oder zumindest voraussagen könnte.

Damit tritt unsere subjektive Realität nicht an die Stelle der objektiven; wir canceln das Außen vollständig und installieren die subjektive Realität innerhalb der Psyche, wo sie die (adäquaten) Wahrnehmungen oder Abbilder der Tradition ersetzt. Das ist ja auch der Grund dafür, daß die Wahrnehmungen bei uns kein Wovon besitzen.

(Unsere Definition der subjektiven Realität ist nicht vollständig, denn zu ihr gehören auch die notwendigen Voraussetzungen der jeweiligen Wahrnehmungen. Zum Beispiel können wir keine Kugel sehen, ohne ihren zumeist unsichtbaren Mittelpunkt mitzudenken. Das sind aber wiederum Randphänomene, die zwar wichtig sein mögen, aber unseren Text unnötig verkomplizieren, ohne etwas Konstruktives zu dem entscheidenden Gedankengang beizutragen. Wir unterschlagen deshalb auch diese richtigen Ergänzungen.) 

 

Daß Pünktchen für morgen den Weltuntergang erwartet, aber Anton nicht und sich ihre subjektiven Realitäten somit massiv unterscheiden, stellt natürlich keinen Widerspruch dar.

AD: „Und morgen wird sich zeigen, wer Recht hatte.“

Nicht unbedingt, denn die beiden erleben keinen Weltuntergang bzw. Nicht-Weltuntergang, sondern lediglich Weltuntergangs- resp. Nicht-Weltuntergangs-Wahrnehmungen in ihren subjektiven Psychen, und da können sich beispielsweise auch beide bestätigt fühlen:

„Siehst Du; ich hatte es doch gesagt!“

 

AD: „Aber dann bedeutet das Errichten einer subjektiven Realität letztlich doch pure Willkür!“

Natürlich; und mit dieser unserer eigenen Willkür müssen wir dann auch leben. Wer zum Beispiel überzeugt  ist, daß die „guten alten Zeiten“ einer „goldenen Vergangenheit“ vorbei sind und die Menschheit sich auf einem  Weg in den Abgrund befindet, lebt mit oder in dieser Realität.

Ich hatte oben schon einmal geschrieben, daß wir als gesunde Erwachsene nicht nur für das eigene Tun verantwortlich sind, sondern auch für unser Wissen, Glauben und Denken; nun sollte deutlich werden, wie das überhaupt möglich ist.

Auch ohne jeglichen Bezug zu Gott oder einer Transzendenz stellt unsere subjektive Realität ein reines „Glaubensbekenntnis“ dar.

 

AD: „Diesbezüglich kann ich mitgehen, verstehe aber nicht, wie Sie die subjektive Realität auf das Jetzt der Wahrnehmungen beschränken können. Jede Realität muß doch – wie die objektive – immer bestehen.“ 

Das stimmt nicht; die traditionelle Realität existiert nicht immer, sondern auch nur im jeweiligen Jetzt.

Die vorgestellte Welt besteht immer, aber die reale ist an das Jetzt gebunden, und außerhalb von ihm gibt es keinerlei Wirklichkeit. Das Nicht-Jetzt entspricht der absoluten Leere, die nicht einmal den Raum enthält, weil wir ihn nur als Zwischenraum der kosmischen Objekte sinnvoll verstehen können; das ahnte übrigens Aristoteles schon: Raum ist Zwischen-Raum.

Das Jetzt wandert traditionell den Zeitstrahl entlang und bewegt damit den veränderlichen Welt-Raum durch die vierdimensionale Leere, denn er ist nichts anderes als die dreidimensionale Erstreckung des Jetzt.

 

Es gibt – nur jetzige und somit – weder frühere noch spätere Wahrnehmungen; erstere sind Erinnerungen und letztere Erwartungen, die beide den Vorstellungen angehören. Ist das Später zum Jetzt geworden, schlagen die Vorstellungen in Wahrnehmungen um und bestätigen unsere Erwartungen – oder auch nicht. 

Bei den Erinnerungen fehlt dieses Zur-Wahrnehmung-Werden, und deshalb habe ich mich bei der subjektiven Realität auf die erwarten oder zumindest voraussagbaren Wahrnehmungen beschränkt.

 

Die objektive Realität gilt der Tradition als im Außen vorgegeben und besteht aus abbildbaren Seienden, die zu den Referenten der Wahrnehmungen werden können. Letzteres trifft aber auch auf die Nicht-Seienden zu, und das Totallbild repräsentiert diese ebenso wie die Seienden.

Daß die Tradition beansprucht, auch die Nicht-Seienden zu wissen, ist mehr als skurril; zum Beispiel existieren ihr zufolge keine Einhörner. Aber was ist mit den Zwei-, Drei-, Vierhörnern und so fort? Es gibt doch unendlich Vieles nicht; und das soll man wissen können?

Hier liegt offensichtlich ein Denkfehler vor, weil die Negation nur innerhalb einer vorgegebenen Menge, der Grundgesamtheit, definiert ist. Wir können zum Beispiel sagen: Unser Thema sind die Vierbeiner, und wir interessieren uns besonders für die Pferde. Aber es gibt auch Nicht-Pferde; dazu gehören die Löwen, aber nicht die Möwen.

Die Tradition meint dagegen: Unser Thema ist alles, und wir interessieren uns besonders für die Seienden. Aber es gibt auch Nicht-Seiende; dazu gehören die Einhörner und „alles andere“.

 

Das ist keine Spitzfindigkeit, sondern verdeutlicht sehr schön die Problematik des traditionellen Ansatzes:

Die Seienden werden wahrgenommen, und die Nicht-Seienden sind als solche eo ipso unerkennbar. Wie soll man herausbekommen, was es nicht gibt? Eine Antwort muß ausbleiben, weil die Frage unsinnig ist und die Nicht-Seienden somit ausnahmslos erfunden sind.

Woran erkennt man, daß A erkannt und B erfunden ist?

Wie die Tradition das klärt, ist mir unbekannt.

Meine Antwort lautet: „Gar nicht.“

Damit „löst“ sich das traditionelle Problem, indem es verschwindet; es gibt nur B’s.

 

Wir geben also die Unterscheidung in Seiende bzw. Nicht-Seiende oder Erkannte resp. Erfundene auf und kennen nur letztere; das sind die uns vorliegenden Vorstellungen, und aus diesen Erfindungen oder Konstruktionen bauen wir unsere subjektive Realität auf.

Sie ist kein bloßer Referent der Wahrnehmungen, sondern entspricht deren Potentialität.

 

AD: „Wenn ich Sie recht verstehe, soll das aber nicht heißen, daß es zwei mögliche Denkmodelle gibt, bei denen man sich für eines von beiden – das moderne oder postmoderne – entscheiden muß. Das erstere ist Ihres Erachtens hoffnungslos falsch, weil es x-beliebige Vorstellungen vollkommen willkürlich als existent bzw. inexistent behauptet?“  

Ja; auch die Tradition denkt postmodern – weil es gar nicht anders geht – und entwirft, konstruiert oder erfindet eine intersubjektive Realität, will das aber nicht wahrhaben und mauschelt. Aus Gründen, die uns jetzt nicht interessieren müssen, behauptet die Tradition – möglicherweise ganz ehrlich – ihre intersubjektive Realität als eine objektive, die sie abgebildet zu haben und zu repräsentieren vermeint.

 

Traditionell sind Fragen der Form „Existiert A?“ sinnvoll.

Nahezu alle unserer Zeitgenossen dürften überzeugt sein, daß es keine Marsmenschen, Pegasi und Osterhasen gibt. Das sind Vorstellungen, denen natürlich keine Seienden entsprechen.

Hätte ich als Beispiele die Higgs-Teilchen, das Ungeheuer von Loch Ness bzw. den Teufel gewählt, wären die Meinungen wahrscheinlich schon etwas geteilt, denn für den einen oder anderen gehören sie wohl zur objektiven Realität.

Beim Eiffelturm, Erdmittelpunkt oder Feldhase erübrigt sich die Frage nach dem Sein für die Tradition.

 

Postmodern wenden wir dagegen ein, daß die Frage „Existiert A?“ immer falsch gestellt ist, denn kein Totalbild läßt sich in Seiende und Nicht-Seiende unterteilen, weil

– uns beide nicht zugänglich sind und wir

– weder das Sein noch das Nicht-Sein verstehen.

 

Traditionell Denkende glauben uns nicht und sind überzeugt, in den Feldhasen Abbilder von Seienden und in den Osterhasen bloße Phantasiegebilde vor sich zu haben.

Mit welcher Begründung? Was rechtfertigt diesen gewaltigen Unterschied zwischen Seienden und Nicht-Seienden? Warum nicht umgekehrt?

AD: „Weil wir alle schon des öfteren Feldhasen, aber noch nie Osterhasen gesehen haben.“

 

Das ist die übliche Argumentation; aber sie beweist gar nichts:

Daraus, daß wir noch nie Osterhasen gesehen haben, folgt natürlich keineswegs ihre Inexistenz; Sie konnten auch noch nie einen Blick auf den Erdmittelpunkt werfen, glauben aber höchstwahrscheinlich trotzdem an seine Existenz.

Und aus der unbestreitbaren Feldhasen-Wahrnehmung ergibt sich nur dann die Wirklichkeit von Feldhasen, wenn wir diese Wahrnehmung im traditionellen Sinne als Abbildung der Feldhasen verstehen.

Aber dazu bin ich nicht nur nicht bereit, sondern das scheint mir unmöglich zu sein:

 

Wir wollen einen Sehstrahl auf den Hasen richten, um ihn zu sehen. Diese Intension oder Absicht muß unserer Psyche angehören, denn sonst könnten wir sie gar haben.

Der objektiv-reale Hase befindet sich jedoch außerhalb von ihr, so daß er sich nicht einmal in unserer Psyche suchen läßt und wir somit auch keinen Sehstrahl auf ihn richten können. Ich habe noch nie aus meiner Psyche in deren Außerhalb herausgeschaut und bin überzeugt, Sie auch nicht!

Das bedeutet, daß „der Hase“

– sich entweder in der Psyche befindet und somit kein Seiendes, sondern eine Hasen-Wahrnehmung darstellt, auf die wir keinen Sehstrahl mehr zu richten brauchen,

– oder als angebliches Seiendes außerhalb der Psyche herumhoppelt, so daß wir weder einen Sehstrahl auf „den Hasen“ richten und ihn suchen noch irgendetwas – auch kein Hoppeln – von ihm wissen können.

 

AD: „Darf ich bitte in meinen Worten wiederholen:

Wir haben als Kinder durch Geschichten zwei Arten von Hasen-Vorstellungen kennengelernt und waren somit auch offen für beide Wahrnehmungs-Möglichkeiten, von denen jedoch bisher nur die Feldhasen-Wahrnehmung bestätigt wurde.

Deswegen sagt die Tradition, Feldhasen gibt es und Osterhasen nicht.

Dem widersprechen Sie, weil die Existenz von Seienden ebenso unverständlich ist wie die Nicht-Existenz von Nicht-Seienden. Wir können das, was die Tradition meint, also nicht auf deren Weise formulieren; aber daß sie etwas Richtiges zum Ausdruck bringen will, scheint mir trotzdem unbestreitbar zu sein.

Wie würden Sie dieses Gemeinte sauber sagen?“

 

Ganz einfach, indem ich mit dem Anfang unseres Denkens – den Wahrnehmungen – zufrieden bin und nicht versuche, sie auf etwas Grund-Legenderes oder eine fundamentalere Ebene – die Seienden sowie Nicht-Seienden – zurückzuführen.

Das andert unser Denken sehr stark; aus der traditionellen Frage „Was gibt es?“ wird zunächst die postmoderne „Was kann ich mir vorstellen?“.

Und des weiteren wechselt die Realität von dem, was es gibt, zu einem Potpourri aus dem, was ich mir vorstellen kann

 

Wir können uns unsagbare Willkürlichkeiten vorstellen, und von ihnen führt eine kontinuierliche Präzisierung zu den Vorstellungen von Begriffen.

Es gibt jedoch noch eine zweite Richtung, um die Vorstellungen zu präzisieren; sie weist aus dem Vorstellungs-Chaos heraus nicht zu den Begriffen, sondern zu den Bildern; wir können zum Glück mit oder in beiden denken. 

Diese Möglichkeit spielt bei unseren Überlegungen jedoch aus zwei Gründen weiterhin keine Rolle. 

Zum einen möchte ich möglichst unmittelbar an das moderne abendländische Denken in der Philosophie sowie den Wissenschaften anknüpfen und eine postmoderne Alternative dazu aufzeigen. Daß dort die Begriffe eindeutig favorisiert werden und Bilder kaum eine Rolle spielen, läßt sich nicht übersehen.

Zum anderen fühle ich mich außerstande, diese beiden Denkrichtungen – mit den Begriffen bzw. Bildern im Mittelpunkt – sinnvoll zu integrieren, so daß zwei relativ separate Bücher erforderlich wären. Stellen Sie sich bitte vor, dies sei das erste von ihnen.

 

Vom tapferen Schneiderlein, Pittiplatsch oder Räuber Hotzenplotz hätten uns die Eltern nicht unbedingt erzählen müssen; sie entsprechen alle dem Osterhasen und werden – wie er – für unser Leben kaum benötigt.

Aber umgekehrt müßten wir fragen:

Was ist mir alles unbekannt, weil mich die entsprechenden Vorstellungen nie erreicht haben und somit auch kein Teil meines Oikos werden konnten? Welche Vorstellungen mögen mir alle entgangen sein, die mein Leben sowohl durch radikal andere Wahrnehmungs-Möglichkeiten als auch durch eine differente subjektive Realität hätten fundamental umgestalten können? Vielleicht versuche ich nicht nur, unsinnige Scheinprobleme zu lösen – weil mir das Wesentliche entgeht –, sondern tue dies zudem auch noch mit völlig ungeeigneten Denkwerkzeugen?

 

Wir können höchstens über die uns zugänglichen Ressourcen verfügen und haben keine Ahnung von allen anderen, die – theoretisch, das heißt, unter anderen Lebensumständen – ebenfalls möglich gewesen wären.

Deswegen kann ich Ihnen natürlich auch kein Beispiel von mir persönlich nennen; das wäre selbstwidersprüchlich. Aber das, was ich hier sagen möchte, bildet möglicherweise ein Beispiel für Sie, sofern Ihnen eine solche Sichtweise bisher fremd war.  

 

In meiner subjektiven Realität gibt es zum Beispiel keinen Teufel.

Das kann ich nur denken und sagen, weil der Teufel zu meinem Vorstellungs-Reservoir gehört; andernfalls wäre „Teufel“ für mich lediglich ein Geräusch, ein leeres Wort oder nichtssagender Name mit sechs Buchstaben.

Daß sich in meiner Realität kein Teufel befindet, habe ich natürlich nicht wahrgenommen oder erkannt – denn dergleichen gibt es nur im traditionellen Denken –, sondern entschieden.

 

AD: „In Ihrem Totalbild gibt es die Teufel-Vorstellung; nur weil das der Fall ist, können Sie entscheiden, ob der Teufel Ihrer subjektiven Realität angehören soll. Sie verneinen dies; höchstwahrscheinlich weil der Teufel häufig als allgemein anerkannter Sündenbock mißbraucht wird, mit dem sich das Böse allzuleicht ‚erklären‘ läßt. Er erfüllt dann für letzteres diejenige Funktion, die Gott beim Guten zukommt; das wirkt schon sehr handgestrickt . . .

Ganz entsprechend könnten Atheisten es aber auch als intellektuell redlicher erachten, ohne Gott auszukommen; sie haben das ebenfalls nicht erkannt, sondern sich so entschieden.“

 

Natürlich; das ist 100%-ig richtig; es geht nicht darum, ob Gott existiert, sondern wer Gott für mich ist:

Gewiß kein Seiendes oder Nicht-Seiendes, denn damit wäre Gott ebenso unverständlich wie widersprüchlich.

Vielmehr geht es allein um die Frage, hatten wr soeben geschrieben, wer Gott für mich ist:

Einen Gott-für-mich kann es ohne mich nicht geben.

Wir suchen also nach einer Möglichkeit, den Gott-für-mich so denken zu können, daß er nicht zu einem Gott-durch-mich diskreditiert wird.

 

AD: „Ich habe immer noch Schwierigkeiten mit Ihrer Welt.

Es hat doch nichts mit irgendwelchen Theorien oder Begriffen zu tun, daß wir die Welt (zumindest teilweise) als materiell, massiv, hart, undurchdringlich und ähnlich erleben.

Zu unseren Begriffen gehören unter anderem Eiche sowie Gilboa-Baum, und wir haben uns entschieden, nur ersteren in unsere (heutige) subjektive Welt zu übernehmen; der Gilboa-Baum ist dafür nicht mehr erforderlich; wie der Osterhase. Bis hierher klingt das ganz vernünftig; aber nun behaupten Sie zumindest implizt: 

Weil wir den Begriff Eiche – im Gegensatz zum Begriiff Gilboa-Baum – anerkennen, können wir uns in der Welt an Eichen, aber nicht an Gilboa-Bäumen den Kopf wund stoßen und Beulen holen

Das glaubt Ihnen niemand!“

 

Ich hoffe, in fünf Minuten sind Sie die erste Ausnahme!

Unser modernes Weltbild wird überaus stark von der Physik geprägt, und dazu gehört ganz wesentlich ihr Begriff der Materie. Der ist – wie jeder Begriff – natürlich ein rein geistiger; Schmutz, Unrat, Kot oder eklig bilden – wie eklig auch immer die ihnen zugrundeliegende Wirklichkeit sein mag – rein geistige Begriffe, denn es gibt überhaupt keine anderen.

Daß wir uns die Welt als eine materiell-wirkliche vorstellen, bedeutet also nicht, daß sie wirklich aus Materie – Stein, Erde und Lava – besteht. Das wäre das traditionelle Denken, demzufolge „Stein“, „Erde“ und „Lava“ lediglich Worte sind, mittels derer wir die Seienden Stein, Erde bzw. Lava bezeichnen.

Daß wir uns die Welt in der Moderne als eine materiell-wirkliche vorstellen, meint vielmehr, daß wir sie mittels der geistig-unwirklichen Begriffe Materie, Stein, Erde oder Lava denken

 

Damit ist Ihr Problem bereits gelöst:

Die subjektive Welt oder auch Realität besteht in potentiellen Wahrnehmungen.

AD: „Aber an denen kann man sich weder den Kopf wund stoßen noch Beulen holen.“

Stimmt; aber das behaupte ich auch nicht.

Dieses Sich-Wehtun oder Verletzen ist das Wahrnehmen, das heißt, der Übergang von den potentiellen zu aktualen Wahrnehmungen

Wir stoßen uns, mit anderen Worten, nicht an der subjektiven Realität, sondern diese ermöglicht – neben dem Essen und Trinken beispielsweise – auch die Anstoßung. Und da die Wahrnehmungen kein Wovon besitzen, kann letztere auch kein Woran haben.

2.3. Naiver Realismus der Moderne

In der Moderne, hatten wir bereits ausgeführt, werden die immanenten Seienden  weitestgehend zu den Bausteinen der Physik, so daß die objektive Welt letztlich in den Kosmos der Naturwissenschaften übergeht.

Das ist aber nur die eine Veränderung; eine zweite, ebenso fundamentale besteht im Wechsel der Art und Weise, wie oder woher wir von der objektiven Realität wissen können.

In Antike und Mittelalter war dies ein kompliziertes theoretisches Problem, über das sich die Philosophen und Theologen mit Recht den Kopf zerbrochen haben, das aber die meisten Menschen natürlich kaum interessierte und von ihnen weder gesehen noch gar verstanden wurde.

Die Moderne schließt sich weitgehendst dieser Mehrheit an und simplifiziert das Erkenntnisproblem entsetzlich:

„Dort ist die – an sich – seiende objektiv-reale Sonne; schau einfach hin, dann siehst Du sie.“

Dieser Satz klingt  wie selbst-, ist aber absolut unverständlich und voller Widersprüche.

 

Die beiden Veränderungen innerhalb des traditionellen Denkens fassen wir als Naiven Realismus zusammen:

– Die immanenten Seienden nehmen die Form physikalischer Bausteine an, das heißt, sie bestehen in Körpern (oder Strahlungen) aller Art sowie deren mikroskopischen Bestandteilen.

– Durch (adäquates) Abbilden erlangen wir Wissen von diesen Seienden.

Ich wiederhole nochmals:

Der Naive Realismus darf keinesfalls auf die gesamte Tradition übertragen werden; Antike und Mittelalter waren nicht naiv-realistisch – nur die Moderne ist es zum übergroßen Teil. Aber das traditionelle Denken mit seinem Glauben an eine objektive Welt umgreift alle drei Perioden, so daß sein Ende mit dem der Moderne zusammenfällt.

Damit läßt sich unsere Gegenwart als Übergang nicht nur von der Tradition, sondern auch vom Naiven Realismus zur Postmoderne verstehen. Das ist ein Paradigmenwechsel sowohl im Alltag als auch in Philosophie und Theologie, dessen Konsequenzen wir wohl noch nicht einmal erahnen können.

 

AD: „Haben Sie bewußt nur von Philosophie und Theologie gesprochen oder lediglich die anderen Wissenschaften nicht erwähnt?“

Das war Absicht!

Mit dem Übergang zur Postmoderne wird die Wirklichkeit eine ganz andere; wir ersetzen die  objektive Realität durch das subjektive Leben. Philosophie und Theologie haben die Aufgabe, uns die Wirklichkeit verständlich zu machen und bei ihrer Gestaltung zu helfen; deswegen werden sich die beiden meines Erachtens mächtig andern (müssen).

Bei allen übrigen Wissenschaften ist das zumindest nicht im gleichen Maße der Fall, da ihr Gegenstand niemals in der Wirklichkeit bestand oder auch nur bestehen könnte. Sie handeln lediglich von Denkmodellen, so daß sich eine Anderung der Wirklichkeit theoretisch überhaupt nicht auf sie auswirken müßte.

Der Apfel fällt nicht vom Baum, weil die Erde ihn anzieht, wie es uns wahrscheinlich allen in der Schule gelehrt wurde. Vielmehr haben wir mit Newtons Gravitationskraft ein physikalisches Modell erfunden, mit dessen Hilfe sich die Bewegung des Apfels phantastisch genau sowohl beschreiben als auch vorhersagen läßt; mehr kann und soll die Physik nicht.   

 

Innerhalb der Philosophie wurde der Naive Realismus bereits von Kant sowie dessen unmittelbaren Nachfolgern – Fichte, Schelling, Hegel – kritisch infragegestellt, und später nicht zuletzt von Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein oder Alfred North Whitehead immer offensichtlicher ad absurdum geführt. Seit 100 Jahren gilt der Naive Realismus bei den Philosophen weitestgehend als obsolet, und ich kenne gegenwärtig keinen Großen unter ihnen, der (an) irgendeine objektive Realität glaubt.

Außerhalb der Philosophie – nicht zuletzt in den Naturwissenschaften, der Theologie sowie im Glaubensleben und Alltagsdenken – ist das freilich ganz anders. Dort wird der physikalische Kosmos als – scheinbar – offen-sichtliche und selbst-verständliche objektive Realität kaum hinterfragt, da man ja angeblich nur hinschauen muß, um ihre Seienden wahrzunehmen.

 

Der physikalische Kosmos merkt nicht, wenn wir ihn erkennen, so daß nur eine einseitige Wirkung von ihm auf uns existiert, die sich vielleicht wirklich am besten – weil sehr anschaulich – als Abbilden verstehen läßt:

Wir erkennen den physikalischen Kosmos, indem wir Abbilder von ihm in unserer Psyche produzieren, was die Seienden zu den entsprechenden Urbildern werden läßt. Dort befindet sich zum Beispiel das Urbild namens „Sonne“; es ist abbildbar, und durch das Hinschauen erhalten wir ein Abbild von ihm in unserer Psyche.

 

Wer so, naiv-realistisch „denkt“, braucht natürlich keine Philosophie und staunt nur, wie man sich mit deren „absurden Hirngespinsten“ beschäftigen kann, obwohl doch „in Wirklichkeit alles so einfach und selbstverständlich ist“:

„Was wollen diese Philosophen eigentlich? Sie konstruieren nur sinnlose Schein-Probleme an Stellen, wo es keine tatsächlichen gibt. Wirkliche Schwierigkeiten bereiten die ‚harten Fakten‘ des Alltags sowie der Wissenschaft und Technik. Wozu noch Geisteswissenschaften? Die lösen keine Probleme, sondern erzeugen sie nur unnötig.“

 

Im Sinne von Wittgenstein würde ich einer solchen Stammtisch-„Philosophie“ etwa Folgendes entgegnen:

1. Die Philosophen konstruieren keine Schein-Probleme, sondern versuchen, wirkliche Probleme auf-scheinen zu lassen, indem sie angebliche Selbstverständlichkeiten der Wissenschaft, des Alltags oder Glaubens infrage stellen.

2. Daß die Philosophen keine Probleme lösen, sieht der Naive Realist freilig richtig; darin besteht die Aufgabe der Wissenschaft.

3. Die Philosophie ist keine Wissenschaft, sondern eine Therapie, die  „die Probleme wie eine Krankheit behandeln“, das heißt, nicht lösen, sodern zum Verschwinden bringen soll.

„Die ‚Lösung‘ der Probleme des Lebens merkt man am Verschwinden dieser Probleme.“

„Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat.“

4. Das setzt sauberes Denken voraus, aber „die Wissenschaft denkt nicht.“ (Martin Heidegger)

Diese „Verleumdung“ läßt sich recht gut verstehen:

Um die Probleme oder Rätsel der „normalen Wissenschaft“ zu lösen, stehen Paradigmen, Theorien, Modelle und Techniken zur Verfügung, die nur angewandt werden müssen. Das erfordert mehr Routine durch Üben oder Lernen als Denken und entspricht eher einem Handwerk.

„Normale“ Wissenschaftler sind geistige Handwerker, und die bereits bestehenden Begriffe bilden ihre Denkwerkzeuge – zum Werkeln.

5. Zur „wissenschaftlichen Revolution“ als einem „Paradigmenwechsel“ (Thomas S. Kuhn) gehört dagegen grund-legendes Denken.

6. Das ist aber auch schon der Bereich der Philosophie, weil dadurch die Probleme des alten Paradigmas – nicht wissenschaftlich gelöst werden, sondern – durch das Erfinden oder Schaffen neuer Begriffe therapeutisch verschwinden.

7. Diese Probleme bestanden also nicht an sich, sondern wurden lediglich durch unser unzureichendes Denkwerkzeug – das alte Paradigma mit seinen unfruchtbar gewordenen Begriffen – erzeugt.

8. Als Therapie kann und soll die Philosophie uns helfen zu leben, aber sie hat nicht – wie die Tradition häufig meint – die Aufgabe, ewig wahre Antworten auf die letzten, größten oder allgemeinsten Fragen der Menschheit zu finden und endlich zu klären, worin Sein oder Sinn, das Eine, Wahre, Gute und Schöne  bzw. Gott nun wirklich bestehen.

9. Das sind für die Postmoderne keine besonders tiefen, sondern überholte, weil heute falsch gestellte Fragen.

10. Sinnvoll wären sie nur, wenn die Wirklichkeit in einer objektiv-zeitlosen Realität und nicht im subjektiv-zeitlichen Leben bestände. Was hat ein einzigartiges Subjekt bzw. sein unaustauschbares Leben mit einer angeblichen Objektivität zu tun? 

11. Die philosophische Tradition sucht ewig-wahre Antworten; die Postmoderne erkennt, daß nicht einmal unsere Fragen diese Eigenschaft besitzen.

12. Ihr geht es um „das Andere der Vernunft“ – das Irrationale, Irreale, Unschickliche oder Alogische; den Leib, das Begehren, die Phantasie und Gefühle –, das die Tradition unter den Tisch fallen läßt, weil sie es nicht denken kann.

13. Wir versuchen es trotzdem und betrachten das Andere der Vernunft als die Leibhaftigkeit unseres Lebens.

2.4. Kosmos – Welt – Leben

Möglicherweise wundern Sie sich die ganze Zeit schon, weshalb ich zumeist zwischen der objektiven Welt – der gesamten Tradition – und dem physikalischen Kosmos als ihrem Spezialfall – in der Moderne – unterscheide. An Ihrem Erstaunen zeigt sich gegebenenfalls, wie massiv wir uns im Verlauf der letzten drei Jahrhunderte an das Denken der exakten Wissenschaften angepaßt haben.

In vielen Büchern und Artikeln wird gegenwärtig spekuliert, daß wir Menschen möglicherweise gar nicht nur in unserem physikalischen Kosmos als einem Universum leben, sondern in einem Multiversum – in Kosmen gewissermaßen. Das geschieht teilweise auf einem sehr hohen intellektuellen Niveau, etwa im Zusammenhang mit Hugh Everetts „Quantentheorie der vielen Welten“.

Ich meine jedoch etwas völlig anderes und in gewissem Sinne sogar das glatte Gegenteil.

 

Der physikalische Kosmos stellt nur einen winzigen Teil der Welt dar.

Überlegen Sie bitte einmal, was Ihnen in Ihrem Leben besonders wichtig ist. Befindet sich darunter – bei Nicht-Physikern – etwas Physikalisches? Vielleicht denken Sie an Liebe und Freundschaft, bestimmte Menschen, Lebensziele und Selbstverwirklichung, Hobbys, Handwerk, Bücher, Kunst, Bildung oder einfach nur gutes Essen und Trinken.

All das sind keine Gegenstände der Physik – und sie können somit in deren Welt, dem Kosmos, auch nicht vorkommen. Darin gibt es keine Sprachen oder Gedichte, keine Gemälde oder Bierdeckel, weder Schön- noch Gemeinheit, weder Geld noch Armut, keine Verbrechen oder Fußballspiele, keine Staaten mit Flaggen und Hymnen, keine Bedürfnisse und kein Begehren.

Im physikalischen Kosmos existiert fast nichts; zu ihm kann nur das Wenige gehören, das sich vollständig mittels der Physik beschreiben läßt. Das ist bereits bei Reißzwecken, Sicherheitsnadeln und Büroklammern nicht mehr möglich, weil sie einen Zweck besitzen, dieser aber keine physikalische Kategorie darstellt, das heißt, daß der Physiker als Physiker nicht verstehen kann, was ein Zweck – und damit auch eine Reißzwecke – sein soll.

Es verbleiben somit nur die traditionellen primären Qualitäten Anzahl, Größe, Masse, Form, Ort, Geschwindigkeit usw.

 

AD: „Wieso sollen Reißzwecken, Sicherheitsnadeln und Büroklammern keine physikalischen Gegenstände und somit auch nicht im Kosmos enthalten sein?“

Entschuldigung; mein „nicht“ war falsch; sie befinden sich auch, aber nicht nur im Kosmos.

Reißzwecken, Sicherheitsnadeln und Büroklammern haben eine bestimmte Größe, Form, Masse, Festigkeit sowie weitere Eigenschaften, für die die Physik zuständig zeichnet, und hierdurch gehören diese Gegenstände natürlich dem Kosmos an – pardon.

Das wollte ich keineswegs bestreiten; aber damit handelt es sich noch nicht um Reißzwecken, Sicherheitsnadeln bzw. Büroklammern, denn das sind sie erst durch ihren jeweils noch hinzukommenden Zweck. Und mit ihm transzendieren sie den Kosmos und reichen in andere Dimensionen der Welt hinein.

Ich korrigiere mich also; sämtliche Dinge, die physikalische Aspekte besitzen, gehören auch dem Kosmos an, gehen aber zumeist weit über ihn hinaus; er ist – anschaulich gesprochen – zu eng für sie.

Unbestreitbar bedeutet unser Rendezvous auch eine Ortsveränderung, aber daß es nur das ist, können hoffentlich auch die dreistesten Physikalisten selbst nicht glauben.

 

Viele Menschen finden in ihrem Leben keinen Sinn und haben damit auch vollkommen Recht, wenn sie ihre Welt auf die physikalischen Komponenten reduziert haben. Darin kann es natürlich keinen Sinn geben, weil er ebenfalls keine physikalische Kategorie darstellt. Auch Physiker finden keinen Sinn im Kosmos; hoffentlich bei ihrer Arbeit, aber die erfolgt nicht im Kosmos, sondern handelt nur von ihm.

Wir können nicht unsere Wohnung schwarz überstreichen und dann klagen, daß die Farben fehlen. Doch; natürlich können wir es; wir tun es ja weitestgehend, indem wir die wirkliche (moralisch-)praktische Wahrheit unseres Lebens durch eine angeblich (erkenntnis-)theoretische Richtigkeit des Weltbilds ersetzen – und dann vielleicht unglücklich sind:

„Was sollen wir mit der?“

 

AD: „Die nicht-physikalischen Partial-Welten, die Sie andeuten, spielen aber doch wirklich nur eine untergeordnete Rolle . . .“

Das ist richtig; aber nicht weil es sich in der objektiven Welt so verhält, sondern weil wir unsere subjektiven Welten in der Moderne so einseitig entwickelt haben. Überlegen Sie bitte einmal, was wir alles über unseren Kosmos erzählen könnten, und wie rudimentär sich daran gemessen – bei den meisten von uns – unter anderem das musische oder poetische Vokabular ausnimmt, wie beschränkt unsere Partial-Welten beispielsweise des Schönen, Guten, Religiösen und der Gabe oder Stille entwickelt sind.

Bei dem Wort „Krieg“ beispielsweise assoziieren die meisten Menschen heute physikalisch-elektronische Waffen(-Systeme) und deren Abwehr. Aber müßte uns nicht als erstes das Leid der Betroffenen – Menschen, Tiere und vielleicht sogar Pflanzen – in den Sinn kommen?

 

Nun sollte verständlich sein:

Die Welt besitzt nicht nur die vier Dimensionen der physikalischen Raum-Zeit, sondern potentiell unendlich viele und ist unabsehbar reichhaltig oder vielfältig. Der Kosmos mit seinen armseligen Inhalten nimmt sich daran gemessen entsetzlich provinziell aus. Auch wenn er innerhalb der Raum-Zeit praktisch grenzenlos ist, bleibt der Kosmos gegenüber dem Reichtum, der Vielfalt und Faszination der Welt nahezu vernachlässigbar. Letztere enthält den Kosmos, geht aber in potentiell unendlich vielen Dimensionen darüber hinaus.  

Allein das traditionelle Denken im modernen Abendland glaubt, mit der Physik den Nabel oder die Einheit der Welt gefunden zu haben, so daß die physikalische Weltformel als das angeblich letzte noch zu lüftende Rätsel gehandelt und als Endlösung verkauft wird.

 

Wir setzen diese Horizonterweiterung vom Kosmos zur Welt fort und gehen mit der Postmoderne zum eigenen Leben über:

objektiver Kosmos   →   objektive Welt   →  subjektives Leben mit der eigenen Welt

 

AD: „Wir können unmöglich in einer Sphäre leben, die es ohne uns gar nicht gäbe, also insbesondere nicht in der eigenen subjektiven Welt; das scheint Ihnen Ihrer Formulierung zufolge auch klar zu sein.

Aber damit drängt sich natürlich massiv die Frage auf, wo wir dann leben.“

Die traditionelle Antwort „in der objektiven Welt“ scheint definitiv, weil selbstverständlich und unproblematisch zu sein. Mit ihr wird letztlich gesagt, daß wir als Subjekte im wesentlichen unser Körper sind, der sich zwischen all den anderen Körpern befindet.

Wir wissen noch nicht, worin die Subjekte postmodern bestehen, aber die Vermutung, daß wir uns als Subjekte zwischen all den anderen Subjekten befinden, dürfte plausibel und nicht zu weit hergeholt sein.

 

Damit hätten wir eine Lösung Ihres Problems:

Ich lebe als Subjekt dort, wo sich auch alle anderen Subjekte befinden.

AD: „Das ist aber keine befriedigende Antwort, sondern eine ungeschickte Ausrede und nahezu eine Tautologie.“

Sie haben Recht, und ich hatte meinen Vorschlag auch nicht ernstgemeint, sondern wollte Ihnen nur zu der Erkenntnis verhelfen, daß die traditionelle Antwort dann aber ebenfalls nur „eine ungeschickte Ausrede und nahezu eine Tautologie“ darstellt:

In der Welt zu leben, besagt ebenfalls nur, daß wir dort sind, wo sich auch alle anderen (menschlichen und sonstigen) Körper befinden, denn die Welt ist nichts anderes als deren Gesamtheit.

Fragt uns jemand, wo wir leben, und unsere Antwort lautet „in einem Haus“, stimmt das zwar vordergründig ebenfalls, sagt aber nichts; und „in der Welt“ ist kaum besser.

 

Traditionell-modern läuft die Frage, wo wir leben, also auf die nur scheinbar ganz andere hinaus, wo sich die Welt als die Gesamtheit aller physikalischen Körper befindet. Postmodern wird daraus die Frage, wo wir als die Gesamtheit aller Subjekte leben.

AD: „Und beide sind prinzipiell unbeantworbar, weil der Begriff des Ortes nur innerhalb einer – objektiven oder subjektiven – Welt verständlich ist.“

Das ging vielleicht ein wenig zu schnell:

Die zwei Fragen lassen sich mit unserer Vernunft tatsächlich nicht beantworten; soweit sind wir uns einig. Das bedeutet aber keineswegs, daß sie offen bleiben müssen, denn der Glaube bietet uns eine Antwort an:

Traditionell befindet sich die objektive Welt in Gott; postmodern leben wir Subjekte in ihm.

Wir hatten die Realität als Einheit von Transzendenz und Immanenz eingeführt und können nun sagen, daß erstere stets mit Gott zusammenfällt, wärend die Immanenz traditionell in der objektiven Welt und postmodern im Leben von uns Subjekten besteht.

 

Unser gesuchter Ort wäre demzufolge in beiden Fällen die Transzendenz bzw. Gott.

Das muß nicht stimmen, nur weil es der christliche Glaube sagt; es ist ein Vorschlag, der uns in unserem Leben helfen könnte. Ob er das tut, wissen wir freilich bestenfalls, nachdem wir uns auf das Angebot eingelassen haben. Aber darin besteht keine verdächtige Besonderheit des Glaubens, sondern das gilt für nahezu alle Facetten unseres Lebens; bei jedem Medikament, Vorstellungsgespräch, Ausflug, Glücksspiel oder Vertrauensvorschuß wird sich erst nach dem Daran-Geglaubt-Haben zeigen, ob letzteres gerechtfertigt war. 

 

Die Antwort des Glaubens resultiert nicht aus der Vernunft – andernfalls wäre es keine Antwort des Glaubens –, widerspricht ihr aber auch nichtdann wäre sie unsinnig. Mangels einer vernünftigen Alternative lassen wir uns also auf den Gedanken ein, sowohl traditionell als auch postmodern in Gott  zu leben.

Unser Ansatz hatte sich oben als der allgemeinere herausgestellt. Welche Spezifikation ist es, die von ihm zum eingeschränkten traditionellen Denken führt?

 

Ohne objektive Realität besteht kein Grund für Intersubjektivität; weshalb sollten verschiedene Subjekte in ihren Wissungen übereinstimmen?

Wenn sie es tun, wäre das zufällig, und niemand könnte es feststellen, weil uns sämtliche fremden Psychen prinzipiell unzugänglich sind.

Trotzdem sagen sehr viele Subjekte das Gleiche, und ihre Bekenntnisse weisen eine überraschend hohe Intersubjektivität auf.

Mit meiner Wortwahl habe ich die Lösung dieses offensichtlichen Widerspruchs bereits angedeutet. Sie besteht darin, daß wir manipuliert werden; insbesondere für Ludwig Wittgenstein sowie Michel Foucault ist das Erziehen und Erklären ein „Abrichten“.

Das klingt wahrscheinlich sehr negativ, stellt aber eine notwendige Manipulation dar, weil wir die Intersubjektivität als gesellschaftlichen Kitt benötigen. Keine Kultur kann ohne eine hinreichende Übereinstimmung ihrer Mitglieder leben.

 

Das ist die konstruktive Seite, gegen die sich meines Erachtens nicht viel einwenden läßt. „So sehen wir das als Deutegemeinschaft und bitten alle, die dazugehören (möchten), um ein entsprechendes Verständnis, die notwendige Toleranz und ausreichende Empathie.“

Solange sich die Intersubjektivität nicht begründen läßt, bleibt allein ein solcher Appell, der jedoch vielen Mitgliedern als wenig effizient erscheinen mag. Eine Rechtfertigung wird – vielleicht nur – möglich, wenn man

– eine objektive Realität behauptet und

– die gewünschte Intersubjektivität  als deren adäquate Abbildung ausgibt.

„So ist es; wir haben die Wahrheit gefunden.“

Natürlich kann und wird das mitunter gelogen sein; aber bei den allermeisten Mitgliedern der Deutegemeinschaft wird es sich viel eher um Gutgläubigkeit im positiven oder Denkfaulheit im negativen Falle handeln.

2.5. Wahr – wirklich – richtig – gewiß – nützlich

Unser Leben sollte wahr sein, hatte ich oben geschrieben; damit sind die beiden Prädikate „wahr“ sowie „unwahr“ vergeben, und wir können nichts anderes mit ihnen charakterisieren. Es gibt also insbesondere weder wahre logische, mathematische oder naturwissenschaftliche Gesetze noch wahre Dogmen; freilich auch keine unwahren.

Wie alle Propositionen können sie lediglich richtig oder falsch sein, wobei diesbezüglich natürlich häufig keine saubere Unterscheidung möglich ist.

 

Nun haben wir mit den Propositionen wieder einen neuen Begriff eingeführt, der „schlimm“ klingt, sich aber kaum vermeiden läßt.

Sätze können Wünsche, Fragen, Befehle, Erstaunen und alles Mögliche zum Ausdruck bringen; derartige Sätze sind weder richtig noch falsch. Uns geht es jedoch in erster Linie um Sätze, die etwas feststellen oder konstatieren und denen eben dadurch diese Prädikate zukommen; wir nennen sie „Aussagen“.

Damit können wir klären:

Eine Proposition ist der Inhalt einer Aussage; dabei geht es gar nicht um diese, sondern allein um jenen; der Satz spielt keine Rolle und müßte auch nicht formuliert werden.

„Zwei mal drei ist sechs“, „Bern die Hauptststadt der Schweiz“ und „die Erde eine Kugel“. Diese Sätze bringen Propositionen zum Ausdruck, die aber auch ohne ihre explizite Erwähnung richtig wären; dann wüßten wir lediglich nicht, was richtig ist.

 

Von den Propositionen führt ein kontinuierlicher Übergang zu den Begriffen, wie wir leicht an einfachen Beispielen erkennen:

„Die Erde ist eine Kugel“ oder „Das Papier dient zum Schreiben“ – Proposition.

„Erdkugel“ bzw. „Schreibpapier“ – Begriff.

Begriffe sollten nützlich, fruchtbar oder sinnvoll sein; Propositionen spielen dagegen zwischen richtig und falsch.

Aber diese differenten Eigenschaften der Begriffe bzw. Propositionen dürfen wir nicht als miteinander unvereinbar betrachten; sowohl Richtiges als auch Falsches kann nützlich, fruchtbar oder sinnvoll sein bzw. auch nicht.

Wegen ihrer kontinuierlichen Verbindung können wir die Begriffe und Propositionen zusammenfassen; sie alle bilden Denkwerkzeuge.

 

AD: „Dann sollten wir unsere Überlegungen zum Totalbild jedoch ein wenig korrigieren:

Sie haben letzteres als die subjektive ‚Einheit unserer Begriffe‘ eingeführt. Das wird jetzt nicht falsch; aber wenn sich die Propositionen kaum von den Begriffen trennen lassen, können wir das Totalbild besser als die subjektive ‚Einheit unserer Denkwerkzeuge‘ verstehen.“

Vollkommen einverstanden; je nach Fragestellung wird es das eine mal besser sein, die Begriffe hervorzuheben, und das andere mal, die Propositionen zu betonen.

 

Die Denkwerkzeuge stehen immer alle zur Verfügung, aber im jeweiligen Jetzt werden stets nur ganz wenige von ihnen benötigt und dazu explizi(er)t oder aktal(isiert); der größte Teil bleibt implizit, potentiell oder unbewußt im Hintergrund.

Jener kleine Teil der Denkwerkzeuge bildet die Wissungen, und bei ihnen unterscheiden wir zwischen Wahrnehmungen und Vorstellungen.

Erstere gehören stets dem Jetzt an, sind wirklich und gewiß.

Vorstellungen dagen können früher, jetzt oder später sein; sie erweisen sich stets als unwirklich und fehlbar.

 

 

Reflexion des Lebens
Denkwerkzeuge
Psyche
   
Wissungen    
Wahrnehmungen Vorstellungen    
       
jetzt früher, jetzt oder später näherungsweise konstant
rein subjektiv
partiell intersubjektiv
explizi(er)t implizit
aktual(isiert) potentiell
 
wirklich unwirklich Propositionen „Einheit der Begriffe“
gewiß fehlbar richtig oder falsch nützlich oder nutzlos

Abbildung 2.5.

 

Damit haben wir den fünf Begriffen unserer Kapitelüberschrift ihr jeweiliges „Ressort“ zugeordnet; werden sie in anderen Zusammenhängen genutzt, kann dies leicht zu Mißverständnissen führen.

 

AD: „Was unterscheidet ‚wirklich‘ von ‚gewiß‘? Brauchen wir tatsächlich beide Begriffe oder sind sie synonym?“

Zur Zeit sieht es tatsächlich so aus, als könnten wir einen der beiden Begriffe streichen. Das liegt aber daran, daß wir in unserer Abbildung bisher nur die Reflexion des Lebens erfaßt haben und seine Leibhaftigkeit noch fehlt; diese ist ebenfalls wirklich, aber nicht gewiß.

In Anlehnung ans Wittgenstein betrachten wir die Vorstellungen als fehlbar und die Wahrnehmungen als gewiß oder unbestreitbar; eine fehlbare Wahrnehmung wäre Wittgenstein zufolge widersprüchlich.

Ich versuche, Ihnen den Begriff der Gewißheit an einem Beispiel zu verdeutlichen, und wir betrachten dazu einen Dürstenden in der Wüste.

 

Er sieht Wasser; das ist eine Wahrnehmung, und als solche muß sie gewiß sein.

Der Ärmste will  trinken, aber es gelingt ihm nicht. Darin besteht eine neue Wahrnehmung, die ihn belehrt, daß es sich bei dem angeblichen Wasser um eine Fata Morgana handelt.

AD: „Dann war es aber auch zu Beginn schon eine Fata Morgana und somit doch keine eo ipso gewisse Wahrnehmung, sondern nur eine fehlbare Vorstellung.“

Nein; zu diesem Zeitpunkt wußte er das ja nicht; und ein „Irrtum“, der nicht als solcher gewußt wird, ist kein Irrtum. Wer das anders sieht, maßt sich die Perspektive Gottes an, denn er beansprucht etwas zu wissen, was er als Nur-Wahrnehmender unmöglich wissen kann.

Der Dürstende erkennt erst im Nachinein, daß er sich zuvor getäuscht haben muß; und darin besteht seine neue – freilich immer nur aktuale, aber gewisse – Wahrnehmung:

„Es muß eine Fata Morgana sein.“

Das Wahrnehmen ist also stets ein Gewiß-, aber kein Wahr- oder Richtig-Nehmen.

 

Irrtümer können bei Wahrnehmungen nur rückblickend oder im Nachhinein durch neue Wahrnehmungen erkannt werden.

Aber was heißt hier „Irrtümer“? Vielleicht stellt sich in einem erneuten Anlauf heraus, daß es doch Wasser ist und der Dürstende bei seinem ersten Versuch nur bereits zu schwach war, um noch trinken zu können. 

Wir befinden uns also stets in der Situation:

So sehe ich es aktual wirklich, bin mir dessen gewiß und müßte lügen, mich dumm stellen oder einfach irgendetwas plappern, sollte ich etwas anderes sagen.“

 

Gewißheit muß jedoch nicht Richtigkeit bedeuten.

Der Dürstende ist sich gewiß, Wasser zu sehen, und die Frage, ob das richtig oder falsch ist, stellt sich gar nicht. 

Kurz vor Weihnachten habe ich im Einkaufsgewimmel aus der Ferne einen alten Schulfreund gesehen, aber durch das Gedränge nicht erreicht. Und gestern sagte er mir am Telefon, daß er zu dieser Zeit in China gewesen sei. Ich war mir meiner Sache gewiß, es war jedoch trotzdem falsch.  

Wir sehen, wie der Zauberer die Frau durchsägt, aber es stimmt natürlich nicht.

 

Das Wahrnehmen kann auch mißlingen; es führt dann nicht zu Wahrnehmungen, sondern zu der Frage „Was ist das?“. Die erklärende Antwort beschreibt eine Proposition, wie dies zum Beispiel auch bei Zeichen, Begriffen oder Texten häufig der Fall ist.

Verstehen wir die Erklärung wiederum nicht, setzt sich dieses Spielchen fort, bis wir irgendwann verstanden haben – oder entnervt aufgeben.

Im Hintergrund dieser Überlegungen steht für mich die „Philosophie des Zeichens“ von Josef Simon. Ihr zufolge muß das erfolgreiche Ende jeder Erklärungskette subjektiv

– verstanden sowie

– als Erklärung akzeptiert werden.

Natürlich ist es – wie jede Proposition – richtig oder falsch; aber auch hier stellt sich diese Frage gar nicht.

 

Langer Rede kurzer Sinn:

Aus der Einhorn-Vorstellung folgt gar nichts, weil sie willkürlich oder beliebig ist.

Die Einhorn-Wahrnehmung läßt sich dagegen nicht bestreiten; selbst wenn alle lachen:

Wer eine Einhorn-Wahrnehmung hat, hat eine Einhorn-Wahrnehmung und ist sich dessen gewiß.  

2.6. Begriffe

Wir haben Laptop-Wissungen, sowohl als Wahrnehmungen wie auch als Vorstellungen. Aber es gibt auch ganz einfch Laptops – ohne alle Hinzufügungen. Die können für uns natürlich nicht in Seienden bestehen; an ihre Stelle treten in diesem Zusammenhang die Begriffe.

Laptops ist ein Begriff; den gab es vor 50 Jahren noch gar nicht, und in der Zwischenzeit hat er sich herausgebildet. Begriffe verdanken sich einer sprachlichen Genese, in der sie entstehen und – irgenwann einmal auch wieder – vergehen.

 

Traditionell gibt es Seiende; die entstanden durch eine Evolution, sind am Baum gewachsen, wurden von Gott geschaffen oder bei IBM hergestellt.

Wir ersetzen diese Seienden durch Begriffe, womit alle vier Produktionsvarianten von soeben entfallen. An ihre Stelle tritt die Genese; das ist die Entstehungs- und Vergehensweise der Begriffe, die wir vielleicht am besten durch ein kontinuierliches Überformen, Deuten, Interpretieren oder  Aufheben – der bereits existierenden Begriffe – umschreiben können.

Die Tradition kennt und braucht keine Begriffe; wozu diese geistig-subjektiven Ergüsse, wenn es handfest-objektive Seiende gibt? Die werden ganz einfach bezeichnet, und dazu benötigt man  lediglich Worte; „Laptop“ bezeichnet den Laptop.

Worte brauchen wir natürlich auch, aber für die Begriffe; postmodern bezeichnet „Laptops“ den Begriff Laptops.

 

Schon des öfteren hatte ich von Anderungen gesprochen, und anfangs dachten Sie womöglich, es handle sich um einen Schreibfehler. Das war jedoch keiner; vielmehr müssen wir die traditionellen Änderungen deutlich von den postmodernen Anderungen unterscheiden, die nun noch additiv zu jenen hinzukommen.

Verdeutlichen wir uns zunächst, weshalb eigentlich.

 

Seiende sind veränderlich; Äpfel reifen, Moritz wird größer, und das Auto geht kaputt.

Hätte ich als Beispiele auch „Äpfel werden zu Birnen“, „Moritz wird zu Moni“, und „das Auto zum Schiff“ wählen können? 

AD: „Natürlich nicht; das ist doch blanker Unsinn!“

Bei meinem zweiten Tripel würde es sich um Anderungen handeln, und dem traditionellen Denken zufolge – insoweit gehe ich mit Ihnen natürlich d’accord – stellen sie tatsächlich blanken Unsinn dar; es ist auch einsichtig, warum:

Die Seienden – Äpfel, Moritz bzw. Auto – fungieren als die identischen Träger von Eigenschaften – Reife, Größe resp. Zustand –, und nur letztere ändern sich. Bei Anderungen müßten dagegen die Seienden selbst andere werden; das entspräche also einer Transsubstantiation, und deren Möglichkeit bestreitet die Tradition (im allgemeinen), weil sie ihre Seienden – oder genauer: deren Substanzen – als identisch voraussetzt.

 

Ohne Seiende wird für uns natürlich auch diese Argumentation hinfällig, so daß wir vor der Frage stehen, was Anderungen überhaupt von Änderungen unterscheiden soll. Worin besteht der prinzipielle Unterschied zwischen dem Birne- und dem Reif-Werden eines Apfels?

Nein; das war schon wieder falsch, weil es ohne Seiende weder Reife noch Birnen oder Äpfel gibt. Wir müßten also fragen:

Worin besteht der prinzipielle Unterschied zwischen

– die Apfel-Wahrnehmung wird zu einer [Reifer-Apfel]-Wahrnehmung oder

– die Apfel-Wahrnehmung wird zu einer Birnen-Wahrnehmung?

 

Dieser Wechsel zu Wahrnehmungen scheint mir zwingend zu sein und zeigt uns ein Zweifaches:

Zum einen ersetzt im gegenwärtigen Zusammenhang die „Einheit der Begriffe“ postmodern die Menge der Seienden. Diese Einheit kann uns als solche natürlich niemals gegeben sein, sondern wir erfahren sie nur bruchstückhaft durch ihre Aktualisierung in den Wissungen.

Zum anderen sind dabei die Vorstellungen wegen ihrer Beliebigkeit sekundär; wie sollten wir ihnen etwas Allgemeines entnehmen können? Vorgestellte Variierungen sind keine Variierungen, sondern Vorstellungen.

Das ist bei den Wahrnehmungen ganz anders, denn sie erfolge in Echtzeit und sind stets veränder-, aber niemals veranderlich.

 

Damit haben wir unser Ziel bereits erreicht:

Wir benötigen Anderungen, um die Genese der Begriffe denken zu können.

Vorstellungen helfen uns wegen ihrer Beliebigkeit nicht weiter, und alle Wahrnehmungen sind veränderlich.

Variierungen, die darüber hinausgehen und somit prinzipiell nicht wahrgenommen werden können, definieren wir als Anderungen.

 Natürlich werden auch bei den Begriffen nicht die Äpfel zu Birnen, aber ein kindlicher Begriff des  Lebens zum Beispiel generiert oder andert sich über den Lebens-Begriff eines Jugendlichen zu demjenigen eines Arztes, Bestatters, Philosophen, Pfarrers, Obdachlosen, Krebskranken usw.

 

AD: „Die Tradition versteht das Leben als ein Seiendes, so daß ihr zufolge Kinder, Jugendliche, Ärzte usw. zumindest teilweise falsche Vorstellungen vom Leben haben müssen; einfach weil jeder andere besitzt und nicht alle widerstreitenden Vorstellungen richtig sein können.

Sie sagen dagegen, daß es das Leben nicht als Seiendes, sondern als eine Vielfalt der unterschiedlichsten Begriffe gibt. Dann kann keiner von ihnen falsch sein, sondern alle Begriffe sind mehr oder weniger nützlich, hilfreich, praktisch oder fruchtbar; Denkwerkzeuge eben.“

Ich bin vollkommen einverstanden mit Ihren Ausführungen, muß aber dringend etwas hinzufügen:

 

Das Leben ist kein Seiendes, so daß wir lediglich mittels unserer Begriffe von ihm wissen können, weil sie die eigenen Wahrnehmungen konstituieren.

Aber – und dieser entscheidende Punkt fehlte bei Ihnen – wir leben unser Leben! Deshalb ersetze ich es der Deutlichkeit halber häufig durch die Leibhaftigkeit des Lebens und möchte damit im Kern auf Folgendes hinweisen: 

Wir bestreiten nicht die Wirklichkeit des Lebens, sondern andern nur die Form, in der es traditionell dargestellt wird.

Als Seiendes kann das Leben nur von einem unbeteiligten Außenstehenden verstanden werden. Das  ist antik-mittelalterlich Gott und in der Moderne die objektive Vernunft, die von Thomas Nagel als „Blick von nirgendwo“ und -wann charakterisiert wird.

Die Postmoderne geht hingegen davon aus, daß uns eine solche Außenperspektive prinzipiell nicht zugänglich ist, weil wir ausschließlich im Hier und Jetzt leben. Da leben wir aber auch tatsächlich – und das stellt die unbestreitbare Leibhaftigkeit als die einzige Wirklichkeit unseres Lebens dar.  

 

Auch an dieser Stelle wird sehr schön deutlich, daß die Postmoderne versucht, alle Hirngespinste zu vermeiden, und insbesondere viel realistischer ist als das traditionelle Denken:

Wir Subjekte leben und können

– somit höchstens das erkennen, was aus unserem Leben von „innen“ erkennbar ist, aber

– natürlich nicht von „außen“ auf das eigene Leben schauen.

Wer glaubt, letzteres zu vermögen,

– begeht entweder einen Denkfehler oder

– will sein wie Gott.

 

Wir können uns das Gemeinte anhand von Thomas Nagels Artikel „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ noch ein wenig verdeutlichen, den er breits in den 70-er Jahren schrieb und der noch heute relativ häufig zitiert wird.

Natürlich kann auch Nagel diese Frage nicht beantworten, denn dazu müßte er eine Fledermaus sein.

Nein; das war falsch, denn wir wissen auch nicht, wie es ist, ein Mensch zu sein.

AD: „Stimmt; aber jeder von uns weiß, wie es ist, ich zu sein.“

Auch nicht; jetzt haben Sie genau das gesagt, was wir postmodern bestreiten:

Wir wissen nicht, wie es ist, ich zu sein, sondern sind, wie es ist, ich zu sein – nur von „innen“ und ganz ohne „außen“. 

 

AD: „Alles nur von „innen“ sehen zu können, würde doch bedeuten, daß für jeden von uns nur sein eigenes Leben vorkommt und mir zum Beispiel das Ihrige nicht einmal gleichgültig sein könnte, weil es einfach inexistent wäre; alle Subjekte wären als kleine Solipsisten nur mit sich selbst beschäftigt.“ 

(Solipsismus kommt von „solus“, das heißt, „allein“ und meint ein Totaltbild, demzufolge nur ich mit meiner eigenen Psyche und ihren Wissungen existiere. Das erscheint Ihnen wahrscheinlich als absurd; es läßt sich aber widerspruchsfrei denken und dürfte somit prinzipiell unwiderlegbar sein.) 

„Ist das nicht ganz schön egoistisch oder zumindest kurzsichtig?“

Nein; keineswegs; wir beide sind uns auf einem technischen Weg begegnet und kommunizieren nun digital miteinander. Dadurch gibt es für mich neue Wahrnehmungen, die jedoch alle ausnahmslos nur zu meinem Leben gehören.

Exakt diesen letzten Satz können Sie wortwörtlich für sich wiederholen; er bleibt richtig, auch für die – vielleicht ganz anderen – Wahrnehmungen in Ihrem subjektiven Leben.

 

Auf das „Außen“ oder die Perspektive Gottes bzw. der objektiven Vernunft zu verzichten, bedeutet doch lediglich, ganz realistisch vorzugehen und nicht zu spekulieren oder zu phantasieren:

1. Ich erfahre mein Leben als Lebender unmittelbar von „innen“ und nur von „innen“.

2. Damit wird der scheinbar selbstverständliche Satz „Sie leben (auch)“ für mich vollkommen unverständlich, weil ich das prinzipiell nicht von „innen“ erfahren kann; dazu müßte es ja mein Leben sein.

3. Stelle ich mir „Ihre Wissungen“ vor, sind das also nicht Ihre Wissungen, sondern meine Vorstellungen.

4. Ohne Referenten können es nicht einmal meine Vorstellungen von Ihren Wissungen sein. 

5. Damit bestreite ich keineswegs, daß wir miteinander wechselwirken und uns dadurch beeinflussen; aber jeder kennt das Resultat dieser Wechselwirkung nur als Bestandteil des eigenen Lebens. 

 

AD: „Einverstanden; aber mich beschäftigt noch ein ganz anderes Problem.

Sie haben in diesem Kapitel die Begriffe so dargestellt, als könne es ohne sie keine Wahrnehmungen geben. Aber oben wollten Sie uns schon plausibilisieren, daß die Wahrnehmungen von den Vorstellungen abhängen; daß diese primär und jene sekundär sind.

Welche von den zwei Varianten ist nun die richtige?“

Es stimmen beide.

Um uns das verständlich zu machen, müssen wir das Verhältnis zwischen Vorstellungen und Begriffen betrachten.

Letztere sind unbewußt, und das bedeutet, daß sie als Begriffe gar nicht existieren. Es gibt nur das Totalbild als die „Einheit der Begriffe“, aber als Einheit kann das natürlich keine Einheit von Begriffen oder was auch immer sein. Jede Einheit von Einzelteilen ist widersprüchlich; entweder Einheit oder Einzelteile.

 

Sauber formuliert existieren also keine (einzelnen) Begriffe. „Greifbar“ werden sie als solche lediglich durch ihre Aktualisierung oder Realisierung in den Vorstellungen.

Das sind aber keine Vorstellungen von den Begriffen, denn auch Vorstellungen besitzen keine Referenten, sondern die Begriffe als Vorstellungen. Letztere beinhalten dabei den jeweiligen Begriff mit einer weitgehend willkürlichen subjektiven Ausmalung. Wir können uns den – Begriff – Mond beispielsweise rein physikalisch, lebensabweisend, romantisch oder als Frau Luna bzw. Heimat des „Mannes im Mond“ vorstellen. 

Das betrifft die eine Richtung; das Bewußt-Werden von der „Einheit der Begriffe“ zu den Vorstellungen. Hinsichtlich der Gegenrichtung müssen wir uns nur verdeutlichen, daß die Genese der „Einheit der Begriffe“ zwar  im Unbewußten erfolgen muß – denn nur dort existiert diese Einheit –, unsere Zu- oder Mitarbeit daran in Form des Interpretierens, Deutens, Überformens oder Aufhebens aber nur innerhalb der Vorstellungen möglich ist.

Begriffe und Vorstellungen stehen folglich in einem Zirkelverhältnis, so daß beide gleichermaßen für die Wahrnehmungen notwendig sind.

 

Die Philosophie besteht wesentlich im Erfinden von Begriffen bzw. „ihren“ Vorstellungen. Wir treffen mit ihnen nichts Seiendes; Begriffe sind keine Namen, sondern Erstmaliger oder Neuerer, die zuvor Undenk- bzw. Nicht-Wahrnehmbares ermöglichen.

Ein superintelligenter mittelalterlicher Mensch würde heute bei uns keine Fernsehapparate wahrnehmen. Nicht weil ihm der Name „Fernsehapparat“, sondern weil ihm in seinem Totalbild der entsprechende Begriff fehlt. Den kann man jedoch nicht einfach hinzufügen wie Namen; vielmehr muß sich jeder Begriff andern, damit Fernsehapparate – als Begriff – möglich wird.   

Die „Einheit der Begriffe“ bedeutet doch, daß sie alle aufeinander verweisen und voneinander  abhängen. Andert sich beispielsweise der Begriff Menschen ein wenig, ziehen die Begriffe Tiere, Roboter oder Engel augenblicklich nach. Dann kann es exakt diejenigen Menschen, die gemeinsam mit Tieren, Robotern und Engeln einem bestimmten Totalbild angehören, in einem solchen ohne Tiere, Roboter bzw. Engel gar nicht geben.

2.7. Wissungen

Wissungen ist ein schwieriger Begriff; um ihn besser zu verstehen, beginnen wir mit der Frage, was wir wissen; worin besteht das Gewußte; was sind die Referenten der Wissungen?

Die Antwort ist einfach und überrascht uns sicherlich auch nicht mehr:

Ohne Seiende kann es nichts Gewußtes oder keine Referenten geben.

Lasen Sie sich nicht durch meine kaum zu vermeidende Wortwahl irritieren:

Natürlich sind die Wissungen gewußt – und nicht „nur“ be- oder gar unbewußt –, aber das hat absolut nichts mit dem Gewußten der Traditon zu tun.

 

AD: „Also wissen wir nichts?“

Doch; wir wissen (1) die Wissungen (2) und müssen lediglich die traditionelle Selbstverständlichkeit aufgeben, hinter letzteren müsse es auch noch etwas Gewußtes (3) geben; diese dritte Ebene der Refenten ist eine reine Erfindung.

Wir haben nicht, wie die Tradition meint, Wissungen vom Gewußten – (1) fehlt –, sondern wissen Wissungen – bei uns entfällt (3).

Dieses „wissen“ gehört zu unserem Leben; auch hier wird also deutlich, daß wir die objektive Realität (3) hinter uns lassen und zum subjektiven Leben (1) übergehen.

 

AD: „Wenn es mit den Wissungen (2) aufhört und nach ihnen kein Wovon (3) mehr kommt, müssen doch die Wissungen selbst das postmoderne ‚Gewußte‘ (2) bilden, so daß selbst das Adjektiv ‚gewußt‘, vor dem Sie uns soeben gewarnt hatten, gar nicht so daneben liegt?“

Ja; Wissungen sowie „Gewußtes“ fallen bei uns zusammen, und es gibt auch noch etwas Drittes (2)  – aber eben wiederum postmodern:

 

Mein Totalbild umfaßt beides; es enthält ausnahmslos alles, was ich jetzt weiß oder auch nur wissen könnte. Diese Unterscheidung dient nicht allein der Deutlichkeit, sondern ist fundamental:

Die Gesamtheit des gegenwärtig Wißbaren bildet das Totalbild.

 

Natürlich kann im jeweiligen Jetzt immer nur ein Bruchteil davon

– aktual(isiert) oder

– explizi(er)t und damit

– tatsächlich gewußt werden.

Diese verschwindend kleine Komponente des Totalbilds besteht in den Wissungen bzw. dem *Gewußten“.

 

Der „Rest“ des Totalbilds bleibt jetzt

– nur potentiell wißbar oder

– implizit und

– unbewußt.

Aber seine Bedeutung läßt sich kaum überschätzen, denn dieser „Rest“ ermöglicht die Wissungen bzw. das „Gewußte“.

 

AD: „Hier habe ich Schwierigkeiten:

Das Totalbild ist subjektiv und besteht in den eigenen Denkwerkzeugen; es variiert zwischen unseren Propositionen und der „Einheit der Begriffe“.

Das würde noch passen; daß zwei mal drei gleich sechs, Bern die Hauptstadt der Schweiz und die Erde eine Kugel ist, wußten wir auch – potentiell oder implizit –, bevor es erwähnt und damit aktualisiert bzw. tatsächlich gewußt wird.

Aber was haben unsere Denkwerkzeuge mit Traumen, Verdrängungen und psychischen Störungen gemein?“

 

Sie gehen von Sigmund Freuds psychologischer Deutung aus; ich bin aber – etwa im Gefolge von Carl Gustav Jung – überzeugt, daß diese lediglich einen sehr speziellen Zugang darstellt, weil das Unbewußte nicht nur unermeßlich weit über die Psychologie hinausreicht, sondern die Grundlage unseres Lebens schlechthin bildet.

Darüber, daß im Prinzip alle Wissungen emotional auf uns einwirken können, sind wir uns gewiß einig. Sehungen beispielsweise können uns abstoßen, Düfte verführen, und Vorstellungen beflügeln oder deprimieren.

Jetzt müssen wir nur noch den meines Erachtens selbstverständlichen Gedanken hinzufügen, daß der emotionale Einfluß der Wissungen mit deren Ende nicht schlagartig aussetzen muß, sondern im Rahmen des Unbewußten weiterwirken kann – und schon haben wir die Verbindung zu Freud.

Das sind doch alles nur kontinuierliche Übergänge; die jetzigen Wissungen ermöglichen in fünf Minuen andere.  

 

Auch eine zweite Ergänzung könnte für Ihr Verständnis noch wichtig sein:

Unsere Wahrnehmungen und Vorstellungen sind ausnahmslos Wissungen, aber das müssen sie nicht sein.

 

Wir können uns sonstetwas vorstellen, den größten Quatsch wie den grasgrünen Steinbeißer oder Engel auf einer Nadelspitze. Solange das Ergebnis sagbar bleibt, stellt es eine – sinnvolle, sinnlose oder unsinnige – Wissung dar und gehört folglich zu unserem Totalbild. Aber das muß nicht sein, denn wir können uns auch Unsagbares vorstellen und damit das eigene Totalbild „transzendieren“. 

AD: „Wieso soll das Unsagbare keine Wissung darstellen? Bisher nicht; es ist das Neue, mit dessen Hilfe wir unser Totalbild erweitern.“

Nein; das geht nicht; Wittgenstein begründet dies damit, daß keine Privatsprachen möglich sind. Seine Argumentation läuft im Kern darauf hinaus, daß wir nur sinnvoll von einer Wissung sprechen können, wenn sie für eine gewisse Dauer nachvollziehbar ist. Das gilt jedoch nur für Vorstellungen, die bereits dem Totalbild angehören, weil sie andessen Begriffe gebunden sind.  

Uns interessieren also nur Vorstellungen, die im Anschluß an Kant in der „Einheit von Begriff und subjektiver Ausmalung“ – { Begriff + Ausmalung } – bestehen; alle anderen ignorieren wir.

 

Wahrnehmungen lassen sich ebenfalls nur festhalten, wenn sie bereits im Totalbild integriert sind. Daß es auch andere gibt, bestreite ich wiederum nicht, sondern nur, daß wir sie als Wissungen verstehen können.

Die entsprechende „Formel“ lautet bei ihnen: Wahrnehmung = { Begriff + Anschauung }; hier fehlt natürlich die Beliebigkeit zum Ausmalen. Wir können zum Beispiel die Augen schließen; dann sind alle Sehungen weg, aber von solchen „Verweigerungen“ abgesehen bleiben uns bei den Wahrnehmungen kaum Freiheitsgrade.

Ihre Entstehung erfolgt also „vollautomatsch“ durch das Totalbild, was wir wieder formelmäßig darstellen können

 

Bei einem Baby:

Leibhaftigkeit des Lebens   — Totalbild →   Leibhaftigkeit des Lebens + Wissungen

Bei uns:

Leibhaftigkeit + Reflexion des Lebens   — Totalbild →   Leibhaftigkeit + andere Reflexion des Lebens

 

Die Wissungen sind rein subjektiv, oder vorsichtiger ausgedrückt:

Eine eventuellle „Intersubjektivität“ könnte an ihnen nicht als Intersubjektivität erkannt werden, da jedem von uns immer nur seine eigenen Psyche zugänglich und somit jeglicher Vergleich ausgeschlossen ist.

AD: „Woher stammt dann die partielle, das heißt, auf einige Subjekte bezogene Intersubjektivität, die doch unbestreitbar zu sein scheint? ‚Alle Anhänger der gastgebenden Mannschaft haben gesehen, daß der Schiedsrichter eine Pfeife ist.'“

Sie kommt von den Denkwerkzeugen, die partiell intersubjektiv sind.

Daß zwei mal drei gleich sechs, Bern die Hauptstadt der Schweiz, und die Erde eine Kugel ist, sind Wissugen, die aus dem Abrichten folgen, das wir oben im Zusammenhang mit Wittgenstein und Foucault kurz erwähnt hatten. Es ist ein – Kultur und Gemeinschaft stiftendes – Indoktrinieren der Denkwerkzeuge.

 

Wenn letztere aber verschiedenen Subjekten zur Verfügung stehen, müssen die Denkwerkzeuge für eine bestimmte Dauer konstant sein. In dieser Zeit können sie von denjenigen Subjekten, die über einen Zugang zu den betreffenden Denkwerkzeugen verfügen, beliebig wiederholt werden.   

AD: „Ja; und wir können auch nur innerhalb dieser Dauer mit ihnen arbeiten. Haben sich die Denkwerkzeuge während unserer Überlegungen schon wieder geandert, nützen die ganzen Überlegungen nichts.

Gerade darin sehe ich aber auch eine Problematik Ihres Ansatzes:

Wir benötigen konstante Denkwerkzeuge, aber die kann es nicht geben, denn ihre Anderungen sind notwendig für die Genese, ohne die gar keine Denkwerkzeuge existieren würden.“

Sie haben mir das Wort aus dem Mund genommen; die Anderung der Denkwerkzeuge ist ebenso erforderlich wie ihre Konstanz. Als Lösung bleibt folglich nur ein „Kompromiß“:

Die Existenz der Denkwerkzeuge setzt ihr Genese voraus, die an fortwährende Anderungen gebunden ist. Dadurch können die Denkwerkzeuge höchstens näherungsweise für eine bestimmte Dauer konstant sein.

Nach diesen Ergänzungen nimmt Abbildung 2.5. die folgende Form an:

 

 

mein Leben
Zeitlosigkeit
Gegenwart
Leibhaftigkeit
Reflexion
 Phänomene Denkwerkzeuge
andert Totalbild  Totalbild
emotionales Wirken
emotional auf die Leibhaftigkeit Wirkendes
                   ↔    
Psyche
Unbewußtes
wissen Wissungen oder „Gewußte“ Ermöglichung der Wissungen o. „Gewußten“
wahrnehmen
Wahrnehmungen    
vorstellen
  Vorstellungen
 
       
jetzt früher, jetzt o. später näherungsweise konstant
rein subjektiv   partiell intersubjektiv
  explizi(er)t implizit
  aktual(isiert) potentiell
bewußt gewußt unbewußt
kontinuierlich
diskret
 
dynamisch
statisch
wirklich
unwirklich
Propositionen „Einheit d. Begriffe“
  gewiß fehlbar richtig oder falsch nützlich oder nutzlos

Abbildung 2.7.

 

Die Leibhaftigkeit des Lebens läßt sich höchstens durch Verben einigermaßen beschreiben, denn im Gegensatz zu den statischen sowie diskreten Wissungen ist sie – als emotionales Wirken – dynamisch und kontinuierlich; deswegen auch prinzipiell unwißbar. Unsere Wissungen beziehen sich nicht auf die Leibhaftigkeit als ihren Referenten, sondern gehen aus ihr hervor.

Bei „kontinuierlich“ sollten Sie an dieser Stelle nicht die reellen Zahlen vor Augen haben; ihr Kontinuum ist immer noch das einer Menge, die aus einzelnen Zahlen zusammengesetzt ist, die immer noch identisch sind; 3, 1415926 = 3, 1415926.

Das ist beim Kontinuum einer Flüssigkeit anders; die Formulierung, daß es aus etwas bestände, wäre unangemessen. Natürlich kann man jede Flüssigkeit tröpfchenweise ausgießen, aber trotzdem besteht sie nicht aus Tröpfchen.

 

Ein solches Kontinuum ohne Bestandteile bildet die Leibhaftigkeit des Lebens, die uns zeitlich und räumlich nicht-identische Phänomene erfahren läßt. Da sie unsagbar sind, müssen sie auch unverfügbar sein; jedes „aus A folgt B“ ist ausgeschlossen, weil es bei Phänomenen kein A oder B gibt.

Wo endet der Wassertropfen A und beginnt B?

Wäre dies das letzte Wort, könnten wir nicht leben. Unsere Rettung besteht darin, daß das Totalbild die Phänomene „vollautomatisch“ in Wissungen umwandelt, und letztere die Phänomene – indirekt, mittelbar oder auf Umwegen – partiell verfügbar machen.

 

Wahrnehmungen, hatte sich oben gezeigt, sind stets veränder-, aber niemals veranderlich. Wir nehmen zum Beispiel wahr, wie sich die Farb-Wahrnehmung an unserer Apfel-Wahrnehmung ändert. Das ist nur möglich, weil beide Denkwerkzeuge – nicht nur der Apfel-, sondern auch der Farb-Begriff – näherungsweise konstant sind.

AD: „Aber die Farbe bleibt doch gar nicht konstant, sondern wechselt von grün zu rot!“

Mit diesem Einwand habe ich gerechnet; er drängt sich förmlich auf, ist jedoch unbegründet:

 

Das Denkwerkzeug Apfel-Begriff ist näherungsweise konstant – und kann folglich während der ganzen Dauer benutzt werden.

Das Denkwerkzeug Farb-Begriff ist näherungsweise konstant – und kann folglich während der ganzen Dauer benutzt werden.

Es gibt verschiedene Apfel-Sorten – Elstar, Gala, Boskop –, aber die kamen in unserem Beispiel überhaupt nicht vor. 

Es gibt verschiedene Farben – grün, rot, blau –, aber die kamen in unserem Beispiel überhaupt nicht vor.

 

Wir hatten wahrnehmbare Variierungen als Änderungen und nicht wahrnehmbare als Anderungen definiert, wußten aber bisher nicht, was die hierbei benutzte Wahrnehmbarkeit überhaupt bedeutet.

Sie besteht, wie sich nun zeigt, darin, daß alle erforderlichen Begriffe näherungsweise konstant sind, und ist somit auf eine endliche Dauer begrenzt. 

Nur in dieser Zeit kann die Variierung der Farb-Wahrnehmung an der Apfel-Wahrnehmung wahrgenommen und damit als Änderung verstanden werden. 

 

Damit haben wir meines Erachtens ein sehr schönes Ergebnis erzielt:

Ohne Genese keine Denkwerkzeuge.

Ohne Denkwerkzeuge keine Wahrnehmungen.

Ohne Wahrnehmungen keine Änderungen.

Ohne Änderungen keine Zeit.

 

AD: „Es wäre ein sehr schönes Ergebnis, wenn ich auch die letzte Zeile verstehen könnte . . .

Sämtliche Änderungen erfolgen meines Erachtens in der Zeit; Sie drehen das Verhältnis jedoch um und machen die Änderungen zur Voraussetzung der Zeit.“

Die Änderungen erfolgen nur traditionell in der Zeit, weil die Tradition auch letztere als ein Seiendes versteht, so daß alles in der Zeit geschehen muß.

Das lehnen wir natürlich ab und fragen skeptisch:

Was soll eine Zeit ohne Veränderungen sein? Was bedeutet „Vergehen“, wenn sich nichts ändert?

Ich weiß natürlich nicht, was die Zeit ist, halte es aber für relativ sicher, daß die beiden Fragen von soeben keine sinnvolle Antwort finden und meine Überzeugung, ohne Veränderungen gäbe es weder Zeit noch Vergehen, damit nicht nur auf tönernen Füßen steht.

 

Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, daß wir im weiteren noch eine zweite, postmoderne Zeit für die Genese der Denkwerkzeuge benötigen:

Die erste, traditionelle Zeit setzt Änderungen voraus.

Diese sind ihrerseits an konstante Denkwerkzeuge gebunden.

Innerhalb einer Zeit, die es nur durch konstante Denkwerkzeuge gibt, kann natürlich unmöglich deren Genese erfolgen, so daß dafür eine weitere Zeit benötigt wird.

Mit anderen und einfacheren Worten:

Erst am Ende unseres Vierzeilers stoßen wir auf die traditionelle Zeit. Aber zu Beginn ist schon eine andere erforderlich, weil ohne Zeit auch keine Genese möglich wäre.

 

Nicht nur bedingen die Änderungen Konstanz, sondern wenn wir (exakte) Konstanz voraussetzen, gibt es umgekehrt auch nur noch Änderungen und keine Anderungen.

Damit gelangen wir wieder zum traditionellen Denken; es

– betrachtet die Seienden als exakt identisch, das heißt,

– setzt eine unendliche Dauer voraus und

– kann somit alle Variierungen auf bloße Änderungen zurückführen.

 

Die Evolutionstheorie beispielsweise ist rein traditionell; sie beschreibt eine gewaltige, unvorstellbare Veränderung vom Urknall bis in die Gegenwart – aber eben auch nur eine Veränderung. Deswegen suchen die Physiker nach den Seienden oder Urquanten, die während der ganzen 13,7 Milliarden Jahre identisch geblieben sind.

Wenn die Christen dagegen verstehen wollen, wie „Gott ausnahmslos alles neu machen wird“, müssen sie postmodern von Seienden zu Denkwerkzeugen wechseln, um Anderungen zu ermöglichen.

Tun sie das nicht, wird für den christlicen Glauben eine zweite oder Neuschöpfung durch Gott notwendig, bei der er dann alles besser macht als bei seinem ersten Versuch; aber das wäre meines Erachtens ein Grund zum Fremdschämen.

 

AD: „Mir ist aufgefallen, daß Sie bei den Seienden immer von ‚Identität‘ und bei den Denkwerkzeugen von ‚Konstanz‘ sprechen. Hat das etwas zu bedeuten, oder sind die beiden Begriffe synonym?“

Sie haben so gut wie nichts miteinander zu tun!

Konstanz bedeutet, daß keine Anderung erfolgt bzw. diese den Wert 0 besitzt. Da die Tradition keine Anderungen kennt, kommt bei ihr auch die Konstanz überhaupt nicht vor

Die Identität dagegen gibt es sowohl traditionell als auch postmodern. Wir können sie durch A = A symbolisieren und dürfen das nicht als Trivialität oder Pleonasmus mißverstehen. Identität meint vielmehr bei uns:

Baum ist ein Begriff, und der ist unabhängig von Raum und Zeit. Überall oder immer, wo bzw. wann Baum-Wahrnehmungen möglich sind, steht der identische Begriff Baum dahinter; Baum = Baum. Daraus ergibt sich beisielsweise auch, daß wir Baum-Wahrnehmungen auf dem Mond ausschließen können.

Traditionell lautet der entsprechende Satz.    

Baum ist ein Seiendes, und das ist unabhängig von Raum und Zeit. Überall oder immer, wo Bäume stehen, sind sie identische; Baum = Baum. Daraus ergibt sich beisielsweise auch, daß wir Bäume auf dem Mond ausschließen können.

 

Mit den Anderungen können wir den Phänomenen des Lebens folgen und unsere Denkwerkzeuge an sie anpassen. Es gibt gewiß Phänomene – insbesondere existenzielle Erfahrungen –, bei denen es kaum eine Rolle spielt, ob die Menschen der Steinzeit angehörten oder in der Gegenwart leben; aber das gilt wohl kaum für die traditionellen Seienden.   

Indem die Tradition sich auf letztere festlegt, mögliche Anderungen ignoriert und sich damit auf bloße Änderungen – beschränkt, löst sie sich vollkommen vom Leben. Aus dem (verbalen) Wissen der Wissungen werden dann die Wissungen der Gewußten – die frei im Nichts des Seins schweben.

2.8. Schwierigkeiten mit den Seienden

Schwierigkeiten mit etwas prinzipiell Unzugänglichem oder Unerreichbarem kann man gar nicht haben, weil es einfach inexistent ist.

Wir könnten also zum nächsten Kapitel übergehen.

Die meisten Menschen sehen das jedoch anders, und wissen komischerweise recht genau, worin dieses Inexistente besteht; allein daraus resultieren gegebenenfalls unsere Schwierigkeiten.

 

Ich biete Ihnen in diesem Kapitel noch ein paar Argumente an, die Sie in der Einsicht bestärken sollen, daß unser Übergang von der Tradition zur Postmoderne recht zwingend und für ein aufgeklärtes Denken notwendig ist.

Meine Hinweise entsprechen der Wittgensteinschen Leiter; vielleicht benötigen Sie die noch als Hilfe; aber nachdem Sie auf ihr hochgestiegen sind und die nächste Reflexionsebene erreicht haben, können Sie die Leiter wegwerfen und tatsächlich mit dem nächsten Kapitel beginnen.   

2.8.1 Von der Psyche zum Bewußtsein

Dort steht ein Herd; er befindet sich inmitten des Raumes, ist aus Eisen und heiß, so daß er sich unmöglich in unserer Psyche befinden kann. Natürlich nicht; das Problem haben wir ja schon lange gelöst:

Das soeben Angedeutete ist traditionell der wirkliche Herd als Urbild oder Seiendes. Nur ein Abbild  davon gehört unserer Psyche an und repräsentiert den Herd.

 

Wir laufen unachtsam durch die Küche und stoßen oder verbrennen uns an ihm. Woran genau; am Ur- oder Abbild des Herdes? 

Letzteres scheidet sofort aus, weil wir uns am „Inhalt“ der Psyche weder stoßen noch verbrennen können.

Bleibt nur das Urbild des Herdes, an dem sich – nicht unsere Psyche, sondern – unser Körper stößt und verbrennt.

 

Aber auch das ist wieder zweideutig; stößt sich das Ur- oder das Abbild unseres Körpers am Urbild des Herdes? 

Da sich auch das Abbild des eigenen Körpers nur in unserer Psyche befinden kann, ergibt sich zwingend:

Das Urbild unseres Körpers stößt und verbrennt sich am Urbild des Herdes.

 

Die beiden zugehörigen Abbilder werden also gar nicht benötigt.

Wir trinken auch kein Abbild des Bieres, riechen kein Abbild des Parfüms, fahren kein Abbild des Autos und bauen kein Abbild des Hauses. Das ist auf der einen Seite alles so selbstverständlich, daß ich mir fast nicht getraue, es hier aufzuzählen.

Und trotzdem beschleicht mich auf der anderen Seite das Gefühl, es tun zu müssen, weil wir (fast) alle überzeugt sind, Abbilder der Seienden in unserer Psyche zu haben. 

 

Wir kommen dem Grund dieses Widerspruchs näher, wenn wir die Bezeichnungen „Ur-“ bzw. „Abbilder“ wörtlich nehmen: Es sind Bilder, und die gibt es nur beim Sehen.

Damit ist unser Problem noch nicht gelöst, aber es wird zunächst einmal nachvollziehbar, daß das Sehen auf der einen Seite ganz allein dem Stoßen, Verbrennen, Trinken, Riechen, Fahren, Bauen usw. auf der anderen gegenübersteht. Nun müßten wir lediglich noch klären, weshalb es sich so verhält.

 

Kommen wir dazu auf unseren Herd zurück; er steht wirklich dort, und es liegt mir fern, dies zu bestreiten. Ich verstehe ihn lediglich anders als die Tradition.

Sie

– macht den Herd zu einem Seienden,

– das im Sehen abgebildet wird,

– wozu die Psyche erforderlich ist.

Wir

– betrachten den Herd als eine Herd-Sehung,

– die sich im Raum befindet,

– weil das Sehen den Raum erzeugt.

 

Alle Sehungen und nur sie sind im Raum, so daß es ihn ohne Sehen gar nicht gäbe. Auch der Raum ist also kein Seiendes, sondern bildet lediglich einen integralen Teil der subjektiven Realität – weil wir Subjekte (1) sehen können; ohne uns (1) kein Raum.

AD: „Dann muß natürlich das traditionelle Verständnis, wir Subjekte (1) seien (im wesentlichen) unser Körper (2), falsch sein. So wie das Herd-Seiende für uns zur Herd-Sehung wird, geht das Körper-Seiende in die Körper-Sehung (2) über.   

Letztere (2) existiert aber nicht ohne uns (1), so daß es uns Subjekte (1) schon geben muß, damit wir (1) durch das Sehen einen Körper (2) erhalten können.“

Sehr schön; damit haben wir bereits das zweite, in meinen Augen sehr starke Argument gegen die traditionelle Überzeugung, ich sei mein Körper:

 

1. Sie ist schon rein logisch falsch, weil widersprüchlich. 

Ich kann nur von meinem Körper sprechen und mich damit zu seinem Besitzer erklären, wenn ich nicht mit ihm zusammenfalle.

Natürlich habe ich ihn anders als ein Auto; dieser Unterschied läßt sich vielleicht recht gut durch die Verfügbarkeit erklären. Der eigene Körper ist weitgehend unverfügbar, während alles andere, was wir sonst noch haben, im allgemeinen sogar ausgetauscht werden kann.

Dieser Gedanke läßt sich sinnvoll weiterführen:

Innerhalb von allem, was wir haben, ist unser eigener Körper eindeutig ausgezeichnet; wir verwechseln ihn niemals mit einem anderen. Das ergibt sich daraus, daß ohne ihn auch alles andere entfällt, was wir sonst noch haben.  

 

 2. Mein Körper befindet sich im Raum, den es ohne Sehen gar nicht gibt. Folglich kann mein Körper nicht der Sehende sein; das bin ich als Subjekt.

 

Diese beiden Punkte erscheinen mir als recht sicher – obwohl sie sich zu widersprechen scheinen:

Mein Körper ist nicht der Wahrnehmende, und trotzdem verschwinden mit ihm alle Wahrnehmungen, die ich als Subjekt habe.

 

Das halten wir vorerst nur als Zwischenergebnis fest, vergessen aber auch nicht, daß die traditionellen Seienden bei uns nicht allgemein in Wahrnehmungen, sondern ganz speziell in Sehungen übergehen.

Mir kommt an dieser Stelle immer ein Zitat von Heinrich Rombach in den Sinn:

„Wir sehen nicht den Baum dort; sondern wir sehen dort“ – alles, zum Beispiel auch diesen Baum.

Natürlich befindet sich der Baum im Raum, aber erst durch das Sehen.

Die Baum-Sehung erfolgt im Raum; die Baum-Riechung oder -Anstoßung nicht.

 

Es ist meines Erachtens kein Zufall, daß Kant den Raum als Anschauungs– und nicht als Wahrnehmungsform verstanden hat. Dem Sehen kommt unter all unseren Tätigkeiten sowohl traditionell als auch postmodern eine Sonderrolle zu:

Traditionell leben die Subjekte als Körper im Raum der objektiven Realität und benötigen für das Sehen den Nicht-Raum der Psyche, um ihre Abbilder unterzubringen.

Postmodern leben wir Subjekte im Nicht-Raum der Transzendenz und erzeugen durch das Sehen – innerhalb von ihm – den Raum des physikalischen Kosmos.

 

AD: „Damit benötigen wir folglich keine Psyche mehr?“

Doch!

Vom Unbewußten abgesehen sprechen wir die ganze Zeit über nichts anderes als über die Psyche; dann können wir sie natürlich nicht einfach streichen; sie ist doch praktisch „alles“.

Das Gegenstück zu ihr, die Vielheit der Seienden als das traditionelle Außerhalb der Psyche entfällt für uns, so daß letztere zusammen mit dem Unbewußten zur gesamten Immanenz wird.

Die Psyche ist also für sich weiterhin die ungeanderte Psyche, gewinnt aber eine ganz andere, viel größere Bedeutung. Das ist zweifellos ein radikaler „Bewußtseinswandel“, und um ihn anzudeuten, ersetzen wir die Psyche innerhalb unseres Ansatzes durch das Bewußtsein:

Gemeinsam mit dem Unbewußten

– bildet es die Immanenz, die sich

– in der Transzendenz befindet.

 

AD: „Und wo sind meine Schmerzen und Geheimnisse jetzt?“

Dort wo sie immer waren: In Ihrer Psyche, die wir postmodern lediglich in „Bewußtsein“ umbenannt haben.

AD: „Sie können sich doch unmöglich dort befinden, wo auch mein Haus ist!“

Natürlich nicht; aber Ihr traditionelles Haus gibt es ja auch nicht mehr. 

Haus ist nur noch ein Begriff, der normalerweise dem Unbewußten angehört. Ihr bewußtes Haus haben wir durch die Haus-Wissungen ersetzt, und bei denen können sich sehr wohl auch Ihre Schmerzen und Geheimnisse befinden.

Jedes Leben ist subjektiv, aber mit diesem Prädikat bezeichnen wir ein ganzes Kontinuum von Intersubjektivitätsgraden, das von rein subjektiv – Ihre Schmerzen und Geheimnisse etwa – bis zu sehr intersubjektiv führt; die Vorstellung der Erde als Kugel beispielsweise. Denken Sie zur Veranschaulichung an die Stimmung oder Atmosphäre bei Sportereignissen oder politischen Großveranstaltungen. Zigtausende können wie von einem Furor mitgerissen sein, aber jeder kann sich auch ganz allein in der allgemeinen Hektik langweilen.

 

Hierfür ist kein separates Kämmerlein mehr erforderlich – wie bei der Tradition.

Ihr zufolge schauen wir von außen auf das Leben der Subjekte, die als handelnde Körper in aller Öffentlichkeit vor unseren Augen agieren. Für das rein Subjektive benötigen sie dann freilich eine unzugängliche Psyche.

Wir halten den Blick von außen entweder für einen Denkfehler oder für die Hybris des Sein-Wollens-wie-Gott und verzichten darauf, so daß

– nur die unzugängliche Psyche zurückbleibt,

– die nun „Bewußtsein“ heißt und

– zusammen mit dem Unbewußten das subjektive Leben bildet,

– das dem „separaten Kämmerlein“ der Tradition entspricht,

– weil das subjektiv Leben eines Subjekts allen anderen Subjekten unzugänglich ist.

 

AD: „Ich verstehe das, habe aber immer noch Schwierigkeiten mit Ihrem Gedanken, daß es ohne das Sehen keinen Raum geben soll. Das kann meines Erachtens nicht stimmen; auch das Tasten, Hören oder Schnuppern erfolgt räumlich; Schmerzen können ziehen, pochen, stechen, ausstrahlen, in die Tiefe gehen usw.“

Sie haben nicht nur Recht, sondern intuitiv meine Antwort schon vorweggenommen:

Ich bleibe dabei: das Sehen erzeugt den Raum.

Nichtsdestotrotz können sehr viele andere Formen des Wahrnehmens räumlich sein.

Der scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn wir uns klarmachen, daß für das Räumliche kein Raum benötigt wird.

 

Die einfachste Begründung besteht vielleicht in der Einsicht, daß der Raum, aber nicht das Räumliche Dimensionen besitzt und die beiden folglich unabhängig voneinander sind.

Haben wir gestern zu viel getrunken, umhüllt heute möglicherweise eine räumliche, jedoch nicht dreidimensionale Schwere unseren Kopf. Lehnen wir uns an einen Baum, stößt sie nicht an, sondern geht problemlos hindurch.

Analoges gilt auch für Phantomschmerzen. Schieben wir den Amputierten mit seinem Rollstuhl so an die Wand, daß das gefühlte, aber fehlende Bein sie durchdringen müßte, merkt er das gar nicht.

Beide Effekte wären nicht möglich, würde sich das Räumliche in den Dimensionen des Raumes befinden.

2.8.2. Sein ist kein Prädikat

Die Philosophen versuchen seit zweieinhalb tausend Jahren zu klären, was „existieren“ bedeutet. Andere Worte – wie „sein“, „es gibt“, „bestehen“, „vorhanden-“ oder „wirklich-sein“ – liefern keine Antworten, sondern benennen das Fragliche nur um. Spätestens Kant zeigte recht deutlich, daß eine Antwort auch gar nicht möglich ist, weil „die Existenz kein Prädikat“ oder keine Eigenschaft „darstellt“, heißt es bei ihm explizit.

Wir benutzen diese Worte nahezu ununterbrochen – und niemand versteht sie. Natürlich nicht; wie soll man denn die Wirklichkeit einer objektiven Realität verstehen, die vollkommen unabhängig von uns existiert und dies somit auch ohne uns tun würde?

Unsere diesbezüglichen Erläuterungsversuche erklären nichts, sondern laufen nur auf bloße Steigerungen oder Beteuerungen hinaus; „wirklich existent“, „vorhanden-seiend“ oder „ganz wirklich“.

 

Kants Argumentation ist sehr abstrakt; aber ein wenig können wir auch ohne ihn verstehen, daß die Wirklichkeit prinzipiell nicht verstanden werden kann. Ich möchte jedoch nochmals betonen, daß es uns hierbei nicht um die Frage geht, ob dieses oder jenes wirklich ist, sondern um die viel grundsätzlichere, was das Wirkliche vom Unwirklichen – und damit vom Nichts – unterscheidet.

Unsere normale Logik ist zweiwertig, weil sie sich allein auf Aussagen bezieht, die stets negiert werden können und somit entweder richtig oder falsch sind; tertium non datur.

Dadurch entsteht die duale Struktur unseres Totalbilds, die zu jedem A ein non-A kennt, von denen jeweils genau eines richtig sein muß. Entweder ist die Erde eine Kugel, oder sie ist keine.

„A gehört zu B“ ist für sämtliche A bzw. B ebenfalls eine Aussage und muß folglich richtig oder falsch sein. Im ersteren Fall ordnen wir das A dem B unter, im letzteren nicht, und so entsteht eine Hierarchie, die oben im Allgemeinsten oder Umfassendsten ausläuft, dem alles zugehört.

Die zweiwertige Logik führt also zu einer hierarchischen Struktur.

 

In der Vormoderne glaubten die Philosophen und Theologen, mit ihrem Denken das Sein oder die Wirklichkeit selbst zu erreichen, so daß die hierarchische Struktur zur Seins-Pyramide wurde, an deren Spitze natürlich Gott stand.

In der Moderne wuchs dann immer stärker die Überzeugung, daß die hierarchische Struktur nichts mit dem Sein oder der Wirklichkeit zu tun hat, sondern lediglich das Resultat unserer zweiwertigen Logik bildet. A, B, C . . . sind dann keine Seienden mehr, sondern werden zu Begriffen.

Würden wir eine mehrwertige Logik benutzen, wüßten wir also etwas ganz anderes – möglicherweise vollkommen unabhängig von dem Sein bzw. der Wirklichkeit.

 

Mit einer mehrwertigen Logik können und brauchen wir uns nicht zu beschäftigen; die einwertige ist jedoch wichtig.

Orientalische Schwerter standen lange Zeit hoch im Kurs, weil sie sehr hart und dadurch scharf waren. Der gute Schmied bearbeitete sie perfekt im Feuer und stieß sie dann glühend einem Sklaven in den Körper.

So geht es; mit dieser einwertigen Praxis erzeugt man die besten Schwerter. Daß es funktioniert, läßt sich sogar sehr leicht erklären: Die Lebenskraft des toten Sklaven geht auf das Schwert über.

Später wurde klar, daß zum Härten kein Blut benötigt wird, sondern Öl oder Wasser genügen, weil es allein um das Abschrecken geht. Das ist aber nicht der Übergang zur zweiwertigen Logik, sondern zu einer anderen Praxis – und die ist als solche immer einwertig.

 

Die Einwertigkeit bedeutet, daß keine Alternative besteht.

Dasjenige, zu dem keine Alternative besteht, können wir nicht wissen, denn Wissungen sind stets fehlbar.

Zur Wirklichkeit besteht keine Alternative, denn das Nichts ist keine, sondern nichts; deswegen stellt das Sein kein Prädikat dar.

 

Das paßt natürlich haarscharf zu meiner Grundidee:

Von all dem, was angeblich außerhalb meines Bewußtseins existiert, vorhanden oder wirklich ist, kann ich prinzipiell nicht(s) wissen.

Natürlich nicht; wir verstehen doch nicht einmal, daß es – welches Ding auch immer – existieren, sich dort befinden, vorhanden oder wirklich sein soll.

Wer also behauptet, außerhalb seines Bewußtseins gäbe es ein A – Zeus zum Beispiel –, kann sich also nicht täuschen, weil es „in Wirklichkeit“ B ist – Wotan vielleicht –, sondern hat gar nichts gesagt, denn wir verstehen weder das eine noch das andere, weil das Wort „Existenz“ sinnleer ist. Selbst wer ganz genau weiß, worin Zeus und Wotan bestehen, hat keine Ahnung davon, was es bedeuten soll, daß sie sich außerhalb unseres Bewußtsein befinden sollen.

Meine ich also, daß A dort existieren würde, dürfte das keinen Widerstreit auslösen, indem einige es ablehnen oder A durch B ersetzen möchten; ich habe doch nur geplappert oder leere Worte aneinandergereiht.

 

Da die Philosophen sowie Theologen in Antike und Mittelalter überzeugt waren, unser Denken würde irgendwie eine Einheit mit dem Sein bilden, konnten sie die Wirklichkeit oder Existenz noch als eine Eigenschaft verstehen.  

Krokodile gibt es; sie haben 1000 Eigenschaften, und eine von ihnen besteht in ihrer Existenz.

Drachen besitzen ebenfalls 1000 Eigenschaften, aber die Existenz ist nicht darunter; deswegen gibt es sie nicht.

Ein solches Denken ist uns nicht mehr möglich; es ist exakt das gleiche Geld – unabhängig davon, ob wir es besitzen oder nicht.

 

Damit entfällt auch eine – etwas simple, aber dadurch – weit verbreitete Interpretation des „ontologischen Gottesbeweises“ (Anselm von Canterbury):

Ein vollkommener Gott, der existiert, hat mit seiner Existenz eine positive Eigenschaft mehr, als exakt dieser gleiche „fast vollkommene“ Gott, der nicht existiert.

Anselm definiert Gott „als das vollkommenste aller Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann„.

Angenommen wir denken uns ein großartiges und absolut vollkommenes Wesen nahezu ohne jeden Makel – bis auf einen einzigen: Es existiert leider nicht.

Dann ist es jedoch nicht das vollkommenste Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann, denn das gleiche Wesen wäre auch existent denkbar.

Gott – als das vollkommenste Wesen, über das hinaus tatsächlich nichts Vollkommeneres mehr gedacht werden kann – muß also notwendigerweise existieren, denn ansonsten wäre er nicht das vollkommenste Wesen.

 

AD: „Dieser ontologische Gottesbeweis gefällt mir nicht, denn er spielt allein in der Sphäre der Vorstellungen, und die sind nicht nur fehlbar, sondern können tatsächlich auch falsch sein. Wie sollte man damit die Exstenz Gottes beweisen können?

Aber unabhängig davon vermute ich, daß Kant sich getäuscht hat und die Existenz doch eine Eigenschaft darstellt:

Träume ich von Wasser oder stelle es mir vor, dann ist das Wasser inexistent; sonst könnten Menschen in der Wüste nicht verdursten; Vorstellen geht ja immer. Existentes Wasser ist dagegen solches, das man tatsächlich trinken kann.“

 

Nein; da werfen Sie einiges durcheinander.

Wasser ist ein Begriff; den können wir denken, aber nicht trinken.

Des weiteren kennen wir Wasser-Wissungen und unterscheiden daran, die wirklichen Wasser-Wahrnehmungen von den unwirklichen Wasser-Vorstellungen.

Im Traum handelt es sich um letztere; damit wird das Trinken unmöglich; aber nicht weil das Wasser inexistent ist, sondern weil man Vorstellungen nicht trinken kann.

AD: „Und Wasser-Wahrnehmungen kann man trinken?“

Nein; es gibt beliebig viele Arten von Wasser-Wahrnehmungen, und eine von ihnen besteht in den Wasser-Trinkungen.

2.8.3. Das Gesamtkonzept der Seienden ist widersprüchlich

Die traditionellen Seienden entsprechen den Elementen einer (mathematischen) Menge; sie sind getrennt, unabhängig oder isoliert voneinander und könnten folglich alle einzeln aufgezählt werden. Daß wir dabei niemals fertig würden, ist natürlich richtig, für unsere Überlegungen aber nicht von Belang.

Zu diesen Seienden gehören auch wir Subjekte.

Unsere Trennung von den „anderen Seienden“ bedeutet, daß es für uns gar keine anderen Seienden gibt; sie sind einfach inexistent. Die Annahme, sie würden existieren, ist ebenso willkürlich wie die gegenteilige.

Zum Verdeutlichen müßten wir uns als blind und taub vorstellen; dann kommen keine anderen Seienden vor.

 

Wir können, mit anderen Worten, sinnvoll über die Elemente einer Menge sprechen, sofern wir ihr nicht angehören, sondern sie von außen sehen.

Sind wir jedoch selbst eines dieser Elemente, so werden wir zum Solipsisten, denn die Frage, ob noch andere Seiende existieren, ist ebenso unentscheidbar wie belanglos: Wir sind ganz allein, denn zwischen Trennung und Inexistenz besteht praktisch kein Unterschied.

 

Die Tradition verwickelt sich also in einen Widerspruch, weil sie davon ausgehen muß, daß wir Subjekte

– sowohl den Seienden angehören

– als auch sie von außen sehen können.

Das ist natürlich unmöglich; wir egreifen auch nicht für eine der beiden Alternativen Partei, sondern lehnen das Gesamtkonzept der Seienden ab.

 

AD: „Hier bin ich; dort ist die Sonne; hübsch getrennt voneinander. Weshalb sollte ich sie nicht sehen können?“

Ihr räumlicher Abstand bedeutet nicht, daß Sie hübsch getrennt sind von der Sonne, denn er entsteht erst dadurch, daß Sie die Sonne sehen, folglich mit ihr wechselwirken müssen und damit nicht getrennt von ihr sein können. 

 

AD: „Einverstanden; der räumliche Abstand hat nichts mit der Trennung zu tun.

Sie hacken so auf ihr herum; aber für das traditionelle Denken besteht in diesem Zusammenhang doch überhaupt kein Problem:

Erde und Sonne sind Seiende, obwohl sie durch die Gravitationskraft aufeinander wirken.“

Nein; das tun sich nicht!

 

Die Tradition geht diesbezüglich notwendigerweise von drei sauber getrennten Seienden aus; Erde, Sonne sowie Gravitationskraft.

Würde letztere tatsächlich wirken und die „Erde“ mit der „Sonne“ verbinden, hätte dies nämlich zwei Konsequenzen, die das gesamte traditionelle Konzept ins Wanken brächten:

Zum einen wäre die Gravitationskraft als Verbindung von „Erde“ und „Sonne“ kein Seiendes, sondern eine Relation, die nicht in die objektive Realität paßt.

Zum anderen gäbe es weder die Erde noch die Sonne, sondern nur deren Einheit. Wo soll das eine beginnen und das andere enden? Denken Sie zum Verdeutlichen beispielsweise an Siamesische Zwillinge.

Wenn eine Wechselwirkung tatsächlich „zwei Seiende verbindet“, dann haben wir nicht mehr zwei oder drei Seiende, sondern nur noch ein einziges Seiendes.

 

Krass formuliert bedeutet dies, daß – wenn wir die Idee der Seienden ernstnehmen – immer nur ein einziges Exemplar von ihnen existieren kann:

Wechselwirkende Seiende sind widersprüchlich und damit vollkommen ausgeschlossen.

Wechselwirkungsfreie Seiende sind notwendigerweise allein.

2.8.4. Von der statischen Seins- zur dynamischen Jetzt-Pyramide

AD: „Ich bin jetzt zu Hause und weiß recht genau, was ich tun müßte, um zum Beispiel den Eiffelturm zu sehen oder besser: um eine Eiffelturm-Sehung zu arrangieren.

Aber es gibt kein Außerhalb des Bewußtseins, und dann erst recht den traditionellen Eiffelturm nicht mehr, der sich ja sowohl darin als auch im Raum befindet. Wie erklären Sie sich dann, daß ich mein Vorhaben im allgemeinen trotzdem realisieren kann?“

 

Ganz einfach; mittels Ihrer Denkwerkzeuge.

Diese sind wie die traditionellen Seienden identisch, das heißt, sie bleiben während Ihrer gesamten Reise – immer und überall – die gleichen; A = A.

Das heißt, Sie können sich auf die Denkwerkzeuge ebenso verlassen, wie die Traditionalisten auf ihre Seienden.

Nein; das war falsch:

Die angeblichen Seienden sind auch nur Begriffe, die fälschlicherweise als konstant oder unveranderlich mißverstanden werden und somit kurzsichtig als ewig, das heißt, für eine unendliche Dauer gültig erachtet werden.

 

Natürlich brauchen Sie laufend andere Denkwerkzeuge; hier müssen Sie umsteigen, dort übernachten, erst ein Taxi bestellen, dann das Ziel dolmetschen usw.

Außerdem werden die Denkwerkzeuge verschieden lang benötigt; das Ticket nur für die Fahrt, das Hotel einen Tag, das Reiseziel bis zur Ankunft, und Ihre Heimatadresse für den gesamten Ausflug.

Die Denkwerkzeuge ordnen sich also zeitlich sowohl durch ein Nach- als auch durch ein Ineinander.

 

Uns wurde gelehrt, die Zeit bestände in einer Folge von Punkten; aber wenn es tatsächlich so wäre, würden wir nie den Eiffelturm sehen. Das Nach- und Ineinander der Denkwerkzeuge spiegelt sich in der Struktur der Zeit, wie wir uns leicht an Beispielen veranschaulichen können:

Jetzt

– führe ich die Tasse zum Mund und

– denke über ein Problem nach,

– frühstücke ich,

– scheint die Sonne,

– ist Frühling und

– Krieg in der Ukraine,

– bin ich Pensionär,

– leben wir in einer ökologischen Krise und

– im 21. Jahrhundert

– nach Jesus.

 

Heinrich Rombach brachte den entscheidenden Gedanken viel schöner zum Ausdruck:

„Mein Jetzt kann in jedem Augenblick ein mehrfaches, und höchst unterschiedliches, sein. Mein Jetzt ist beispielsweise ein Butterbrot, im selben Augenblick jedoch die geschichtliche Stunde meines Vaterlands; eine Kriegserklärung wird ausgestrahlt; mein Jetzt sind die nächsten Tage der Mobilmachung, oder schlicht und einfach der Krieg; dieses Jetzt kann sechs Jahre dauern, es löscht die anderen Jetzte in gewisser Weise aus (der Bissen bleibt mir im Hals stecken) . . .

Die Zeit als Ablauf konstituiert sich durch ihre Mehrdimensionalität, bzw. dadurch, daß das Wechseln von Jetzten im Hinblick auf umfassendere Jetzte als ein Nacheinander erlebt werden kann. Das Nacheinander der Zeit gründet also im Ineinander der Jetzte.“

 

Wir befinden uns jetzt in Saarbrücken und haben die entsprechenden Bahnhofs-Wahrnehmungen. Das Früher besteht in Frankfurt-Erinnerungen und das Später in Paris-Erwartungen; beide sind Vorstellungen. 

Zusammengehalten wird dieses Tripel der Tempi durch das übergreifende Jetzt der Zugfahrt. Das ist im allgemeinen nicht bewußt oder stellt keine Wissung dar und gehört somit dem Unbewußten an.

Die Zugfahrt ist ein Denkwerkzeug, das

– bereits benötigt wird, um das Tripel von Früher, Jetzt und Später zu ermöglichen, aber

– selbst noch unbewußt bleibt.

 

In dieser Form geschieht der Übergang vom Unbewußten zum Bewußten meines Erachtens sehr häufig:

(0) jetzt und unbewußt sowie noch unnötig

(1) jetzt und unbewußt, aber bereits erforderlich für das bewußte Tripel – Aktanten

(2) früher, jetzt bzw. später und bewußt – Wissungen

 

Das ist leicht verständlich, denn wir können es uns gut veranschaulichen.

Wie auch beim traditionellen Denken gehört die gesamte Immanenz dem Jetzt an.

Aber anders als dort bildet dieses Jetzt für uns keinen Zeitpunkt, der auf einem t-Strahl nach rechts wandert, sondern eine Pyramide.

Sie wandert auch nicht, aber ihr Maximum ist laufend ein anderes; es entspricht unserem Punkt (1), dem noch unbewußten, jedoch bereits notwendigen Jetzt. Im Anschluß an Bruno Latour nennen wir diese Denkwerkzeuge „Aktanten“.

Das sind keine Wissungen, aber sie sind erforderlich, um unseren Wissungen einen Zusammenhang zu verleihen oder sie zu einer Geschichte zu verbinden. Und da die Aktanten nicht dem Bewußtsein angehören, entsteht leicht die Ahnung, sie befänden sich im Außerhalb desselben.

In gewisser Weise stimmt das ja auch; aber es ist nicht das traditionelle Außerhalb der Seienden, sondern das unbewußte Außerhalb der impliziten Denkwerkzeuge.        

 

Das Maximum (0) der Jetzt-Pyramide wird also von den Aktanten gebildet, die sich im zeitlichen Nacheinander andern; nach der Zugfahrt beispielsweise kommt der Parisaufenthalt.

Sie halten die Tempi der Ebene (1) – Erinnerungen als Früher, Wahrnehmungen als Jetzt und Erwartungen als Später – zu einer relativ „großen“ Narration zusammen.

Dieses Jetzt könnten wir natürlich wiederum aufsplitten, indem die Wahrnehmungen in Aktanten übergehen und damit die „kleineren“ Narrationen – Erinnerungen als Früher, Wahrnehmungen als Jetzt und Erwartungen als Später – von Ebene (2) ermöglichen.

 

Diese dynamisch-veranderliche Jetzt-Pyramide tritt an die Stelle der statisch-unveranderlichen Seins-Pyramide der Tradition.

An der Spitze von dieser steht im allgemeinen Gott; bei der Jetzt-Pyramide tritt an seine Stelle das, was wir jetzt intendieren oder wollen. Auch hierin kommt unser Übergang vom objektiven Sein zum subjektiven Leben meines Erachtens sehr schön zum Ausdruck.

 

Ich hoffe, Ihnen damit gezeigt zu haben, daß Sie tatsächlich allein mittels der Denkwerkzeuge Ihre Eiffelturm-Sehungen ermöglichen.

Wäre dem nicht so, würde auch das traditionelle Denken keine Hilfe bieten, denn dessen Seiende sind lediglich mißverstandene Denkwerkzeuge.

 

Und was das Fahren anbetrifft:

Das erfolgt im Raum, den es ohne das Sehen gar nicht gibt. 

Ein Blinder kann seine Denkwerkzeuge – wenn auch viel beschwerlicher und unsicherer – benutzen wie Sie, und wenn er das macht, sehen wir seinen Körper vielleicht in Paris wieder. Aber er kann nur in dem Maße hingefahren sein, wie er sich auch ohne Sehen – vor allem durch Tasten und Gespräche – in seinem Bewußtsein behelfsmäßig einen Raum aufgebaut hat.

Ohne Raum kann er nicht nach Paris gefahren sein; auch wenn wir seinen Körper dort sehen.

Deshalb könnte ich mir auch vorstellen, daß wir anders als bisher über Vogelflug und Lachswanderung nachdenken sollten. Vielleicht wird dann verständlicher, daß der Storch nach einem Flug über Tausende von Kilometern sein Nest wiederfindet und der Lachs die Bären.

2.9. Das Handeln der Subjekte

AD: „Ich kann nicht widersprechen, weil mir in Ihrer Argumentation kein Fehler aufgefallen ist; aber es überrascht schon etwas, daß Denk-Werkzeuge für Eiffelturm-Sehungen genügen sollen. Natürlich müssen wir auch denken, zum Beispiel um das Ticket zu erhalten; dann aber doch auch fahren – und das eventuell ganz ohne Denken.“

Dieser Einwand mußte kommen; letztlich läuft er auf die Frage hinaus: Was tun Subjekte? Worin besteht ihr Handeln?

 

Traditionell stellt sich diese Frage gar nicht; Moritz läuft selbstverständlich, arbeitet, schläft, nimmt wahr oder denkt nach.

Aber postmodern wäre eine solche Antwort aus mindestens zwei Gründen falsch:

 

Zum einen ist der traditionelle Moritz für uns kein Subjekt, sondern ein Objekt.

Diesen Begriff habe ich bisher nicht benutzt und soeben neu eingeführt. Wir verstehen unter den Objekten das Pendant zu den Subjekten, das heißt, alle Nicht-Subjekte in unserem Bewußtsein oder Leben, von denen wir bisher die Wissungen – als Wahrnehmungen oder Vorstellungen – sowie die Aktanten und Begriffe kennengelernt haben.

(Die Vorstellungen unterschlage ich der Einfachheit halber im vorliegenen Kapitel, weil sie unsere Überlegungen nur verkomlizieren, ihr  Ergebnis aber nicht beeinflussen würden.)

 

Zum anderen gibt es Laufen, Arbeiten, Schlafen, Wahrnehmen, Nachdenken usw. Das sind Tätigkeiten, die wir grammatisch zwar durch Verben wiedergeben, obwohl sie philosophisch – als Nicht-Subjekte – ebenfalls zu den Objekten gehören.

Die Tätigkeiten sind natürlich als Wissungen und Begriffe möglich, können aber auch als Aktanten dienen. „Beim Arbeiten heute habe ich die verschiedensten Dinge machen müssen.“ 

 

Unsere korrigierte Antwort könnte etwa folgendermaßen aussehen:

Die Tätigkeiten benötigen einen konstanten Träger, der sie überdauert oder bündelt; das ist die Funktion von Moritz. Er dient als Aktant, aber kann natürlich ebenfalls zu einer Wahrnehmung werden. 

SowohI die Tätigkeiten als auch ihr Träger existieren jedoch nur als die Objekte innerhalb des Bewußtseins oder Lebens von einem Subjekt.

Traditionell würden wir sagen, daß letzteres Moritz bei seinem Handeln zuschaut; aber das wäre schon wieder ein Rückfall in das Abbilden. Dieses Subjekt kopiert nichts, sondern kreiert Objekte; den handelnden Moritz gibt es nur auf diesem Wege.

 

Zusammengefaßt:

Die Lauf-, Arbeits-, Schlaf-, Wahrnehmungs- oder Nachdenkungs-Wahrnehmungen

– haben den Aktanten namens „Moritz“ als ihren Träger und

– sind die Wahrnehmungen durch ein beliebiges Subjekt.   

Moritz ist kein Subjekt, so daß sich die Frage, ob er sich – etwa im Spiegel – auch selbst wahrnehmen kann, gar nicht stellt.

 

Das wirkt sehr kompliziert, und die sprachliche Formulierung unserer Sichtweise klingt auch nicht unbedingt verführerisch. Ich versuche deshalb, das Ganze ein wenig zu systematisieren und übernehme dabei die Funktion des „beliebigen Subjekts“ in der ersten Person Singular.

Ich habe Wahrnehmungen; zum Beispiel, daß Moritz läuft.

Meine Wahrnehmungen kommen vor der Unterscheidung in Tradition und Postmoderne – deswegen haben wir die alte Bezeichnung „Wahrnehmungen“ ja beibehalten –, werden aber von beiden unterschiedlich interpretiert.

 

Für die Tradition ist die Wahrnehmung namens „Moritz“ angeblich eine Abbildung des Subjekts namens „Moritz“, und die Wahrnehmung „läuft“ bildet das wirkliche „läuft“ ab.

Dann ist es die normalste Sache der Welt, daß Moritz läuft, arbeitet, schläft, wahrnimmt oder nachdenkt; ich kann das doch alles selbst beobachten.

Die Wahrnehmungen im Bewußtsein bilden diesem Denken zufolge lediglich wirkliche Kopien der Vorgänge in der objektiven Realität. Das ist wie bei einem Fußballspiel, das ich nicht im Stadion, sondern vor dem Fernsehapparat verfolge. Es handelt sich um eine eineindeutige Abbildung des Originals, bei der lediglich die Realität verlorengeht.

Natürlich kann der reale Moritz sich auch selbst abbilden; zwischen Spiegel und Bewußtsein besteht traditionell kein prinzipieller Unterschied, so daß wir den Fernsehapparat von soeben auch durch einen Spiegel ersetze könnten.

 

Postmodern hat das Bewußtsein mit beiden aber auch gar nichts gemein; es kopiert nicht, sondern generiert; repräsentiert nicht, sondern präsentiert; wiederholt nicht, sondern erstmaligt.

Moritz muß folglich allein mein Moritz sein in dem Sinne, daß es ihn nicht nur für, sondern auch nur durch mich gibt. Ich muß mit ihm zurechtkommen, und ob sich Moritz andert, hängt ganz allein von mir ab:

Außerhalb meines Bewußtseins oder unabhängig von mir gibt es diesen Moritz ja gar nicht.

 

AD: „Das ist nicht Ihr Ernst?“

Doch!

AD: „Wen haben Sie dann eigentlich geheiratet, wenn Ihre Frau nicht existiert?“

Okay; ich gebe – ein ganz klein wenig – nach:

Ich habe mich in den letzten Absätzen bewußt mißverständlich ausgedrückt, um Sie erst einmal

– von den traditionellen Selbstverständlichkeiten weg- und

– zu dem soeben erkannten Widerspruch hinzuführen.

Die nun folgende Korrektur scheint mir gegenwärtig eine endgültige zu sein; es folgt also nicht bald die nächste!

 

Ich bin kein Solipsist; es gibt meines Erachtens also noch andere Subjekte, von denen ich aber prinzipiell nichts wissen kann, weil sie in meinem Leben oder Bewußtsein nicht als Subjekte in Erscheinung treten – auch meine Frau nicht.

Die anderen Subjekte erscheinen in meinem Leben oder Bewußtsein als Objekte, wobei

keinerlei Zuordnung zwischen ihnen und den Subjekten besteht, so daß

sämtliche Rückschlüsse von den Objekten auf die Subjekte ausgeschlossen sind und

– sich die Objekte vollständig aus meinem eigenen Totalbild ergeben.

 

Nun lesen sich die obigen Zeilen hoffentlich weniger anstößig:

„Moritz muß also mein Moritz sein in dem Sinne, daß es ihn nicht nur für, sondern auch nur durch mich gibt. Ich muß mit ihm zurechtkommen, und ob sich Moritz andert, hängt ganz allein von mir ab:

Außerhalb meines Bewußtseins oder unabhängig von mir gibt es diesen Moritz ja gar nicht.“

 

Das Objekt namens „Moritz“ gibt es tatsächlich nur durch und für mich.

Von den Subjekten wissen wir gar nichts und gehen deswegen von einer Gesamtheit aus, ohne auch nur vorauszuetzen, daß wir sie in einzelne Subjekte zerlegen können. Ihr steht die Menge meiner Objekte gegenüber, die als Wirkung meines Totalbilds aus den Subjekten hervorgeht.

Wir ersetzen also die traditionelle eineindeutige Zuordnung zwischen einem Subjekt und seinem Körper durch eine solche zwischen der Gesamtheit der Subjekte auf der einen Seite und der Menge meiner Objekte auf der anderen; eindeutiger geht es nicht. 

Das ermöglicht uns ein sehr übersichtliches und hilfreiches Bild:

Links befindet sich die Gesamtheit der Subjekte; ein Pfeil nach rechts symbolisiert mein Totalbild und führt zur Menge der Objekte. 

 

Die traditionelle Vorstellung, daß hinter dem Menschen-Körper ein Subjekt steht, aber hinter dem Stein(-Körper) nicht, müssen wir überwinden, denn sie entstammt der Abbild-Theorie. Damit entfällt auch die unsinnige Schein-Frage nach der zugehörigen Grenze; sind Hunde Subjekte oder vielleicht sogar (manche) Bäume?

Wir hatten gesagt, philosophische Fragen könnten nicht definitiv beantwortet werden. Das bedeutet aber keineswegs, daß sie zu Ratespielen oder Bekenntnissen führen dürfen oder gar müssen. Ist dies der Fall, dann handelt es sich ebenfalls nicht um philosphische Fragen, sondern um Scheinprobleme, die aus Denkfehlern resultieren.

Ein Paradebeispiel hierfür stellt meines Erachtens die Frage dar, ob eine befruchtete menschliche Eizelle einem Subjekt entspricht. Natürlich nicht; kein einziges Objekt ist ein Subjekt oder auch nur ein Abbild von ihm.

 

Als Subjekt bin ich derjenige, dem sämtliche Objekte erscheinen oder gegeben sind und der sich – mehr oder weniger frei – zu ihnen verhält.  

AD: „Und worin besteht dieses Sich-Verhalten?“

Damit kehren wir zum Beginn dieses Kapitels zurück, und meine Antwort scheint mir eindeutig zu sein: Das können wir prinzipiell nicht wissen.

Weder verstehen wir, was Subjekte sind, noch worin ihr Leben besteht oder gar die Transzendenz, in der es sich abspielt. Wie sollten wir dann wissen können, was Subjekte tun?!

2.9.1. Die beiden Pole des Wissens

Meine Kritik am traditionellen Denken in diesem zweiten Teil, scheint mir persönlich glasklar und evident zu sein. Trotzdem mache ich immer wieder die Erfahrung, daß manche Zuhörer mich mit großen fragenden Augen anschauen und offensichtlich gar nicht verstehen (können), wovon ich überhaupt spreche.

AD: „Das kann ich sehr gut nachvollziehen!

Beim Pilze Sammeln sehen wir irgendwann die ersten. Aber da Sie kaum behaupten werden, daß diese gefundenen Pilze durch unser Wahrnehmen erst im Bewußtsein entstanden sind, müssen sie zwangsläufig zuvor bereits

– als Seiende

außerhalb des Bewußtseins,

nämlich im objektiv realen Wald

gestanden haben.“

 

ihre Schlußfolgerung ist in der Tat zwingend – sofern wir davon ausgehen, daß Pilze Seiende sind. Für uns bilden sie jedoch nur einen Begriff; der befindet sich zwar auch außerhalb des Bewußtseins, aber nicht im Wald, sondern im Unbewußten. Aus dem heraus wird der durch das Wahrnehmen zur Pilz-Wahrnehmung im Bewußtsein aktualisiert.

 

Es ist immer das gleiche Schema; wenn Sie das einmal verinnerlicht haben, wirkt das postmoderne Denken nicht mehr so unnatürlich, denn die „Natur“ des traditionellen Denkens ist lediglich Gewöhnung:

Die Tradition setzt Seiende (3) voraus, und damit verläuft ihr Denken zwischen Wissungen auf der einen Seite (2) und Gewußtem auf der anderen (3).

Ohne Seiende spielt sich bei uns alles innerhalb des Lebens oder Wissens ab, das somit einen subjektiven (1) und einen objektiven (2) Pol besitzt. Dem ersteren gehört das verbale Wissen an, und der objektive Pol umfaßt die zugehörigen Wissungen. 

(2) ist immer sekundär oder abhängig; traditionell vom Gewußten (3) und postmodern vom verbalen Wissen (1).

Dabei ist es völlig einerlei, ob wir von Pilzen oder Engeln sprechen:

Der Glaube an Pilze ist keinen Deut vernünftiger, rationaler oder aufgeklärter ist als der an Engel. Engel-Wahrnehmungen sind ebenso möglich wie Pilz-Wahrnehmungen, und Pilze ebenso absurd wie Engel.

 

AD:  „Das bedeutet, daß wir mit nahezu jedem grammatisch sauber formulierten Satz – ‚Ich habe Pilze gesucht‘ oder ‚Ich habe Engel erfahren‘ beispielsweise – philosophischen Unsinn sagen . . .“

Richtig; und das paßt genau zu den Gedanken Wittgensteins, die wir oben angedeutet hatten; bei ihm heißt es konkret:

„Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache.“

 

Das schönste, weil deutlichste Beispiel bildet vielleicht das Tripel: verstehen – Verstehung – Verstandenes.

Während Sie jetzt lesen, will ich bei Ihnen ganz bestimmte Verstehungen bewirken, und irgendwelche werden sich auch tatsächlich einstellen. Welche das sind, kann ich nicht wissen; und welche Verstehungen ich bei Ihnen beabsichtigt hatte, ahnen Sie nicht; es gibt kein Verstandenes, sondern jeder hat immer nur seine eigenen subjektiven Verstehungen.

Gefallen Ihnen die Ihrigen – weil sie gut in Ihr bisheriges Totalbild passen, originell sind, fruchtbar, integrierend oder weshalb auch immer –, denken Sie vielleicht, mich (richtig) verstanden zu haben. Aber das ist weder von Ihnen noch von mir feststellbar; Sie sind zufrieden; mehr bleibt hierbei nicht zu sagen.

Wenn bei Ihnen dagegen alles durcheinandergeht und Sie verärgert sind, glauben Sie vielleicht, mich nicht verstanden zu haben. Das ist natürlich möglich – es könnte aber auch sein, daß Ihre Verstehungen, obwohl sie Ihnen befremdlich vorkommen, exakt dem entsprechen, was ich Ihnen sagen wollte; Sie sollten vielleicht irritiert werden.

Ihre eventuelle Rückfrage führt bei mir wiederum nur zu meinen Verstehungen; das Erfragte kommt nicht an – weil es gar nicht existiert.

 

AD: „Damit wird einsichtig, daß auch der objektive Pol des Wissens zum eigenen Leben gehört und somit subjektiv ist; wir kommen auf keine Weise aus unserem Leben heraus. Sie können nur schreiben, was Sie denken, und ich verstehe, was ich eben verstehe; theoretisch müßte das eine mit dem anderen absolut nichts zu tun haben.“

Richtig; sowohl Ihre Verstehungen als auch die meinigen kommen zwar durch unseren Dialog zustande, aber er ist möglicherweise das Einzige, was sie gemeinsam haben.

2.9.2. Die beiden Ebenen des Handelns

Wir können prinzipiell nicht wissen, was ein Subjekt tut – nicht einmal bei uns selbst –, weil sowohl die Subjekte wie auch die Transzendenz als ihr Lebensraum total unbekannt sind.  

Bei mir selbst weiß ich jedoch immerhin, was ich tun will; meine Absichten oder Intentionen sind mir bekannt.

Das nutzen wir, um einen Schritt weiterzukommen, und unterscheiden dafür zwei Handlungs-Ebenen:

 

Die erste entspricht dem unwißbaren Handeln im engeren Sinne, und wir nennen sie „Subjekt-Ebene“.

Ihr gehört insbesondere die Freiheit an. Daß wir niemals entscheiden können, ob unser Tun ein freiheitliches ist oder aus irgendwelchen Zwängen resultiert, fügt sie sich gut in die allgemeine Unwissenheit der Subjekt-Ebene ein.

 

Die zweite oder Orientierungs-Ebene umfaßt unsere explizit-aktualisierten sowie implizit-potentiellen Wissungen. An ihnen richten wir unsere Ziele sowie Befürchtungen aus und gelangen zu bestimmten Intentionen, die wir – jedoch nicht auf der Orientierungs-, sondern – auf der Subjekt-Ebene zu verwirklichen suchen. 

Wie das funktioniert, das heißt, wie aus unseren Intentionen wirkliche Taten werden – oder eventuell auch nicht –, können wir wegen der unzugänglichen Subjekt-Ebene natürlich ebenfalls nicht wissen. Für einen etwaigen Mißerfolg kommen mindestens zwei Gründe infrage:

Zum einen sind uns andere Leben zwar nicht zugänglich, spielen aber in das unsrige hinein.

Und zum anderen ahnen wir nicht, wozu das Unbewußte der Orientierungs-Ebene uns auf der Subjekt-Ebene antreibt.

 

Das Bibelzitat „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ stimmt also immer, weil wir an die Subjekt-Ebene des Handelns nicht herankommen. Vielleicht ist uns sehr klar, was wir wollen, aber das eine hat mit dem anderen möglicherweise nichts zu tun.

Es geht doch keinswegs um einen simplen Vergleich zwischen unserem Wollen auf der Orientierungs- und unserem Handeln auf der Subjekt-Ebene. Das Problem besteht vielmehr darin, daß letzteres gar nicht vorkommt und folglich auch nicht mit unserem Wollen verglichen werden kann; das sicht- und dadurch vergleichbare „Handeln“ ist ein traditioneller Irrtum.   

Ich

– möchte einem Menschen helfen – Orientierungs-Ebene –,

– sehe auch, daß „ich es tue“, – traditionelle Abbild-Ebene –

– weiß aber nicht, was ich wirklich tue – Subjekt-Ebene.

 

Subjekte handeln; sowohl Objekte als auch ihr „Handeln“ sind meine Konstruktionen, und das dazu erforderliche Konstruieren gehört zu meinem Handeln.

 

AD: „Wir können also keine Handlungen wahrnehmen . . .

Aber im Spiegel sehe ich jetzt mich selbst lesen und unsere Tochter spielen.“

Wir könnten Handlungen nur wahrnehmen, wenn sie Referenten wären, und die gibt es für uns nicht (mehr).

Sie haben eine [Ich-lese]- und eine [Tochter-spielt]-Wahrnehmung; beide gebe ich sehr gerne zu. Das sind aber keine Wahrnehmungen (2) vom Handeln der Subjekte (3), sondern „Handlungen“ der Objekte (2) durch Ihr Wahrnehmen (1).

Mit anderen Worten:

Ihre Wahrnehmungen bestehen nicht, weil irgendwer handelt und Sie das – mehr oder weniger zufällig – wahrnehmen, sondern weil Ihr Wahrnehmen als das Primäre diese Wahrnehmungen hervorbringt.

 

AD: „Damit verstehe ich endlich auch, daß ich nur Zugang zum eigenen Leben besitze.

Die Wahrnehmungen sind allein meine Wahrnehmungen und bilden keine Brücke zu einem anderen Leben, mit deren Hilfe ich etwas von ihm wahrnehme. Wer das bestreitet, geht tatsächlich von einem erreichbaren anderen Leben aus und betrachtet es als Referent seiner Wahrnehmungen.

Auch meine Wechselwirkung mit fremden Leben bestreite ich nicht; aber sie spielt auf der Subjekt-Ebene und ist damit natürlich so unereichbar, wie mein eigenes Handeln, das ja lediglich eine Komponente unserer Wechselwirkung darstellt.

Ich kann stundenlang darüber sprechen, was ich alles tun will oder – im traditionellen Sinne – angeblich auch tue aber das ist nur Schall und Rauch.“

 

Ich bin das einzige Subjekt (in) meiner subjektiven Realität und damit auch der einzige Wahrnehmende.

Das bedeutet aber nicht, daß ich die subjektive Realität wahrnehme; und dies sogar aus zwei Gründen:

Zum einen geschieht alles Handeln – folglich auch mein Wahrnehmen – auf der Subjekt-Ebene, von der ich nichts wissen kann; die Annahme, die subjektive Realität wahrzunehmen, wäre also völlig aus der Luft gegriffen.

Zum anderen wäre sie nicht nur willkürlich, sondern sogar falsch, weil alles Wissen der Orientierungs-Ebene angehört und ich die subjektive Realität also nicht wahrnehme, sondern mich an ihr orientiere.

 

Hinsichtlich der Wahrnehmungen unterscheiden wir uns somit in zwei grundsätzlichen Punkten von der Tradition:

1. Deren objektive Realität wird für uns zu einer subjektiven.

2. Wir bilden die Realität nicht ab, sondern orientieren uns an ihr; deswegen besitzen die Wahrnehmungen keine Referenten.

Nun könnte man endlos darüber diskutieren, ob wir nach diesen zwei Anderungen nicht auch die Wahrnehmungen – wie die Psyche – umbenennen sollten. Ich habe mich dagegen entschieden, weil die Wahrnehmungen weiterhin die wirklichen Wissungen bleiben und den unwirklichen Vorstellungen gegenüberstehen.

Nur ihr Verständnis oder ihre Interpretation andern sich; aus den Abbildern werden Konstruktionen

 

AD: „Allmählich fügen sich die Einzelteile wie bei einem Puzzle zusammen . . .

In meinem Bewußtsein kommt also nur ein einziges Subjekt vor; das bin ich selbst – ohne zu wissen oder auch nur wissen zu können, was „ich selbst“ bedeutet.

Darüber hinaus sind mir nur Objekte im Sinne von Nicht-Subjekten gegeben.

An dieser Stelle habe ich noch ein größeres Problem, denn hier scheint mir etwas ganz Wesentliches zu fehlen. Sie vertreten zwar keinen Solipsismus, aber trotzdem ist jeglicher Kontakt mit anderen Subjekten ausgeschlossen. Lassen sich dann Liebe oder auch nur Freund- und Gemeinschaft überhaupt noch denken?

Die Idee, einige meiner Objekte als Subjekte anzuerkennen, ist offensichtlich unsinnig, weil die Subjekte als – Teil der – Wirklichkeit

– weder von meinem Wohlwollen abhängig sein

– noch sich in meinem Bewußtsein befinden können.“ 

Bei diesem Problem kann ich Ihnen wohl ein wenig helfen.

 

Fairness, die Goldene Regel oder das „Wie du mir, so ich dir“ werden häufig als ethische Prinzipien dargestellt. Ich halte das aus zwei Gründen für völlig falsch.

Zum einen gehen Geschäftsleute oder womöglich sogar Gangster so miteinander um und bewegen sich damit ausschließlich innerhalb eines im weiteren Sinne ökonomischen Rahmens. Es ist nicht moralisch, sondern clever, dem anderen das, was wir von ihm nicht möchten, auch selbst nicht anzutun; vielleicht treffen wir uns ja noch einmal.

Zum anderen – und allein das ist entscheidend – kann eine Ethik nicht symmetrisch sein, weil sie an die Subjekte als Träger der Freiheit gebunden ist und ich das einzige Subjekt in meinem Leben bin. Insbesondere Emmanuel Levinas wies immer wieder darauf hin, daß die Ethik einseitig ist, weil sie allein von mir ausgehen muß; „Ich bin der Hüter meines Bruders“ oder „Geisel für den Anderen“.

Was er – der Bruder oder Andere – tut, kann mir gewaltige Schwierigkeiten bereiten, sehr wehtun und Orientierungs-Möglichkeiten rauben. Aber das sind seine Entscheidungen, und weder kann ich sie dirigieren noch bin ich dafür verantwortlich.

 

Die Ethik besteht in meinem Umgang mit den Objekten – nicht in ihrer Anerkennung als Subjekte.

Mir sind nur Objekte gegeben, und dabei bleibt es auch; ich bestimme lediglich darüber, um welche Objekte es sich handelt und welcher Umgang mit ihnen sich daraus ergibt. Köter können zu Hunden, Unkräuter zu Heilpflanzen, Dinge zu Symbolen, Barbaren zu Menschen oder Feinde zu Gesprächspartnern werden.

Aber das sind keine bloßen Umbenennungen zum Nulltarif, sondern hat zur Folge, daß sich mein Freiheits-Spielraum auf der Orienierungs-Ebene verringert.

Es ist unmoralisch, ihn auf Teufel komm raus zu maximieren.

Aber es ist ebenso unmoralisch, unseren Freiheitsspielraum ohne vernünftige Gründe zu verkleinern.

2.10. Urbilder und Abbilder – im logischen Zirkel

Ein Kind sieht zum ersten Mal in seinem Leben den Mond. Der merkt natürlich nichts von seinem Bestaunt-Werden, so daß wir es mit einem völlig einseitigen Verhältnis zu tun haben. Das scheint sich zwar am besten durch ein Abbilden beschreiben zu lassen – geht aber nicht.

 

AD: „Wieso soll das unmöglich sein? Das Abbilden ist doch etwas ganz Alltägliches; denken wir nur an das Photographieren, Malen und Beschreiben, an Landkarten, technische Zeichnungen oder Veranschaulichungen.“

Das stimmt; Sie übersehen aber, daß wir es hier mit zwei völlig verschiedenen Formen des „Abbildens“ zu tun haben. Ihr alltägliches Abbilden(A) steht dem traditionell-philosophischen Abbilden(T) diametral gegenüber.

 

Wir stehen – traditionell gedacht – vor dem objektiv-realen Eiffelturm, bilden ihn in unserer Psyche ab und schießen ein Erinnerungsphoto, so daß sich zwei verschiedene Arten von „Abbildern“ ergeben.

Die Anführungsstriche soeben waren wichtig, denn es ist mehr als verwegen, hierbei Abbilder als gemeinssamen Oberbegriff zu benutzen: 

 

Natürlich ist ein Photo vom Eiffelturm nicht der Eiffelturm, sondern lediglich ein Abbild(A) von ihm; aber das Photo, das wir in der Hand halten oder auf dem Handy sehen,

– stellt ebenfalls ein Urbild dar und 

– ist in diesem traditionell-philosophischen Sinne so wirklich wie der Eiffelturm.

Wir sehen die beiden doch völlig analog und können vergleichen, ob das Photo gelungen ist.

 

In der Psyche befinden sich dagegen

– zwei Abbilder(T), die

– weder Urbilder noch wirklich sind und somit

– auch nicht abgebildet(A) werden können.

Notwendigerweise werden also die Urbilder abgebildet(A); das macht verständlich, daß die Tradition immer nur einheitlich vom „Abbilden“ spricht und nicht unsere zwei Arten unterscheidet.

 

 

Urbilder Eiffelturm Photo vom Eiffelturm Photo vom Photo vom . . .
  | | |
traditionell Abbilden(T) Abbilden(T) Abbilden(T)
 
Abbilder(T) Eiffelturm Photo vom Eiffelturm Photo vom Photo vom . . .
in der Psyche   — Abbilden(A)  
       
postmodern Wahrnehmung Wahrnehmung Wahrnehmung
  Eiffelturm Photo vom Eiffelturm Photo vom Photo vom . . .
im Bewußtsein   — Abbilden(A) →  

Abbildung 2.10.

 

AD: „Sie hatten oben ausgeführt, daß die Wahrnehmungen durch unser Totalbild ‚vollautomatisch‘ aus der Einheit der Subjekte hervorgehen. Meine Kamera weiß aber nichts von diesem Totalbild; wie kommt der Eiffelturm dann auf das Photo?“

Er kommt nicht auf das Photo, weil die zwei – Eiffelturm wie Photo – gar nicht existieren, sondern „nur“ Wahrnehmungen sind. Und sie sind das beide allein durch mich bzw. meine Totalbild.  

 

Beim Abbilden(A) sind uns sowohl Ur- als auch Abbild(A) gegeben; beim Photographieren können wir beispielsweise die aufgenommene Landschaft unmittelbar mit dem Bild davon vergleichen, und wir sehen – lax ausgedrückt – doppelt; das Original und sein Photo. Dem Künstler steht ein Mensch gegenüber, und er malt dessen Porträt; wir orientieren uns in der Natur mittels einer Wanderkarte.

 

Mit Ur- bzw. Abbild(T) in unserem traditionell-philosophischen Sinne haben diese Beispiele auch nicht das Geringste zu tun. Die Wanderkarte, das Photo oder Porträt stellen keine Abbilder(T) dar, und die Natur oder Landschaft bzw. der Mensch sind keine Urbilder(T).

Beim Abbilden(T) ist uns nur das Abbild(T) in der Psyche gegeben. Das Kind von soeben beispielsweise nimmt nur einen Mond wahr und sieht keineswegs doppelt.

 

Die Tradition erfindet und behauptet lediglich niemals gesehene Urbilder(T) im Außerhalb der Psyche, um mit ihrer Hilfe die Entstehung der Abbilder(T) in der Psyche sehr leicht erklären zu können.

Der Mond in der Psyche ist natürlich unbstreitbar; aber

– wir leugnen das Urbild(T) oder Seiende namens „Mond“, so daß

– der Mond in der Psyche den einzigen Mond darstellt und folglich

– auch nicht länger als Abbild(T) verstanden werden kann.

 

AD: „Wir sehen nicht doppelt; das Urbild(T) Mond ist natürlich ‚unsichtbar‘, weil es sich außerhalb der Psyche befindet; aber unsere Vernunft verlangt seine Existenz: Wir könnten keinen Mond sehen, wenn er sich nicht dort befände.“

Ihr letzter Satz ist zumindest zweideutig.

Zum einen stellt er eine Tautologie dar: Gäbe es dort keinen Mond, würden wir auch keinen sehen; dem vermag niemand zu widersprechen.

Zum anderen – und nur das können Sie zur Verteidigung der Tradition gemeint haben – läßt sich Ihr Satz auch so verstehen, daß zwei Monde unterschieden werden müssen: 

Die Mond-Sehung X in unserer Psyche wäre unmöglich, wenn sich der Ur-Mond Y nicht dort im Weltraum befände.

 

Sie erfinden einen unsichtbaren Ur-Mond Y im Außerhalb der Psyche, um Ihre Mond-Sehung X erklären zu können. Ich bezweifle jedoch sehr stark, daß es sich hierbei um eine Erklärung, das heißt, um etwas Akzeptables handelt:

1. Gegeben ist die Mond-Sehung X.

2. Deren Zustandekommen möchten Sie verstehen.

3. Dazu erfinden Sie einen unsichtbaren Ur-Mond Y.

4. Der einzige Hiinweis auf ihn, besteht in unserer Mond-Sehung X.

5. Sie interpretieren letztere als Abbildung des erfundenen Ur-Monds Y.

 

Damit leiten Sie aus der Mond-Sehung X den Ur-Mond Y – als eine mögliche Erklärung – ab und schließen zugleich aus der Existenz der Mond-Sehung X auf deren Richtigkeit – wobei vielleicht auch 1000 andere Erklärungen möglich gewesen wären.

 

Kann ein logischer Zirkel perfekter sein?

Sie erklären die Mond-Sehung X mittels des Ur-Monds Y, von dem Sie nur durch die Mond-Sehung X wissen:

Von den Urbildern wissen wir allein durch ihre Abbilder.

Die Urbilder machen uns die Abbilder verständlich.

→   Es gibt Urbilder.

 

Diese „Logik“ kannten schon die alten Germanen:

Von Donar wissen wir allein durch den Donner.

Donar macht uns den Donner verständlich.

→   Es gibt Donar.

 

Rein logisch besteht zwischen diesen beiden Zirkelschlüssen auch nicht der geringste Unterschied:

Das Wissen, das sich aus den Abbildern ergibt, macht uns die Abbilder verständlich.

Das Wissen, das sich aus dem Donner ergibt, macht uns den Donner verständlich.

Nicht nur Donar, sondern auch die Urbilder sind meiner tiefsten Überzeugung zufolge pure Erfindungen, mit denen wir uns selbst belügen, solange wir glauben, etwas erklärt zu haben.

Es handelt sich bei diesen zwei Beispielen um einen (relativ weit verbreiteten) logischen Fehlschluß, den wir rein formal folgendermaßen darstellen können:

 

Prämisse 1 p → q Regnet es, wird die Straße naß. Das Urbild macht das Abbild verständlich.
Pränisse 2 q Die Straße ist naß. Das Abbild ist verständlich.
falsche Konklusion → p Also hat es geregnet. Also existiert das Urbild.

Die erste Schlußfolgerung – „Also hat es geregnet“ – ist offensichtlich nicht zwingend, weil zum Beispiel auch Schnee geschmolzen, ein Wasserrohr geplatzt oder der Sprengwagen gefahren sein könnte. Die Prämisse lautete nicht „Wenn es regnet, aber auch  nur dann, wird die Straße naß“.  

Da die Logik nicht vom Inhalt abhängt, kann die zweite Konklusion – „Also existiert das Urbild“ – ebenfalls nicht zwingend sein. „Das Urbild und nichts anderes macht das Abbild verständlich“ – aber wir suchen nach einer anderen Erklärung, die keine Erfindungen benötigt.

Sowohl Donar als auch die Urbilder stellen Versuche dar, etwas zu erklären; sie mögen vielleicht ihre Zeit und ihr Recht gehabt haben; das muß uns nicht interessieren. Aber wenn wir ihre Schwachstellen kennen und die traditionellen Schlüsse nicht mehr intellektuell redlich nachvollziehen können, müssen wir nach etwas Konsistenterem Ausschau halten

 

AD: „Ich verstehe Ihre Überlegungen in diesem Kapitel so, als würden Sie sich der Projektions-Theorie von Ludwig Feuerbach anschließen?“ 

Natürlich; denn er wollte mit seinen Überlegungen plausibel machen, wie die Traditionell-Gläubigen auf die Idee kommen, es gäbe einen Gott, der zwar als „transzendent“ bezeichnet, aber völlig analog zur immanenten objektiven Realität vorgestellt wird.

Sie haben Feuerbach zufolge eine Vorstellung von Gott, projizieren diese aus ihrer Pyche heraus und glauben an ihre eigene Projektion. Folglich hat nicht Gott die Menschen nach seinem Bild, sondern sie haben ihn nach ihren Vorstellungen erschaffen – was diejenigen Gläubigen, die so denken, natürlich massiv bestreiten und völlig anders sehen.

 

Ich kann Feuerbach natürlich nur beipflichten; er hat meines Erachtens völlig Recht.

Da es ihm jedoch im wesentlichen um seine Religionskritik ging, war er allein auf Gott fixiert, obwohl seine logisch saubere Argumentation auch nicht das Geringste mit Gott zu tun hat und deswegen wortwörtlich auf die gesamte objektive Realität übertragen werden kann.

Wieso ist Gott eine Projektion, aber die Materie nicht?

Mir geht es nicht um eine Kritik der Religion, sondern um eine solche des philosophischen Aberglaubens.

Deswegen schließe ich mich Feuerbach nicht nur an, sondern erweitere seine Kritik an Gott auf eine solche aller Seienden, das heißt, der gesamten objektiven Realität. Er hat Recht, hätte aber weitermachen müssen.

2.11. Es gibt kein Abbilden

Der Naive Realismus geht davon aus, unsere Wahrnehmungen mittels der entsprechenden Urbilder vernünftig erklären zu können. Wir bestreiten das wegen des logischen Zirkels, der in dieser „Erklärung“ notwendigerweise enthalten ist.

Um einen Schritt weiterzukommen und unsere eigene Position besser zu verstehen, lassen wir uns aber nochmals auf das angebliche Abbilden ein. Dann bestehen hinsichtlich unserer Wahrnehmungen theoretisch zwei Möglichkeiten; sie könnten selbst die Urbilder oder bereits deren Abbilder sein. 

 

Wenn uns die Urbilder selbst in Form der Wahrnehmungen gegeben sind, benötigen wir weder ein Abbilden noch Abbilder; beide sind völlig überflüssig.

Bestehen die Wahrnehmungen dagegen in den Abbildern, liegt das Abbilden bereits hinter ihnen. Weder wissen wir etwas davon noch haben wir abgebildet, denn die Wahrnehmungen sind diesbezüglich das Erste, das uns begegnet.

Bei beiden Denk-Möglichkeiten – Wahrnehmungen sind Ur- bzw. Abbilder – gibt es also kein Abbilden. Das eine Mal entfällt es gemeinsam mit den Ab- und das andere Mal gemeinsam mit den Urbildern. Das paßt genau; eine Bild-Sorte fehlt immer, denn wir sehen nie doppelt.

 

Üblicherweise wird argumentiert:

Weil der Naive Realismus das Abbilden erforderlich macht – denken Sie an unser Baby, das erstamls den Mond sieht –, muß es irgendwie vonstatten gehen.

Wir kehren die Logik um:

Weil das Abbilden niemals vorkommt, muß der Naive Realismus, der es unbedingt benötigt, falsch sein.

 

Die Tradition erfindet Urbilder, um die Wahrnehmungen zu erklären, steht damit vor dem Problem, wie wir sie erkennen können und löst es (in der Moderne) durch Abbilden:

Indem

– erfundene Urbilder der objektiven Realität

– angeblich in der Psyche abgebildet werden,

– gelangen wir zu den Wahrnehmungen

und sind damit wieder bei dem, was uns von Anbeginn gegeben war – den Wahrnehmungen.

 

Natürlich wurde damit etwas erreicht, denn nun wissen wir, wie unsere Wahrnehmungen zustande kommen – freilich um einen hohen Preis:

– Die Seienden oder Urbilder sind reine oder willkürliche Erfindungen.

– Auch ihr Abbilden wird immer nur behauptet und kommt niemals vor.

– Wir sehen nicht doppelt, um die Ab- mit den Urbildern vergleihen zu können. 

 

Diese „Erklärung“ ist philosophischer Nonsens, der an Unlogik kaum zu überbieten ist:

Es gibt keine Seienden oder Urbilder, das heißt, . . .

. . . keinen Regenbogen, ohne daß wir ihn sehen.

. . . keine Festigkeit, ohne daß wir sie fühlen.

. . . keine Anzahl, ohne daß wir sie zählen oder berechnen.

. . . keine Materie, ohne daß wir sie messen.

. . . keine Seele, ohne daß wir sie fühlen.

. . . keinen Geist, ohne daß wir ihn erfahren.

 

AD: „Daß es das Abbilden gar nicht geben soll, will ich immer noch nicht glauben. Ihre Argumentation war stark, und ich finde keinen Fehler darin – aber:

Wir kennen doch alle aus unserer Schulzeit noch die physikalische Theorie des Sehens, derzufolge beispielsweise der Baum am Straßenrand als Urbild dienen kann. Die Lichtstrahlen, die er reflektiert, werden von unseren Pupillen, die als Sammellinsen fungieren, fokussiert, so daß auf der Netzhaut der Augen ein kopfstehendes, verkleinertes Abbild des urbildlichen Baumes entsteht. Das Funktionieren unserer Brillen, Lupen und Fernrohre beweist doch hinreichend, daß wir es hier tatsächlich mit einem – zumindest nicht völlig falsch beschriebenen – Abbilden zu tun haben.

Die Netzhaut mit ihren Stäbchen und Zäpfchen wirkt auf den Sehnerv, und dieser feuert mit einer Frequenz, die bei Erhöhung der Erregung ansteigt. Die dabei gesandten Signale sind jedoch völlig neutral im Sinne von sinnesunspezifisch; beispielsweise benutzt der Sehnerv exakt den gleichen Code wie der Hörnerv.

Wir verstehen noch nicht, wieso ein und dieselben Impulse einmal zu Bildern und ein andermal zu Tönen – oder auch Gerüchen, Gefühlen oder Geschmacksvarianten – werden. Hier besteht zwar eine von den meisten Autoren anerkannte ‚Erklärungslücke‘, die aber meines Erachtens den physikalischen Teil unseres Abbildens überhaupt nicht berührt.“

 

Ich komprimiere Ihren Einwand auf eine Kurzform, mit der wir besser arbeiten können:

Die physikalische Theorie des Sehens beschreibt sehr gut, wie der Ur-Baum vom Straßenrand auf der Netzhaut abgebildet wird. Den Ur-Baum sehen wir alle, und sein Abbild nimmt der Optiker wahr, der uns in die Augen schaut.

Das war wohl Ihre Intention. Dabei übersehen Sie jedoch, daß wir unseren obigen Überlegungen zufolge zwei Formen des „Abbildens“ unterscheiden müssen; das traditionell-philosophische und das alltägliche. Was Sie gesagt bzw. im Physikunterricht gelernt haben,

– war völlig in Ordnung,

– bezieht sich aber nur auf das alltägliche Abbilden(A) und

– hat demzufolge mit dem traditionell-philosophischen Abbilden(T) nichts zu tun.

 

Ich korrigiere in diesem Sinne:

Die physikalische Theorie des Sehens beschreibt sehr gut, wie die Sehung Baum vom Straßenrand auf die Netzhaut abgebildet(A) wird. Die Sehung Baum haben wir alle, und ihr Abbild(A) – eine weitere Sehung – nimmt der Optiker wahr, der uns in die Augen schaut.

(Straßenrand, Netzhaut, Optiker und Augen sind natürlich ebenfalls Sehungen; sie stehen bei diesem Beispiel lediglich nicht im Zentrum.)

 

Damit sollte deutlich werden, daß die physikalische Theorie des Sehens das philosophische Abbild-Scheinproblem nicht nur weder löst noch beseitigt, sondern auch nicht im entferntesten tangiert. Von Urbildern(T) und deren Abbilden(T) ist in der Physik gar nicht die Rede; sie kennt lediglich – zwei Arten von – Sehungen, den Baum am Straßenrand – der traditionll gedacht also bereits ein Abbild(T) wäre –  und dessen Abbild(A) auf der Netzhaut.

Der Baum am Straßenrand ist kein Ur-Baum, sondern ebenso wie das Netzhaut-Bild(A) bereits eine Sehung – denn andernfalls wüßten wir nichts von ihm.

 

Genau dadurch, daß Ihre Beschreibung eine rein physikalische ist und mit unserem philosophischen Abbild-Scheinproblem nichts zu tun hat, wird sie nicht nur sinnvoll und verständlich, sondern kann sogar zum Bau optischer Geräte genutzt werden.

Hier wird nicht erklärt, wie Sehungen zustandekommen, indem angebliche Urbilder(T) zu Sehungen abgebildet(T) werden. Vielmehr zeigt diese Theorie, wie sich – bereits bestehende – Sehungen durch den Raum vom Straßenrand in die Augenhöhle abbilden(A) und damit in andere Sehungen umformen lassen.

Das kann die Physik sehr gut erklären – weil es aber auch gar nichts mit Philosophie zu tun hat.

 

AD: „Jein; es stimmt doch sehr vieles von dem, was die physikalische Theorie zum Sehen sagt. Schließen wir beispielsweise die Augen oder unterbricht ein Hindernis unseren Sehstrahl, so sehen wir nichts (mehr); müßten wir daraus nicht folgern, daß diese Theorie das Sehen einigermaßen richtig darstellt?“

Nein; in keiner Weise!

Wenn eine „Theorie des Sehens“ adäquat beschreibt, unter welchen Bedingungen letzteres nicht gelingt, ist sie noch lange keine Theorie des Sehens, sondern lediglich eine seiner notwendigen Voraussetzungen. Sie beziehen sich auf das Nervensystem, die Augen, den Sehstrahl, die Beleuchtung und noch vieles mehr.

Sind nicht alle notwendigen Voraussetzungen erfüllt – und allein von ihnen spricht diese Seh-Voraussetzungs-Theorie –, sehen wir nichts; das ist die Bedeutung von „notwendig“.

Wir sehen natürlich nicht, wenn unsere Augen geschlossen sind; aber daraus folgt doch absolut nicht, daß wir sehen, weil sie offen sind. Eine Puppe mit geöffneten Augen ist auch blind.

Offene Augen sind für das Sehen notwendig; aber das Hinreichende besteht nicht in ihnen, sondern in unserem Leben.

 

AD: „Aber es gibt doch sogar Abbildungsfehler, die uns die Physik wunderbar erklären kann.

Wir sehen beispielsweise das Urbild gerader Stab, wenn es schräg ins Wasser taucht, als gebrochen; unsere Sehung ist dann ein falsches Abbild, über das die Optik uns aufklärt.“

Nein; der gerade Stab ist kein Urbild, sondern bereits eine Sehung – wie der obige Baum am Straßenrand. Wir sehen ihn doch auch, bevor er in das Wasser eintaucht; also muß er sich da bereits in unserer Psyche befinden.

Der „Widerspruch“ – gebrochener contra gerader Stab – besteht also zwischen zwei Sehungen – Stab im Wasser bzw. nicht im Wasser – und stellt somit wieder ein rein physikalisches Problem dar, das mit unseren Überlegungen aber auch gar nichts zu tun hat; das ist kein Abbildungs(T)-, sondern ein bloßer Abbildungs(A)-„Fehler“.

Urbilder befinden sich nicht außerhalb des Wassers, sondern (angeblich) außerhalb der Psyche; deswegen sind sie unerreichbar – und damit auch verzichtbar.

2.12. Die objektive Realität als Hinterwelt

Die objektive Realität bildet eine Hinterwelt, weil traditionell Denkende mit ihr etwas zu wissen behaupten, was prinzipiell niemand wissen kann – weil es außerhalb der Psyche liegt – und sich damit in einen Widerspruch verwickeln.

AD: „Daß Sie die Psyche in Bewußtsein umbenannt haben, ist letztlich belanglos. Bei uns befinden sich außerhalb von ihm zumindest das Unbewuße und die Einheit der Subjekte. Wieso soll das dann keine Hinterwelt sein?“

 

Das ist ein Riesenunterschied:

Die objektive Realität soll uns außerhalb der Psyche vorgegeben sein, in dem Sinne. daß sie vollkommen unabhängig von uns ist. Das „traditionelle Wunder“ besteht darin, sie trotzdem zu wissen.

Das Unbewußte sowie die Einheit der Subjekte sind jedoch nicht unabhängig von uns, sondern werden vom Totalbild als notwendige Voraussetzungen gefordert. Wir widersprechen uns also nicht, sondern schlagen ein postmodernes Denken vor, das nur dann möglich ist, wenn sich bestimmte angebbare Entitäten außerhalb unseres Bewußtseins befinden.

Wir erkennen sie nicht, sondern postulieren diese Entitäten und wissen damit von ihnen natürlich auch nur diejenigen Eigenschaften, die sie aufgrund unseres Totalbilds haben „müssen“. 

Aber Ihre Frage war konstruktiv; uns wurde noch einmal deutlich, daß wir das Außerhalb des Bewußtseins nicht pauschal zur Hinterwelt erklären dürfen. 

 

AD: „Die Vertreter der Postmoderne setzen sich überall für Toleranz, Vielfalt, Harmonie, Pluralismus, Gesprächsbereitschaft und dergleichen ein. Das geht soweit, daß ihnen von traditionell-konservativer Seite ein ‚Abschied von der Wahrheit‘ oder eine ‚Diktatur des Relativismus‘ vorgeworfen werden.

Da überrascht mich Ihre Überschrift trotz der Klärung soeben doch ein bißchen: Wenn Sie die objektive Realität als Hinterwelt betrachten, bedeutet dies doch, daß der postmoderne Spaß spätestens hier endet. Wer daran glaubt, darf nicht länger mitspielen.“  

 

Nein; das wäre ein völliges Mißverständnis:

Die Toleranz der Postmoderne allen – (natürlich) menschlichen, freiheitlichen, demokratischen, friedlichen . . . – Weltbildern oder Religionen gegenüber, ist nur möglich, wenn wir auf sämtliche – Behauptungen von – Hinterwelten verzichten. Was Sie als leidige Grenze der postmodernen Offenheit geschildert haben, bildet also in Wirklichkeit ihre notwendige Voraussetzung und ermöglicht erst die Freiheit als Verantwortung, die nach meinem Dafürhalten im Zentrum der Postmoderne steht.

Meine Begründung erweist sich als denkbar einfach:

Wenn es eine objektive Realität gäbe, müßten wir unsere Totalbilder als Bilder von dieser einen wirklichen Realität verstehen und würden letzterer mit unseren Vorstellungen mehr oder weniger nahekommen. Dann existierte vielleicht sogar ein richtiges bzw. adäquates Totalbild, und wer sich in dessen Besitz wähnt, wird kaum sonderlich tolerant sein und die ihm vielleicht unverständliche Selbstbestimmung seiner Mitmenschen achten (können). Die Andersgläubigen müssen ja entweder naiv bzw. dumm oder böse sein.

 

Das Fehlen einer objektiven Realität beendet also nicht den postmodernen Spaß, um Ihre Formulierung aufzugreifen, sondern ermöglicht ihn erst.

Er endet dort, wo irgendwelche Menschen der postmodernen Offenheit widersprechen und hinterwäldlerisch beanspruchen, über wahres Wissen von einer angeblichen objektiven Realität zu verfügen, dem sich alle anderen unterzuordnen haben.

Beweist die Geschichte nicht hinreichend deutlich, daß ein solcher angemaßter Wahrheitsbesitz immer wieder die schlimmsten Verbrechen – in der Politik, Wirtschaft, Religion, im Alltag oder wo auch immer – „rechtfertigt“?

Wir können und sollen die „Wirklichkeit“ verbessern; aber hierzu müssen wir sie nicht durchschauen, sondern einfach dort, wo wir sind, das heißt, im eigenen Leben damit beginnen.

 

Die objektive Realität bildet eine Hinterwelt, und das völlig unabhängig von ihrer konkreten Gestaltung.

In Antike und Mittelalter bestand sie in der Einheit von Immanenz und Transzendenz.

Während der Moderne setzte sich immer stärker der Gedanke durch, daß letztere eine bloße Hinterwelt sei und wir uns auf die naturwissenschaftliche Seite der Immanenz konzentrieren sollten, die (dadurch) immer mehr zum physikalischen Kosmos degenerierte.

Das nannte sich wohl „Aufklärung“, brachte aber sehr viel Polemik ins Spiel. Der mittelalterliche Absolutheitsanspruch der Religion wurde – zu Recht – beseitigt, aber – zu Unrecht – durch den der exakten Wissenschaften ersetzt.

 

In der Postmoderne entsteht möglicherweise wieder eine fruchtbare Balance, weil nun die gesamte objektive Realität als Hinterwelt durchschaut wird; die diesseitige ebenso wie die jenseitige.

Ich erhoffe mir hiervon eine wirkliche Aufklärung, das heißt, eine Aufklärung über die „Aufklärung“, die durch die Einsicht, daß wir uns keinerlei – weder religiöser noch wissenschaftlicher – Fremdbestimmung zu unterwerfen haben, zur eigenen Selbstbestimmung befreit.

 

Hinterwäldlerisch sind also niemals die jeweiligen konkreten Vorstellungen oder Überzeugungen, sondern hinterwäldlerisch ist allein die Annahme, von einer objektiven Realität zu wissen. Wer deren Materie im Auge hat, ist folglich keinen Deut aufgeklärter als derjenige, der vom objektiv-realen Teufel spricht.

AD: „Ich darf also an nichts mit Sicherheit glauben oder von keiner Entität fest überzeugt sein, denn ich würde auf diese Weise hinterwäldlerisch und mich damit von jedem vernünftigen Diskurs verabschieden?“

Nein; das wäre ja furchtbar, würde ich dergleichen – Absurditäten – behaupten!

Ob wir etwas und gegebenenfalls was wir subjektiv mit 100%-iger Sicherheit glauben, spielt überhaupt keine Rolle. Wir könnten uns beispielsweise todsicher sein, daß es sowohl Materie als auch eine Evolution gibt oder Gott mit seinem Hofstaat von Engeln und der Teufel nebst Unterteufeln existieren. Es wird kaum etwas Widerspruchsfreies geben, das wir nicht für selbstverständlich halten dürften.

 

Die Begründung für unseren möglicherweise tiefen Glauben müßte dabei jedoch sinngemäß stets etwa folgendermaßen lauten:

„Aufgrund meines bisherigen Lebens ergibt sich für mich zwingend, daß es sich so verhalten muß; ich kann gar nicht anders denken, will ich nicht mir selbst widersprechen, unvernünftig sein, mich absichtlich dumm stellen oder selbst belügen.

Ich spreche nur von meinen Überzeugungen und beanspruche somit auch keine Wahrheit. Ich will wahrhaftig sein – und sage deswegen ganz ehrlich, wie ich es sehe; mehr ist gar nicht möglich und vermag niemand. Das Lutherische ‚Hier stehe ich und kann nicht anders‘ trifft die Situation recht gut.

Wir können uns gegenseitig um Wahrhaftigkeit bitten, aber von niemandem die Wahrheit erwarten.“

 

Ohne den Glauben an eine objektive Realität können wir völlig problemlos die offensichtliche Tatsache anerkennen, daß Kinder und Erwachsene, Soziahilfeempfänger und Manager, Christen und Muslime sowie um Regen tanzende Hopiindianer oder atheistische Abendländer, psychisch „Kranke“ sowie Nobelpreisträger mit ihren jeweiligen subjektiven Realitäten leben, zwischen denen wohl häufig keinerlei Berührungspunkte bestehen.

Nietzsche wußte das schon lange vor uns und schrieb am Ausgang der Moderne, daß „die wahre Welt zur Fabel geworden ist“. Das führt zu dem postmodernen Pluralismus der subjektiven Realitäten, den wir heute alle bereits erleben, der aber erst am Anfang seiner Entfaltung stehen und sämtliche „Bastionen einer objektiven Wirklichkeit oder Wahrheit“ hinwegfegen dürfte.

Ob wir die Heraufkunft dieses Pluralismus begrüßen oder bedauern und die damit verbundenen neuen Freiheiten feiern oder den verlorenen Gewißheiten nachtrauern, spielt dabei keine Rolle, weil die Geschichte irreversibel ist, so daß ohne Katastrophen wie Kriege, Umweltzerstörung, Genmanipulation, Gehirnwäsche, Diktaturen usw. die eindimensionale – Naivität der – Tradition nicht wiederkehren wird.

 

Ein Hinter-die-„Aufklärung“-zurück kann sich ohnehin niemand wünschen, dem (subjektive) Vernunft und Freiheit als die Grundlagen der Menschenwürde sowie eines erfüllten Lebens wichtig sind.

In diesem Sinne verstehe ich die gesamte Menschheitsgeschichte als eine Offenbarungsgeschichte, das heißt, als den Versuch Gottes, sich uns mitzuteilen. Er ist ein Gott des Lebens, und der Glaube soll uns freimachen. Alle Institutionen, die wir schaffen, um dem Leben und der Freiheit zu dienen, gehören nach Ansicht von Gianni Vattimo zur Menschwerdung Gottes.

 

Wir müssen also, wie bereits ausgeführt, Überzeugung und Wahrheit deutlich auseinanderhalten.

Letztere besitzt niemand, weil man sie gar nicht besitzen kann. Behaupten wir in einem Disput, die eigene Überzeugung sei wahr, dann ist das kein – weiteres – Argument für unsere Position, sondern lediglich die unseren Gesprächspartner beleidigende Behauptung, daß seine Überzeugung falsch sein muß, insoweit sie der unsrigen widerspricht.

Krass ausgedrückt bedeutet „Ich sage die Wahrheit“ im Sreitgespräch das Gleiche wie „Sie irren – und irgendwann ist meine Geduld mit Ihnen am Ende“.

Wer so redet, sehnt sich nicht nach Wahrheit, sondern will Recht haben.

Denn wer die Wahrheit sucht – und das würde ich für mich persönlich gerne unterschreiben –, kann nicht behaupten, sie (bereits) zu haben; entweder . . ., oder . . . Ich bin überzeugt, daß sich das, was wir haben (können), gemessen an der Wahrheit einmal als entsetzlich lächerlich erweisen wird und wir uns dann für diese kleinkarierte „Wahrheit“ schämen werden.

Das sagte beispielsweise Karl Rahner von seiner eigenen Theologie; er stellte sich vor, wie Gott darüber lacht: „Das soll ich sein?“

 

Wir können bestenfalls – und sollten natürlich auch – wahrhaftig sein; das heißt, im Sinne unserer eigenen Überzeugungen leben und damit ohne alle diesbezüglichen Wahrheitsansprüche das sagen, was wir wirklich glauben oder denken und auch dementsprechend handeln.

André Gide warnte uns vor allen Menschen, die mit dem Anspruch auftreten, die Wahrheit gefunden zu haben, und empfiehlt uns diejenigen, die nach ihr suchen.

 

In einer frommen Sprache formuliert heißt das meines Erachtens:

Christen, die sich im Besitz der Wahrheit wähnen, erwarten vom Reich Gottes lediglich die – lobhudelnde – Bestätigung, daß Sie Recht hatten; das wäre meines Erachtens entsetzlich wenig und grauselig langweilig.

Ich bin dagegen überzeugt, daß wir in unserem ganzen irdischen Leben keine Wahrheit finden können, aber nichtsdestotrotz Suchende bleiben sollen und das Reich Gottes uns mit seiner Wahrheit trotz aller Suche noch umwerfen wird.

Zumindest hoffe ich das ganz stark; es würde mich fuchtbar enttäuschen, wäre Gott nicht viel mehr und absolut Besseres eingefallen als mir.

 

Daß wußte schon Lessing vor bald 300 Jahren, und weil er mir aus der Seele spricht, zitiere ich ihn ausnahmsweise einmal recht ausführlich:

„Wenn mir in der einen Hand die Wahrheit, in der anderen das Streben nach ihr geboten würde und ich wählen müßte, ich würde das letztere wählen, und des Apostels Aufforderung lautet: Prüfet alles! Ohne Prüfung kann man nicht erfahren, ob der Geist, der in uns spricht, und die Geister, die zu uns reden, aus Gott sind oder nicht. Nur durch redliche von reiner Liebe zur Wahrheit ausgehende Prüfung wird sie allmählich unser Eigentum.

Darum fühlen wir uns zu dem hingezogen, der uns zur Prüfung seiner angeblichen Wahrheit auffordert, und wenden uns von dem ab, der uns seine Wahrheit aufdrängen will. Ein solcher erweckt mit Recht in uns das Vorurteil, daß er selbst nicht an die Wahrheit seiner Lehren glaube.

Denn die Wahrheit kann durch Prüfung nur gewinnen; die Wahrheit besteht in der bestandenen Prüfung, die Lüge und der Wahn aber verschwinden durch sie. Wer daher die Prüfung vorgeblicher Wahrheiten scheut und verhindern will, ist kein Freund der Wahrheit, sondern ihr Feind.

Kein Mensch auf Erden hat daher Ansprüche auf sogenannte Untrüglichkeit. Wer als unbedingte Autorität gelten will, wird daher verworfen.“

 

Sie sagten zu Beginn dieses Kapitels: „Wer an eine objektive Realität glaubt, darf nicht länger mitspielen.“ Selbst diese Formulierung ist also noch zu einschneidend; Sie dürfen sogar an eine objektive Realität glauben.

Nehmen wir als Beispiel das heute herrschende evolutive Weltbild mit Urknall und reinem Physikalismus. Es könnte Ihnen so überzeugend erscheinen, daß Sie sagen: „Das ist es! Ich glaube ganz fest, daß dieses Weltbild die objektive Realität adäquat wiedergibt, und danke den Physikern für ihre großartige Umsicht. Daß J. S. die Existenz dieser objektiven Realität bestreitet, ist mir doch gleichgültig; dann täuscht er sich eben.“ 

Denken Sie so, kann ich 100%-ig mitgehen: Sie stellen sich eine bestimmte Art von objektiver Realität vor und glauben, die letztere damit adäquat wiederzugeben. Das ist völlig unproblematisch, denn wir können uns (nahezu) alles Widerspruchsfreie vorstellen und natürlich auch die eigenen Vorstellungen glauben. 

Das gilt selbstverständlich auch für die objektive Realität; bei ihr kommt sogar noch hinzu, daß wir den Zusammenhang in diesem Fall auch umkehren können:

Sie ist das, was sich nur vorstellen und glauben läßt.

 

Und damit sind wir wieder bei dem einzigen „Verbot“, dessen Übertretung uns in die Hinterwelt führt:

Sie dürfen nicht behaupten, die objektive Realität erkannt bzw. abgebildet zu haben und dadurch von ihr wissen; erst durch diese widersprüchliche Zusatzannahme würde sie zu einer Hinterwelt.

Nun also endgültig:

Der postmoderne Spaß endet nicht, wenn Sie (an) eine objektive Realität glauben, sondern erst, falls Sie

– diese als adäquat abgebildet,

– somit als erkennbar und

– folglich auch intersubjektiv verbindlich

behaupten.

 

Damit muß ich auch meine bisherige Ausdrucksweise nachträglich ein wenig relativieren, behalte sie aber der Deutlichkeit halber bei:

Wenn wir keinerlei Zugang zum Außerhalb unserer Psyche besitzen, kann ich natürlich auch unmöglich erkennen, daß die objektive Realität nicht existiert

AD: „Also steht es zwischen Ihnen und den modernen Traditionalisten 1 : 1; letztere glauben (an) die objektive Realität und Sie nicht.“

Möglicherweise „ja“; das ging aber jetzt etwas zu schnell, denn wir müssen zwei Fälle unterscheiden.

 

Wenn die modernen Traditionalisten nur sagen, es gäbe eine objektive Realität ohne deren Form zu konkretisieren, haben Sie mit Ihrem 1 : 1 theoretisch Recht.

Praktisch erhebt sich in diesem Fall jedoch die Frage, worin eigentlich der Unterschied zwischen der Existenz bzw. Nicht-Existenz einer vollkommen unbekannten objektiven Realität bestehen soll. Ist das tatsächlich ein Unterschied, der einen Unterschied macht?

 

Legen sich die traditionell Denkenden jedoch auf eine spezielle Realität fest, stimmt das 1 : 1 nicht mehr, weil ihr Glaube möglicherweise zu spezifischen Konsequenzen für unser Leben führt. Beispielsweise könnten Kühe heilig, der Koran wörtlich inspiriert und unser Leben durch die Naturgesetze oder den Willen Gottes determiniert sein. 

Wer etwas Spezielles oder Konkretes behauptet, steht in der Beweispflicht; nicht der staunende Gesprächspartner.

Daß gerade Kühe heilig sein sollen, müßte von den Gläubigen begründet und braucht nicht von uns Ungläubigen widerlegt zu werden. Es beweist (meines Erachtens) auch niemand, weshalb Flöhe – angeblich – nicht heilig sind.

 

Unsere Vorfahren haben Wege gefunden, Oliven genießbar zu machen; das ist bei dieser Frucht nicht selbstverständlich, sondern eher ein kleines Wunder. Und das, sagen die Mythen, verdanken wir der Göttin Athene, die uns Menschen gelehrt hat, die Oliven entsprechend aufzubereiten.

Wer diese dem traditionellen Denken entsprechende Erklärung für richtig hält, dem kommt eine Begründungspflicht zu.

Mit dem bloßen Ablehnen dieses Mythos vertreten wir jedoch keine ebenso konkrete gegenteilige Meinung, sondern distanzieren uns lediglich von dem Mythos. Weder bedarf das einer Rechtfertigung, noch bedeutet es, sich um eine andere Erklärung bemühen zu müssen; es interessiert uns doch vielleicht gar nicht.

 

Solange es, anders formuliert, um unsere subjektive Wahrhaftigkeit und nicht um eine angebliche objektive Wahrheit geht, sind wir absolut nicht hinterwäldlerisch, wie „hinterwäldlerisch“ auch immer unsere Überzeugungen sein mögen.

Dann sagen wir jedoch auch nicht „so ist es“; diese traditionelle Anmaßung der Wahrheit entspricht dem Hinterwäldlerischen.

 

AD:  „Und sie entspricht dem Sein-Wollen-wie-Gott?“

Ich glaube „ja“. Ohne das traditionelle Denken ist ein objektiver Wahrheitsanspruch gar nicht möglich; es bildet eine notwendige Voraussetzung dafür, muß aber nicht zu ihm führen. Menschen können traditionell denken und sich dennoch ganz bescheiden weit entfernt von jeder Wahrheit wähnen.

Wer jedoch den Anspruch erhebt, sie zu besitzen,

– will wie Gott sein,

– ist in Wirklichkeit aber hinterwäldlerisch.

2.12.1. Wissenschaft und Hinterwelt

Warum ver(sch)wende ich so viel Zeit und Mühe darauf, Ihnen die objektive Realität oder Hinterwelt wegzunehmen, die Sie ohnehin niemals erfahren haben bzw. werden?

Weil dieser traditionelle Glaube zu weitreichenden Konsequenzen führt.

Das gilt nicht zuletzt für die empirischen Wissenschaften. Obwohl in ihnen nur Wahrnehmungen und Vorstellungen auftreten (können) und noch niemandem Seiende begegnet sind, glauben sehr viele ihrer Vertreter, von deren objektiver Realität zu sprechen.

Warum eigentlich?

 

Können Wissenschaftler plausibel machen, das Ziel ihrer Forschung bestehe in der neutralen Abbildung der objektiven Realität – unabhängig davon, ob sie das nun selbst glauben oder nicht –, läßt sich letztlich jede Forschung rechtfertigen, weil sie dann voraussetzungslos sowie wertfrei sein muß und Wissen stets besser ist als Nicht-Wissen. Allein Lügner, Verführer oder Scharlatane müssen Angst vor der Wirklichkeit haben; die Zunahme des Wissens ist purer Fortschritt und immer gut.

Und außerdem befinden wir uns als diejenigen, die lediglich die objektive Realität wiedergeben, in einer beneidenswerten Position: Wie entsetzlich auch immer unsere Ergebnisse sein mögen – wir sind nicht verantwortlich und finden sie auch einfach nur schrecklich. Beschwert Euch aber bitte an einer anderen Stelle, bei Gott, der Evolution oder wo auch immer, jedenfalls nicht bei uns; wir haben das nicht gemacht, sondern bilden es ganz neutral ab. Wir zeigen Euch nur, wie schlimm alles ist; seid uns bitte dankbar“.

Nun können wir wieder den ersten rot hervorgehobenen Absatz anschließen.  

 

Eine objektive Realität zu behaupten oder eine entsprechende Hinterwelt zu erfinden, ist letztlich die Lüge, es gäbe eine Kotrollinstanz für unsere Forschung:

„Würden wir die Seienden nicht adäquat abbilden oder wären wir nicht auf dem Wege zur Wahrheit, träten Widerstände und Widersprüche auf, hätten wir keine technischen Erfolge und es entstünde ein großes Tohuwabohu. All das geschieht nicht; wir befinden uns also auf einem guten Weg, und laßt uns bitte so weitermachen. Wenn wir etwas Unrechtes tun, wird sich die Natur – der Seienden – gewiß zu Wort melden.“

 

Deswegen sehe ich im traditionellen Denken einen gewichtigen Grund für unsere aktualen Menschheitsprobleme.

Die als Kontrollinstanz behauptete objektive Realität, die dem Forschen eine Richtung vorgeben und es begrenzen oder unseren Eingriffen einen Riegel vorschieben könnte, existiert nicht. Was auch immer geschieht, wir ecken kaum an – weil gar nichts existiert, das sich uns in den Weg zu stellen vermag – und nutzen dieses Gar-nicht-Anecken-Können weidlich aus; entweder naiv oder berechnend, aber gewiß verantwortungslos.

Wir mißbrauchen, mit anderen Worten, den weit verbreiteten Glauben an eine objektive Realität, um unseren bisherigen Weg rückblickend als richtig darstellen zu können – „es hat nicht geknallt“ – und in diesem Sinne weitermachen zu dürfen – „die Seienden werden sich melden, sollten wir tatsächlich einmal danebenliegen“.

 

So geht unser „Fortschritt“ immer weiter; aber ohne angebbares Ziel können wir nicht sinnvoll von Fortschritt sprechen, denn er wird zu einem bloßen Nur-schnell-weg von diesem Hier und Jetzt.

Natürlich bliebe es ein lohnenswertes praktisches Ziel, allen Menschen ein Leben in  Freiheit und Würde zu ermöglichen; aber ich bezweifle ernsthaft, daß diese Intention in der abendländischen Moderne sonderlich stark ausgeprägt war.

Ihr Ziel ist eher ein theoretisches und bestand ursprünglich darin, die Welt zu erkennen. Wenn sich in der Postmoderne der Gedanke durchsetzt, daß es diese Welt gar nicht gibt und wir Jahrhunderte ein Pseudoziel verfolgt haben, besteht vielleicht wieder die Chance, uns den wirklich brennenden Problemen zuzuwenden. 

 

AD: „Wenn die Realität nicht objektiv ist, können die Wissenschaften es auch nicht sein.“

Stimmt; der Glaube an eine erkenntnis-theoretische Objektivität ist hinterwäldlerisch; davon können wir uns schnell überzeugen:

Es gibt keine voraussetzungslose Wissenschaft – ganz einfach, weil aus nichts auch nichts folgt. Setzen wir keine – mehr oder weniger willkürlichen – Prämissen, fehlen also auch sämtliche Konklusionen; das voraussetzungsfreie Fachbuch bleibt völig leer. 

Mit anderen Worten heißt dies, daß die Wissenschaften als ihre Resultate auch nur die Konseqenzen ihrer eigenen Voraussetzungen enthalten können. Weder die Logik noch das Experiment sind kreativ; sie steuern nichts bei, sondern die Ergebnisse der Wissenschaften bestehen lediglich in ihren eigenen – freilich explizierten, ausgefalteten oder entwickelten und dadurch möglicherweise auch sehr überraschenden – Voraussetzungen.

 

AD: „Wenn Sie Recht hätten, müßten wir die naturwissenschaftlichen Experimente auch weglassen können. Das geht jedoch nachweislich nicht, denn sie sagen sehr häufig auch ’nein‘.“

Ganz richtig; aber ich sehe gar nicht, worauf Sie mit Ihrem Einwand zielen; „nein“ zu sagen, ist doch nichts Kreatives.  

Karl Popper hat einen entsprechenden erkenntnistheoretischen Ansatz, den „Kritischen Rationalismus“, sehr weit entwickelt. Ihm zufolge liegt natürlich alle Kreativität bei den Wissenschaftlern, und die Experimente „falsifizieren“ lediglich einen Großteil der neuen Ideen

 

Ist die Wissenschaft – durch die Notwendigkeit von Prämissen – jedoch nicht voraussetzungslos, kann sie auch nicht wertfrei sein, denn mit den unabdingbaren Voraussetzungen, ohne die es gar keine Wissenschaft gibt, setzen wir zugleich ganz spezielle Werte.

Das daraus resultierende Ergebnis besteht also nicht in der, sondern in einer Wissenschaft.

So wie es beliebig viele Mathematiken gibt, wären auch die verschiedensten Physiken möglich. Wir haben uns für eine entschieden, mit deren Hilfe sich „phantastisch(e)“ Waffen bauen lassen, und können uns eine andere Physik gar nicht vorstellen. Es bleibt also insbesondere offen, ob ihr die negativen Möglichkeiten der Wissenschaft zwangsläufig angehören.    

 

Es gibt natürlich auch eine ethisch-praktische Objektivität der Wissenschaften. Ihr zufolge sollen alle Ergebnisse ehrlich zustandekommen, unabhängig von den Wünschen der Forscher und somit nicht manipuliert sein. Subjektive Interessen dürften keine Rolle spielen; messen wir, was wir nicht wollten, dann messen wir eben, was wir nicht wollten; „schade“!

Eine solche Objektivität wird hoffentlich stets das Ziel der Forschung bleiben, hängt jedoch mit unseren Überlegungen bestenfalls am Rande zusammen.

 

AD: „Wenn die objektive Realität eine Hinterwelt darstellt, können unsere diesbezüglichen Vorstellungen weder richtig noch falsch sein. Warum – und worum – streiten wir dann im Alltag, vor Gericht, in der Industrie oder Wissenschaft eigentlich häufig so erbittert?“ 

Das ist ganz einfach: Weil Alltag, Gericht, Industrie und Wissenschaft absolut nichts mit einer objektiven Realität zu tun haben; immer und überall geht es nur um unsere Wissungen. Besonders häufig vergleichen wir diese mit intersubjektiven Konventionen oder alltäglichen bzw. experimentellen Wahrnehmungen.

Der Meteorologe sagt im Wetterbericht beispielsweise nicht voraus, daß die Ur-Sonne morgen Abend 20:16 Uhr untergeht, sondern welche Sonnen-Wahrnehmungen wir um diese Zeit erleben können.

2.12.2. Das moderne Weltbild als Mythos

Wir – das heißt, die erwachsenen und angeblich gesunden Abendländer um die zweite Jahrtausendwende – glauben zumeist, vom physikalischen Kosmos als einer objektiv-wirklichen Realität zu sprechen, während alle anderen Kulturen der Vergangenheit und Gegenwart aus unserer Sicht nur über bloße Weltbilder verfügen. Das sind Vorstellungen, die höchstens irrtümlich als Abbilder geglaubt werden – wovon aber bei vielen, besonders exotischen Weltbildern partout nicht die Rede sein kann. Unser Weltbild ist dagegen weitestgehend adäquat, und die anderen Varianten stellen bestenfalls seine Vorstufen dar oder sollten eher unter „Mythen“ kategorisiert werden.

Diese heute weit verbreitete Einstellung halte ich jedoch selbst für einen Mythos; es ist derjenige vom Fortschritt als der großen modernen „Metaerzählung“ (Jean-François Lyotard), die natürlich – wie könnte es auch anders sein – direkt zu uns als der Krone der Schöpfung Evolution führt und deshalb nur allzugerne geglaubt wird.

 

Ich halte die kosmische Evolutionstheorie dagegen für den „Weltentstehungsmythos des Atomzeitalters“ (Georg Picht).

Letzteres begann mit dem little bang von Hiroshima und Nagasaki, ist aber auch sonst ein Zeitalter der Explosionen; Bevölkerungszahlen, Wissungen, Informationen, Verfügbarkeiten, Fördermengen, Ansprüche, Geschwindigkeiten, Erwartungen, Produktionsraten usw. schnellen plötzlich in die Höhe. Damit einher gehen Zerstörungen beispielsweise von Lebensgrundlagen, Traditionen, Religionen, Werten, Sprachen, Minderheiten, Tieren oder Pflanzen.

Kann es uns überraschen, daß die Menschen einer solchen Zeit glauben, sich einem großen Knall verdanken zu müssen?

Die Urknalltheorie ist natürlich eine physikalische, aber ihre Akzeptanz wird nicht von einer angeblichen objektiven Realität her verständlich – Physiker sind keine Hinterwäldler –, sondern meines Erachtens allein psychologisch.

 

Ich bin – gegen den Zeitgeist – fest überzeugt, daß wir keine Ausnahmekultur sind und lediglich über (inter-)subjektive Weltbilder verfügen, wie alle anderen Kulturen auch. Sämtliche Varianten haben ihre Vor- und Nachteile; weder sind sie nahezu gleichwertig im Sinne von Paul Feyerabends „anything goes“, noch befinden sich wahre Weltbilder darunter

Wir glauben nicht, was richtig ist, sondern was zu glauben wir für richtig halten.

Das stellt fast eine Tautologie dar; alle gehen so vor und müssen so vorgehen. Das ist alternativlos; und ob es tatsächlich richtig war, wird bestenfalls die Zukunft zeigen.

Das gilt also auch für die traditionell Denkenden; sie erzählen ebenfalls nur, was zu glauben sie für richtig halten, und sind dabei überzeugt, uns die objektive Realität zu schildern.

 

Das traditionell verstandene Totalbild verstellt den Blick auf die Wirklichkeit des Lebens, indem es uns eine objektive Realität vorgaukelt,

– die ursprünglich oder primär sein soll und

– der wir unser Leben als sekundär unterzuordnen haben,

– weil wir angeblich in und von dieser Realität leben.

Mit einem solchen Denken belügen wir uns selbst; wir könnten das wissen, zugleich aber auch mindestens fünf Gründe angeben, weshalb wir es nicht wissen wollen:

 

1. Zunächst interessiert uns sehr, „wie es wirklich ist“; postmodern läßt sich diese Sehnsucht jedoch nicht erfüllen.

 

2. Des weiteren wünschen wir uns Sicherheit, und diese scheint nicht zuletzt dadurch gewährleistet zu sein, daß wir auf die uns als wichtig erscheinenden Fragen sowohl eindeutige als auch einfache Antworten geben können.

Es gibt sogar eine „Faszination des Primitiven“, die wir nicht nur bei politischen oder sportlichen Großveranstaltungen, sondern auch im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien mitunter ungeschminkt erleben.

 

3. Wir suchen nach wärmender Gemeinschaft und möchten gerne in ihrem Strom mitschwimmen.

Die Mehrheit denkt aber nicht, und zahlreiche Umfragen zeigen, daß sie das auch gar nicht möchte. Selbst in Freiheit zu denken, vermag nur der Einzelne – wenn er denn will und den dafür notwendigen Mut aufbringt.

 

4. Viele Vorstellungen erscheinen uns als alternativlos, so daß wir scheinbar felsenfest von ihnen überzeugt sein müssen. Aber gegen die Annahme, Denknotwendigkeit hätte etwas mit Richtigkeit zu tun, sprechen zumindest zwei sehr starke Argumente.

Zum einen resultiert die angedeutete „Evidenz“ möglicherweise aus unserer Einseitigkeit, Denkfaulheit, Ignoranz oder mangelnden Phantasie. Wer kreativer ist, intensiver überlegt oder mehr Zeit investiert, findet vielleicht noch ganz andere Antworten.

Zum anderen ist alles Argumentieren, Beweisen oder Widerlegen an unser Totalbild gebunden; Denken heißt, sich innerhalb von ihm geistig zu bewegen, denn kein einziger Gedanke, der nicht zumindest implizit zum Totalbild gehört und somit aus ihm hergeleitet werden kann, ist uns zugänglich.

Sämtliche Schlüsse, Begründungen oder Widerlegungen, derer wir fähig sind, tragen also den Vermerk „im Rahmen meines Totalbilds“, denn sie setzen dieses als unhintergehbares Nonplusultra voraus. Das eigene Totalbild legt, anders formuliert, beispielsweise fest, was – für uns – 100%-ig sicher bzw. absolut unmöglich ist.

„A kann nicht und B muß sein – in meinem Totalbild.“

Letzteres und keine angebliche objektive Realität, liefert die einzige Begründung; eine Hinterwelt kann weder etwas rechtfertigen noch anfechten.

 

5. In unserer Technik werden die exakten Wissenschaften angewandt, und daß wir technisch unglaublich erfolgreich sind, scheint zu beweisen, daß die exakten Wissenschaften die objektive Realität adäquat wiedergeben.

Dem würde ich entgegenhalten, daß andere Kulturen mit ihren – dann natürlich – „falschen“ Totalbildern teilweise sehr lange bestanden; das ägyptische Pharaonentum beispielsweise 3000 Jahre. Unser „richtiges“ modernes Totalbild stellt uns dagegen bereits nach vier Jahrhunderten vor immer größer werdende Probleme.

AD: „Das mag theoretisch stimmen, praktisch ist aber von keiner anderen Kultur jemand zum Mond geflogen.“

 

Vielleicht wollte es auch keiner!

Nicht nur, was man tun, sondern auch was man wollen kann, hängt doch vom Totalbild ab. Andere Kulturen strebten vielleicht nach einem Kontakt mit ihren Göttern oder Ahnen; den haben sie möglicherweise erreicht. Wir können ihn gar nicht wollen, weil das unserem Totalbild zufolge Nonsens wäre.

Wenn die Ägypter beispielsweise unsere Sonne als ihren Gott Re verehrt haben, mußte ihnen der Gedanke, hinfliegen zu wollen, einfach als absurd erschienen sein – sofern er überhaupt möglich war. Kennen Sie einen Gläubigen, der ernstlich in die Transzendenz fliegen möchte? Wo müßte er dann eigentlich starten und in welche Richtung?

 

Unsere diesbezügliche „Logik“ ist doch völlig verquer:

Alle wollten das, was wir können, haben es aber nicht geschafft – wodurch der Fortschritt zu und durch uns bewiesen wäre; q. e. d.

Vielleicht ließe sich auch so denken:

Keiner wollte das, was wir können; aber was unsere Vorfahren wollten und vielleicht auch konnten, können wir nicht einmal mehr wollen

 

Damit verlängern wir die Liste der allgemein bekannten Kränkungen des Menschen duch die moderne Wissenschaft über Galilei, Darwin, Freud und Turing hinaus:

1. Die angebliche objektive Realität ist nur eine Hinterwelt.

2. Alle Wissungen sind durch das eigene subektive Totalbild begrenzt, so daß sie mit diesem auch völlig danebenliegen könnten.

3. Was „danebenliegen“ bedeutet, verstehen wir jedoch bereits nicht mehr, weil es sich eo ipso nur außerhalb unseres Totalbilds befinden kann.

4. Dort spielt auch die Wirklichkeit des Lebens, so daß die Helle des Verstandes sie nicht erreicht.

2.13. Markus Gabriel als Naiver Realist

Dieses Kapitel enthält einen (leicht abgeänderten) Artikel, den ich spontan-verärgert für die „Neue Züricher Zeitung“ geschrieben hatte, um damit einer meines Erachtens grotesken Fehleinschätzung von Bruno Latours Denken durch Markus Gabriel entgegenzutreten. Sollte ich mich darin möglicherweise beleidigend ausdrücken, bitte ich um Entschuldigung; auch Gabriels Mißgriff rechtfertigt dies nicht.

Ich drucke die Rezension hier ab; zum einen in der Hoffnung, daß sie Ihrem Verständnis dient, und zum anderen um diesen zweiten Teil mit einem gegenwärtig vielzitierten Naiven Realisten abzurunden.

 

Gabriel schrieb in der NZZ vom 26. 3. 2020 unter anderem:

„. . . Doch auch progressive Intellektuelle, die sich Wissenschaftlichkeit auf die Fahnen schreiben, haben sich in den letzten Jahren einem heillosen Relativismus verschrieben. Zu ihren prominentesten Vertretern zählt der französische Soziologe Bruno Latour. Er hat sich sogar zu der absurden These verstiegen, Ramses II. könne nicht an der Tuberkulose verstorben sein, weil der Erreger erst im 19. Jahrhundert entdeckt worden sei. Das ist metaphysische Absurdität, wie der analoge Fall der Corona-Krise zeigt:

Hätten wir keine Virologen eingeschaltet, um Covid-19 zu studieren, hätte die Krankheit sich gemäß Latour nicht verbreitet, weil sie nicht einmal existiert hätte. . .“

 

An dieser Argumentation stimmt absolut nichts; Latour hat völlig Recht, und die „metaphysische Absurdität“ liegt allein bei Gabriel, weil er scheinbar keinerlei Verständnis für eine ihm fremde Sichtweise aufbringt!

Sein „Neuer Realismus“ ist so neu nicht; er kam um 1912 in den USA auf, wurde aber danach – mit Recht – schnell wieder vergessen, weil der Glaube an eine objektive Realität mindestens seit Kant philosophisch unhaltbar geworden ist und unter ernstzunehmenden Fachleuten bereits im 20. Jahrhundert kaum noch ein Rolle spielte.

Wir haben Überzeugungen, denn wir glauben, was zu glauben wir für richtig halten. Mehr kann niemand leisten – sehr wohl aber weniger, nämlich Denkfehler begehen und völlig unsinnige Behauptungen aufstellen.

 

Um zu verdeutlichen, daß dies bei Gabriel der Fall ist, betrachten wir einen Patienten aus dem Jahre 2018, der sich miserabel fühlt, zum Arzt geht und von diesem untersucht wird.

Noch kommt in keinem Weltbild Covid vor, so daß eine entsprechende Diagnose absolut ausgeschlossen ist.

AD: „Es kann sich aber trotzdem ausbreiten und den Patienten infizieren.“

Diesen Satz verstehe ich nicht, weil mir das „es“ unbekannt ist.

AD: „Covid, natürlich!“

„Covid“ hat den Menschen 2018 ebensoviel gesagt wie „es“ – nämlich  nichts. Was infiziert, wenn „Covid infiziert“, aber keiner weiß, was Covid ist?

 

Gabriel spricht über sein Totalbild; insoweit sind wir uns natürlich einig.

Des weiteren geht er aber – entgegen meiner Überzeugung – hinterwäldlerisch davon aus, daß sein Totalbild – zumindest in dem uns interessierenden Zusammenhang – ein adäquates Bild der objektiven Realität darstellt und Covid somit auch unabhängig von unserem Wissen bereits 2018 existiert hätte.

Damit werden die wirklichen Verhältnisse auf den Kopf gestellt:

1. Es gibt Covid postmodern allein für und durch unser Wissen oder innerhalb des eigenen Totalbilds.

2. Letzteres wird jedoch von Gabriel hinterwäldlerisch – das heißt, prinzipiell ohne jede Möglichkeit einer Begründung oder Widerlegung – als adäquates Bild der objektiven Realität behauptet.

3. Durch diese Naivität gibt es Covid nun an sich, das heißt, auch ohne unser Wissen.

 

Wer nicht hinterwäldlerisch ist, muß den zweiten Punkt streichen, womit automatisch auch der dritte entfällt. Der erste Punkt besagt lediglich die Selbstverständlichkeit, daß sich für mich natürlich nichts ausbreiten kann, was in meinem Weltbild gar nicht vorkommt.

Eine „Erklärung“ ist keine Erklärung für mich – und damit gar keine Erklärung –, wenn ich sie nicht verstehe und anerkenne.

 

Latour behauptet doch keineswegs, daß es dem Patienten von 2018 – ohne die Covid-Diagnose – gut gegangen wäre, was Gabriel unausgesprochen vorauszusetzen scheint; natürlich nicht. Aber niemand kann haben, was keiner kennt. Der Patient würde sich miserabel fühlen; wir wüßten nicht warum, und es begänne möglicherweise ein fieberhaftes Suchen nach der Ursache.

Dieses Sich-miserabel-Fühlen hängt nicht vom Totalbild ab, und wird daher weder von Latour noch von anderen (mir bekannten) Postmodernen bestritten.

Aber sämtliche Erklärungen sind an spezielle Totalbilder gebunden. Und wenn eine „Erklärung“ – ich wiederhole mich bewußt – in einem bestimmten Totalbild unverständlich oder unmöglich ist, stellt sie für den jeweiligen Totalbild-Haber keine Erklärung dar.

Daß die Erde um die Sonne rotiert wäre für die (meisten) Menschen der Antike wohl keine Erklärung der Jahreszeiten gewesen. Aber die Existenz der letzteren hätte wahrscheinlich trotzdem ein antiker Latour nicht bestritten.

 

Covid-19 bildet eine Vorstellung in unserem Totalbild, die nur mittels der anderen Vorstellungen erklärt werden kann und mit ihnen in einem integralen Zusammenhang – eben unserem Totalbild – steht. Es ist hinreichend rund, stimmig und widerspruchsfrei; deswegen glauben wir – fast alle – die Corona-Theorie.     

Einige Verschwörungstheoretiker nicht.

Gabriel ist das Gegenteil von ihnen, denn er glaubt noch viel mehr als wir, nämlich die naive „metaphysische Absurdität“, daß es Tuberkulose-Erreger und Covid-Viren an sich oder objektiv-real geben und somit unser gegenwärtiges Wissen oder Totalbild diesbezüglich überhaupt keine Rolle spielen würde.

Damit mißbraucht Gabriel die Corona-Krise als Werbung für seinen metaphysischen Aberglauben an eine Hinterwelt, stellt ihn als Wissenschaft dar und bezichtigt kritische Denker wie Latour eines „heillosen Relativismus“, nur weil sie seine Naivität nicht teilen.

 

Im Mittelalter hätte ein Priester angesichts unseres sich miserabel fühlenden Patienten – im Rahmen seines Totalbilds – vielleicht von dämonischer Besessenheit gesprochen. Die meisten von uns sind sich mit Recht völlig sicher, daß diese Diagnose natürlich nichts mit einer objektiven Realität zu tun hat, denn in das heutige Weltbild passen weder Dämonen noch Besessene.

In das heutige Totalbild; das war im Mittelalter eben noch ein ganz anderes. Damals erwies sich die Erklärung des Priesters wahrscheinlich als hinreichend rund, stimmig und widerspruchsfrei; deswegen glaubten fast alle die dämonische Besessenheit.

Daraus wurden in der Zwischenzeit zumeist psychische Erkrankungen; was es wirklich ist – die Gabriel-Frage nach der objektiven Realität –, stellt ein Scheinproblem dar. Im Mittelalter befriedigten jene Antworten, und in der Moderne finden wir diese; um ewige Wahrheiten wissen zu können, müßten wir sein wie Gott.

Das sind wir nicht; wer trotzdem über ewige Wahrheiten zu verfügen glaubt, ist hinterwäldlerisch

 

Als Priester hätte ich damals sicherlich auch versucht, den Patienten durch eine Austreibung des Dämons zu heilen. Die meisten Zeitgenossen werden geglaubt haben, daß Patienten wirklich – im Sinne von objektiv-real – besessen sein und Dämonen in ihnen ihr Unwesen treiben können, obwohl das „nur“ ihrem Totalbild entsprach.

Das ist für uns kaum nachvollziehbar. Aber Gabriel müßte sich schon fragen lassen, ob er nicht auch im Mittelalter, das Denken, das damals – berechtigterweise – en vogue war, als Abbildung „seiner neuen Realität“ verstanden hätte.

Wenn nicht, warum tut er es heute?

 

Das  Argument, es gäbe doch offensichtlich einen Fortschritt vom Mittelalter zu uns, denn wir können die Viren unter dem Mikroskop sehen, sticht nicht, denn im Mittelalter hat man die dämonische Besessenheit bei geschultem Blick ebenfalls gesehen. Das gelingt uns heute nicht mehr – so wie im MIttelalter auch keiner Corona sah.

Und da hätten auch die tollsten Mikroskope nicht helfen können. Es gehört zum „Mythos des Gegebenen“ (Wilfrid Sellars), daß objektive Covid-Viren existieren würden, die von uns nur noch einen – und vielleicht sogar den „richtigen“ – Namen bekommen müßten; wie in der Schöpfungsgeschichte.

Aber Namen sind völlig inhaltsleer; was ein Covid-Virus ist, läßt sich weder zeigen noch benennen, sondern folgt einzig und allein aus dem jeweiligen Totalbild – sofern es ihn enthält. Tut es dies nicht – existieren keine Covid-Viren.

Wer Corona oder Tuberkolose für objekiv-real hält, soll uns bitte erklären, warum er dies bei der dämonischen Besessenheit nicht tut.

2.14. Zusammenfassung

In einem Lehrbuch werden die wichtigsten Punkte zusammenfassend wiederholt, damit die Studierenden sich das neue Wissen gut einprägen können.

Bei uns geht es jedoch nicht um das Lernen von Sachverhalten, sondern um ein Überarbeiten von Denkformen. Dann hat eine Zusammenfassung meines Erachtens eine völlig andere Aufgabe; nämlich die, ausgehend von dem neu erreichten Reflexionsniveau den bereits zurückgelegten – aber erst jetzt sichtbar gewordenen – Weg verständlich zu machen:

Wo befinden wir uns? Weshalb sind wir überhaupt hierher gegangen? Was erweist sich in dieser umfassenderen Sichtweise als falsch an dem alten Weg? Welche überraschenden Möglichkeiten eröffnet der neue?

 

Das Fehlen der Seienden bedeutet, daß wir uns von einem behauptenden oder doktrinären Denken verabschieden können – und der größeren Freiheit wegen auch sollten. Mir geht es um eine selbstkritische Aufklärung, die erzieherisch oder therapeutisch wirken und damit befreien will; für Ludwig Wittgenstein besteht allein darin die Aufgabe der Philosophie.

Letztlich spreche ich auch lediglich von Philosophie und Theologie, weil das die beiden einzigen Disziplinen sind, die von der Wirklichkeit handeln (sollten), während die Einzelwissenschaften nur Modelle kennen. Darin besteht beileibe keine Kritik, sondern unsere – zu Beginn der Moderne entdeckte – überaus erfolgreiche Forschung ist nur auf diese Weise, das heißt, im Wechselspiel von hypothetischen Modellen und falsifizierenden Experimenten möglich.

Aber natürlich nicht übertragbar; Hypothesen über die Wirklichkeit oder Modelle von ihr nutzen uns nichts, sobald es um die Wirklichkeit selbst geht, so daß jegliche Forschung in Philosophie bzw. Theologie ausgeschlossen ist.   

Viele Gläubige würden dem wohl zustimmen, mich dabei aber, wie ich fürchte, trotzdem völlig mißverstehen:

 

Zum einen bin ich überzeugt, daß wir die Bedeutung der Vernunft für den Glauben kaum überschätzen können.

„Ein der Vernunft widersprechender ‚Glaube‘ ist Aberglaube oder schlichtweg Unsinn“ schreibt Peter Knauer meines Erachtens zurecht.

Was aus der Vernunft folgt, hat natürlich nichts mit dem christlichen Glauben zu tun, denn der bezieht sich ausschließlich auf die Selbstoffenbarung Gottes. Aber was der Vernunft widerspricht, können und sollen wir gewiß ebenfalls nicht glauben. 

 

Zum anderen warnen einzelne Christen immer wieder, der Glaube dürfe sich nicht dem Zeitgeist anpassen. Das scheint mir ebenso richtig zu sein wie – aus mindestens drei Gründen – nicht ganz unproblematisch.

Wer spricht, benutzt notwendigerweise die Sprache seiner Zeit und taucht damit in deren Geist ein; andernfalls würden seine Zeitgenossen ihn gar nicht verstehen. Man muß auf letzteres verzichten, um sich in diesem Zusammenhang dem Zeitgeist entziehen zu können.

Des weiteren ist wahrscheinlich immer sehr vieles an letzterem irrelevant für das, was uns am Herzen liegt; dann stört der Zeitgeist aber auch nicht. Jesus lebte beispielsweise felsenfest in der Naherwartung des Reiches Gottes, betrachtete Frauen nicht als vollkommen gleichberechtigt oder sagte kaum etwas gegen Sklaverei und Ständedenken; alle drei Punkte dürften den meisten von uns heute als höchst kritisch erscheinen.

Und schließlich ist Zeitgeist nicht gleich „Zeitgeist“. Natürlich kann man mit bestem Wissen und Gewissen zum Beispiel gegen jegliche Form von Wissenschaftsgläubigkeit sein; das bin ich natürlich. Aber das Ignorieren oder gar Ablehnen der großen Philosophen – insbesondere Kant im 18., Nietzsche im 19. oder Heidegger und Wittgenstein im 20. Jahrhundert – ist für den Glauben tödlich, weil er dann bei immer mehr Menschen nicht vor deren subjektiver Vernunft bestehen kann und deshalb von ihnen abgelehnt werden muß.

„Ein der Vernunft widersprechender ‚Glaube‘ ist Aberglaube oder schlichtweg Unsinn“ . . .

 

Ich wiederhole mich:

Denkbar ist bekanntlich vieles,

konsistent denkbar schon erheblich weniger und  

plausibel denkbar– das heißt, in Einklang mit unserem übrigen Wissen von der Welt – gar nicht mehr so viel.“ (Martin Seel)

Wer etwas Altes glaubt, ohne zeigen zu können, daß es auch heute plausibel gedacht werden kann, „ist von gestern“, und hätte sich vielleicht doch ein wenig um Kant, Nietzsche, Heidegger oder Wittgenstein bemühen sollen.

 

Ohne Seiende gibt es insbesondere keine menschlichen Körper, und die werden traditionell im wesentlichen mit uns Subjekten identifiziert; das führte postmodern zum „Tod des Subjekts“. Aber das ist meines Erachtens nicht ganz richtig; das traditionelle Subjekt konnte gar nicht sterben, weil es nie gelebt hat.

Was in diesem Zusammenhang „Leben“ genannt wird, ist unsere biologisch-medizinische Reflexion, die höchstens irrtümlich glauben kann, vom Leben zu sprechen. Ihr zufolge drückt es sich vielleicht durch Bewegung, Reizbarkeit, Fortpflanzung, Wachstum und Stoffwechsel aus.

Mit mir hat das alles nichts zu tun, obwohl es doch um mein Leiben gehen müßte. Wo bleiben meine Freiheit, meine Hoffnungen und Ängste? Warum studieren die Biologen, um das Leben kennenzulernen, Amöben und Pantoffeltierchen, statt sich auf sich selbst als Lebend(ig)e zurückzuwenden?

 

Nicht nur der „gesunde Menschenverstand“, sondern auch Philosophie wie Theologie schließen sich diesem Denken trotzdem weitgehend an und fügen dem Körper gegebenenfalls noch eine unsterbliche Seele hinzu, um ein Leben nach dem biologischen Exitus denkbar zu machen. Abgesehen von dieser vordergründigen Absicht – die natürlich niemals als Begründung taugen kann – scheint mir eine solche Vorstellung jedoch sogar unchristlich zu sein:  

Unsterbliche Seelen bedürfen keines Gottes, denn sie leben aus eigener Kraft für immer; was anders bedeutet Unsterblichkeit? Das ist griechische Mythologie, die zu einem ewigen Kosmos ohne Anfang sowie Ende paßt und auf das Selbsterhaltungsvermögen der Seelen setzt, aber sich meines Erachtens schwerlich mit dem Gott des Neuen Testaments vereinbaren läßt.

 

Christen glauben keine vollautomatische Auferstehung, sondern daß Gott, der die Liebe ist, ihnen sowohl Freiheit als auch Geborgenheit schenkt. Beides zusammen ermöglicht es, uns zu einem Selbst zu bestimmen.

Schon vor 150 Jahren war dieser Gedanke schwer zu vermitteln; Fichte schrieb damals:

„Die meisten Menschen wären leichter dahin zu bringen, sich für ein Stück Lava im Monde, als für ein Ich zu halten.“

Geborgen in Gott glauben Christen, daß er sie nicht dem Tod überläßt, sondern auferweckt. Ohne ihn geht für den Gläubigen gar nichts – nicht einmal Auferstehung.

Selbst Christus ist nicht – dank einer unsterblichen Seele – „auferstanden von den Toten“, sondern, wie ich glaube, durch Gott auferweckt worden.

Daß dies möglich ist und somit kein bloßer Wunschtraum bleiben muß, können wir noch nicht sauber denken – und folglich auch nicht intellektuell redlich glauben.

 

Als nächsten Schritt zu diesem Ziel betrachten wir die Fehler, die das traditionelle Denken unseren Überlegungen in diesem zweiten Teil zufolge begeht, nochmals aus einer anderen Perspektive. Wir wählen dazu als Beispiel eine Besichtigung des Kilimandscharo und stellen uns – wie selbstverständlich – vor, mit unserem Körper an seinem Fuß zu stehen und die Augen auf den Berg zu richten.

Dieses Bild scheint die logischste und einfachste Sache der Welt zu sein – enthält aber mindestens sieben bedenkliche bis irrationale Zwischenschritte.  

 

1. Die Vorstellung, unser Körper befinde sich am Rand des Berges und betrachte ihn, ist eine reine Erfindung, der keine Situation in unserem Leben auch nur ansatzweise entspricht:

Wir sehen unseren Körper niemals von außen, denn unser Blick- oder Gesichtsfeld beginnt bei den Augen und breitet sich vor dem Körper aus.

Was wir uns hier gedankenlos vorstellen, ist die Schau des Nous. Dessen Existenz zweifeln wir jedoch mit guten Gründen massiv an, so daß die beschriebene Vorstellung absolut nichts Realistisches enthält – uns aber dennoch stark in ihren Bann zieht.

 

2. Letztlich geht es jedoch nicht nur um den fehlenden Wirklichkeitsgehalt dieser Vorstellung, sondern darum, daß sie „immer schon“ oder „ursprünglich zu spät kommt“ (Jacques Derrida), um das Sehen erklären zu können.

Ich wollte oben aufzeigen, daß der (physikalische) Kosmos ein visueller ist, weil wir nicht das sehen, was sich im Raum befindet, sondern unser Sehen diesen erst erzeugt. Eine Vorstellung, bei der sich alle wesentlichen Teile – insbesondere also Körper und Berg – im Raum befinden, enthält folglich nur Sehungen, muß also das Sehen bereits hinter sich haben und kann es somit niemals erklären.  

Wir können nicht mit dem Raum beginnen, um sein Zustandekommen zu verstehen.

 

3. Wenn Sie mir nicht glauben (können), daß das Sehen den Raum hervorbringt, läßt sich dieser Punkt auch übergehen:

Sowohl unser Körper als auch der Berg sind doch bereits Sehungen, so daß wir das, was wir erklären wollen, in unserem Modell immer schon voraussetzen. Haben wir die Sehungen bereits, ist aber kein Sehen mehr erforderlich, so daß jene in einem widerspruchsfreien Bild erst nach dem Sehen kommen dürften.

Anders formuliert:

Solange wir nicht(s) gesehen haben, kann es auch keine Sehungen geben, so daß diese niemals zum Erklären des Sehens benutzt werden können.

 

4. Diesen logischen Widerspruch sehen natürlich auch viele traditionell Denkende; um ihn zu beseitigen, erfinden sie die Seienden und behaupten die Sehungen als deren Abbilder:

 

Sehung A   →   Seiendes A   +   dessen Abbild oder Sehung A

 

Nun funktioniert die angezielte Erklärung widerspruchsfrei:

Der seiende Körper richtet seine Augen auf den seienden Berg und erhält dadurch dessen Abbild als Sehung.

Durch diese praktische Erfindung können wir auch uns selbst sehen:

Der seiende Körper richtet seine Augen auf sich selbst und erhält dadurch ein Abbild von sich als Sehung.

 

Uns fehlen noch zwei Mißlichkeiten; bevor wir zu ihnen kommen, schiebe ich mein Resümee der vier besprochenen ein:

Die Tradition löst ihre Probleme durch das Konstruieren von Seienden und kann das auch nur durch den damit erzielten Erfolg rechtfertigen. Was die traditionelle Philosophie von den verschiedenen postmodernen Konstruktivismen unterscheidet, ist also lediglich, daß diese offiziell konstruieren, während jene es heimlich tut, aber behauptet – und wohl zumeist auch selbst glaubt – abzubilden.   

Die traditionelle Erfindung der Seienden läuft darauf hinaus, die Leibhaftigkeit unseres eigenen subjektiven Lebens durch eine partiell intersubjektive Reflexion desselben zu ersetzen oder damit zu verwechseln:

Nicht ich als Subjekt sehe wirklich den Kilimandscharo, sondern

ich als Subjekt stelle mir wirklich vor, den Kilimandscharo zu sehen; aber

die Vorstellung des Sehens ist kein Sehen – sondern eine Vorstellung – und sieht auch nichts.   

 

Die gegenwärtigen Überlegungen verdanke ich George Spencer-Brown, der sehr tief über das Leben und die dafür notwendige irreversible Zeit nachgedacht hat. Sein Hauptwerk, die „Gesetze der Form“, ist leider nahezu unverdaulich. Daraus resultiert wohl auch, daß die Wertschätzung, die Spencer-Brown von seinen Lesern erfährt, zwischen genial und . . . extrem schwankt; für mich ist er ein grandioser (mathematischer) Denker.

Ihm zufolge entspricht das Vorstellen oder Reflektieren einem bloßen reversiblen Unterscheiden; solange wir das tun, steht unser Leben in seiner Leibhaftigkeit still; es setzt sich erst fort, wenn wir wieder vom Unterscheiden zum irreversiblen Entscheiden übergehen.

 

An jedem Unterscheiden sind prinzipiell vier Elemente beteligt:

1. Das Ganze oder Umgreifende, innerhalb dessen wir unterscheiden

    Unser Körper in Tansania

2. Das innerhalb dieses Umfassenden liegende Ziel A.

    Der Kilimandscharo

3. Die dieses Ziel begrenzende geschlossene Linie (oder Fläche)

    Der Fuß des Berges

4. Die andere Seite der Grenze; alles außer A, rein logisch also non-A

    Die Weite des umgebenden Landes

Der erste Punkt scheint vielleicht nicht ganz zwingend; er ist jedoch erforderlich, weil es ohne ihn kein „alles außer A“ gibt und damit die andere Seite der Grenze oder das non-A fehlt.

Weder unsere Katze noch der Satz des Pythagoras spielen beim Unterscheiden eine Rolle.

 

Gehen wir jedoch zum Entscheiden, das heißt, zur Leibhaftigkeit unseres Lebens über, wird das Ganze oder Umgreifende zur völlig ungewissen Offenheit der Zukunft, so daß von unseren vier Punkten lediglich das – nun auch nicht mehr sauber definierbare – Ziel verbleibt. 

Wir treffen eine Entscheidung und erleben ausschließlich ihre Folgen.

Zum einen müssen diese keineswegs unserer ursprünglichen Intention entsprechen.

Wir wollten beispielsweise bei Francesco Himbeereis essen, bekommen aber durch unsere Entscheidung – vielleicht kein Eis, sondern – Streit mit der Bedienung, ein Geschenk als tausendster Gast oder beim Eintreten eine Dachschindel auf den Kopf.

Und zum anderen kommt das, was bei einer anderen Wahl geschehen wäre, weder vor noch spielt es irgendeine Rolle; die Lebenszeit ist irreversibel.

 

5. Der Kilimandscharo ist einmalig; aber nicht nur er. Alles Sich-Zeigen ist einmalig, sofern wir hinreichend viel Achtsamkeit dafür aufbringen. Diese Einmaligkeiten sind per definitionem Phänomene.

Sie bilden also ein Sich-Zeigen, dem wir einen Namen geben können; „Kilimandscharo“ beispielsweise. Aber Phänomene lassen sich nicht bezeichnen, denn der Satz „Der Kilimandscharo ist ein Berg“ muß falsch sein, weil er einen Widerspruch darstellt:

Zum einen gibt es nur einen Kilimandscharo, aber viele Berge; Berg ist kein Name, sondern ein Begriff, und indem wir den Kilimandscharo zum Berg degradieren, berauben wir ihm seiner Einmaligkeit.

Und zum anderen kann es doch auch gar nicht stimmen, daß ein Phänomen mit einem Begriff oder ein Sich-Zeigen mit einem Objekt identisch sein soll.

Dieses Problem ist zumindest seit dem Nominalismus im späten Mittelalter bekannt, und die Postmoderne bietet eine möglicht Lösung an. Dem Nominalismus zufolge gibt es nur Einzeldinge, und diese sind unsagbar; „Individuum est ineffabile“.

 

6. Dem kann ich nicht widersprechen, und wir müssen sogar noch einen Schritt weitergehen:

Die Phänomene stehen nicht nur hinsichtlich ihrer Einmalig- und damit Unsagbarkeit den traditionellen Seienden gegenüber, sondern lösen auch das noch offene „Seins“-Problem.

Wir hatten des öfteren erwähnt, daß niemand erklären kann, worin die angebliche Existenz der Seienden besteht; was uns freilich auch kaum überraschen dürfte. Sie wurden erfunden und werden benötigt, um einen fundamentalen Widerspruch des traditonellen Denkens zu beseitigen – aber es gibt sie gar nicht; oder vorsichtiger ausgedrückt:

Es macht keinen Unterschied, ob sie existieren oder nicht.

Wie soll man herausfinden können, worin das Sein von derartigen Seienden besteht?  

 

Das „Sein“ der Phänomene ist dagegen eher unproblematisch.

Sie zeigen sich nicht; bei einem solchen Verständnis stünden wir ja weiterhin vor dem Problem, daß die Phänomene – irgendwie – sein müßten, bevor sie sich zeigen oder um sich zeigen zu können.

Vielmehr sind die Phänomene ihr ein Sich-Zeigen – hinter dem nichts mehr steht.

 

Jedes Sich-Zeigen setzt einen Adressaten voraus; das dient uns als Ansatz für den Begriff des Subjekts:

Unter Subjekten verstehen wir im weiteren die Empfänger von Phänomenen.

Das paßt auch recht gut zu unserer Charakterisierung der Phänomene als einmalig:

Das Sich-einem-Subjekt-Zeigen kann schwerlich als bloße Wiederholung gedacht werden – einfach weil kein Wiederholtes existiert – und muß folglich einmalig sein.

 

7. Daß Phänomene ein Sich-dem-Subjekt-Zeigen sind, bedeutet, daß wir Phänomen und Subjekt nicht voneinander trennen dürfen. Natürlich gibt es kein Phänomen ohne Subjekt, aber die Umkehrung gilt ebenso: Ohne Phänomen kein Subjekt.

Wir dürfen uns also insbesondere nicht vorstellen, daß ein Subjekt seine Phänomene wahrnimmt, denn damit wären die beiden ja bis zur Wahrnehmung getrennt. Phänomene werden nicht wahrgenommen, sondern sind ein Sich-Zeigen.  

Das wird bei visuellen Phänomenen überdeutlich:

Würden wir den Kilimandscharo sehen, müßte er sich im Raum befinden, weil das Sehen diesen erzeugt. Phänomene können räumlich sein – der Klimandscharo ist es ebenso wie ein ausstrahlender Schmerz –, sich aber niemals im Raum der Sehungen befinden.

 

AD: „Wenn ich Sie recht verstehe, bedeutet dies, daß es ohne Subjekte auch keine Erde geben kann und damit insbesondere jegliche Evolution hinfällig wird?“

Natürlich; dabei wende ich mich jedoch nicht gegen die Evolution, sondern gegen die Seienden; ob sie sich einer Entwicklung oder Schöpfung verdanken sollen, ist völlig gleichgültig. 

Die Erde stellt in unserem Seins-Bild einen heliozentrischen Planeten dar, und einen solchen Erd-Begriff gibt es viellicht noch keine 2500 Jahre (Aristarch von Samos).

Lernt ein Kleinkind zu laufen oder werden Apfelbäume gepflanzt, geht das auch nicht ohne die Erde; aber dabei ist ein Begriff unnötig und im ersten Fall auch tatsächlich nicht vorhanden; vielmehr genügt das Phänomen namens „Erde“, das heißt, die Erde als ein Sich-Zeigen.

 

Es gibt sie folglich doppelt:

Zum einen intersubjektiv auf ganz unterschiedliche Weise als Erde-Begriff und damit Teil des Seins-Bildes; zum Beispiel Planet, Scheibe oder Hohlkugel. 

Zum anderen subjektiv als unsagbares Phänomen. Dann stellt die „Erde“ keinen Planeten dar; der Kilimandscharo ist kein Berg und die Elbe kein Fluß – was uns freilich nicht daran hindern muß, ihn zu besteigen bzw. in ihr zu baden.

Die seiende – „wirkliche“ oder „richtige“ – Erde im Sinne der Tradition existiert dagegen postmodern nicht (mehr).

 

AD: „Diesen letzten Satz kann ich absolut noch nicht nachvollziehen; aber ich gehe davon aus, daß Ihnen das klar ist und wir noch ausführlich darauf zurückkommen werden.

Bis dahin korrigiere ich schon einmal mein bisheriges Sprachverständnis:

Mit der Tradition hatte ich einen Dualismus von – Sprache und Welt, Symbol und Wirklichkeit oder – Worten und Seienden vorausgesetzt, in dem diese von jenen bezeichnet werden. Aber das muß offensichtlich falsch sein; was es gar nicht gibt, können wir auch nicht bezeichnen.

Das Ganze ist dumm gelaufen; jetzt weiß ich auch nicht mehr, was die Sprache oder das Symbolische sind.“

2.14.1. Bewußtseins- oder Subjektphilosophie

Die Tradition in Antike und Mittelalter nahm die beiden Unterschiede

zwischen ihrer „Gottes“-Vorstellung und dem wahren Gott sowie

zwischen dem Schauen Gottes und unserer menschlichen Perspektive

häufig nicht ernst genug.

Vielmehr ging dieses Denken zumeist davon aus, daß unsere Sicht auf die Wirklichkeit im Prinzip mit derjenigen Gottes übereinstimmt. Natürlich ist sie viel begrenzter und auch fehlerhaft, aber das ist im gegenwärtigen Zusammenhang sekundär. Entscheidend ist an dieser Stelle allein, daß uns – obwohl wir nicht Gott sind – der Tradition zufolge sein Blick auf das Ganze möglich ist; wenn auch gebrochen. Was glasklar vor Gott steht, sehen wir zwar nur „wie durch einen Schleier“ – aber es ist der gleiche Gegenstand, den wir gemeinsam erleben.

Fromm ausgedrückt liegt vor uns ebenso wie vor Gott die Schöpfung ausgebreitet. Wir Menschen wissen – trotz unseres provinziellen Hier und Jetzt – ebenso wie er vom Urknall oder Alpha Centauri.

 

Damit kommen wir auf Ihre Frage nach der Allmacht Gottes zurück:

Wir sehen nicht nur das Gleiche wie er, sondern tun auch das Gleiche – natürlich viel, viel schlechter; wir bauen Häuser, Gott schafft eine ganze Welt. So kam man auf die Allmacht als den absoluten Superlativ der Macht und konnte sich häufig gar nicht vorstellen, daß bereits die Parallele oder Analogie zwischen Gott und uns völlig daneben sein könnte und dadurch der gesamte Gedankengang danebenliegt.

Ich persönlich halt ihn für sehr naiv:

Wie verhält sich die Allmacht Gottes zum Leid in der Welt?

Kann ein Gott, der nach christlichem Verständnis selbst die Liebe ist, überhaupt etwas anderes als lieben

Verläßt ein solcher Gott seinen verzweifelten Sohn beim Tod am Kreuz? 

 

Häufig wurde diese übermenschliche Fähigkeit, am Schauen Gottes teilhaben zu können, mit unserer Gottesebenbildlichkeit begründet. Das überzeugte jedoch nicht alle Denker; Pascal beispielsweise führte deswegen den „Gott der Philosophen“ ein, der traditionell für unser Erkennen unbedingt notwendig ist, aber mit dem Gott des Glaubens kaum etwas gemein hat.

In der Moderne kann man – richtigerweise – gar nicht mehr mit Gott argumentieren; auch nicht mit dem Gott der Philosophen. Soll das traditionelle Denken dennoch beibehalten werden, müssen wir ihn also durch einen „Gott“ ersetzen, der zwar anders genannt wird, aber exakt die gleiche Aufgabe erfüllt.

Sie besteht darin, verständlich zu machen, wie es möglich ist, daß jeder gesunde erwachsene Mensch aus seinem winzigen subjektiven Hier und Jetzt heraus das Ganze schauen oder über den „Blick von nirgendwo“ (Thomas Nagel) verfügen kann.

 

Diese Problematik führte zu einem „Paradigmenwechsel“ von der antik-mittelalterlichen Seins- zur modernen Bewußtseins- oder Subjekt-Philosophie, die besonders von Descartes, Kant und Husserl getragen wurde. Beide Philosophien benötigen Gott, weil sie traditionell denken; die Seinsphilosophie gibt das zu, die Bewußtseinsphiosophie bestreitet es.

Die Seins-Philosophie weiß, daß ihre Seienden von uns nicht abgebildet und damit ohne Gott auch nicht erreicht werden können. Er sorgt in seiner Liebe für die notwendige Übereinstimmung zwischen den Seienden und unseren Wahrnehmungen.

Diese Funktion übernimmt in der Bewußtseins-Philosophie die objektive Vernunft, die Descartes, Sie erinnern sich vielleicht, für „die bestverteilte Sache der Welt“ hielt. Wir schauen uns ganz kurz die Kantische Version der Bewußtseins-Philosophie an, weil sie nicht nur folgen-, sondern auch sehr lehrreich ist.

 

Kant geht – mit weiten Teilen der Moderne – von einer „Spaltung des Subjekts“ aus, die Folgendes meint:

Ein Subjekt 

– ist weder sein Körper,

– noch entsteht es, indem wir diesen mit irgendeinem Innen versehen, sondern das Subjekt

– kommt dadurch zustande, daß wir seinem Körper das eine absolut intersubjektive „transzendentale Subjekt“ hinzufügen. 

Wir sind also in der modernen Bewußtseins-Philosophiie keine Einheit (mehr), sondern gespalten in unseren Körper – das empirische Subjekt – und das transzendentale Subjekt.

 

Kant steht damit am Übergang von der Moderne zur Postmoderne; für ihn gibt es zwar bereits keine Seienden mehr, aber immer noch „Dinge an sich“. Das haben ihm seine unmittelbaren klassischen Nachfolger wie Fichte, Schelling oder Hegel als mangelnde Konsequenz vorgehalten:

 „Warum nicht gleich alles streichen?“

AD: „Das verstehe ich auch nicht; was soll denn mit einer solchen Namensänderung – von ‚Seienden‘ zu ‚Dingen an sich‘ – überhaupt anders werden?“

 

Fast alles, denn die Dinge an sich bilden ein reines Daß oder Sein und besitzen kein Was bzw. Wesen; wir können sie also prinzipiell nicht abbilden oder wie auch immer erkennen und somit niemals wissen.

1. Nicht wir schauen die Dinge an sich, Kant zufolge, sondern das transzendentale Subjekt schaut sie.

2. Das führt zu den Objekten in unserem Bewußtsein.

3. Sie sind keine Abbilder, sondern Erscheinungen der Dinge an sich; deswegen stehen sie zwischen Moderne und Postmoderne.

4. Diese Transformation von den Dingen an sich zu den Objekten, die das transzendentale Subjekt vornimmt,

– prägt den Objekten die Anschauungsformen von Raum sowie Zeit auf und

– verleiht ihn ein Was oder Wesen.

5. Dadurch wissen wir, ohne abzubilden,denn die Originale in ihrer Einheit von Daß und Was oder Sein und Wesen entstehen (durch das transzendentale Subjekt) erst und unmittelbar in unserem Bewußtsein.

6. Nur in ihm gibt es also insbesondere Raum und Zeit.

 

Vielleicht erscheinen Ihnen unsere Überlegungen jetzt nicht mehr ganz so vogelwild.

Letztlich sind wir sogar nahe bei Kant geblieben und haben sein objektives transzendentales Subjekt durch das jeweilige subjektive Totalbild ersetzt.

AD: „. . . und die Dinge an sich gecancelt.“

Ja; so muß es Ihen wohl erscheinen. Das liegt aber nur daran, daß wir noch mitten in unseren Überlegungen stecken. Weil in diesem zweiten Teil das traditonelle Denken der Moderne sowie unsere Kritik daran im Mittelpunkt standen, arbeiteten wir an der Nahtstelle zwischen Wissungen (2) und Gewußtem (3). Letzteres hat sich nun im wesentlichen erledigt, so daß wir die uns eigentlich interessierende Nahtstelle zwischen verbalem Wissen (1) und Wissungen (2) ins Auge fassen können.

Dieses verbale Wissen gehört zur Leibhaftigkeit des Lebens, und sie tritt bei uns an die Stelle von Kants Ding(en) an sich; wir haben es also nicht gecancelt.

 

AD: „Das transzendentale Subjekt ist also eine Erfindung, die Gott ersetzt, dies aber zugleich verdecken soll. Der wirkliche Abschied von Gott erfolgt in unserem Ansatz dadurch, daß wir von dem transzendentalen Subjekt zu den subjektiven Totalbildern übergehen.“

Und das stellt einen gewaltigen Schritt dar!

Die theologische Tradition will immer zeigen, daß Gott notwendig ist; am besten wäre ein Beweis seiner Existenz. Deswegen gehr sie stets vom Fehl des Menschen aus, von seinen Mängeln und Grenzen, von Leid, Kontingenz oder Sterblichkeit.

„Wenn er auf sein Ende zugeht, . . .“, „Krankheit hilft Beten“ oder „Wir brauchen wieder einmal einen Krieg“ sind erbärmliche Auswüchse dieses Ansatzes. Es spricht nicht gerade für Gott, wenn er nurals Rettungsanker vor der Verzweiflung dient.

Die Postmoderne geht hingegen von einem mündigen Menschen aus, der Gott nicht benötigt, sondern selbst Verantwortung übernimmt. Bonhoeffer brachte das dadurch zum Ausdruck, daß wir „vor Gott leben (müssen), als ob es ihn nicht gäbe.“

 

AD: „Das ist ja auch gut nachvollziehbar; Liebe setzt Freiheit voraus, so daß ein notwendiger oder gar bewiesener Gott kontraproduktiv wäre.

Aber wenn wir Menschen alles können, wozu brauchen wir ihn dann überhaupt noch? Weswegen sollten wir auch nur nach ihm fragen?“

Meine Antwort konzentriert sich auf Ihr unspezifisches „alles“, denn Sie können damit nur meinen: „alles, was wir uns denken können“.

Der christliche Glaube besteht für mich in dem Versprechen, daß das sehr wenig ist und mit dem Reich Gottes ganz anderes auf uns wartet – weit jenseits alles Denkbaren.

 

Die Parallele oder Analogie zwischen Gott und uns hinsichtlich des Sehens oder Handelns fällt vollkommen weg, weil wir

– weder uns von außen sehen noch

– noch Gott als Außenstehenden – oder wie auch sonst – denken können.

Damit stellen sich zwei Fragen:

1. Wie erleben wir uns selbst als Subjekte?

2. Läßt sich Gott widerspruchsfrei denken, obwohl wir nichts von ihm wissen können?

3. Der Ausgangspunkt unseres Nachdenkens

Den meisten Menschen gilt Philosophie heute als ein bloßes Glasperlenspiel.

„Das bringt uns nicht weiter; die Philosophie kann kein einziges der Probleme lösen, vor denen wir wirklich stehen. Dazu werden die exakten Wissenschaften benötigt sowie eine sich daraus ergebende ausgefeilte Technik. Ob ‚das Nichts nichtet‘, wie Martin Heidegger meinte, oder vielleicht doch nicht, kann uns dabei ziemlich gleichgültig sein.“

 

Wer so redet, sitzt vielleicht am Stammtisch und meint, ganz genau zu wissen, sowohl daß letzterer und er selbst existieren als auch was ein Stammtisch bzw. ein Subjekt ist. Nur ein Philosoph könnte auf die Idee kommen, solcherlei Wissen infrage zu stellen.

Hinter derartigen Selbstsicherheiten stecken jedoch unausgesprochene Voraussetzungen, die wir fast alle teilen:

Natürlich entwickelten sich unsere Überzeugungen im Verlaufe des Lebens. Als Kind und noch als Jugendlicher hatten wir vieles geglaubt zu wissen, was sich später als unhaltbar herausstellte. Aber jetzt – vielleicht seit dem Abitur oder Studium – sind wir erwachsen und haben damit diese Phase der Irrtümer hinter uns gelassen.

Zumindest zwei Punkte halte ich an einer solchen Vorstellung jedoch für höchst bedenklich:

 

Erstens besaßen wir bereits als Kinder oder Jugendliche Wissen und haben fest daran geglaubt. Es bedeutet also offensichtlich keinen Widerspruch, vom eigenen Wissen überzeugt zu sein – auch wenn ihm keine gewußte Wirklichkeit entspricht.

Wir haben uns jeweils später irgendwie eines Besseren belehren lassen; nachträglich oder rückwirkend. Aber zu der Zeit, in der wir wußten, waren wir uns ganz sicher. Ein gegenwärtiger Irrtum innerhalb der eigenen Überzeugungen ist widersprüchlich und damit ausgechlossen, denn wir können nicht fest an etwas glauben und es zugleich für falsch halten:

Zu der Zeit, in der wir wissen, sind wir uns immer ganz sicher, weil klar ist, daß es stimmt.

 

Zweitens befinden wir uns heute als Erwachsene ebenfalls in exakt dieser Situation.

Warum rechnen wir nicht mehr damit, vielleicht in Bälde eines Besseren belehrt werden zu können? Wieso wurde aus dem kindlich- oder jugendlich-revidierbaren „Ich bin mir ganz sicher“ ein erwachsen-verabsolutiertes „So ist es“?

Das ist nicht nur eine andere Sprechweise, sondern  die beiden Formulierungen sind sogar völlig unabhängig voneinander:

Die erste benötigt gar keinen Außenbezug; was hat meine Überzeugung mit einer Welt zu tun?

In dem „So ist es“ soll dagegen die Adäquation mit letzterer zum Ausdruck kommen  – die urplötzlich besteht, obwohl keiner weiß, woher sie kommt.

 

Möglicherweise erkennen wir den Zenit unseres Wissens; aber was hat er mit einer solchen Übereinstimmung zu tun? Bei einem bestimmten Level der eigenen Sichtweise hört sie angeblich auf, nur meine Sichtweise zu sein und wird zur adäquaten Erkenntnis der angeblich objektiven Seienden; das Bild wird zum Weltbild im Sinne eines adäquaten Bildes von der objektiven Welt.

Meines Erachtens entspricht die Anmaßung eines solchen Perspektivenwechsels dem biblischen Sein-wollen-wie-Gott. Wir beanspruchen damit den Besitz eines Wissens von der Welt, der in sich widersprüchlich ist, weil dieser Besitz in dem Maße, in dem das Wissen stimmt, unmöglich wird:  

Wie sollten wir aus unserem kitzekleinen Hier und Jetzt heraus, in dem wir leben, ein in Raum und Zeit praktisch unendliches Universum erkennen können?

 

Ich bin daher überzeugt, daß das Erwachsen-Werden gar nicht das geistige Ankommen bei der Wirklichkeit und damit den Besitz der Wahrheit Richtigkeit bedeutet, sondern lediglich das Ende unseres Sich-etwas-Sagen- oder –eines-Besseren-Belehren-Lassens.

Verzichten wir darauf und bleiben bescheiden wie die Kinder, so bedeutet das, auch als Erwachsener von einer Entwicklung oder Genese unseres Weltbbilds auszugehen, die möglichst ein Leben lang positiv verlaufen sollte, praktisch aber zumeist einen Höhepunkt erreicht und rückläufig wird.

Die Meinung, die sich am Ziel glaubt, blockiert das Verstehen, hatte ich oben bereits einmal zitiert.

 

Wir übertragen dieses individuell-biographische „Schlau-Werden“ auch auf das kulturell-geschichtliche, so daß die übliche Überzeugung etwa lautet:

In „primitiven Kulturen“ steht hinter deren Wissungen natürlich keine Wirklichkeit – wie bei unseren Kindern. Deshalb sprechen wir von Aberglaube, wenn wir die Hinterwelt dieser Kulturen mit ihren Göttern, Geistern und ähnlichen Phantastereien beschreiben. 

Das haben wir alles nicht mehr (nötig); hinter unserem wissenschaftlichen Wissen steht die Wirklichkeit in Form der objektiven oder physikalischen Realität.

 

Woher wollen wir das wissen, wenn ein gegenwärtiger Irrtum unmöglich ist?

Daraus ergibt sich doch eher die gegenteilige Konsquenz, daß alle anderen Menschen und Kulturen ebenso wie wir an die Richtigkeit ihrer Überzeugungen glauben müssen. Somit haben sie auch exakt den gleichen Grund, eine „objektive Welt“ anzunehmen bzw. ihre subjektive Welt als objektive mißzuverstehen.. 

 

AD: „Ich muß, wohl im Namen vieler Leser, Einspruch erheben:

Gegenwärtige Irrtümer sind nicht widersprüchlich; wir können uns sehr wohl irren; widersprüchlich würde das erst, wenn wir gleichzeitig wüßten, daß es sich um einen Irrtum handelt.

Viele unserer Vorfahren glaubten zum Beispiel, die Erde sei eine Scheibe. Damit haben sie sich geirrt; aber das war kein Widerspruch, denn sie wußten nicht, daß die Erde in Wirklichkeit eine Kugel ist.“

Es tut mir leid, aber Sie bestätigen mit Ihrem Einwand meine oben geäußerte Vermutung, im traditionellen Denken komme das Sein-Wollen-wie-Gott zum Ausdruck:

Sie wissen zum Beispiel, daß „die Erde in Wirklichkeit eine Kugel ist“, und maßen sich damit die allgegenwärtige Schau Gottes oder den Blick von nirgendwo und nirgendwann an. Verzichten wir darauf – das ist die postmoderne Bescheidenheit, von der oben die Rede war –, bleibt nur die subjektive Perspektive aus unserem Hier und Jetzt.

 

Begründet läßt sich also nur sagen, daß beispielsweise die Voodoo-Gläubige von der Existenz ihrer Geister und Zombies ebenso überzeugt sind wie wir Abendländer der Moderne von der Existenz unserer objektiven Realität. Ordnen wir erstere einer Hinterwelt zu, wird nicht ersichtlich, weshalb dies bei unserer objektiven Realität anders sein sollte.

Es handelt sich nicht – wie zumeist behauptet wird – um die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Mythos, sondern um den jeweils festen Glauben entweder an diesen oder an jenen Mythos.

Zur Postmoderne gehört es also insbesondere, die abendländische Kultur der Neuzeit nicht mehr als etwas Besonderes, als Fortschritts- oder gar Endziel zu sehen, sondern ebenso wie die anderen Kulturen auch:

Alle Weltbilder oder Mythen sind Versuche, einen Weg zum wahren Leben oder dessen Fülle zu finden.

 

Aber damit stehen wir natürlich vor einem Riesenproblem:

Wenn ein Haitianer verspricht, uns systematisch und stringent, das heißt, möglichst ohne Glaubensbekenntnisse jeglicher Couleur in die Philosophie einzuführen, und dann sein Buch mit der höchst speziellen Voodoo-Realität beginnt, sind wir wahrscheinlich kaum motiviert weiterzulesen.

Sie gehört so zur Haitianischen Hinterwelt wie die objektive Realität zu der unsrigen. Natürlich habe ich ein extremes Beispiel gewählt; aber es ist nicht absurd, sondern lediglich deutlich:

Welchen Bestandteil unseres Weltbilds auch immer wir wählen – Materie, Naturgesetze, Evolution, Urknall . . . –, all das entstammt der traditionellen Hinterwelt der Moderne und entspricht damit den Geistern und Zombies der Voodoo-Kultur

Wenn ein moderner Abendländer verspricht, uns systematisch und stringent, das heißt, möglichst ohne Glaubensbekenntnisse jeglicher Couleur in die Philosophie einzuführen, und dann sein Buch mit Materie, Naturgesetzen, Evolution oder Urknall beginnt, sollten uns demzufolge ähnliche Zweifel befallen.

 

Wir benötigen als verläßliches Fundament für unsere Überlegungen einen „neutralen“ Ausgangspunkt, und müssen dazu die „wissenschaftlichen Weltbilder“ ebenso hinter uns lassen wie die „abergläubischen Mythen“.