Gliederung

0.Zitate1.Einleitung1.1.Kopernikanische Wende1.2."Methode"1.3.Igel und Fuchs1.4.Religiöser Hintergrund1.5.Philosophischer Hintergrund2.Das traditionelle Denken in der Moderne2.1.Das Welltbild als einzige Orientierungsmöglichkeit2.2.Die Schöpfung als Relation2.3.Welt und Weltbild2.4.Begriffe2.5.Naiver Realismus der Moderne2.6.Kosmos – Welt – Leben2.7.Die philosophische Transzendenz aller Seienden2.8.Vom Sein der Seienden zum Erleben der Erlebungen2.9.Urbilder und Abbilder – im logischen Zirkel2.10.Es gibt kein Abbilden2.11.Temporal-zeitliche Wahrnehmungen entstehen durch das modal-zeitliche Wahrnehmen2.12.Die objektive Realität als Hinterwelt2.12.1.Wissenschaft und Hinterwelt2.12.2.Das moderne Weltbild als Mythos2.13.Markus Gabriel als Naiver Realist2.14.Zusammenfassung3.Der Ausgangspunkt unseres Nachdenkens4.Der transzendentale Empirismus von Gilles Deleuze und Bruno Latours ANT5.Der narrative Ansatz von Paul Ricœur

0. Zitate

„Der Glaube an den Kausalnexus ist der Aberglaube.

Ich wollte damit keineswegs sagen, der Glaube an den Kausalnexus sei ein Aberglaube unter mehreren, sondern es ging mir darum, daß jeder Aberglaube eben nichts anderes ist als der Glaube an den Kausalnexus.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Es gibt viele Wege, auf denen das, was ich vergeblich zu sagen versuche, vergeblich zu sagen versucht werden kann.«

Samuel Beckett

 

„Sollten die Gesetze des (bisherigen) Denkens niederbrechen, dann wird es die tiefste Wandlung im intellektuellen Leben des Menschen geben, verglichen mit welcher die Kopernikanische und die Einstein’sche Revolution nur Scheinschlachten sind.“

Oliver Leslie Reiser

 

„Das Gegenteil von Liebe ist nicht Haß, sondern Gleichgültigkeit.“

Elie Wiesel

 

„Die Welt ist ein erstaunlicher Ort, und der Gedanke, daß wir über die wichtigsten Werkzeuge verfügen, die nötig sind, um sie zu verstehen, ist heute nicht glaubwürdiger als zu Aristoteles‘ Zeiten.“

Thomas Nagel

 

„Der vernünftige Glaube weiß, daß er ein Glaube ist.“

Rainer Forst

 

„Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dieses Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.“

Max Weber

 

„Das nicht erforschte Leben ist es nicht wert, gelebt zu werden.“

Sokrates

 

„Es ist eine furchteinflößende, eine ehrfürchtige Wahrheit, daß die Anerkennung der Andersheit der anderen, unserer unausweichlichen Trennung, die Bedingung menschlichen Glücks darstellt. Gleichgültigkeit ist die Verleugnung dieser Bedingung.“

Stanley Cavell

 

„Keiner kann sagen, was er meint, obwohl jeder nur das sagt, was er meint.“

Bruno Liebrucks

 

„Glaube nie, was in den Büchern steht. Selbst sei dir Weiser, selbst Prophet!

Glaubst du, was die Leute glauben, dann glaube nicht, daß du was weißt.

Das Wissen nur kann niemand rauben, das bei den Menschen Glauben heißt.“

Erich Mühsam

 

„Der Perspektivismus bildet keine Relativität des Wahren, sondern ganz im Gegenteil die Wahrheit des Relativen.“

Gilles Deleuze und Felix Guattari

 

„Das Böse in der Welt entspringt beinahe immer dem Unwissen, und der gute Wille kann genauso viele Schäden anrichten wie die Bosheit, wenn er nicht aufgeklärt ist. Die Menschen sind eher gut als schlecht, doch in Wahrheit ist das gar nicht die Frage.“

Albert Camus

 

„Wir müssen entweder lernen, als Brüder miteinander zu leben, oder wir gehen als Narren unter.“

Martin Luther King

 

„Ich suche nicht – ich finde.

Suchen, das ist das Ausgehen von alten Beständen und das Finden-Wollen von bereits Bekanntem.

Finden, das ist das völlig Neue. Alle Wege sind offen, und was gefunden wird, ist unbekannt. Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer. Die Ungewißheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen, die sich im Ungeborgenen geborgen wissen, die in der Ungewißheit geführt werden, die sich vom Ziel ziehen lassen und nicht selbst das Ziel bestimmen.“

Pablo Picasso

 

„Wir sind alle als Originale geboren – wie kommt es, daß so viele von uns als Kopien sterben?“

Edward Young

 

„Ich erkenne meine Verwandtschaft“ (mit allen Wesen), „ich bin nichts als ein Vermögen, ihnen Widerhall zu geben, sie zu verstehen und zu antworten.“

Maurice Merleau-Ponty

 

„Was mich betrifft, so bezweifle ich, daß der Mensch jemals eine völlige religiöse Unabhängigkeit und eine vollkommene politische Freiheit ertragen kann, und ich bin geneigt zu denken, daß er, ist er frei, gläubig sein muß.“

Alexis de Tocqueville

 

„. . . wieder versuchen, wieder scheitern, besser scheitern . . .“

Samuel Beckett

 

„Die Geschichte ist nämlich nicht, wie es die herrschende Ideologie gern sieht, die Hingabe des Menschen an die lineare, kontinuierliche Zeit, sondern die Befreiung des Menschen von ihr.“

Giorgio Agamben

 

„Theologie verliert ihr Thema, wenn sie nicht mit dem völlig Verändernden zu tun hat.“

Gerhard Ebeling

 

„Wir befinden uns in einer summenden Welt, inmitten einer Demokratie von Mitgeschöpfen; wohingegen die orthodoxe Philosophie, in welcher Gestalt auch immer, uns nur zwischen einsame Substanzen stellen kann, die alle scheinhafte Erfahrungen machen.“

Alfred North Whitehead

 

„Der Weg entsteht im Gehen.“

Antonio Machado

 

„Wir fühlen, daß, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Probleme beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. . . Die Lösung des Rätsels von Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Keine andere Wahrheit ist zeitlicher als die des Religiösen.“

Klaus Hemmerle

 

„Die Entgegensetzung der fest gewordenen Subjektivität und Objektivität ist aufzuheben und das Gewordensein der intellektuellen und reellen Welt als ein Werden, ihr Sein als Produkt, als ein Produzieren zu begreifen. . . Alle Unterscheidungen werden dabei ver-rückt; diese Tätigkeit ist die Kraft und Arbeit des Verstandes, das Fixe zu verflüssigen. . . Es ist aber weit schwerer, die festen Gedanken in Flüssigkeit zu bringen, als das sinnliche Dasein.“

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

 

„Als wir das Ziel aus den Augen verloren, verdoppelten wir die Anstrengung.“

Mark Twain

 

„Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Erlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun.“

Theodor W. Adorno und Max Horkheimer

 

„Bewahre dir in allen Dingen die Freiheit des Geistes und sieh zu, wohin er dich führt!“

Ignatius von Loyola

 

„Die wichtige Frage bezüglich der Tiere ist doch nicht, ob sie denken oder sprechen können; entscheidend ist vielmehr allein, ob sie leiden können.“

Jeremy Bentham

 

„Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen; ein Werdender wird immer dankbar sein.“

Johann Wolfgang von Goethe

 

Das Wie des Lebens ist als der Status quo die notwendige Voraussetzung seines eigenen Warum, der Fülle des Lebens.“

Johannes Soukup

 

„Die Wissenschaft versteht es bestens, metaphysische Annahmen zu zerstören; aber sie liefert keinen Ersatz dafür.“

Francisco Varela

 

„Ein Wort muß man nicht ‚verstehen‘. Man kennt es, oder man kennt es nicht.“

Philipp Wegener

 

„Wir müssen uns wohl von dem naiven Realismus, nach dem die Welt an sich existiert, ohne unser Zutun und unabhängig von unserer Beobachtung, irgendwann verabschieden.“

Anton Zeilinger

 

„Sprechen wir sinnvoll von Realität, so sprechen wir von Realität; spricht niemand von Realität, so ist von Realität nicht die Rede.“

Carl Friedrich von Weizsäcker

 

„In dem Maße, wie wir uns bemühen zu verstehen, um weniger glauben zu müssen, vertieft sich der Glaube.“

Johannes Soukup

 

„Ich möchte ein Buch schreiben, das die Menschen verwirrt, . . . und das sie dahin führt, wo hinzugehen sie niemals eingewilligt hätten.“

Antonin Artaud

 

„Ich beginne zu glauben, daß die einzige wirkliche Sünde der Selbstmord ist oder das Faktum, nicht wir selbst zu sein.“

George Tyrell

 

„Man sollte die Wahrheit dem anderen wie einen Mantel hinhalten, daß er hineinschlüpfen kann – und nicht wie ein nasses Tuch um den Kopf schlagen.“

Max Frisch

 

„Die Welt bietet nicht Wahrheiten, sondern Liebesmöglichkeiten.“

Albert Camus

 

„Glaube, der nicht Erkenntnis ist, aus Erkenntnis kommt und auf Erkenntnis beruht, ist ohne Kontakt zur Wirklichkeit. Glaube ohne Kontakt zur Wirklichkeit ändert an der Wirklichkeit des Glaubenden nichts. Er ist ohne soteriologische Kraft.“

Johannes Fischer

 

„Jeder tue das Seine, der Leser aber das Meiste.“

Søren Kierkegaard

 

„Welchen Sinn hätte unser ganzes Sein, wenn nicht den, daß in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst als Problem zum Bewußtsein gekommen wäre? An diesem Sich-bewußt-werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an – daran ist kein Zweifel – die Moral zugrunde: jenes große Schauspiel in hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten Europas aufgespart bleibt, das furchtbarste, fragwürdigste und vielleicht auch hoffnungsreichste aller Schauspiele.“

Friedrich Nietzsche

 

„Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Physikalische Objekte sind gelegen kommende Vermittler – nicht durch Definition aufgrund von Erfahrung, sondern einfach als nicht reduzierbare Setzungen, epistemologisch den Göttern Homers vergleichbar. . . . Der Mythos der physikalischen Objekte ist den meisten anderen Mythen darin überlegen, daß er sich als wirksamer erweist, dem Fluß der Erfahrungen eine handliche Struktur aufzuprägen.“ 

Willard Van Orman Quine

 

„Denken ist Schöpfung, nicht Wille zur Wahrheit.“

Gilles Deleuze

 

„Die Welt ist ein sehr labiles Gebilde, abhängig . . . von der satzförmigen Rede des Menschen.“

Hermann Schmitz

 

„‚Alles klar‘ oder ‚kein Problem‘ – beide Formeln sind zutiefst unwahr . . .

   Die Rätselhaftigkeit ist unsere fundamentale Wahrheit; alles übrige ist Interpretation . . .

   Zu wissen, was man nicht wissen kann, ist ein bedeutendes Stück Erkenntnis – denn es ermöglicht Toleranz, Kommunikation und Frieden.“

Heinz Robert Schlette

 

„Nichts fordert so viel Treue wie lebendiger Wandel.“

Johann Baptist Metz

 

„Die Sprache ‚vermittelt‘, wenn man so sagen will, zunächst nur in dem Sinne zwischen dem Menschen und seiner Welt, daß sie diese seine Welt überhaupt erst als eine solche für ihn entstehen läßt. In diesem Sinne ist die ‚Welt‘ immer schon sprachlich vermittelte Welt.“

Theodor Bodammer

 

Existieren heißt Differieren; die Differenz ist in gewissem Sinne das Wesen der Dinge.“

Gabriel Tarde

 

„Wer existiert, ist beständig im Werden und versetzt sein Denken ins Werden. . .  Wer ein objektives Christentum und nichts anderes hat, der ist eo ipso ein Heide, denn das Christentum ist gerade eine Sache des Geistes, der Subjektivität und Innerlichkeit.“

Søren Kierkegaard

 

„Definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat.“

Friedrich Nietzsche

 

„Die Lehre vom Gottsein Jesu würde nicht angetastet, wenn Jesus aus einer normalen menschlichen Ehe hervorgegangen wäre.“

Joseph Ratzinger

 

„Freiheit ist heute die Aufgabe und Chance der Kirche.“

Hermann Krings

 

„Es gibt keinen Rückzugsort des Christen von der Welt, weder äußerlich noch in der Sphäre der Innerlichkeit. Jeder Versuch, der Welt auszuweichen, muß früher oder später mit einem sündigen Verfall an die Welt bezahlt werden.“

Dietrich Bonhoeffer

 

„Christlicher Glaube richtet sich nicht auf Sätze und Lehren, sondern auf die Wirklichkeit, von der Sätze und Lehren handeln.“

Thomas von Aquin

 

„Das Eigenartige am Schicksal ist, daß es auf keine Seite der Trennung zwischen Ich und Nicht-Ich richtig paßt.“

Jonathan Lear

 

„Je begreiflicher uns das Universum wird, um so sinnloser erscheint es auch.“

Steven Weinberg

 

„Leuten, die an Esoterik glauben, sage ich: Studiert Quantenmechanik, das ist noch viel seltsamer, aber im Gegensatz zu euren Behauptungen experimentell bewiesen!“

Anton Zeilinger

 

„Ich glaube keiner Theorie, sondern ich benutze sie nur. Ich benutze von der Theorie jeweils das Teilstück, das mir hilft, . . . solange es mir hilft.“

Eckard Sperling

 

„Glauben heißt nicht Propaganda betreiben; es heißt auch nicht schockieren.

Es heißt so leben, wie es unerklärlich wäre, wenn es keinen Gott gäbe.“

Emmanuel Célestin Suhard

 

„Die gegenwärtige, weit verzweigte Realismus-Debatte wirft manche Rätsel auf, deren größtes sein könnte, warum sie überhaupt geführt wird.“

Peter Janich

 

„Um der Zukunft willen vernichten wir alles, was der Zukunft eine Chance ließe.“

Friedrich-Wilhelm Marquardt

 

„Nicht nur Gott kennen wir allein durch Jesus Christus, auch uns selbst kennen wir nur durch ihn. Ohne Jesus Christus wüßten wir weder, was unser Leben noch was unser Tod noch was Gott ist noch was wir selber sind.“

Blaise Pascal

 

„Die Kunst gibt nicht das Sichbare wieder, sondern macht sichtbar,“

Paul Klee

 

„Es ist immer etwas Lächerliches im philosophischen Diskurs, wenn er von außen den anderen vorschreiben und vorsagen will, wo ihre Wahrheit liegt und wie sie zu finden ist.“

Michel Foucault

 

„Das Wort ist ans Wort gebunden; niemals jedoch an Dinge.“

Edmond Jabès

 

„Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“

William Faulkner

 

„Das Bild des Menschen, das wir für wahr halten, wird selbst ein Faktor unseres Lebens. Er entscheidet über die Weisen unseres Umgangs mit uns selbst und den Mitmenschen, über Lebensstimmung und Wahl der Aufgaben.“

Karl Jaspers

 

„Der Auferstehungsglaube ist nicht die ‚Lösung‘ des Todesproblems.“

Dietrich Bonhoeffer

 

„Eines Tages wird man offiziell zugeben müssen, daß das, was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch größere Illusion ist als die Welt des Traumes“

Salvador Dali

 

„Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen.“

Friedrich Nietzsche

 

„Hoffnung ist nicht die Überzeugung, daß etwas gut ausgehen wird, sondern daß es Sinn hat – unabhängig davon, wie es ausgehen wird.“

Václav Havel

 

„Meine Philosophie lautet, daß alles viel komplizierter ist, als man gemeinhin glaubt.“

Kwame Anthony Appiah

 

„Ich bin kein Revolutionär, aber ich bin der Meinung, daß die Kirche im besten Sinne des Wortes unterwandert werden muß, und zwar durch eine größere Wahrheit, durch die ursprüngliche Wahrheit, und daß das Gebäude der Kirche, um dieser Wahrheit Rechnung zu tragen, irgendwann nachgeben muß, um so diese Wahrheit zur Geltung kommen zu lassen.

  Das kann keine andere als die Wahrheit Jesu Christi sein.“ 

Eugen Biser

 

„Ein Zyniker ist ein Mensch, der von allem den Preis und von nichts den Wert kennt.“

Oscar Wilde

 

„Ohne Mythus aber geht jede Kultur ihrer gesunden schöpferischen Kraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Kulturbewegung zur Einheit ab.“

Friedrich Nietzsche

 

„Wo man der Zweifel nicht fähig ist, ist man auch der Wahrheit nicht fähig.“

Fulbert Steffensky

 

„In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt. . . Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sünden unserer Väter und Vorväter. Wir sind nur noch Kindeskinder. Das ist unser Pech, nicht unsere Schuld.“

Friedrich Dürrenmatt

 

„Um die Menschen zu lieben, muß man sehr stark hassen, was sie unterdrückt.“

Jean-Paul Sartre

 

„Unsere Kultur ermutigt uns nicht, Philosophen zu sein, und dies ist vielleicht die verheerendste Verneinung von Freiheit in unserem Leben.“

William Warren Bartley

 

„Nein; gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen.“

Friedrich Nietzsche

 

„Die großartigste Lehre in beiden Religionen, der jüdischen wie der christlichen, ist – ich berufe mich hier auf ein Wort Schopenhauers – die Lehre von der Erbsünde. Sie hat die bisherige Geschichte bestimmt und bestimmt heute für den Denkenden die Welt. Möglich ist sie nur unter der Voraussetzung, daß Gott den Menschen mit einem freien Willen geschaffen hat.“

Max Horkheimer

 

„Wir verstehen nicht einmal das Leben – wie können wir den Tod verstehen?“

Konfuzius

 

„Die meisten Menschen, die sich schämen, mit einem abgelegten Hut oder Mantel zu gehen, laufen freudig mit abgelegten Meinungen herum.“

Sören Kierkegaard

 

„Wie kann der Mensch sich verstehen, wenn er den Tod nicht versteht?“

Karl Rahner

 

„Glaube nicht alles, was Du denkst; aber bedenke alles, was Du glaubst.“

Johannes Soukup

 

„Der fundamentale Widerspruch unserer Existenz . . . ist die gleichzeitige Notwendigkeit der Hierarchie, die Athen lehrt, einerseits, und des abstrakten und in gewisser Weise anarchischen ethischen Individualismus, den Jerusalem zur Aufhebung der Gewalt lehrt, andererseits.“

Emmanuel Levinas

 

„Man muß die Erklärung geben, die akzeptiert wird. Darauf kommt es beim Erklären an.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Die Götter anderer Menschen zu verachten, bedeutet, diese Menschen selbst zu verachten, denn sie und ihre Götter gehören zusammen.“

Sarvepalli Radhakrishnan

 

„Entfremdung ist die freiwillige Unterwerfung unter eine angebliche Objektivität.“

Johannes Soukup

 

„Wenn ich mich nicht täusche, ist die Innenseite dieser äußeren Reserviertheit nicht nur Gleichgültigkeit, sondern, häufiger als wir es uns zum Bewußtsein bringen, eine leise Aversion, eine gegenseitige Fremdheit und Abstoßung, die in dem Augenblick einer irgendwie veranlaßten nahen Berührung sogleich in Haß und Kampf ausschlagen würde.“

Georg Simmel

 

„Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens“ . . . und . . . „Denken ist Danken“.

Martin Heidegger

 

„Die Macht des Menschen, aus sich zu machen, was ihm beliebt, bedeutet . . . die Macht einiger weniger, aus anderen zu machen, was ihnen beliebt.“

Clive Staples Lewis 

 

„Achtung ist Beachtung der Andersheit . . . Ohne diese Achtung versteht man nichts.“

Josef Simon

 

„Schließlich geht es in der Offenbarung Gottes gerade darum, daß er, der Lebendige und Wahre, in unsere Welt einbricht und so auch den Kerker unserer Theorien aufbricht, mit deren Gitterstäben wir uns selbst gegen dieses Kommen Gottes in unser Leben absichern wollen.

Jede – auch die frömmste – Theorie entspricht einem Kerker, weil sie die (Wirklichkeit der) Zeit leugnet und damit die Offenbarung oder eine neue Fülle des Lebens verunmöglicht.“

Joseph Ratzinger

 

„Exaktheit ist ein Schwindel.“

Alfred North Whitehead

 

„Ich möchte nicht mit meiner Schrift Anderen das Denken ersparen, sondern, wenn es möglich wäre, jemand zu eigenen Gedanken anregen.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Freiheit ist das Wahrheitskriterium des Christentums.“

Eberhard Jüngel

 

„Es ist schwer, jemandem etwas auseinanderzusetzen, wenn er dafür bezahlt wird, es nicht zu verstehen.

Upton Sinclair

 

„Was ist das Allgemeine? Der einzelne Fall.

Was ist das Besondere? Millionen Fälle,“

Johann Wolfgang von Goethe

 

„Kurz: ‚Substanz‘ ist ein metaphysischer Irrtum, der dadurch entsteht, daß die Struktur von Subjekt-Prädikat-Sätzen auf die Struktur der Welt übertragen wird.“

Bertrand Russel

 

„Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind. Wir sehen die Dinge, wie wir sind.“

Talmud

 

„Viele Bewunderer der Wissenschaft meinen, sie unterscheide sich gerade darin von der Religion, daß sie Glauben durch Vernunft ersetzt. Eben diese Meinung ist nach meiner Ansicht eine Äußerung ihres Glaubens. Wir dürfen nur den Begriff des Glaubens nicht zu eng fassen.“

Carl Friedrich von Weizsäcker

 

„Nicht behaupten ’so ist es‘, sondern leben, als wäre es so.“

Johannes Soukup

 

„Die Religionen, . . . die diesen freiwilligen Abstand begriffen haben, dieses freiwillige Verschwinden Gottes, seine scheinbare Abwesenheit und seine verborgene Anwesenheit hienieden, – diese Religionen sind wahre Religionen, die Übersetzung der großen Offenbarung in unterschiedliche Sprachen.

Die Religionen, welche die Gottheit überall dort, wo sie die Macht dazu haben, als befehlend darstellen, sind falsch. Selbst wenn sie monotheistisch sind, sind sie Götzendienst.“  

Simone Weil

 

„Wir ertrinken in Informationen, aber uns dürstet nach Wissen.“

Paul Nurse

    

„Der Szientismus fügt zur Wissenschaft zwei Begleitsätze hinzu:

Erstens, daß die wissenschaftliche Methode, wenn nicht die einzige, so doch zumindest die am meisten verläßliche Methode ist, zur Wahrheit zu gelangen.

Und zweitens, daß die Dinge, mit denen sich die Wissenschaft beschäftigt – materielle Entitäten –, die grundlegendsten Dinge sind, die existieren.“

Huston Smith 

 

„Wir haben nicht zu viel Verstand und zu wenig Seele, sondern wir haben zu wenig Verstand in den Fragen der Seele.“

Robert Musil

 

„In einer werdenden Welt ist ‚Realität‘ immer nur eine Simplifikation zu praktischen Zwecken oder eine Täuschung aufgrund grober Organe oder eine Verschiedenheit im Tempo des Werdens.“

Friedrich Nietzsche

 

„Wir glauben – nicht, was richtig ist, sondern – was zu glauben wir für richtig halten.“

Johannes Soukup

 

„Philosophen sind Gewalttäter, die keine Armee zur Verfügung haben und sich deshalb die Welt in der Weise unterwerfen, daß sie sie in ein System sperren.“ 

Robert Musil

 

„Nur Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden.“

Heinz von Förster

 

„Der entscheidende Punkt ist, daß nur der Verzicht auf eine Erklärung des Lebens im üblichen Sinne uns die Möglichkeit schafft, den charakteristischen Merkmalen des Lebens Rechnung zu tragen.“

Niels Bohr

 

„Glaube ist das Denken eines religiösen Geistes.“

John Henry Newman

 

„Das schlechthin Unvernünftige – wir zerstören unsere Welt – tritt ein, weil alle vernünftig handeln.“

Thomas Ruster

 

„Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, aber bei Gruppen Parteien, Kirchen oder Völkern die Regel.“

Friedrich Nietzsche

 

„Unablässig versucht der moderne Mensch, die Welt in Reichweite zu bringen.

Dabei droht sie uns jedoch, stumm und fremd zu werden.

Lebendigkeit entsteht nur aus der Akzeptanz des Unverfügbaren.“

Hartmut Rosa

 

„Nichts ist stärker als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“

Victor Hugo

 

„Möglicherweise hat nicht die Gesellschaft Gott vergessen, sondern wir Christen haben verlernt, richtig über Gott zu reden.“

Manfred Lütz 

 

„Wir brauchen ein Ministerium für Ruhestörung, das kalkuliert Ärger erzeugt; die Routine zerstört und die Selbstzufriedenheit untergräbt.“

Cyril Dean Darlington

 

„Du und ich, wir sind nicht zwei.“

Emmanuel Levinas

 

„Wirklich ist das, wovon wir ausgehen, selbst wenn wir es im einzelnen bezweifeln.“

Bernhard Waldenfels

 

„Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind, – oder doch ähnliche Gedanken – schon selbst einmal gedacht hat.

Es ist also kein Lehrbuch.

Sein Zweck wäre erreicht, wenn es einem, der es mit Verständnis liest, Vergnügen bereitete. . .

Denn wenn ich auch nur selten ins Schwarze getroffen habe, wird der aufmerksame Leser doch erkennen, nach welchen Zielen ich unablässig geschossen habe.“

Ludwig Wittgenstein.

1. Einleitung

Das waren sehr viele Zitate; sie sollten die Richtung andeuten, in die wir uns bewegen werden, und Ihnen damit eine Entscheidung ermöglichen, ob es sich für Sie möglicherweise lohnen könnte, mein Buch zu lesen.  

Haben Sie keine Sorge, daß es in diesem Sinne – also auch ein wenig langweilig und ermüdend – weitergehen könnte. Ganz im Gegenteil; ich versuche, selbst zu denken, finde das unheimlich spannend – es ist mein Hobby – und lade Sie dazu ein.

Wenn Sie mitspielen und Fehler finden, hat sich das Thema für Sie höchstwahrscheinlich sehr schnell erledigt. Sympathisch und der Wahrheit dienlich wäre es freilich, mich kurz auf die entsprechenden Schwachstellen hinzuweisen. Ich danke Ihnen schon im Voraus und bitte um Entschuldigung für meine Versehen.

 Unter Fehlern verstehe ich insbesondere logische Widersprüche, fehlende Denkmöglichkeiten und ungerechtfertigte Annahmen jeglicher Couleur, also nicht nur weltanschaulich-religiöse, sondern auch wissenschaftliche oder alltägliche.

 

Kein Fehler ist es dagegen, vom Zeitgeist mit seinen Selbstverständlichkeiten und Plattitüden abzuweichen, von dem, was „man sagt“ oder „jeder weiß“. Dabei geht es freilich nicht um das Widersprechen als Selbstzweck, wie wir es heute tagtäglich auf unseren Straßen – mit nahezu beliebigen „Begründungen“ und „Argumenten“ oder auch ohne beide – erleben.

Entscheidend ist vielmehr, daß natürlich „insbesondere logische Widersprüche, fehlende Denkmöglichkeiten und ungerechtfertigte Annahmen jeglicher Couleur“ auch dann zu vermeiden sind, wenn sie von vielen Menschen geteilt werden und somit dem Zeit- oder einem beliebigen Gruppengeist entsprechen.

Bloße Meinungen interessieren mich nicht, und eine „Meinungsfreiheit“, derzufolge „doch jeder sagen darf, was er meint“, ist keine Errungenschaft der Demokratie, sondern arbeitet an deren Zerstörung. Meinungs-Freiheit setzt Meinungs-Bildung voraus.

 

Die meisten von uns können es sich heute kaum leisten, Zeit und Mühe in die Auseinandersetzung mit einem Buch zu investieren, die sie anschließend bereuen würden, weil sich sein Inhalt rückblickend als oberflächlich, uninteressant oder sinnleer herausstellt.

Mit dem letzten Prädikat meine ich nicht die übliche Frage „Was bringt mir das?“, weil sie selbst oberflächlich, uninteressant und sinnleer ist. Wer dergleichen sucht, ist hier falsch und sollte besser Ratschläge zur Selbstverwirklichung, Anleitungen zur Erbauung oder Tips vom Baumarkt und Finanzberater lesen.

(„Tips“ stimmt; ich halte mich an die alte Rechtschreibung, denn sie wurde gerade geändert, als ich endlich einigermaßen sicher darin war. Die vorreformerische Orthographie ist offiziell für Bücher gestattet; sie muß nur konsequent „von gestern“ sein, und das versuche ich zu befolgen.) 

 

Das Buch will Ihnen helfen,

selbst zu denken und

– dadurch unter anderem einzusehen, daß

  — Aussagen oder Sätze höchstens zwischen richtig und falsch spielen,

  — Überzeugungen und Wahrheit zwei völlig verschiedene Dinge sind,

  — niemand die Wahrheit haben kann, weil

  — sie nicht die Form von Aussagen bzw. Sätzen besitzt,

  — eigene Überzeugungen sowohl für ein erfülltes Leben wichtig als auch für fruchtbare Gespräche notwendig sind und

  — der Widerstreit dort beginnt, wo sie als Wahrheit geglaubt werden.

 

Ich möchte Ihnen möglichst deutlich aufzeigen, daß wir alle bestenfalls das eigene subjektive Leben verstehen und unser Horizont oder Weltbild niemals über dieses Leben hinausreicht. Alle weitergehenden Theorien über die Welt und ihre Rettung oder Transzendenz sind reine Luftschlösser; die Geschichte zeigt uns im Übermaß, daß sie häufig ins Unglück führen – privat wie  gesellschaftlich.

Daraus ergeben sich – sofern Sie mitgehen (können) – zwei Konsequenzen:

Unsere Wahrheit ist bestenfalls die subjektive Wahrheit des eigenen Lebens – denn nur letzteres ist uns gegeben – und niemals diejenige irgendwelcher angeblich objektiver Theorien. Naturgesetze beispielsweise mögen richtig sein; aber das ist etwas ganz anderes als „wahr“, und die Unterscheidung zwischen beiden – sowie „wirklich“ als einem dritten Kandidaten in dieser Hinsicht – wird sich als wesentlich herausstellen.

Das bedeutet des weiteren, daß wir auch „die Welt nur retten können“, indem wir bei uns selbst bzw. dem eigenen Leben beginnen – und verbleiben. Erreicht diese Einsicht unser Herz, führt sie vielleicht dazu, im tiefsten Inneren ein wenig bescheidener, offener, gelassener und toleranter zu werden.

Ich kann niemandem sagen, was wahr – oder gar: für ihn wahr – ist, sondern lediglich versuchen, ihm meine Wahrheit vorzuleben.

 

Wir benötigen die subjektive Wahrheit unseres Lebens allein für dieses Leben selbst, nämlich um intensiver leben zu können. Das ergibt sich meines Erachtens daraus, daß der Sinn unseres Lebens in dessen Fülle besteht; mehr als sie oder das wahre Leben ist gar nicht möglich.

Der (christliche) Glaube will die Freiheit schenken, die wir benötigen, um diesen Sinn des Lebens zu erreichen. 

Wenn Theodor W. Adorno Recht hat mit seinem Bonmot „Es gibt kein wahres Leben im falschen“, führen wir ein unwahres Leben bis zu unserem Tod. Das wahre Leben im wahren erhoffen sich die Gläubigen von der Zukunft.

Ich widerspreche dem nicht, sondern ergänze lediglich:

Und zuvor, das heißt, hier und jetzt besteht unsere Aufgabe darin, uns im falschen Leben um ein wahres zu bemühen.

„Das Ziel der Toleranz ist nicht die Wahrheit, sondern die Wahrung des Friedens“ (John Gray), und er bildet die notwendige Voraussetzung für unser Bemühen um ein wahres Leben

 

Die Toleranz besitzt zwei Seiten.

Unseren Mitmenschen gegenüber bedeutet sie keineswegs, daß wir das Tolerierte achten oder gar bewundern sollen; wir lehnen es ab – andernfalls wäre keine Toleranz erforderlich. 

Die jedoch ebenso notwendige „Toleranz“ uns selbst gegenüber besteht im Verzicht auf jegliches Sein-Wollen-wie-Gott, das heißt, in der tief im eigenen Herzen liegenden Überzeugung, die Wahrheit prinzipiell nicht besitzen zu können, sich aber stets um sie bemühen zu sollen. Solange wir im Falschen leben, sind Urteile – zwar unumgänglich, aber – stets unsicher und fehlbar:

 

Warum denke ich so, wie ich denke?

Weshalb bin ich sogar überzeugt, so denken zu müssen?

Welche Scheuklappen versperren mir den Blick auf andere Möglichkeiten?

Glaube ich ernstlich, weiser zu sein als Karl Jaspers‘ „maßgebliche Menschen“ – Sokrates, Buddha, Nagarjuna, Jesus oder Konfuzius –, so daß ich deren Gedanken einfach ignorieren könnte?

Muß ich nicht selbst über diese Einschätzung lachen? Wieso soll gerade ich über einen heißen Draht zu Gott oder Hegels „Weltgeist“ verfügen?

Woher resultiert überhaupt Descartes‘ Annahme, daß ich denken würde?

Könnte es nicht auch sein, daß es in mir bzw. durch mich (hindurch) denkt; vielleicht ein spezielles Gruppenwesen; so wie „es regnet“ und „blitzt“ (Georg Christoph Lichtenberg) oder bei Martin Heidegger gar „die Sprache spricht“?

Ist meine „ewige Wahrheit“ vielleicht nur ein alter Zeitgeist und die angeblich „großartige Idee“ lediglich der neue?

 

AD:  „Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle, bevor ich Ihnen ins Wort falle:

Mein Name ist ‚Advocatus Diaboli‘, kurz ‚AD‘ genannt; ich vertrete Ihre Leser und versuche, ihnen ein wenig zu helfen, wenn Sie etwas – nennen wir es einmal vorsichtig – ‚Befremdliches‘ zum Ausdruck bringen; wie soeben.“

Sie haben uns noch gefehlt . . .; aber trotzdem: „Herzlich willkommen!“

AD: „Ich fürchte, mit Ihrer Behauptung, wir könnten keine Wahrheit besitzen, widersprechen Sie sich selbst, denn das soll doch auch eine Wahrheit sein – die Sie bereits haben und mir bzw. uns Lesern vermitteln wollen.“

 

Nein; das stellt einen alten Einwand dar, der an dieser Stelle häufig wiederkehrt. Aber er ist trotzdem falsch, denn ich erhebe keineswegs den Anspruch, daß mein Satz „Niemand kann die Wahrheit habenwahr sein soll; natürlich nicht; Sätze sind niemals wahr.  

Ich bin jedoch überzeugt, daß der Satz „Niemand kann die Wahrheit habenrichtig ist.

 

Wahr sein kann allein unser Leben. Das enthält aber keine Sätze – Behauptungen, Versprechen, Befehle, Entschuldigungen, Dogmen, Gesetze, Bitten, Appelle und dergleichen –, sondern höchstens das Äußern bzw. Ausdrücken – Denken, Sagen oder Schreiben – von ihnen. Es gibt also insbesondere weder wahre Naturgesetze noch wahre Dogmen – jeglicher Couleur –; aber meine Aufgabe im situativen Hier und Jetzt kann sehr wohl darin bestehen, derartige Aussagen zu treffen

In Abhängigkeit davon, ob und wie ich das tue, kann mein Leben – im Sinne einer Verantwortungs- oder Situationsethik – wahr bzw. unwahr werden; das betrifft jedoch nur mein Sagen, während das Gesagte bestenfalls richtig ist:

„Ich mußte mich um der Wahrheit willen so äußern – obwohl das, was ich formuliert habe, falsch war.“

Dieser Unterscied zwischen Sagen und Gesagtem spielt bei Emmanuel Levinas eine sehr große Rolle.

 

AD: „Das war etwas kompliziert; wenn Sie dafür vielleicht einmal ein Beispiel hätten . . .“

Ja; natürlich:

„1 + 1 = 2“ kann unmöglich wahr sein, weil es nichts mit meinem Leben zu tun hat. Mathematische Laien, die uns bis hierher gefolgt sind, würden also wahrscheinlich annehmen, diese Gleichung wäre richtig; aber nicht einmal das stimmt.

Es gibt nicht nur die – eine – Mathematik, die wir in der Grundschule kennengelernt haben, sondern (beliebig) viele Mathematiken.

Die „normale“ Mathematik von damals wird nach dem italienischen Mathematiker Peano benannt. Sie beginnt mit seinen fünf Axiomen; das sind mehr oder weniger willkürlich gewählte Sätze, die sich nicht beweisen lassen – ganz einfach weil sie am Anfang stehen und zunächst nur sie allein vorhanden sind; es gibt einfach nichts, mit dessen Hilfe wir sie beweisen könnten. Die Konsequenzen, die sich aus diesen Axiomen ziehen lassen, bilden in ihrer Gesamtheit die Peanosche Mathematik oder Algebra, und dazu gehört auch, daß „1 + 1 = 2“ gilt.

Völlig analog läßt sich aus den Booleschen Axiomen unter anderem „1 + 1 = 1“ ableiten. Das ist nicht falsch, und das „normale“ Ergebnis nicht richtig, vielmehr ist beides ableit- oder „beweisbar“. Bei unterschiedlichen Voraussetzungen – den Peanoschen bzw. Booleschen Axiomen – stellt es weder einen Widerspruch noch eine Überraschung dar, daß die beiden Summen unterschiedlich ausfallen.

 

Mathematik studieren heißt, möglichst viele Mathematiken kennenzulernen und ein Fingerspitzengefühl dafür zu entwickeln, bei welchen Problemen man welche Mathematik benutzen muß, um sie zu lösen.

Mit ein wenig Phantasie finden wir auch beliebig viele Beispiele, bei denen die Boolesche Algebra die angemessene ist: Zwei Wolken, zwei Geschichten, zwei Wahrheiten, zwei Leerstellen, zwei Tropfen . . . Das wichtigste Beispiel bilden natürlich die Digitalrechner; es gäbe sie nicht ohne die Boolesche Mathematik.

(Natürlich auch nicht ohne duale Zahlen; ich schreibe das jedoch nur, um darauf hinzuweisen, daß das etwas ganz anderes ist – nämlich lediglich eine Darstellungsweise innerhalb der peanoschen Algebra – und mit unserem Thema aber auch gar nichts zu tun hat. Hier gibt es selbstverständlich auch die 2; sie wird lediglich als „10“ geschrieben; in der Boolschen Mathematik existiert dagegen keine 2; nur 0 sowie 1. Und eben deswegen mußte Boole sich entscheiden, ob 1 + 1 nun 0 oder 1 sein soll.) 

 

Wird mir also die Frage gestellt, ob „1 + 1 = 2“ stimmt, hängt meine Antwort von der jeweiligen Situation und insbesondere von den Fragestellern ab.

Sind letztere unsere Enkel aus der Kita, kann meine Antwort nur „ja“ lauten; ich will ihnen doch keine Schwierigkeiten in der Schule bereiten.

Würde ich das Gleiche zu Ihnen sagen, wäre es jedoch unwahrhaftig und damit eine Lüge, weil ich mit dieser Aussage – nicht der Wahrheit, sondern – meiner eigenen Überzeugung widersprechen würde; ganz abgesehen von der Beleidigung, Sie wie unsere Enkel zu behandeln. Wahrhaftigkeit kann ja unmöglich bedeuten, die – prinzipiell unwiß- und unsagbare – Wahrheit auszudrücken; sie bedeutet vielmehr, der eigenen Überzeugung zu folgen. Der Lügner spricht nicht die Unwahrheit aus, sondern etwas, was er selbst nicht glaubt.

 

Damit sollte meine Unterscheidung zwischen „wahr“ und „richtig“ schon verständlicher werden:

Die Gleichungen „1 + 1 = 1“ oder „1 + 1 = 2“ sind – wie alle Sätze bzw. Aussagen – natürlich weder wahr noch unwahr und in diesem speziellen Fall nicht einmal richtig oder falsch. Unser verbales Denken, Sprechen oder Schreiben gehört dagegen zum Leben, und das allein kann wahr  sein. Dafür müssen wir freilich das eine Mal „1“ und das andere Mal „2“ sagen.

Deswegen ist „nur“ eine Verantwortungs- oder Situationethik möglich, denn sich um ein wahres Leben zu bemühen, bedeutet, im Hier und Jetzt jeweils das zu tun, worin wir unsere Aufgabe oder Verantwortung sehen; ohne das subjektive Gewissen wird ein wahres Leben also kaum gelingen.

 

AD: „Wer dagegen die Verantwortungs- bzw. Situationsethik ablehnt, an ewige Wahrheiten glaubt und diese in Sätzen oder Aussagen sucht, muß mitunter böse sein. Das wird bei Kant, den ich sonst sehr verehre, überaus deutlich; seiner Auffassung nach dürften wir niemals lügen.

Wir müssen also beispielsweise dem Nazi-Soldaten, wenn er uns fragt, „ehrlich“ antworten, wo sich der versteckte Jude aufhält; oder dem labilen Patienten seine Diagnose mitteilen – wie schlimm sie auch ausgefallen sein mag. Und wenn das noch unwissende adoptierte Nachbarkind uns nach seinen Eltern fragt, . . .“

Ja; es mag übertrieben fromm klingen, wenn wir sagen „Alles, was zählt, ist die Liebe“ oder mit Augustinus „Liebe und tu, was Du willst“, aber ich bin überzeugt, daß uns schwerlich etwas Besseres einfallen wird.

 

Wir dürfen, anders formuliert, die Leibhaftigkeit des Lebens – die in der Sphäre von wahr und unwahr spielt – nicht durch unsere bloße Reflexion darüber – die bestenfalls richtig oder falsch sein kann – ersetzen; die Praxis durch die Theorie oder die Wirklichkeit durch ihre Abstraktion.

Es ist völlig belanglos, ob zum Beispiel Christen bekennen äußern, Gott sei dreifaltig; das ist – wenn es hochkommt – vielleicht Reflexion, Theorie oder Gesagtes; kann aber auch bloßes Gerede darstellen.

Wichtig könnte höchstens sein, ob die Dreifaltigkeit Gottes in ihrem Leben zum Ausdruck kommt; wenn „ja“, wäre dies ein Bekenntnis.

Und sofort wird es spannend:

Wie müßte denn mein Leben aussehen, wenn darin die Dreifaltigkeit Gottes zum Ausdruck kommen soll?

Wie hängt sie überhaupt mit meinem Leben zusammen?

Wie läßt sich das verstehen, wenn wir Gott nicht verstehen können?

 

AD: „Letztlich wird dann sogar der pure Gottesglaube sekundär, denn sowohl der wahre Gott als auch der geglaubte könnten teuflisch sein?“

Natürlich; die entscheidende Frage besteht nicht darum, ob wir „ja“ oder „nein“ zu (irgendeinem) Gott sagen. Selbst ein Schöpfer wäre auch gemein und hinterhältig denkbar; er pflanzt zum Beispiel einen sehr schönen Baum im Garten und verbietet uns bei Strafe, davon zu essen. Wir müßten mindestens drei Fragen unterschieden:

1. Wer oder was ist gegebenenfalls der wahre Gott?

2. An welchen Gott glaube ich möglicherweise?

2. Wie wirkt sich dieser Glaube bzw. Nicht-Glaube auf mein Leben aus?

1.1. Kopernikanische Wende

Die Denkrichtung unserer Überlegungen können wir in einfachen Worten anhand von vier für die betreffenden Philosophen charakteristischen Fragen andeuten:

George Berkeley: „Verursacht ein fallender Baum Lärm, wenn es niemand hört?“

Martin Heidegger: „Waren die Gesetze Newtons schon vor Newton wahr?“

Thomas S. Kuhn: „Lebten Aristoteles und Galilei in derselben Welt?“

Max Black: „Existierte die Rückseite des Mondes, bevor wir sie gesehen haben?“

Wohl viele von uns dürften sich ob solch naiver Fragen fast beleidigt fühlen und sie natürlich alle mit einem glatten „ja“ beantworten.

Ich will Ihnen dagegen zeigen, daß manches für das ebenso eindeutige „nein“ der genannten Denker spricht, dem wir uns 100%-ig anschließen.

 

Mir ist bewußt, daß diese „Kopernikanische Wende“ (Kant) natürlich „keineswegs eine Empfehlung für mein Buch darstellt, sondern eher das Gegenteil. Denn Neues will weder der Fachmann noch der Laie. Jener ist froh, wenn er so weitermachen kann, wie er es gelernt hat, . . . und dieser will auch nicht eine neue und revolutionäre Philosophie vorgesetzt bekommen, sondern – wenn überhaupt eine Philosophie, dann schon – die richtige oder die Philosophie der Gegenwart.“ (Franz Rosenzweig)

Bei beiden Wünschen muß ich Sie allerdings enttäuschen:

Die richtige Philosophie kann es nicht geben, weil philosophische Fragen keine endgültigen Antworten kennen – genau das macht sie zu philosophischen Fragen; was einmal definitiv beantwortet werden wird, war nie eine philosophische Frage.

„Die Meinung, die sich am Ziel glaubt, blockiert das Verstehen“ (Josef Simon).

Und ob mein Denken gegenwärtig en vogue ist – der zweite Wunsch –, interessiert mich nicht. Ich möchte, soweit dies überhaupt möglich ist, jeglichen Zeitgeist hinter mir lassen; freilich denjenigen, der zur Zeit des Sokrates, Jesus, Thomas oder Newton herrschte, ebenso wie den heutigen.

 

Das Buch basiert auf der Annahme, daß ein Bewußtseinswandel in dem angedeuteten Sinne bei hinreichend vielen Menschen gegenwärtig wichtiger wäre als alle pragmatischen Fortschritte, auf die wir in den letzten vier Jahrhunderten ebenso einseitig wie stolz gesetzt haben und in denen noch immer viele die Lösung unserer stetig zunehmenden Probleme sehen – anstatt ihrer Ursache.

Dieser moderne Irrglaube ist freilich nicht nur nachvollziehbar, sondern sogar nahezu zwingend, solange wir glauben, in den exakten Wissenschaften den Königsweg – nicht nur zur Richtigkeit, sondern sogar – zur Wahrheit gefunden zu haben.

Die exakten Wissenschaften sind großartig und ein Segen für uns alle. Aber zum einen haben sie nichts mit der Wahrheit zu tun, und zum anderen gibt es noch sehr viele andere Richtigkeiten.

 

AD: „Letzteres verstehe ich nicht; wenn A richtig ist, muß non-A als seine Negation falsch sein.“

Nein das ist zu simpel gedacht. Wir werden ausführlich darauf zurückkommen, so daß ich Sie bitte vorerst mit einem Beispiel Ernst von Glasersfelds abspeisen darf:

Um den vor ihm liegenden Wald zu duchqueren, tastet sich ein Blinder Schritt für Schritt mühsam vorwärts. Auf der Gegenseite angekommen hat er einen Weg gefunden, um sein Ziel zu erreichen. So, wie der Blinde gelaufen ist, geht es also – auch. Es paßte; aber nicht wie der Schlüssel zum Schloß, sondern wie einer von 1000 Dietrichen. Der Weg war richtig – 999 andere wären es freilich auch gewesen.

Ihr Fehlschluß besteht also in Folgendem:

Natürlich gilt „Wenn A richtig ist, muß non-A als seine Negation falsch sein“; aber das ist nicht die entscheidende Frage:

A ist geeignet für B; daraus folgt doch keineswegs, daß non-A ungeeignet sein muß. Was hat B mit dem Negieren von A zu tun?

 

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch; das ist keine Ungerechtigkeit; ich bin dankbar und froh, heute hier in Mitteleuropa zu leben, und genieße die abendländischen Errungenschaften der Moderne. Den meisten von uns geht es zum Glück besser als vielen mittelalterlichen Fürsten. Das betrifft nahezu alle Bereiche unseres Lebens; selbst die relative Anzahl der Menschen, die gewaltsam umkommen, nimmt – allem Augenschein zum Trotz – stetig ab (Thomas Piketty). 

Das entspricht dem Wie unseres Lebens.

Ich habe in diesem letzten Satz ganz bewußt kein einschränkendes „aber“ bzw. “ jedoch nur“ eingefügt, weil derartige Ermahnungen meiner Überzeugung zutiefst widersprechen würden. Wir wollen und – dürfen nicht nur, sondern – sollen das Leben genießen. Der Sinn des Lebens besteht in seiner eigenen Fülle oder Tiefe; es ist letzte Wirklichkeit, Selbstzweck und kein bloßes Mittel – wofür auch immer.

 

Das bezieht sich nicht nur auf ein „Jenseits“, sondern beginnt – wenn wir überhaupt diesen unseligen Dualismus versuchsweise übernehmen – im „Diesseits“; im Falschen des Lebens sollten wir uns um sein Wahres bemühen. Das „Diesseits“ ist weder Prüfungs- noch Bewährungsort und sollte auch kein Jammertal sein, denn die Lust am Leben bildet nach meinem Dafürhalten das ent- und unterscheidend Christliche. Jesus wurde unter anderem bekanntlich vorgeworfen, er sei ein „Säufer und Fresser“.

Der katholische Dominikaner-Theologe Marie-Dominique Chenu sagte zu Maria Caterina Jacobelli, der Autorin von „Ostergelächter. Sexualität und Lust im Raum des Heiligen“:

„Sprechen Sie niemals von der Freude, Madame, sprechen Sie immer von der Lust, sonst wird man Sie spiritualistisch mißverstehen.“

 

Trotz dieser positiven Wertung von Lust und Genuß ist das freilich – jetzt kommt das bereits befürchtete „aber nur“ also doch noch – lediglich die halbe Wahrheit, denn es gibt neben dem Wie des Lebens auch sein Warum, seinen Inhalt oder Sinn.

Viktor E. Frankl – der „dritte Wiener Psychotherapeut“ – faßte seine Lebenserfahrungen in dem Leitsatz der Logotherapie zusammen, daß „wer ein Warum zum Leben besitzt, nahezu jedes Wie erträgt“. Aus seinem Munde hat eine solche Überzeugung meines Erachtens Gewicht, denn Frankl überlebte Dachau sowie Auschwitz, wo sein Bruder, seine Frau und Eltern ermordet wurden.

Selbstverständlich können wir das Warum unseres Lebens – seine mögliche Fülle oder Tiefe also – völlig ignorieren und mit ungezügeltem Prassen, seichter Unterhaltung bzw. langweiligem Zeitvertreib oder Nicht-Denken in seinem Wie – der Noch-nicht-Fülle des Status quo – aufgehen.  

 

Ich bleibe also – mit der Tradition – dabei, zwischen dem Wie und Warum des Lebens zu unterscheiden, weigere mich aber – entgegen der Tradition –, die beiden voneinander zu trennen oder gar gegeneinander auszuspielen:

Das Wie des Lebens ist – als der Status quo des letzteren – die notwendige Voraussetzung seines eigenen Warum, der Fülle des Lebens.

In unserem Buch geht es um beides; deswegen mein obiges Plädoyer für Lust und Genuß. Wer das Leben will oder wem es gar – Schiller zum Trotz – als „der Güter höchstes“ gilt, kann das Wie nur als den Start des Lebens zu seinem Warum verstehen.

Die „Fülle des Lebens“ kann nicht vom Himmel fallen, denn würde sie das tun, wäre sie ungewußt und damit keine Fülle des Lebens

 

Zahlreiche prominente Wissenschaftler deuten unser Zeitalter als das Anthropozän, weil erstmals auch wir Menschen über das Schicksal des Lebens auf der Erde (mit)bestimmen – nicht mehr Sonneneruptionen, tektonische Verschiebungen, Meteoriteneinschläge, Seebeben oder Vulkanausbrüche allein. Für Ernst Ulrich von Weizsäcker ist es „das Zeitalter, in dem der Mensch das gesamte Geschehen dominiert, bis hin zur bio-geochemischen Zusammensetzung der Erde“. Man muß weder Apokalyptiker oder Weltuntergangs-Prophet noch Verschwörungstheoretiker sein, um derartige Szenarien ernstnehmen zu können, sondern nur die täglichen Nachrichten verfolgen.

Gemessen an den Privilegien, die ich angesichts der bisherigen Menschheitsgeschichte genieße, indem ich hier und jetzt leben darf, tue ich nahezu nichts. Das Schreiben dieses Buches ist mein Versuch, mit oder trotz dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit leben zu können.

 

Obwohl ich seit bald 50 Jahren über seinen Inhalt nachdenke, ist er leider immer noch kompliziert und verlangt Ihnen gewiß einige Mühe ab. Dahinter steckt jedoch nicht die mitunter anzutreffende Wichtigtuerei, die eigenen Ausführungen unnötig verkomplizieren zu wollen.

Die Schwierigkeit besteht vielmehr darin, daß meine Gedanken zum einen recht ungewohnt sind und es zum anderen absolut keinen Sinn hätte, wenn Sie mir glauben würden. Das sollen und „dürfen“ Sie nicht; vielmehr müßten Sie sich bemühen,

– entweder möglichst jeden Schritt als folgerichtig zu erkennen und – wenn es sein muß auch zähneknirschend – mitzugehen

– oder ihn – mit guten Gründen – abzulehnen.

Ein „ja, aber . . .“ hilft wie zumeist im Leben auch an dieser Stelle nicht weiter.

 

Um Ihnen das Lesen zu erleichtern, versuche ich, alle Gedankengänge möglichst vollständig wiederzugeben. Bei einem Geflecht von Überlegungen ergeben sich daraus zwangsläufig viele Überschneidungen, das heißt, redundante Wiederholungen. Die nehme ich bewußt inkauf, um Ihnen laufendes Grübeln oder Blättern zu ersparen; aber vielleicht sind Ihnen die Wiederholungen mitunter sogar ganz recht.

Hinter mir liegt ein Denkweg, für den ich, wie schon gesagt, Jahrzehnte benötigt habe. Wenn Sie immer noch ein Stückchen brauchen, um meine Überlegungen nachvollziehen zu können, ist das also nicht sonderlich schlimm, denn Sie haben mir gegenüber trotzdem noch erheblich an Zeit gespart oder „abgekürzt“.

 

Ich antworte Ihnen auf jede Kritik, die sich sachlich auf den Ansatz einläßt und meine darin enthaltenen Fehler, Lücken bzw. Unsauberkeiten im Auge hat. Daß man auch anders denken oder es ganz unterlassen kann, weiß ich bereits, und bloße Meinungen interessieren mich nicht – völlig unabhängig davon, wer sie äußert.

„Herr Müller sagt aber . . .“

Na und? Frau Meier meint auch etwas.

 

Winston Churchill schrieb: „Eine gute Rede soll das Thema erschöpfen, nicht die Zuhörer.“

Bezüglich des Themas habe ich kein ganz schlechtes Gefühl . . .

Den tapferen Lesern wünsche ich die Erfahrung, daß letztlich nur eigene Anstrengungen vor Langeweile bewahren, zur Sinnfindung beitragen und zu einer inneren Erfüllung führen oder glücklich machen können.

1.2. "Methode"

Unsere „Methode“ ist so denkbar einfach, daß ich den Titel mit Anführungszeichen versehen mußte; eine (wirkliche) Methode ist etwas anderes, aber (zum Glück) auch nicht erforderlich.

Wir versuchen einfach, Kants „sapere aude“ zu befolgen: „Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen“ und dabei auch gegen scheinbare Selbstverständlichkeiten der Zeit anzudenken, wenn Du sie vor Deiner Vernunft nicht rechtfertigen kannst. Plappere nicht einfach leere Begriffshülsen nach, nur weil man – in Deiner Kommunität – so redet, sondern „versuche zu verstehen, was Du selbst sagst“.

In diesem Bemühen sah Georg Picht den Sinn des Philosophierens.

 

Ich glaube nicht an die eine objektive (Welt-)Vernunft, die der Tradition zufolge für alle Menschen die gleiche – und womöglich noch „die bestverteilte Sache der Welt“ (René Descartes) – ist.

Es gibt jedoch unsere subjektive Vernunft, die auf den eigenen Lebenserfahrungen beruht. Ein objektiver – objektiverer – oder „höherer“ Maßstab ist uns nicht zugänglich, denn wir sind Menschen, die stets an ihr singuläres Hier und Jetzt gebunden bleiben.

Dem widerspricht nicht, daß in allen Bereichen des Lebens „Wahrheitspraktiken“ (Michael Hampe) bestehen, die uns recht deutliche Kriterien dafür liefern, was wir in der betreffenden Sphäre als richtig anerkennen sollten. Das sind natürlich in der Pathologie ganz andere Praktiken als in der Ornithologie, der Physik, dem Sport, Alltagspragmatismus oder Sprachverständnis. Sie ergeben sich nicht aus einer „einheitlichen fundamentalen Wahrheitstheorie“ – einem Phantasma der Aufklärung –, aber wer sie ablehnt, wie es heute nicht selten geschieht, fällt trotzdem hinter die Aufklärung zurück.

Im obigen Bild schlägt er alle 1000 möglichen Wege des Blinden aus und stößt sich die Nase an den Bäumen blutig.

 

Gesunde Erwachsene sind nicht nur für das verantwortlich, was sie tun und sagen, sondern auch für ihr Denken, Glauben und Wissen. Wer die Bestimmung hierüber anderen überläßt, entmündigt sich an dieser Stelle selbst und scheidet damit als ernstzunehmender Gesprächspartner aus.

Reinhard Kreissl fragt in seinem Buchtitel spitz: „Wo lassen Sie denken?“

Ich wollte es vor der Wende nicht in Ost-Berlin oder Moskau, will es aber auch heute weder in Rom bzw. Riad noch im Silicon Valley.

 

Besonders bei weltanschaulich-religiösen Fragen, die schwerlich durch Erfahrungen beantwortet werden können, ist das eigene Denken wichtig. Der Verzicht auf letzteres entspricht dem Freifahrtschein alles – und natürlich auch das glatte Gegenteil davon – behaupten zu können, weil dann jede Möglichkeit einer Überprüfung entfällt.

Wegen dieses Fehlens der Falsifizierbarkeit wurden beispielsweise viele Schulen der Tiefenpsychologie von ihren Gegnern nicht als seriös oder gar wissenschaftlich anerkannt. Das gilt natürlich auch für jede „Theologie“, die sich auf blinden Glauben, Textstellen oder andere unbegründete Äußerungen einer „Autorität“ beruft.   

 

Denken bedeutet, im Diskurs oder Streitgespräch auf die Willkür einer eigenen Meinung zu verzichten, damit „der zwangslose Zwang des besseren Arguments“ (Jürgen Habermas) beide Seiten weiterbringt. Dieser sich selbst auferlegte Verzicht auf Beliebigkeit ist zugleich ein Gewinn an Freiheit, denn letztere besteht nicht im Umfang der Wahlmöglichkeiten, sondern in der Möglichkeit einer begründeten Wahl. 

Freiheit bedeutet, begründet – nicht kausal verursacht – entscheiden zu können, und unsere Fähigkeit dazu ist die Vernunft. „Ich muß das jetzt sagen, tun oder überdenken.“

Friedrich Nietzsche konnte deswegen formulieren: „Ich habe nie eine ‚Wahl‘ gehabt“; stets lagen „zwingende“ Gründe für seine Freiheitsentscheidung vor.

 

Ich wiederhole mich bewußt:

Über einen höheren Maßstab als unsere subjektive Vernunft verfügen wir tatsächlich nicht, so daß es mir auch nicht um eine angeblich aus uns selbst kommende Autonomie gehen kann. Wir stehen – nur optisch, aber – nicht wirklich auf eigenen Beinen; mit der gleichen Überzeugung wie oben setze ich Kants Zitat also fort:

Ignorare aude; habe ebenfalls den Mut, Deine Verwundbarkeit, Endlichkeit, Kontingenz, Grenzen usw. anzuerkennen. Du hast Dich nicht selbst hervorgebracht, bleibst damit abhängig, und die Wirklichkeit ist letztlich unverfügbar; Selbstbestimmung bedeutet meines Erachtens keine Autonomie, sondern geschenkte Freiheit.

 

Wir bestimmen uns selbst in Freiheit zu dem, der wir dann sein werden; nur so ist ein – mit sich selbst übereinstimmendes, das heißt – kongruentes Selbst möglich. Kein Gott kann das schaffen; das können wir nur selbst – aber eben nicht autonom, aus eigener Kraft oder uns selbst heraus, sondern allein, weil uns die Freiheit oder Selbstbestimmung ermöglicht wird.

Diese Ermöglichung der Freiheit entspricht meines Erachtens der Schöpfung, die traditionell zumeist als ein Machen oder Herstellen von Seienden – insbesondere von uns Subjekten – mißverstanden wird.

Wir können nur mit dem kongruent sein, wozu wir uns selbst bestimmt haben. Ein „von Gott geschaffenes Selbst“ wäre als ein fremd- und nicht selbstbestimmtes „Selbst“ kein Selbst; es müßte etwas sein, was es vielleicht gar nicht sein will und wozu es sich niemals bestimmt hätte; dann ist dieses „Selbst“ auch nicht mit sich kongruent.

 

Beide Aussagen zusammengenommen – Kants Zitat und seine Fortsetzung durch uns – bedeuten, daß uns eine Freiheit auszeichnet, die wir einem oder einer Ganz-Anderen verdanken.

Viele „Atheisten“ lehnen dieses Ganz-Andere mit Recht ab, weil sie eine hinterwäldlerische Vorstellung davon haben, zu der ich ebenfalls „nein“ sagen würde.

Manche „Rechtgläubige“ kennen dagegen das Andere angeblich sehr gut und können uns viel darüber erzählen; zum Beispiel, daß es „der Andere“ heißen muß. Völlig unabhängig von den entsprechenden Inhalten glaube ich das jedoch ebenfalls alles nicht.

Wir bemühen uns um einen Mittelweg zwischen Skylla und Charybdis, der aus dem Willen resultiert, das Ganz-Andere zugleich sowohl in seiner Notwendigkeit wie auch als Geheimnis deutlich werden zu lassen.

 

Nichtsdestotrotz ist dieses Buch ein rein philosophisches – auch wenn Gott darin eine wesentliche Rolle zukommt. Er ist freilich nicht der traditionelle (Lückenbüßer-)Gott, mit dem wir aufgrund seiner Allmacht sämtliche Probleme lösen und Fragen beantworten können. Mit einem Allmächtigen dieser Art läßt sich denkerisch natürlich gar nichts anfangen:

„Kann Gott einen runden Würfel herstellen?“

„Natürlich; was fragst Du überhaupt? Er kann doch alles; daß wir nicht verstehen, wie er das macht, liegt an unserer Endlichkeit, in der wir die großartigen Handlungen Gottes niemals erfassen werden. Das betrifft insbesondere auch das Leid in der Welt, die Theodizee-Frage oder den ‚Fels des Atheismus‘ (Georg Büchner). Wir werden in der Ewigkeit (hoffentlich) einmal sehen, wie herrlich Gott alles für uns gefügt und wahrscheinlich sogar ‚die beste aller möglichen Welten‘ (Lebniz) geschaffen hat.“

 

Für mich ergibt sich – ein völlig anderer, wenn Sie wollen: postmoderner – Gott allein aus dem Bemühen, stringent denken, das heißt, möglichst keine logischen Fehler begehen zu wollen; in diesem Sinne ist Gott für mich notwendigdenk-notwendig.

Um ein theologisches Buch handelt es sich aber trotzdem nicht, weil angebliche Offenbarungen darin keine Rolle spielen (können). Der Versuch, sie logisch herleiten zu wollen, ist widersprüchlich, denn wenn er gelingen würde, handelte es sich eben deswegen nicht um eine offenbarte, sondern um eine vernünftige Erkenntnis.

 

Natürlich kann uns die subjektive Vernunft nahelegen, bei speziellen Fragen bestimmte Autoritäten anzuerkennen, weil diese ihre Kompetenz auf dem betreffenden Gebiet – unseres Erachtens – deutlich nachgewiesen haben. Aber weder kann eine Autorität diesen Anspruch von sich aus erheben, noch delegieren wir damit unsere Verantwortung an sie; es war doch gegebenenfalls unsere Entscheidung, die jeweilige Autorität für uns denken, glauben oder wissen zu lassen.

Diese unübertragbare Verantwortung bildet gemeinsam mit der subjektiven Vernunft meines Erachtens den Kern der Menschenwürde; letztere entspricht einer Medaille mit jenen beiden als ihren zwei Seiten. Sprechen wir einem Menschen – durch Indoktrination – seine Verantwortung oder subjektive Vernunft ab, so berauben wir ihn seiner Würde und machen ihn zu einer Marionette an den Fäden unserer Macht.

 

„Niemand hat das Recht zu gehorchen“ (Hanna Arendt) und sich damit hinter anderen zu verstecken. Es gibt nach der Aufklärung – über die „Aufklärung“ – keine Ausrede mehr. Jean-Paul Sartre mag damit Unrecht haben, daß wir „zur Freiheit verdammt“ seien; aber richtig bleibt hieran, daß auch das „Nicht-Entscheiden-Wollen“ – und andere für uns denken, glauben oder wissen zu lassen – ein freies Entscheiden darstellt.

Die meisten von uns würden bei größeren Geldgeschäften keinem Fremden blind vertrauen, sondern versuchen, sich möglichst selbst kundig zu machen. Ich schließe mich dem 100%-ig an – und ergänze lediglich, daß mir grundlegende existenzielle, religiöse oder weltanschauliche Fragen sogar noch wichtiger sind als finanzielle.  

 

Des weiteren nimmt meine „Methode“ die Selbstverständlichkeit ernst, daß wir über Dinge, die uns prinzipiell unzugänglich sind, auch weder sinnvoll nachdenken noch sprechen können. Natürlich läßt sich alles Mögliche vorstellen bzw. behaupten; aber Meinungen bezüglich eines Bereichs, der uns grundsätzlich verborgen bleiben muß, erweisen sich als unkontrollierbar und damit als willkürlich oder beliebig.

Das bedeutet freilich nicht, daß ein derartiges Gedöns belanglos sei oder keine Konsequenzen hätte. Wäre dem so, könnten wir es generös auf sich beruhen lassen; aber alle politischen, religiösen, wirtschaftlichen oder sonstigen Diktaturen zeigen, daß zwischen diesem und jenem Blablabla ein himmelweiter Unterschied bestehen kann

 

Mit dem für uns Unerreichbaren meine ich natürlich keine Tabus, Denkverbote oder von irgendwelchen „Experten“ zu Geheimnissen erklärten Bereiche. Soetwas gibt es für mündige Menschen meines Erachtens nicht; nur Scharlatane, Lügner, Karrieristen oder Despoten benötigen dergleichen.

Damit entzaubere ich die Wirklichkeit nicht; ganz im Gegenteil; sie ist ambig und voller Geheimnisse. Aber worin diese bestehen, vermag uns niemand zu sagen, sondern das können wir nur selbst erfahren, indem wir uns ernstlich um die Aufhellung der Geheimnisse bemühen.

Tun wir das nicht, liegen auch keine Geheimnisse vor, sondern an deren Stelle treten bloße Worte; „Gott“, „Transzendenz“, „Dreifaltigkeit“, „Subjekt“, „Leben“, „Tod“ und „Teufel“ oder „das Böse“ beispielsweise. Wer sagt, sie würden Geheimnisse bezeichnen, mag für sich persönlich Recht haben, kann dies aber nicht wie selbstverständlich auf andere übertragen:

Ein objektives Geheimnis ist ein Widerspruch in sich, denn was uns gar nicht interessiert, ist für uns kein Geheimnis, sondern Peanuts.

 

Geheimnisse unterscheiden sich gewaltig sowohl von Rätseln als auch von Geheimlehren.

Letztere bilden Märchen für Erwachsene; versuchen wir ihnen auf die Spur zu kommen, verflüchtigen sie sich zumeist sehr schnell und wir schämen uns vielleicht der Aufmerksamkeit, die wir dem Unsinn geschenkt hatten.

Geheimnisse sind dagegen umso größer, phantastischer, umwerfender – eben geheimnisvoller –, je intensiver wir uns mit ihnen beschäftigen; sie werden niemals gelöst, und das unterscheidet sie von Rätseln.

Die exakten Wissenschaften lösen lediglich Rätsel, kennen aber keine Geheimnisse, denn sie – sowohl die Wissenschaften als auch die Rätsel – sind nur (von uns) konstruiert.

Geheimnisse gehören jedoch zur Wirklichkeit und sind keine bloßen Konstruktionen. Insbesondere das Leben stellt für mich persönlich ein Geheimnis dar, so daß ich unter anderem die – lediglich rätsellösende – Biologie und Medizin nicht als Wissenschaften vom Leben betrachten kann. Wer es tut, verwechselt meines Erachtens die Leibhaftigkeit des Lebens mit der bloßen Reflexion darüber.

Die Hüter wirklicher Geheimnisse müssen keine Angst um ihren Schatz haben; je offener sie ihn präsentieren, desto mehr werden sie ihrer Aufgabe gerecht, das Geheimnis als solches zu (be)wahren und weder zu einem leeren Wort noch zur Geheimniskrämerei verkommen zu lassen.

Geheimnisse verteidigen sich selbst gegen ihre „Entzauberung“ (Max Weber), weil sie bei jedem ernsthaften Versuch, sie aufzudecken, tiefer werden. 

 

AD: „Also bestreiten Sie, daß wir in den letzten 300 Jahren – oder vielleicht auch schon viel länger – die Wirklichkeit entzaubert haben?“

Ja; das tue ich!

Wir haben die Wirklichkeit nicht entzaubert – was auch unmöglich wäre –, sondern vergessen, ignoriert und vielleicht sogar bestritten. Das wahre Leben oder seine Fülle interessiert nicht mehr; statt danach zu fragen, uns zu sehnen und darum zu bemühen, perfektionieren wir den Status quo als komfortables Luxusgeprotze im falschen Leben.   

1.3. Igel und Fuchs

Von Archilolos ist das Fragment „Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel kennt eine große Sache“ überliefert.

Ich behaupte keineswegs, ein Igel zu sein, aber es ist letztlich eine einzige Idee, die mich seit fast 50 Jahren umtreibt. Provoziert wurde sie nicht zuletzt durch meine berufliche Arbeit an Grundfragen der Quantentheorie, und das vor Ihnen liegende Buch stellt im Kern den Status quo dar, den die (nicht-physikalische) Entfaltung dieser Idee bisher angenommen hat.

 

Wer sich intensiv mit der Quantentheorie beschäftigt, wird meines Erachtens vor die Alternative gestellt, ob er weiterhin an die objektive Realität der traditionellen Welt glauben will oder die phantastischen experimentellen Bestätigungen der Quantentheorie ernstnimmt. Beides zusammen ist nicht möglich; entweder objektive Welt oder Quantentheorie.

(Wenn Sie sich selbst ein Bild davon machen wollen, ob ich das richtig sehe, wären vielleicht die Bücher von Anton Zeilinger sehr empfehlenswert. Insbesondere „Einsteins Spuk“ und „Einsteins Schleier“ schrieb Zeilinger, der 2022 den Physik-Nobelpreis erhielt, für Laien.)    

 

Albert Einstein hatte sich bekanntlich dafür entschieden, den traditionellen Glauben an die objektive Realität beizubehalten, und leider bis zu seinem Lebensende versucht, Fehler oder absurde Konsequenzen der Quantentheorie aufzuspüren.

Ich habe mich auf die Gegenseite geschlagen und gedacht:

Unsere Physik ist die grundlegende Naturwissenschaft, die in der Moderne mit dem Ziel antrat, die objektive Realität der Welt zu erkennen. Wenn selbst sie zu dem Ergebnis kommt, daß keinerlei Objektivität existiert, dann gibt es in den anderen wissenschaftlichen Disziplinen oder sonstigen Sphären unseres Lebens erst recht keine.

(Ich wechsle – wie soeben – mitunter zur ersten Person Singular, ohne im weiteren nochmals darauf hinzuweisen. Darin kommt keine Egomanie zum Ausdruck, sondern mein Bemühen, mich möglichst verständlich und eindeutig auszudrücken.)

 

Wieso sind sich die meisten von uns mit Einstein der objektiven Welt so sicher?

Weil wir überzeugt sind, problemlos über das Außerhalb unserer Psyche – wo sich die objektive Welt ja befinden müßte – nachdenken und sprechen zu können.

 

Damit sind wir bereits bei meiner Grundidee; sie ist nicht sonderlich schlau, spitzfindig oder ausgefallen, sondern ich empfinde sie eher als selbstverständlich:

„Außerhalb meiner Psyche“ bedeutet, daß mir dieser Bereich nicht zugänglich oder gegeben ist.

Dann vermag ich jedoch absolut nicht(s) davon zu wissen und kann folglich auch keinen einzigen sinnvollen Gedanken darüber denken oder Satz dazu sagen. Sämtliche diesbezüglichen Annahmen sind sinnleer, willkürlich oder beliebig – weil nicht kontrollierbar –, könnten ebenso völlig widerspruchsfrei durch ihr Gegenteil ersetzt werden und entsprechen somit einem bloßen Blablabla.

 

Positiv formuliert lautet meine Grundidee also:

Alles sinnvoll Gedachte, Vorgestellte, Erlebte oder Gesagte gehört notwendigerweise der eigenen Psyche an. Wer von ihrem Außen zu handeln meint, gibt lediglich seine diesbezüglichen Überzeugungen aus dem Innen wieder.

„Außen befindet sich die Materie“ bedeutet also lediglich die Annahme eines Physik-Gläubigen, daß sich außen die Materie befinde; was natürlich keiner wissen könnte – selbst wenn es so wäre.

 

Moritz behauptet zum Beispiel, außerhalb seiner Psyche lebe der grasgrüne Steinbeißer. Das läßt sich natürlich weder beweisen noch widerlegen, denn dazu benötigten wir einen Zugang zu diesem Außen, den es jedoch prinzipiell nicht geben kanndenn genau das meint „Außerhalb der Psyche“.

Natürlich kann der „Inhalt“ unserer Psyche zunehmen; dann befinden wir uns eben innerhalb einer umfangreicheren Psyche; aber wir sind immer darin. Und die Annahme, nunmehr etwas zu wissen, was sich zuvor außerhalb der Psyche befunden haben muß, entbehrt jeglicher Rechtfertigung und stellt ein reines (philosophisches) Glaubensbekenntnis dar.

 

AD: „Nein; wenn ich jetzt etwas weiß, was mir gestern noch unbekannt war, muß es notwendigerweise in der Zwischenzeit vom Außen in meine Psyche hineingekommen sein.“ 

Ihre Schlußfolgerung ist nur dann zwingend, wenn Sie die Psyche mit der Tradition räumlich denken. In diesem Gedankenmodell befinden sich unsere Körper außen oder im Raum; deswegen können wir sie zum Beispiel sehen. Die zugehörigen Psychen jedoch nicht, weil sie per definitionem innen bzw. nicht im Raum sind.

Aber ich habe zwei Gegenargumente, die mir als recht zwingend erscheinen:

 

Zunächst wird einerseits zwar niemand bestreiten wollen, daß, wenn ich jetzt etwas weiß, was mir gestern noch unbekannt war, es in der Zwischenzeit notwendigerweise vom Außen in meine räumliche Psyche hineingekommen sein muß.

Aber andererseits versteht natürlich auch niemand diese Notwendigkeit:

Wie wollen Sie einen Übergang erklären, dessen Start im Außen prinzipiell unerreichbar ist? Ein Wechsel läßt sich nur in dem Maße nachvollziehen, wie uns beide Seiten bekannt sind. „Wir wissen zwar nicht, was sich außen befindet, sehr wohl aber, wie es nach innen gelangt“ geht nicht.

Das Innere ist uns gegeben; aber wieso muß es außen das Gleiche oder auch nur etwas Ähnliches gewesen sein?

 

Des weiteren läßt sich nur von räumlichen oder räumlich ausgedehnten Dingen sinnvoll sagen, sie befänden sich innen; der Kern in der Kirsche, der Käfer in der Schachtel oder das Gehirn im Kopf. Beide Bestandteile eines solchen Ineinander müssen räumlich sein; das Innere ist lediglich kleiner – aber nicht unräumlich.

Die Psyche befindet sich dagegen nicht im Raum; dann kann sie aber auch nicht innen und der Körper nicht relativ dazu außen sein; ein „unräumliches Innen“ ist ein Oxymoron (widersprüchliches Unding).

 

Obwohl mir das alles sehr zwingend zu sein scheint, sehen es viele Menschen offensichtlich ganz anders. Sie

– haben sehr bestimmte Vorstellungen vom Außerhalb ihrer Psyche,

– sind von deren Richtigkeit felsenfest überzeugt und

– möglicherweise sogar bereit, Andersdenkende für deren widersprechende Annahmen zu töten; Inquisition, real existierender Sozialismus, Islamischer Staat . . . 

Die abstrusesten Bekenntnisse können also, wenn sie fanatisch als „wahr“ geglaubt werden, sowohl bei den „Gläubigen“ als auch bei den „Ungläubigen“ (über) das Leben entscheiden. Viele Menschen sind leider überzeugt, das eine richtige Blablaba von jedem falschen unterscheiden zu können. Hierbei ist es natürlich völlig belanglos, ob es sich dabei um religiöse, wissenschaftliche, politische, esoterische, verschwörungstheoretische oder sonstige Willkürlichkeiten handelt.

 

Das muß man sich einmal ernsthaft durch den Kopf gehen lassen – 300 Jahre nach der „Aufklärung“:

Eine willkürlich-leere Annahme, die bzw. deren Richtigkeit durch absolut nichts zu rechtfertigen ist und völlig unmerklich durch ihr glattes Gegenteil ersetzt werden könnte, kann weitreichende bis verheerende Folgen nach sich ziehen, wenn sie fanatisch geglaubt wird!

Was wir vom Außerhalb unserer Psyche denken, kann zwar keinen nachweisbaren Anspruch auf seine Richtigkeit erheben, sich aber nichtsdestotrotz ganz massiv auf ihr Innerhalb, das heißt, auf unser Leben auswirken.

Wer annimmt, außerhalb seiner Psyche befinde sich ein Schwarzes Loch, daß uns am 29. Februar 2028 alle verschlingen wird, lebt höchstwahrscheinlich anders als „Ungläubige“.

 

AD: „Solange wir ernstlich miteinander diskutieren, treffen Argumente – Konsequenzen, Begründungen oder Widerlegungen – aufeinander. Hierfür kann es keine Rolle spielen, ob im Außerhalb eine objektive Welt existiert oder nicht, denn argumentativ ist sie nicht erreichbar.

Tangiert diese Welt unsere Gespräche dann überhaupt?

Wie soll eine prinzipiell – nicht nur unentscheidbare Frage, sondern sogar – leere Antwort jemals in einem Diskurs virulent werden können?“

Indem sich (auch nur) ein Teilnehmer auf die objektive Welt beruft.

Damit verläßt er die vernünftige Auseinandersetzung, denn die Behauptung einer objektiven Welt ermöglicht ihm das Totschlag-Argument den Totschlag-Satz „So ist es – basta!“, der jedes fruchtbare Gespräch beendet.

 

Daß meine an Holzschnitt- oder eher noch Kettensägekunst erinnernde Darstellungsweise sinnvoll sein kann, versucht Heinzpeter Hempelmann – in einem anderen Zusammenhang, aber ganz in meinem Sinne – zu verdeutlichen:

„Ich rechne damit, daß dieser Text auf ebenso energischen, teilweise empörten Widerspruch stoßen wird wie auf dankbare Zustimmung. Möglicher Hauptangriffspunkt ist die notwendige flächige, weit ausgreifende und nicht um tausend Differenzierungen bemühte Darstellung, die auch als gewalttätig, unfair und ungerecht empfunden werden kann.

Der moderne Diskurs ist gekennzeichnet durch das Bemühen um Differenzierungen. So notwendig diese an ihrem Ort sind, so sehr kann der Diskurs eine im Endeffekt lähmende Wirkung entfalten. Schlicht formuliert: Man sieht vor lauter Bäumen, Ästen und Zweigen den Wald nicht mehr.

Es fehlt zumeist das Gesamtbild, das letztlich handlungsleitend und zielgebend sein muß.

Mein Resultat ist ein Wucht-, aber kein Wut-Text; apodiktisch im Ton, ohne Ausreden und Schminke, sicherlich korrektur- und ergänzungsbedürftig, mindestens aber ein Versuch, verschiedene Gründe zu benennen, warum . . .“

. . . wir uns vom traditionellen Denken mit seiner objektiven Welt verabschieden sollten.

 

Das tun auch die verschiedenen Spielarten des Radikalen Konstruktivismus. Mit letzterem hat unser Ansatz aber auch gar nichts zu tun, und es könnte dem einen oder anderen Leser helfen, von vornherein deutlich zu sehen, – wenn auch noch nicht wie, aber – weshalb wir einen anderen Weg einschlagen.

Die einzige Übereinstimmung zwischen unserem Explikationismus und dem Radikalen Konstruktivismus besteht im Verzicht auf die objektive Welt. Aber daraus resultieren bei letzterem zwei Probleme, die er meines Erachtens nicht lösen kann.

 

Das erste betrifft die Stellung oder Rolle des Gehirns.

Wenn alles nur eine Konstruktion darstellen würde, hätten wir keinen Konstrukteur, denn dieser kann nicht seiner eigenen Konstruktion angehören; das wäre widersprüchlich. 

Der Radikale Konstruktivismus „löst“ dieses Problem mit sehr viel unsauberem Gerede, indem er – entsprechend der „neurophilosophischen Erkenntnis“ „Ich ist gleich Gehirn“ – letzteres zum Konstrukteur erklärt.

Abgesehen von der fundamentalen Frage, woher seine Vertreter das wissen wollen, wenn alles andere eine bloße Konstruktion ist und auch das Gehirn kein Schild mit der Aufschrift „Ich bin der Konstrukteur“ trägt, entstehen natürlich zahllose weitere Probleme.

Eines davon resultiert ganz simpel daraus, daß es sehr viele Gehirne gibt. Als Konstrukteur benötige ich natürlich nur mein eigenes; sind die fremden Gehirne ebenfalls wirklich oder nur von mir konstruiert? 

Schwierig gestaltet sich offensichtlich auch die Grenzziehung. Wo endet der Konstrukteur, und beginnt die Konstruktion? Wie gehen die beiden ineinander über? Wohin gehören insbesondere das Zentralnervensystem, die Sinnesorgane und die Gliedmaßen?

 

Der Radikale Konstruktivismus ist, mit anderen Worten, nicht radikal genug, weil er das eigene Gehirn ganz traditionell als Seiendes denkt und auch denken muß, um einen Konstrukteur – für alles Restliche, das Konstruierte – zu gewinnen.

Unser Ansatz ist zum einen radikaler; darin spielt das Gehirn keine Sonderrolle, sondern stellt lediglich eines unserer ganz normalen Objekte dar. Zumeist handelt es sich nur um eine Vorstellung; insbesondere beim Chirurgen kann das Gehirn jedoch auch zu einer Wahrnehmung werden.

Und zum anderen distanzieren wir uns ganz massiv von der „Neurophilosophie“. Ich bin ein Subjekt oder Selbst und damit das Zentrum der Freiheit – aber nicht mein Gehirn.

 

Die zweite Schwierigkeit, die ich und auch seine Vertreter selbst mit dem Radikalen Konstruktivismus haben, besteht darin, daß der Übergang von einer angeblichen objektiven Realität zu bloßen Konstruktionen den gewaltigen Unterschied zwischen Erlebungen und Vorstellungen nicht einfach ignorieren kann. Vor der Wahrnehmung „Krokodil im Swimmingpool“ erschrecken wir – mit Recht –, während die entsprechende Vorstellung bestenfalls ein wohliges Gruseln hervorruft.

Im Radikalen Konstruktivismus habe ich – sehr interessiert, aber – leider vergebens nach einer befriedigenden Aufarbeitung dieses Problems gesucht:

Was unterscheidet die Krokodil-Wahrnehmung von der Krokodil-Vorstellung, wenn beide „nur“ konstruiert sind?

1.4. Religiöser Hintergrund

Ich bin zufällig katholisch, aber das ist völlig belanglos für dieses Buch. Letzteres scheint mir dagegen sehr wichtig zu sein: Wir müssen verstehen, wieso der religiöse Glaube für das Philosophieren irrelevant zu sein hat.

Es gibt ebensowenig ein christliches oder gar katholisches Philosophieren wie ein islamisches, kapitalistisches oder nationalistisches; wir haben nur die Alternative zwischen einem stets ergebnisoffenen Selbst-Denken – sprich: Streben nach Wahrheitoder dem Vertreten einer Ideologie, das heißt, dem angeblichen Besitz der Wahrheit. Jeder, der – völlig unabhängig von der Farbe – zu Beginn schon sagen kann, wohin sein „Denken“ führt bzw. was „wahr“ ist, weiß nicht, was Denken bedeutet, und ist Ideologe.

 

Mich interessiert demzufolge auch absolut nicht, wer irgendwas sagt, sondern lediglich, was irgendwer vernünftig begründet. Würde die Relativitätstheorie von Adolf Hitler stammen, wäre sie keinen Deut weniger genial als die Einsteinsche.

Ich lese also keine Bücher katholischer Autoren, nur weil sie katholisch sind, sondern solche jeglicher couleur, sofern ich hoffen kann, daß sie mir helfen, selbst zu denken und damit meiner eigenen Wahrheit näher zu kommen. Das ist diejenige meines Lebens, und die kann natürlich in keinem Buch stehen; dort gibt es bestenfalls richtige oder hilfreiche Sätze.

Auch bei meinem eigenen Schreiben versuche ich stets, mir dessen bewußt zu sein. Ich will Ihnen nichts mitteilen, sondern Sie bewegen; nicht informieren, sondern anregen zum eigenen Sich-Orientieren.

 

Hochkomplexe bzw. abstrakte Objekte – wie Liebe, Demokratie, Freiheit oder Recht – können wir als solche nicht erfahren; das ist nur möglich, wenn sie eine konkrete Gestalt annehmen, sich verleiblichen, ausdrücken oder darstellen.

Sage ich beispielsweise zu einem Menschen „Ich liebe Dich; das haben wir damit für ein und allemal geklärt“, und er erfährt dann diesbezüglich tatsächlich nichts mehr, war es gelogen. Eine „Liebe“, die sich nicht ausdrückt oder verleiblicht, ist keine Liebe; sie bedarf notwendigerweise irgendwelcher Darstellungsformen; Zärtlichkeit, Schutz, Einsatz, Verständnis, Verantwortungsgefühl, Hilfsbereitschaft, Sexualität, Geborgenheit usw.

Kein Ausdruck ist die Liebe, aber ohne Ausdruck ist auch keine Liebe.

 

Das können wir nahezu wörtlich auf den Glauben übertragen. Auch er kann nicht als solcher oder rein erfahren werden, sondern nur in seinen Ausdrucksformen bzw. durch diese. Sie können zum Beispiel in der Kunst oder Lebensführung bestehen, in Gebet, Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Verkündigung, gesellschaftlichem Engagement und Meditation, in Geschichten oder Theologie. Ein „Glaube“ ohne alle Verleiblichungen, ist kein Glaube; er ist auch nicht rein, sondern gar nichts.

Auf der einen Seite darf keine einzelne Darstellungsform mit dem Glauben identifiziert werden; Sex allein ist auch keine Liebe. Der Glaube kann also beispielsweise nicht mit dem Für-wahr-Halten irgendwelcher Geschichten gleichgesetzt werden – welcher auch immer –, obwohl er sich natürlich auch in ihnen ausdrücken kann; bei einem Kind beispielsweise in der Schöpfungs-, Weihnachts- oder Emmausgeschichte. 

Auf der anderen Seite ist natürlich auch niemand gezwungen, seinen Glauben auf eine ganz bestimmte Art zu leben.

 

Wer dies jedoch in Form der Theologie tun möchte, muß sich notwendigerweise den Maßstäben unterordnen, die auch sonst mit Recht an eine Wissenschaft gestellt werden. Das bedeutet insbesondere, daß er sich möglichst exakt ausdrücken sowie logisch sauber denken sollte und in seiner Argumentation nicht auf Zitate als Beweise, Prämissen oder gar Letztbegründungen zurückgreifen kann.

„Heilige“ Schriften sind dabei nicht besser gestellt als profane, weil ihre angebliche Heiligkeit – vielleicht nicht für den Glauben, gewiß aber – theologisch ebenfalls auf dem Prüfstand steht. So wenig sich ein guter Physiker auf Werner Heisenberg oder Nils Bohr berufen wird, darf dies ein passabler Theologe mit Jesus oder Paulus tun – völlig abgesehen von allen damit verbundenen exegetischen, hermeneutischen und sprachlichen Problemen.

Im Zen-Buddhismus „sind die Heiligen Schriften nichts anderes als schmutzige Papierabfälle“ (Shizuteru Ueda), in denen zum Beispiel bezogen auf das Meditieren steht: „Wenn Du den Buddha siehst, töte ihn.“

 

Theologisch sind die Aussagen des Lehramts für mich ebenfalls nur Meinungen; einen Mehrwert würden auch sie erst durch eine originelle Sichtweise, ihre integrierende Kraft oder Fruchtbarkeit, saubere Begründung, Kreativität, Zeitgemäßheit und ähnliches erhalten. Daß sich dies beim Lehramt anders verhalten soll, scheint mir nicht gerade aus dem Evangelium hervorzugehen; denken wir nur an den Streit zwischen Petrus und Paulus.

Wenn Johannes Paul II beispielsweise höchst offiziell die Meinung vertritt, Frauen könnten nicht zu Priestern geweiht werden – „Basta!“ –, dann bereitet er vielleicht einigen gutgläubig-naiven Christen größere Probleme, aber nicht einer denkenden, das heißt, freien Theologie, denn der haben meines Erachtens sämtliche bloßen, das heißt, schlecht oder gar nicht begründeten Meinungen gleichgültig zu sein.

Um sie ernstnehmen zu können, müßten Stellungnahmen so begründet werden, daß ich ihre Rechtfertigung verstehen und dieser guten Gewissens zustimmen kann. Eine „Begründung“, die mir nicht einleuchtet, ist für mich keine Begründung, denn im Verstanden-Werden und Nachvollziehen-Können besteht der Sinn aller Erklärungen oder Rechtfertigungen – nicht im bloßen Beteuern ihrer angeblichen Richtigkeit oder gar Wahrheit.

Bleibt es bei einem solchen Beteuern, interessiert mich die Meinung nicht.

 

Wie anders wollen wir den Glauben von jeglichem Aberglauben unterscheiden?

AD: „Bewirkt das nicht der Heilige Geist?“

Ja; natürlich; ich versuche doch gerade, Ihnen zu beschreiben, wie er das macht.

Der Glaube läßt sich nicht mittels des Verstandes und seiner Logik herleiten, sondern verdankt sich der Offenbarung oder Selbstmitteilung Gottes; in dem Maße, wie sie durch das Wirken des Geistes bei uns ankommt, sprechen wir vom Glauben.

Er folgt zwar nicht aus dem Verstand, widerspricht ihm aber auch nicht. Jeden „Glauben“, der letzteres tut, weist der Heilige Geist dadurch als Aberglauben aus.

 

Die Ergebnisse, zu denen die Theologen gelangen, sollten ihnen helfen, ihren Glauben besser zu verstehen. Das Verstehen kommt – sofern wir uns für die Theologie als Ausdrucksweise entscheiden – natürlich stets vor dem Glauben bzw. Nicht-Glauben, denn diese bestehen darin, verstandene – und damit insbsesondere auf ihre Widerspruchsfreiheit geprüfte – Inhalte anzunehmen und zu leben resp. abzulehnen und zu ignorieren. 

Was wir nicht verstanden haben, können wir theologisch weder glauben noch nicht-glauben; wir wissen doch gar nicht, worum es geht. Wer „glaubt“, ohne zu verstehen, glaubt nicht, sondern wiederholt lediglich leere Worte; entsprechend lehnt natürlich auch nur leere Worte ab, wer ohne zu verstehen „nicht-glaubt“.

Deswegen gibt es heute theologisch relativ selten nicht nur Gläubige, sondern auch Nicht-Gläubige; es wird wenig gedacht, aber viel geredet, geeifert und vor allem gefühlt. Der weltweite Aufschwung der Evangelikalen oder Pfingstkirchen bestätigt letzteres.

Damit sage ich nichts gegen deren Gläubige, sondern lediglich wertfrei, daß ihre Ausdrucksform des Glaubens nicht die theologische ist – aber natürlich auch nicht sein muß.

 

Nur wer selbst denkt, kann sich irren; das ist also eine Auszeichnung. Wer nicht denkt, irrt zwar nicht, besitzt aber auch keine Überzeugung – sondern höchstens eine „Autorität“, der er blind und kindisch folgt. Das Irren macht den Denkenden auch niemals zum Häretiker oder Ketzer, denn dazu wird man nicht durch Denken, sondern allein durch das Häretiker- bzw. Ketzer-Sein-Wollen, was mir fernliegt.

AD: „Ds kann nicht stimmen; wozu gäbe es dann überhaupt Religionen, wenn sich jeder selbst ausdenken könnte, was er glauben will?“ 

Ich beginne mit den folgenden beiden Sätzen, die annehmbar sein sollten:

1. „Der Glaube kommt vom Hören.“

2. Ich kann nur selbst entscheiden, was ich glaube, oder lasse mir von niemandem vorschreiben, was ich angeblich zu glauben habe.

Diese zwei Aussagen widersprechen sich lediglich, wenn wir – wie Sie es intuitiv bereits getan haben – „Denken“ mit „Ausdenken“ verwechseln, denn dann käme der Glaube gewiß nicht vom Hören.

 

Wir stehen jedoch mitten in der gesamten Menschheitsgeschichte, die uns durch die Sprache mit einer Unmenge von Wissungen – Ideen, Hoffnungen, Spekulationen, Drohungen, Selbstverständlichkeiten, Tabus, Verboten, Ängsten usw. – überspielt. Dadurch wird jedes individuelle „Ich denke“ falsch; „Ich denke oder interpretiere weiter“ wäre vielleicht möglich, weil stets die halbe Vergangenheit für unser Denken vorausgesetzt werden muß und folglich darin enthalten ist.

Einsam für sich allein „denken“ im Sinne des Cartesischen „Ich denke“ würde also nur, wer mit dem „Denken“ beginnt.

Das vermag jedoch niemand, weil für das Denken bereits die Sprache bzw. ein Weltbild erforderlich sind, in die wir immer schon hineingeboren werden (müsssen), so daß bereits vor uns gedacht wurde.

Der erste unserer beiden Sätze ist also verbesserungsfähig: 

1. „Alles Denken kommt vom Hören“ 

Damit andert sich jedoch auch die zweite Aussage:

2. Wir müssen denken, um vernünftig entscheiden zu können, worauf wir hören, das heißt, was wir glauben wollen. Ob wir überhaupt hören und glauben, ist keine Frage, sondern eine Notwendigkeit.

 

Es wäre die eminent wichtige Aufgabe eines postmodernen Lehramts, durch sauberes Denken – und nicht durch leeres Machtgehabe – auf eventuelle Denkfehler hinzuweisen, damit sie gegebenenfalls korrigiert werden können. Ein so verstandenes Lehramt wäre nicht nur kein unnötiger Stein des Anstoßen (mehr), sondern eine höchst willkommene, weil wirkliche Lebenshilfe für alle Menschen; und als eine solche verstehe ich den Glauben ganz allgemein:

Er ist weder eine Theorie noch ein Ge- oder Verbotssystem, sondern Unterstützung und Ansporn, um die Fülle des wahren Lebens zu erreichen.

Ohne eine objektive Welt kann niemand sagen, was richtig ist; aber um Denkfehler zu erkennen, benötigen wir sie nicht.

 

Mit den nachfolgenden drei Zitaten von Hans-Joachim Höhn kann ich mich voll identifizieren:

„Wer Theologie studiert, muß lernen, daß Frömmigkeit nicht vor Leichtgläubigkeit schützt. Wer nur etwas bezeugt, ohne davon auch überzeugen zu können, hat ein Glaubwürdigkeitsdefizit. Den Glauben zu festigen, vermag keine Theologie, der die Frömmigkeit ihres Anstrichs wichtiger ist als ihre wissenschaftliche Redlichkeit.“

„Wie man durch das Medizinstudium nicht gesünder wird, sondern am Ende weiß, was Gesundheit und Krankheit sind – wie man durch ein Jurastudium nicht gerechter wird, sondern am Ende Recht und Unrecht zu unterscheiden weiß, so wird man durch ein Theologiestudium nicht gottesfürchtiger, sondern lernt zu unterscheiden, wer oder was es in Wahrheit nicht verdient, ‚Gott‘ genannt zu werden, und auf wen man sich stattdessen im Leben und Sterben verlassen sollte.“

„Die Theologie ist nicht dazu da, ihre Adressaten gläubiger zu machen. Sie hat vielmehr jenes Wissen über und vom christlichen Glauben zu vermitteln, das zugleich nachdenklich und hoffnungsvoll macht. Sie hat zu zeigen, daß man nicht an Gott glauben kann, ohne dabei auf neue Weise ins Nachdenken zu kommen, und daß man beim Nachdenken über erste und letzte Fragen mit guten Gründen auf den Gedanken kommen kann, dabei an Gott zu denken.“ 

 

Was Höhn nach meinem Dafürhalten damit meint, „an Gott zu denken“, können wir uns am Beispiel der Dreifaltigkeit Gottes gut verdeutlichen.

Ich bestreite sie in keiner Weise, sondern ergänze nur, was an dieser Stelle zumeist vergessen wird; nämlich, daß ein solcher Glaube unter anderem die Behauptung impliziert, Gott sei weder zwei- noch vierfaltig.

Das sind drei verschiedene Möglichkeiten, von denen nur die „mittlere“ stimmen soll.

Wem dies wichtig ist, der müßte also erklären können, was bei einem zwei- bzw. vierfaltigen Gott an unserem Leben anders wäre. Übergehen wir das nonchalant oder finden wir keine vernünftige Antwort auf diese Frage, dann ist die Aussage, Gott sei dreifaltig, gegenstandslos, denn sie bezieht sich nur auf das Außerhalb unserer Psyche – und da kann man alles sagen.

Gregory Bateson sprach diesbezüglich von „einem ‚Unterschied‘, der keinen Unterschied macht“. Können wir nicht angeben, zu welchem abweichenden Ergebnissen in unserem Leben bzw. unserer Psyche ein zwei- oder vierfaltiger Gott führen würde, macht der Glaube an den dreifaltigen keinen Unterschied, und wir reden nur, ohne etwas zu sagen.

 

Die philosophisch denkenden Theologen, denen ich am meisten verdanke, sind vielleicht Kurt Appel, Eugen Biser, Dietrich Bonhoeffer, Eugen Drewermann, Georg Essen, Gotthold Hasenhüttl, Klaus Hemmerle, Gregor Maria Hoff, Klaas Huizing, Hans Joas, Peter Knauer, Jörg Lauster, Willibald Sandler, Edward Schillebeeckx, Magnus Striet, Miroslav Volf und Jürgen Werbick.

Würden Sie mir die Pistole auf die Brust setzen „Nur einer!“, wäre dies wohl Miroslav Volf.

 

Auf die Frage, ob Menschen, denen mein Verständnis des Glaubens, zu komplex ist, auf „die liebe alte Art weiterglauben“ dürften, antworte ich mit Stefan Schütze:

„Sehr gerne; ich habe doch nicht die Absicht, jemandem seinen Glauben wegzunehmen“, mit dem er glücklich und in Frieden leben kann. „Das wäre furchtbar überheblich und absolutistisch. Nur erwarte ich von diesen Gläubigen, daß sie ebenfalls andere Einstellungen akzeptieren und auch ihre Glaubensweise nicht fanatisch, unhinterfragbar oder gar gewalttätig vertreten.“     

Ich schreibe dieses Buch nicht für die fraglos Glücklichen, um ihnen völlig unnötige Probleme einzureden, sondern für diejenigen, die Schwierigkeiten mit ihrem Glauben haben und nach intellektuell redlichen Antworten suchen.

Vielleicht ist es hoffnungslos naiv von mir anzunehmen, das gegenwärtige Verdunsten des christlichen Glaubens in Mitteleuropa hätte etwas mit der Form unserer Verkündigung zu tun. Noch gehe ich aber davon aus und suche folglich nach einer Sprache, die Außenstehende voller Spannung und Neugierde fragen läßt:

„Welche konstruktiven Gedanken würden wohl gläubigen Christen hierzu einfallen?“  

 

Der Gott des Lebens muß Freiheit wollen, weil nur mit ihr ein erfülltes Leben möglich ist. Dann existieren jedoch notwendigerweise so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt, und wir sollten einander helfen, daß möglichst jeder von uns den seinigen findet.

AD: „Besteht hier nicht ein Widerspruch? Können Sie sich zum Christentum bekennen und gleichzeitig zugestehen es gäbe so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt?“

Ich bin überzeugt, daß sich diese beiden Seiten ergänzen.

Christ-Sein ist eine intersubjektive Lebensform und zwar meines Erachtens eine solche, in der

der Sinn, das Ziel, Wozu oder Warum des Lebens – wie bereits ausgeführt – in dessen Fülle bzw. Tiefe gesucht und dabei

Jesus Christus als unüberbietbarer Fixpunkt betrachtet wird.

Innerhalb dieses vorgegebenen Rahmens bleibt unendlich viel Raum für die persönliche Lebensgestaltung als Christ.

Mit einem Buddhisten oder Atheisten, die Entsprechendes von Buddha bzw. beispielsweise Sokrates sagen, könnte ich mich wahrscheinlich sehr gut unterhalten. In einem solchen Gespräch würde sich möglicherweise auch zeigen, „wer was zu bieten hat“ – ganz ohne alle Wahrheits- und Absolutheitsansprüche.

 

Ich veranschauliche mir dieses Zusammenspiel von intersubjektiver Vorgabe und subjektiver Freiheit, Miroslav Volf folgend, an der musikalischen Improvisation; insbesondere etwa beim Jazz:

Jeder Musiker spielt zwar frei seine persönliche Musik, aber letztlich macht keiner hemmungslos, was er will, sondern die Einzelinstrumente fügen sich wie von selbst zu einer Harmonie.

Jeder spielt bzw. glaubt anders – vor dem gleichen Hintergrund oder im Bemühen um das gleiche Ziel, das wahre Leben im wahren.

1.5. Philosophischer Hintergrund

Mir liegt sehr daran, daß dieses Buch allen Lesern zugänglich ist, die meine Intention annähernd teilen und bereit sind, gegen jeden Strich zu denken. Deshalb setze ich keinerlei explizites Wissen der Philosophie voraus und mache einen möglichst großen Bogen um ihre Geschichte.

Gilles Deleuze schreibt ganz in meinem Sinne: „Ich gehöre zu einer Generation, einer der letzten Generationen, die man mehr oder weniger mit der Philosophiegeschichte umgebracht hat. Die Philosophiegeschichte übt in der Philosophie eine ganz offenkundig repressive Funktion aus.“

Das entspricht zudem meiner festen Überzeugung, daß es Philosophie als Lehrfach (wie Mathematik oder Ökonomie beispielsweise) ohnehin nicht gibt, sondern nur (eigenständiges) Philosophieren im Sinne von Selbst-Denken.

Gelegentliche Angaben von Namen setzen also kein anderweitig erworbenes Wissen voraus, sondern sollen auf eventuell bekannte hilfreiche Zusammenhänge oder Möglichkeiten zu einer gründlicheren Auseinandersetzung hinweisen bzw. auch einfach nur andeuten, daß wir beide nicht allein sind, wenn Sie inhaltlich mitgehen.

Bemerkungen der Form „wie man weiß . . .“, „es ist allgemein bekannt, daß . . .“ oder „. . . im Sinne von X. Y.“ sind nach meinen Erfahrungen ebenso leserunfreundlich wie mathematische Zusammenhänge. Derartige „Hinweise“ deuten einen Unterschied zwischen uns an, den ich gerade vemeiden möchte.

 

„Jede philosophische Abhandlung muß in gewissem Sinne eine ‚Einführung in die Philosophie‘ sein, denn dadurch bewahrt sie sich vor der Gefahr, bloße Lehrmeinungen, die doch zumeist nur Leermeinungen sind, zu reproduzieren“ (Leo Dümpelmann und Rafael Hüntelmann). (Sorry; ich will Sie nicht veräppeln; die beiden heißen wirklich so.)

Ich versuche, das zu beherzigen, und schreibe das Buch für Nachdenkliche oder Suchende; weder für Ignoranten noch für Alles- oder Besserwisser. Als sein Motto wäre auch dasjenige Michel Foucaults möglich: „Ich denke gern!“ Wer das von sich ebenfalls sagt, ist herzlich zum Dialog eingeladen.

Meine wichtigsten Gewährsleute bei den Philosophen sind Isolde Charim, Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Paul Feyerabend, Michel Foucault, Michael Hampe, Michel Henry, François Jullien, Bruno Latour, Emmanuel Levinas, Josef Mitterer, A. M. Klaus Müller, Friedrich Nietzsche, Georg Picht, Paul Ricœur, Heinrich Rombach, Richard Rorty, Josef Simon, George Spencer-Brown, Gianni Vattimo, Carl Friedrich von Weizsäcker und (der späte) Ludwig Wittgenstein.

Müßte ich mich wieder auf einen einzigen Autor beschränken, wäre dies wohl François Jullien.

 

Ich entschuldige mich nicht, daß sich unter all meinen „Kronzeugen“ mit Isolde Charim nur eine einzige Frau befindet; es hat sich ganz einfach so ergeben. Hanna Arendt, Judith Butler oder Julia Kristeva beispielsweise sind phantastische Denker, die ich auch sehr gerne lese, es aber eben nicht in meine Top-30 geschafft haben.

Ich gendere nicht und tangiere dieses Thema auch nicht nochmals – weil wir meines Erachtes vor wesentlich gravierenderen Probleme stehen –, sondern versichere hiermit allen Frauen, keinerlei Schwierigkeiten mit ihrem Geschlecht zu haben.

Wenn Sie es mir nicht glauben, frage Sie bitte meine Gattin! 

 

Vor gut zehn Jahren habe ich mit dem Buch „Ursprüngliche Wirklichkeit“ die Hinführung zu einem etwas avantgardistischen, das traditionelle Denken sprengenden Ansatz vorgelegt, die insbesondere wissenschaftsgläubigen Lesern helfen sollte, Michel Henrys „Philosophie des Johannesevangeliums“ ernstnehmen zu können.

Die ersten 100 Seiten davon würde ich Ihnen heute noch gutens Gewissens empfehlen, den Rest nicht mehr; an seine Stelle tritt das vorliegende Buch.

 

Das Philosophieren oder Theologisieren darf bei keinerlei unhinterfragbaren Zitaten beginnen, hatte ich oben geschrieben.

Das ist aber nur die eine Seite, von der ich auch nichts zurücknehme.

Auf der anderen Seite können wir jedoch nur hoffen, daß die Ergebnisse, die wir durch unser eigenes Nachdenken erzielen, einer möglichst großen Tradition entsprechen. Sie sollen diese freilich nicht einfach wiederholen – für bloßes Nachplappern ist kein Denken erforderlich –, sich jedoch als weitere Interpretation der Tradition verstehen lassen.

Denn wäre dies nicht der Fall und wir würden ohne alle Berührungspunkte etwas völlig Neues finden, blieben dafür wohl nur zwei Erklärungsvarianten:  

Theoretisch könnten wir Genies sein; praktisch liegt aber die Vermutung wesentlich näher, daß unsere in der Geschichte erstmaligen „Denkergebnisse“ nur Unsinn darstellen, der so absurd ist, daß kein Mensch vor uns jemals auf dergleichen kommen konnte

 

Damit läßt sich ein wichtiger Bogen zum Beginn des vorigen Kapitels schlagen:

Erst im Nachhinein ist feststellbar, in welcher Tradition wir philosophisch oder theologisch wirklich stehen, das heißt, welche wir – weiter – interpretieren. Und so kann ich auch als offizieller Katholik erkennen, daß mein Denken beispielsweise (zen-)buddhistischen, jüdischen oder atheistischen Ansätzen teilweise sehr nahesteht.

Bei letzteren habe ich freilich einen „anderen, das heißt, durchdachten Atheismus“ (Gregor Maria Hoff) vor mir, wie wir ihn möglicherweise von Albert Camus, Gilles Deleuze, Martin Heidegger, Bruno Latour, Jean-Paul Sartre, Peter Sloterdijk oder Martin Walser kennen.

Aber das wird natürlich erst deutlich, indem wir selbst denken, und steht nicht auf unserer Taufurkunde, die zumeist vor allem eigenen Denken ausgestellt wird, dieses aber zum Glück nicht festlegt.

 

Daß wir imitten eines fundamentalen Bewußtseinswandels leben, dürften wohl die Wenigsten von uns bestreiten; weder seine Protagonisten noch die Skeptiker.

Ich hatte versprochen, daß die Philosophiegeschichte für unsere Überlegungen nicht relevant wird, aber wir sollten diese wenigstens in jene einordnen können. Meines Erachtens geht das traditionelle Denken im Zuge des gegenwärtigen Bewußtseinswandels in das postmoderne über.

Ersteres unterteilen wir in das antike, mittelalterliche und moderne Denken, so daß sich auch vom Übergang des letzteren in das postmoderne Denken sprechen läßt.

Der spezielle Ansatz, den ich Ihnen hiermit anbiete, könnte sinnvoll als „metaphysischer Explikationismus“ bezeichnet werden und bildet natürlich nur eine – eben meine persönliche – Variante der postmodernen Philosophie. Ich betone das nicht immer wieder, denn andere postmoderne Ansätze spielen praktisch keine Rolle; wir setzen uns mit dem – Ende vom – traditionellen Denken auseinander..

 

Explikationismus bedeutet hierbei, wie sich noch ausführlich zeigen wird, daß unsere Wahrnehmungen – nicht von einer angeblichen objektiven Welt abgebildet, sondern – aus dem subjektiven Leben expliziert werden.

„Explikationismus“ allein würde als Kennzeichnung aber nicht genügen, weil wesentliche Teile von Hegels recht anderer Philosophie unter der Überschrift „Erkenntnistheoretischer Explikationismus“ kursieren.

Da die Ontologie eine Lehre von den Seienden der objektiven Welt darstellt und ich die Exisenz der letzteren bestreite, kam „ontologisch“ als ergänzendes Prädikat nicht infrage, so daß sich die gewählte Bezeichnung als „metaphysischer Explikationismus“ recht geradlinig ergab.

Metaphysik ist keine Physik der Hinterwelt, sondern der Versuch, die unbestreitbaren Grenzen des eigenen Denkens, so weit wie möglich auszudehnen, um – ohne hinterwäldlerisch zu werden – mehr als Physik betreiben zu können

„Philosophie der Orientierung“ hätte ebenfalls sehr gut gepaßt, aber den Namen nutzt (leider) bereits Werner Stegmaier für seinen eigenen, dem unsrigen teilweise recht nahestehenden Entwurf.

 

Diese groben Umrisse lassen den Aufbau des Buches hoffentlich bereits ein wenig verständlich werden. Der Einleitung folgen vorerst drei Hauptteile; ein vierter wird hoffentlich noch möglich.

Im ersten von ihnen – „Das traditionelle Denken in der Moderne“ – steht die Kritik des alten, aber außerhalb der Philosophie immer noch quasi allgegenwärtigen Abbild-Modells im Vordergrund, das wir versuchen, mittels recht starker Argumente zu widerlegen und damit zu destruieren. Meines Erachtens ist es in dem Sinne falsch, daß dieses „Denken“ auf völlig unbegründbaren Voraussetzuungen beruht und demzufolge letztlich nichts mit Denken zu tun hat.

Beim zweiten Hauptteil – „Der Ausgangspunkt unseres Nachdenkens“ – fragen wir konsequent, womit ein philosophisches Denken, das so stringent wie möglich vorgehen und auf alle unnötigen Voraussetzungen verzichten möchte, am sichersten beginnen könnte. Das wird aber – selbst für mich überraschend – schon recht umfangreich und führt uns bereits tief in unsere eigentliche Problematik hinein.

Das hierdurch entstandene Gerippe füllen wir im dritten Hauptteil mit dem Fleisch von Gilles Deleuze‘ „Transzendentalem Empirismus“ sowie der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour, und für den abschließenden vierten Hauptteil ist eine Darstellung mittels Paul Ricœurs Theorie der Narrationen geplant.

2. Das traditionelle Denken in der Moderne

Traditionell existiert eine objektive Welt, und diese bildet die Wirklichkeit, an die sich unser Wissen immer besser oder weiter annähern soll. Die Bestandteile der Welt werden in der Philosophie als „Seiende“ bezeichnet. Vor diesem Wort muß man nicht erschrecken; es klingt sehr hochtrabend, ist aber völlig normal:

Alles, was – beim Bäcker –  gebacken wurde, bildet Gebäck; alles, was – von Archäologen – gefunden wurde, stellt ein Fundstück dar; und alles, was – für traditionelle Philosophen – existiert, ist ein Seiendes. Sie können also problemlos Tausende von Seienden aufzählen und müßten dazu lediglich die Bestandteile Ihrer Welt nennen; Gebäck, Fundstücke, Ihr Körper, Sonne, Mond und Sterne . . .

 

Die Tradition geht wie selbstverständlich davon aus, daß wir die  wirkliche Welt mit ihren Seienden wissen können und sollten, um unser Leben daran auszurichten. Sie müssen also – vielleicht von ganz wenigen Ausnahmen wie Gott einmal abgesehen – wißbar sein oder das potentiell Gewußte bilden.

Dazu dienen sowohl die Wahrnehmungen als auch die Vorstellungen in unserer Psyche, die wir als Erlebungen zusammenfassen. Sind sie adäquat, das heißt, entsprechen unsere Erlebungen den Seienden, so sprechen wir von Ab- und im gegenteiligen Fall von Trugbildern. Diese sind falsch und jene richtig; aber um Wissungen handelt es sich in beiden Fällen; die falschen stellen Irrtümer oder Täuschungen dar, die richtigen geben die Seienden als die Gewußten in hinreichender Näherung wieder.

Natürlich existieren auch „Zwischenbereiche“, denn unsere Erlebungen müssen sich nicht auf die Seienden beziehen und dadurch entweder richtig oder falsch sein. Wir hören beispielsweise Geräusche oder haben Ahnungen, spekulieren über die Zukunft oder malen sie uns phantasievoll aus. Die wenigsten Menschen werden Lichtreflexe, Regenbogen oder Schatten als Wissungen verstehen und hinter ihnen Seiende vermuten – aber behaupten läßt sich deren Existenz natürlich immer.

Unser Ansatz geht davon aus, daß die Existenz sämtlicher Seienden nur behauptet wird und es kein einziges von ihnen gibt; den Baum ebensowenig wie seinen Schatten.

 

Das Wort „Wissungen“ brauche ich erstens aus grammatischen Gründen, um gegebenenfalls den substantivischen oder nicht-verbalen Charakter des Wissens zu verdeutlichen, und auch als Plural von „das Wissen“.

Ein zweiter, inhaltlicher Grund für diese gekünselt wirkende Wortbildung besteht darin, daß Paare der Form „Wahrnehmungen – Wahrgenommene“ oder „Vorstellungen – Vorgestellte“ bei uns eine sehr exakte Bedeutung besitzen und ich diese auf „Wissungen – Gewußte“ ausweiten möchte.

 

Da die Seienden von den richtigen Wissungen in unserer Psyche abgebildet werden, entsprechen sie Urbildern.

Könnten wir dieses Erkennen gar nicht leisten, gäbe es einerseits kein Überleben; andererseits geht der Inhalt unser Psyche aber dennoch nicht in einer Ansammlung der Wissungen auf. In erster Linie besteht er in unserem „Innenleben“, das heißt, den leiblichen, seelischen und geistigen Regungen wie Fühlen, Widerfahren, Wünschen, Wollen oder Begehren, Sich-Freuen oder -Ängstigen, Glücklich- bzw. Traurig-Sein oder Schmerzen-, Sorgen- resp. Hoffnung-Haben usw.

Im Hinblick auf unsere weiteren Übelegungen fassen wir dieses „Innenleben“ mit all seinen Nuancen oder Tönungen als Leibhaftigkeit des Lebens zusammen. Ihr steht die Reflexion des Lebens gegenüber, zu der sämtliche Erlebungen – Wissungen wie Nicht-Wissungen – zählen.

Damit können wir sauber formulieren, daß sich unser Leben aus seiner Leibhaftigkeit und seiner Reflexion zusammensetzt. Babys oder Tiere beweisen, daß es auch ein Leben ganz ohne Reflexion – zumindest in unserem Sinne – gibt. Wir kennen das ebenfalls, nämlich bei sämtlichen Formen von „Geistesabwesenheit“ wie beispielsweise dem Meditieren oder Dösen, der Ohmacht bzw. dem traumlosen Schlaf.

 

Das traditionelle Denken der Moderne ist streng dualistisch; Descartes‘ Philosophie bildet lediglich ein charakteristisches Aushängeschild dafür.

Der objektiv-wirklichen Welt mit ihren Seienden im Außen stehen die subjektiv-unwirklichen Psychen mit dem Leben als ihrem Innen gegenüber. Nahezu alles in den Psychen ist rein subjektiv; lediglich die richtigen Wissungen müssen – als Abbilder der objektiven Seienden – natürlich intersubjektiv sein.

Die nachstehende Abbildung soll ihnen helfen, die traditionellen Grundbegriffe leichter zu überschauen. Das ist wichtig, denn sie bilden das Gerüst, anhand dessen wir im weiteren auch unsere eigene Begrifflichkeit entwickeln werden.

 

 

Welt
Psyche
Realität
(gesamtes) Leben
wirklich
unwirklich
außen
innnen

 

– Diesseits

 

– Jenseits

Leibhaftigkeit  
des Lebens Reflexion des Lebens
           
Erlebte
Erleben Erlebungen
Seiende   Wahrnehmungen Vorstellungen
Gewußte   Wissungen   Wissungen Wissungen   Wissungen
Urbilder   Abbilder
Trugbilder Abbilder Trugbilder
    richtig   falsch richtig   falsch
objekiv   intersubjektiv   subjektiv intersubjektiv   subjektiv
             
                                 adäquates Weltbild  

Abbildung 2.-1

 

Wir stellen das traditionelle Denken dem postmodernen gegenüber und verstehen den gegenwärtigen Bewußtseinswandel damit als Übergang von der – Moderne der – Tradition zur Postmoderne.

Letztere ist ein schillernder Begriff mit 1000 verschiedenen Bedeutungen. Ich spreche aber dennoch zumeist einfach von der Postmoderne und meine damit, soweit nichts Gegenteiliges vermerkt ist, stets meine spezielle Interpretation, die wir als „Metaphysischen Explikationismus“ bezeichnet haben.

Andere Varianten der Postmoderne spielen in unseren Überlegungen praktisch keine Rolle. Letztere stehen dem Poststrukturalismus nahe, bei dem mir Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Michel Foucault und Bruno  Latour die wichtigesten Autoren sind.  

 

In der Moderne wird das traditionelle Denken nicht überwunden, aber sehr stark simplifiziert und damit zum naiven Realismus. Im vorliegenden zweiten Teil soll unter anderem deutlich werden, daß sich dieses „naiv“ sehr sachlich verstehen läßt und nicht beleidigend sein soll.

Die Vereinfachung beginnt mit einer massiven Beschränkung:

 

Aus der antik-mittelalterlichen Welt wird die moderne Realität

Im Diesseits sind das die körperlichen Seienden, die den physikalischen Kosmos bilden. Zu ihnen gehören also nicht nur Sonne Mond und Sterne, sondern sämtliche künstlichen und natürlichen – leblosen, pflanzlichen, tierischen und menschlichen – Körper im weitesten Sinne.

Traditionell denkende Gläubige dehnen diese objektive Realität auf das Jenseits aus, indem sie „Gott“ – möglicherweise mit Hofstaat und Teufel – zwar als reinen Geist behaupten, ihn aber dennoch nach dem Modell der diesseitigen Realität denken. Dieser „Gott“ gehört dann zwar dem Jenseits an, aber es wird häufig gar nicht mehr deutlich, worin letzteres sich eigentlich noch vom Diesseits unterscheiden soll; es gibt das eine wie das andere; „Gott“ existiert wie die Materie; beide sind vorhanden..

 

Eine Beschränkung stellt das dar, weil für viele traditionell Denkende die Welt weit über die Realität hinausgeht. Dieses Surplus besteht in den – nicht materiellen, sondern – rein geistigen Seienden, die uns am ehesten in Form der Platonischen Ideen etwa des Guten, der Gerechtigkeit oder Wahrheit bekannt sind.

Platon meinte damit:

Menschen können gerecht sein; Sokrates bildet diesbezüglich sein Paradebeispiel. Aber das ist nur möglich, weil es die – Idee der – Gerechtigkeit gibt, die in jedem gerechten Menschen Gestalt annimmt oder sich – zur objektiven Realität – verwirklicht.

Unsere Sonne verfügt über Planeten; aber das ist nur möglich, weil es die Idee des Planeten gibt, die in Merkur, Venus, Erde, . . . Gestalt annimmt oder sich – zur objektiven Realität – verwirklicht.  

 

Mein entscheidender Grund, nur die objektive Realität zu berücksichtigen, besteht darin, daß an ihrer diesseitigen Seite – dem physikalischen Kosmos also – heute außerhalb der Philosophie praktisch niemand zweifelt.

Ich tue es und will Ihnen in diesem zweiten Teil zeigen, daß meines Erachtens keinerlei objektive Realität existiert; die diesseitige ebensowenig wie die jenseitige.

Damit, daß „Gott“ nicht irgendwo anschaulich vorhanden ist, haben die wenigsten unserer Zeitgenossen Schwierigkeiten; aber ich behaupte exakt das Gleiche auch vom gesamten Kosmos mit all seinen physikalischen Bestandteilen; wer daran glaubt, ist ein naiver Realist.

Es wäre also kontraproduktiv, wollte ich Ihnen die mögliche Existenz von solchen Seienden wie den Platonischen Ideen – die Sie bisher vielleicht gar nicht im Visier hatten – erst plausibel machen, um dann zu zeigen, weshalb wir sämtliche traditionellen Seienden ablehnen (müssen); die objektiv-realen – dies- und jenseitigen – ebenso wie die rein geistigen.

 

Natürlich sehen Sie im Moment Ihren Laptop vor sich stehen; ich zweifle nicht Ihre Wahrnehmungen an, sondern lediglich die traditionelle Theorie, die diesen zugrunde liegt. Ihr zufolge handelt es sich bei den Wahrnehmungen um Abbilder eines in der Welt befindlichen seienden Laptops. Allein um  dessen Existenz geht es mir; den sehen Sie nicht vor sich stehen, und ich verzichte auch darauf, ihn zu erfinden.

Der einzige Laptop, der tatsächlich irgendwie oder irgendwo vorkommt, befindet sich in Ihrer Psyche. Pardon; das war nicht ganz richtig; natürlich – als Vorstellung – auch in meiner; aber es gibt keinen einzigen Laptop außerhalb aller Psycchen oder in der objektiven Welt – weil sie nicht existiert.

Natürlich ist dieses „in“ ein bißchen unglücklich; die Psyche bildet kein Gefäß sondern besteht in unserem Leben, das heißt, in seiner Leibhaftigkeit sowie Reflexion. „Gefäß“ und „Inhalt“ fallen foglich zusammen, so wie auch jede Zahl – „Inhalt“ – in die Menge der Zahlen – „Gefäß“ – gehört.

 

Wir Menschen zählen mit unseren Körpern zur objektiven Realität, besitzen eine Psyche und bestehen somit traditionell in der Einheit von Körper und Psyche – { Körper + Psyche }.

(Die geschwungenen Klammern bedeuten im weiteren stets die Einheit dessen, was zwischen ihnen steht.)

Auf das daraus resultierende „Körper-Psyche-“ bzw. „Leib-Seele-“ oder „Wechselwirkungs-Problem“ waren wir im ersten Teil bereits gestoßen. Es dürfte nicht nur prinzipiell unlösbar sein, sondern ist zumindest seit Descartes auch unsauber formuliert:

Eine unräumliche Psyche kann weder im räumlichen Körper enthalten sein, hatten wir oben erkannt, noch mit ihm wechselwirken.

Das muß uns aber nicht sonderlich interessieren, da wir ohne die traditionelle Welt in keiner Weise vor einem derartigen Problem stehen:

Es gibt postmodern unsere subjektive Psyche, aber nichts Objektives, so daß wir auch nicht klären müssen, wie die beiden miteinander wechselwirken (können).

 

AD: „Insoweit kann ich Ihnen folgen; aber ich verstehe nicht, weshalb Sie unser gesamtes Leben mit der Psyche identifizieren. Ich hätte es in ein „Innen-“ und ein „Außenleben“ zerlegt.

Bei Ihnen kommt nur ersteres vor, fällt mit der Leibhaftigkeit des Lebens zusammen und zählt zur Psyche.

Mein „Außenleben“, das Sie völlig ignorieren, besteht in sämtlichen Formen des Handelns, das heißt, in den Bewegungen des eigenen Körpers; das gehört  doch auch zu meinem Leben – aber nicht zur Psyche, sondern zur objektiven Welt.“

 

Damit treffen Sie haarscharf den Kern unseres Wechsels vom (modernen) traditionellen zum postmodernen Denken. Meine Antwort greift ein wenig vor, sollte im Wesentlichen aber trotzdem bereits verständlich sein:

 

1.  Für uns gibt es keine objektive Welt und damit entfällt auch der angeblich darin befindliche eigene Körper.

2.   Die Moderne behauptet die adäquaten Wissungen als Abbildungen der Seienden.

3.   Wir betrachten umgekehrt die Seienden als Projektionen (von einigen) unserer Wissungen.

4.   Projektionen sind Lug und Trug; reine Phantasmen.

5.   Deshalb kann zu unserem Leben keinerlei „Außenleben“ gehören; die Sphäre, in der es sich abspielen soll, existiert nicht.

6.   Aber die  Wissungen, die die Tradition in diese Sphäre projiziert, um ihre angebliche objektive Welt zu erzeugen – und dann ihr Abbilden behaupten zu können –, befinden sich wirklich in der Psyche.

7.   Sie stellen lediglich keine Abbilder dar, sondern gehören zu unseren ganz normalen Erlebungen – wie Lichtreflexe, Regenbogen oder Schatten.

8.   Damit können wir unser Leben

      – tatsächlich als Einheit von Leibhaftigkeit sowie Reflexion verstehen und

      – mit der Psyche gleichsetzen.

9.   Es gibt auch ein Außerhalb von ihr; ich bin kein Solipsist.   

10. Aber das ist mir nicht gegeben, denn alles mir Gegebene besteht per definitionem in meiner Psyche.

11. Von dem, was mir nicht gegeben ist, kann ich natürlich nicht(s) wissen.

12. Wer trotzdem den Anspruch erhebt, vom Außerhalb seiner Psyche zu wissen,

      – macht dieses zu einer Hinterwelt und

      – muß göttliche Fähigkeiten besitzen. 

 

 

Tradition Postmoderne
         
 

 

Psyche

Erlebungen Reflexion d. L.

 

Psyche  =  Leben

  „Innenleben“ Leibhaftigkeit d. L.
Subjekt „∈“

Leben

   
       
  Körper „Außenleben“    
    ?
    objektive Welt Außerhalb der Psyche
    – Diesseits
 
    – Jenseits
 

Abbildung 2.-2

2.1. Das Welltbild als einzige Orientierungsmöglichkeit

Wenn Menschen sich als unglücklich erleben, hängt das natürlich mit ihren persönlichen Lebensumständen zusammen, die unvorstellbar schlimm sein können. Aber daß unser Weltbild ebenfalls massiv zum menschlichen Leid beiträgt, erscheint mir auch als recht sicher.

Wir haben in der Moderne darauf gesetzt, dem angeblich richtigen Weltbild – im Sinne des adäquaten Wissens von der objektiven Realität – immer näher zu kommen, und uns vom Erreichen dieses Zieles letztendlich die Lösung all unserer Probleme versprochen.

Ich halte das nicht nur für falsch, sondern für unmöglich, weil uns keine objektive Welt zugänglich ist. Haben Sie schon einmal Ihr Weltbild mit der Welt verglichen? Wie machen Sie das? Wo befindet sich die Welt – außerhalb Ihrer Psyche?

 

Die Weltbilder haben meines Erachtens eine ganz andere Aufgabe; sie handeln nicht von einer angeblichen objektiven Welt, sondern betreffen unser subjektives Leben, denn am Weltbild müssen wir uns orientieren, weil gar keine weitere Möglichkeit zum Ausrichten besteht.

Wer ein „falsches“ Weltbild besitzt, hat, mit anderen Worten, keine unrichtigen Vorstellungen von der objektiven Realität, sondern könnte wesentlich wahrer, tiefer oder erfüllter und in disem Sinne „mehr“ leben.

 

Die Postmoderne stupst uns mit der Nase auf diese Funktion der Weltbilder, die in der Moderne nahezu vollkommen übersehen wurde.

„Hurra; wir haben bald die Weltformel gefunden!“ Na und?

Michel Henry spricht von uns als den „verlorenen Menschen“, die sich durch „ihr einseitig objektivistisches Denken in eine Masse von geistig Behinderten verwandeln“ werden, denn „jeder reine Objektivismus ist eine Philosophie des Todes“.

„Masse von geistig Behinderten“ und „Philosophie des Todes“ klingt nicht sehr ermutigend. Aber wenn wir uns umschauen – bis in die Universitäten und Kirchen hinein –, wo heute noch

– konsequent gedacht,

– das Erbe der Aufklärung hochgehalten,

– das Subjekt ernstgenommen und

– nach der Wirklichkeit des Lebens gefragt wird,

werden wir vielleicht doch erschrecken und Henry stillschweigend-verzweifelt ein wenig zustimmen.

 

Traditionell-modern sagt man:

Unsere Vorfahren haben beispielsweise Götter, eine Himmelsglocke und Dämonen wahrgenommen – als wahr (an)genommen –, die natürlich alle nicht existieren. Wir sind dagegen aufgeklärt und bilden die objektive Realität so ab, wie sie wirklich ist.

Den zweiten Satz müßten wir erheblich korrigieren: 

Wir sind nicht aufgeklärt in dem Sinne, daß etwas grundsätzlich anders geworden ist, sondern haben lediglich – wie dies immer geschieht – die Wissungen unserer Vorfahren uminterpretiert, aufgehoben, überformt oder geandert – vor allem mittels der exakten Wissenschaften – und sind so zu unserem modernen Weltbild gelangt. 

(„Geandert“ ist kein Schreibfehler; während Erlebungen veränderlich sind, müssen Begriffe veranderlich sein, um überhaupt entstehen [und vergehen] zu können. Andernfalls müßte zum Beispiel der Begriff „Postmoderrne“ auf einmal „vom Himmel gefallen“ sein. Das hat er natürlich nicht getan; vielmehr ist dieser Begriff – wie jeder andere auch – durch eine Genese entstanden, die nicht auf bloße Änderungen zurückgeführt und deshalb auch nicht in deren Zeit erfolgen kann.) 

 

Aus den Göttern wurden vielleicht „Zufall und Notwendigkeit“ (Jacques Monod), aus der Himmelsglocke ein potentiell unendlicher Kosmos und aus den Dämonen psychische Störungen.

Zufall und Notwendigkeit, einen unendlichen Kosmos oder psychische Störungen gibt es jedoch objektiv-real ebensowenig wie Götter, eine Himmelsglocke oder Dämonen.

Wir haben lediglich unsere Wissungen geandert, so wie das alle Kulturen stetig tun (müssen), um ein hinreichend gemeinsames Weltbild beizubehalten, das möglichst alle Menschen der jeweiligen Deutegemeinschaft zusammenleben läßt. Dieser intersubjektive Effekt der Weltbilder, der dem Zusammenleben dient, kommt zu dem rein-subjektiven des individuellen Lebens hinzu und ist ebenso wichtig wie dieser. 

 

Traditionell Denkende halten unseren Bewußtseinswandel – vom Abbilden der objektiven zum Konstruieren einer subjektiven Welt – natürlich für unsinnig.

Gäbe es uns nicht, wäre die objektive Realität diesem Denken zufolge exakt die gleiche; jede leicht abschwächende Formulierung – „natürlich ohne unsere Körper“ – würde zwar theoretisch stimmen, grenzte aber angesichts der praktischen Unendlichkeit dieser angeblichen Realität an Größenwahn.

Anders herum bedeutet das freilich, daß wir im physikalischen Kosmos pure Nichtse sind; jede Ameise ist für ihren Haufen millionenfach wichtiger als wir für die traditionelle Welt.

 

Jacques Monod schrieb in seinm Bestseller „Zufall und Notwendigkeit“ ganz in diesem Sinne:

„Das Universum trug weder das Leben, noch trug die Biosphäre den Menschen in sich. Unsere ‚Losnummer‘ kam beim Glücksspiel heraus.

Der Mensch weiß endlich, daß er in der teilnahmslosen Unermeßlichkeit des Universums allein ist, aus dem er zufällig hervortrat. Wir sind Zigeuner am Rande eines Universums, das taub ist für unsere Musik und unempfindlich für unsere Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.

Nicht nur sein Los, auch seine Pflicht steht nirgendwo geschrieben. Es ist an ihm, zwischen dem Reich und der Finsternis zu wählen.“

Monod ist nicht zynisch oder verletzend, sondern einfach nur ehrlich und bereit, konsequent traditionell-modern zu denken; lediglich sein Mut unterscheidet ihn von den meisten der heutigen Traditionalisten.

 

Ich kann mir auch schwerlich vorstellen, wie sich die Fragen nach Sinn, Liebe, Wahrheit, Glück, Leben und Sterben in einem solchen Weltbild befriedigend beantworten lassen sollen. Wir Menschen werden ihm zufolge einmal ausgestorben sein – und weder ist dann im Kosmos etwas Entscheidendes geschehen, noch wird uns jemand vermissen.

Robert Spaemann und Reinhard Löw hatten gewiß Recht damit, daß wir „Die Frage Wozu?“ subjektiv gar nicht ernst genug nehmen können. Aber müßte dies nicht auch für die Welt gelten? Wozu der Aufwand mit den unermeßlichen Dimensionen – wenn es dem christlichen Glauben zufolge doch allein um uns als die Krone der Schöpfung geht?

 

Schon Blaise Pascal konstatierte:

„Ich sehe diese entsetzlichen Weiten des Weltalls, die mich einschließen, und ich finde mich an einen Winkel dieses gewaltigen Raums gefesselt, ohne daß ich weiß, warum ich an diesen Ort und nicht vielmehr an einen anderen gestellt bin und warum diese kurze Frist, die mir zu leben gegeben ist, mir gerade zu diesem Zeitpunkt und nicht vielmehr zu einem anderen der ganzen Ewigkeit, die mir vorausgegangen ist, und der ganzen Ewigkeit, die auf mich folgt, bestimmt ist . . . 

Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume und Zeiten erschreckt mich.“

 

Veranschaulichen wir uns die gewaltige Differenz zwischen dem traditionellen und dem von uns angezielten postmodernen Denken noch an einer (vielleicht zu) einfachen und deutlichen Konsequenz:

Wenn ein Subjekt stirbt, gibt es traditionell einen lebenden Körper weniger im Kosmos, was darin freilich auch nicht die geringste Rolle spielt. Selbst wenn wir Menschen vollständig ausstürben, hätte dies für den Kosmos keine Konsequenzen, würde von ihm gar nicht bemerkt und noch weniger betrauert.

Ohne objektive Realität – bei unserem Ansatz also – können darin auch keine Körper verschwinden; sie entziehen sich aber trotzdem; wo?

Natürlich allein dort, wo sie sich auch zuvor schon befunden haben, nämlich in den subjektiven Psychen derjenigen zurückbleibenden Subjekte, denen der Verstorbene nahestand.

Damit läßt sich möglicherweise auch eine positive Antwort auf die Frage nach dem Wozu, Warum oder Sinn unseres subjektiven Lebens finden. In einer objektiven Realität halte ich das für ausgeschlossen, weil Sinn keine physikalische Kategorie darstellt; Henry muß nicht übertrieben haben.

 

AD: „Aber wäre es nicht auch denkbar, daß dieser ganze Aufwand mit seinen Wahnsinns-Ausdehnungen notwendig ist, damit wir überhaupt existieren können? Dann sind wir vielleicht doch sogar die ‚Krone der Schöpfung‘, weil Gott all das um unseretwegen schaffen ‚mußte‘.“

Natürlich darf man das nicht ausschließen; diese Idee allein genügt jedoch ebensowenig wie die eigene Überzeugung davon. Auch mit dem festesten Glauben an das Absurde diene ich niemanden; da wirke ich – mit Recht – lediglich als dickköpfig, stur oder beratungsresistent.

Wer Ihren Gedanken wirklich ernstnimmt, müßte zumindest plausibilisieren, daß eine entsprechende Denk-Möglichkeit besteht und auch ihre Realisierung nicht ganz unwahrscheinlich ist. Erst und allein dann läßt sich mit dieser Idee argumentieren; ein vernünftiger Glaube ist kein Wunschkonzert – obwohl er „nur“ Glaube ist.

 

Man nennt den Gedanken, daß alles so beschaffen sein müsse, wie es ist, damit – physikalisch formuliert – im Kosmos Beobachter auftreten können, für die es diesen Kosmos gibt, das (starke oder schwache) „anthropische Prinzip“. Auf einem enorm hohen Reflexionsniveau wurde es beispielsweise von John Archibald Wheeler, dem letzten großen Schüler Albert Einsteins, vertreten; aber selbst sein Versuch – nachzuweisen, daß der traditionelle Kosmos für unsere Existenz erforderlich ist, – scheiterte.

Anton Friedrich Koch unternimmt gegenwärtig einen neuen Anlauf in dieser Richtung; sein Ergebnis ist wohl noch offen, aber leider auch nicht besonders leicht nachvollzieh- oder gar überprüfbar.

2.2. Die Schöpfung als Relation

Beim Laptop werden Sie es noch nicht akzeptieren, aber beim Regenbogen sollte unbestreitbar sein, daß er nur durch das Sehen existiert und somit kein Seiendes dahintersteht. Dürfen wir das auf Gott als den jenseitigen Teil der objektiven Realität übertragen, so daß es ihn allein durch den Glauben gibt?

AD: „Natürlich, denn falls Sie das verneinen, müßte er ein Seiendes darstellen.“

 

Das ist nicht zwingend, weil ich die von Ihnen unausgesprochen vorausgesetzte Alternative für unvollständig halte.

Viele Traditionalisten stellen sich Gott tatsächlich als ein jenseitiges Seiendes der objektiven Realität vor; das wäre ein Gott-an-sich, und der entfällt bei uns, weil seine Existenz nicht verstanden und nur willkürlich behauptet bzw. bestritten werden kann; darüber brauchen wir wohl nicht mehr zu sprechen.

Die Analogie zum Laptop oder Regenbogen wäre ein Gott-durch-uns, der existiert, weil wir (an) ihn glauben. Aber ein „Gott“ von Gnaden der Menschen kann natürlich auch kein Gott sein, so daß diese Denkmöglichkeit ebenfalls entfällt.

Mir schwebt jedoch eine dritte Variante vor, nämlich ein Gott, der – seinem Wesen nach – nichts anderes als Sein-für-uns darstellt und somit zwar auch nicht ohne uns existieren kann, dies jedoch keineswegs durch uns tut.. Daß Gott „nur“ ein Gott-für-uns ist, bezieht sich allein auf ihn; er ist Gott-nur-für-uns – selbst für die „schlimmsten“ Atheisten, die partout keinen Gott zu benötigen meinen –, weil er selbst das so will und sich dazu bestimmt.

 

Den christlichen Gott als Gott-nur-für-uns zu interpretieren, läßt unter anderem auch seine biblische „Eifersucht“ verständlich werden:

Der Sinn der Schöpfung ist meines Erachtens die Fülle des Lebens und setzt damit unsere Freiheit voraus. Deswegen will Gott uns aus Liebe „eifersüchtig“ vor allen (anderen) Göttern bewahren; – nicht seinetwegen, sondern – weil letztere auch an sich selbst denken und uns dadurch abhängig oder unfrei machen.

Das tut der christliche Gott nicht, so daß wir auf diesem Weg eine Definition für ihn erhalten:

Er ist der, die, das oder alles, was absolut nicht an sich existiert, sondern allein im liebenden Wollen der Fülle eines freiheitlichen Lebens für uns.

 

AD: „Sie können doch nicht definieren, was Gott ist! Er existiert als der wahre Gott – vollkommen unabhängig von uns und allen Definitionen.“

Doch; wir können das nicht nur, sondern müssen es sogar!

Alle Beschreibungen, Erklärungen, Veranschaulichungen oder Definitionen spielen im Rahmen unserer subjektiven Welt. Für diejenigen, die keine besitzen, gibt es folglich nicht nur den Laptop und Regenbogen nicht, sondern auch keinen Gott.

AD: „Aber er existiert doch trotzdem!

Wen oder was meinen Sie mit „er“?

Es hat doch keinen Sinn zu sagen, daß er existiert, ohne anzugeben, wer er ist. Können wir das jedoch nicht, besteht zwischen „er“, „Gott“ und „blablabla“ kein Unterschied. Namen helfen uns dabei nicht weiter, weil sie nichts sagen. Wir benötigen einen Begriff oder ein Verständnis von Gott, um ihn glauben – um ihn glauben – zu können; wie dieser Begriff dann benannt wird – JHWH, Baal, Allah, Re oder Zeus – ist völlig einerlei.

Wäre Peter ein anderer Mensch, wenn er Paul hieße? 

 

AD: „Natürlich nicht, aber das ist ein schlechtes Argument.

Es gibt Gott schon lange vor sowie unabhängig von uns und allen Definitionen; das ist der eine wahre Gott, den ich verehre. Für ihn und meinen Glauben spielt es überhaupt keine Rolle, was Sie von Gott – zu wissen – meinen.“

Er könnte also auch zum Fürchten oder ein Teufel sein?    

Wir dürfen doch nicht denken, der Monotheismus sei wichtig, vielleicht sogar mehr oder weniger plausibel – und damit wäre die Gottesfrgae definitiv geklärt.

Sie besteht doch nicht in dem Problem, ob Gott existiert, vielmehr geht es darum, wer oder was er ist. Sind wir seiner Willkür ausgeliefert? Muß uns furchtbare Angst umtreiben? Könnte er nicht auch ein Gott des Todes sein?

 

Ich stelle mir die gesamte Menschheits- als Offenbarungsgeschichte vor, das heißt, als den Versuch Gottes, sich uns mitzuteilen. Denn es bedurfte gewiß schon einer sehr langen Entwicklung der subjektiven Welten, um die Möglichkeit, daß es eventuell nur einen einzigen Gott gibt, überhaupt denken zu können.

Und dann mußten noch Menschen auftreten, die den Mut fanden, diese „Häresie“ – die nun erst sagbar wurde – tatsächlich auch zu verkünden.

 

Diese beiden Schritte müssen wir jetzt sinngemäß wiederholen:

In einem langen Reifungsprozeß wurden Welten möglich, in denen der Gott-nur-für-uns theoretisch denkbar wäre. In der Phase befinden wir uns heute noch, denn für sehr viele Menschen ist dieser Gedanke angesichts des Leids, das sie tagtäglich erleben oder von dem sie erfahren, einfach absurd.

Tertullians Schlußfolgerung „Ich glaube, denn es ist absurd“ können wir uns schwerlich anschließen, weil es inzwischen zu viel Absurdes gibt, um das alles noch glauben können. Wir müssen sowohl die Möglichkeit als auch die Sinnhaftigkeit, einen Gott-nur-für-uns denken zu können, also durch entsprechende Weltbilder vernünftig aufzeigen. 

Erst nachdem das erreicht ist, können wiederum tapfere Menschen auftreten, die die „Häresie“, daß Gott nur für die Menschen und für alle Menschen Gott ist, verkünden.

 

AD: „Jetzt verstehe ich auch, weshalb Sie das eigene Weltbild als unsere einzige Orientierungsgrundlage beschrieben haben. Ihrem Ansatz zufolge kann es nicht dem Glauben gegenüberstehen, so daß wir uns zwischen beiden zu entscheiden hätten, sondern muß der Glaube ein integraler Teil des Weltbbilds sein.

Aber trotzdem habe ich noch ein Problem:

Wie kann – der Glaube an – Gott zu unerem Weltbild gehören, wenn wir – zumindest nach jüdisch-christlichem Verständnis – nichts von ihm wissen können?

Zunächst kann ich Sie in Ihrem Verständnis bestätigen:

„Jeder vernünftige Glaube“ gehört nicht nur zum jeweiligen Weltbild, sondern „weiß auch, daß er“ – wie das gesamte Weltbild – „nur Glaube ist“ (Rainer Forst).

 

Bei Ihrer Frage sehe ich keine ernstlichen Schwierigkeiten:

Vollkommen unabhängig von seinem belanglosen Namen müssen wir wissen, wer oder was Gott ist; das setzt aber keinerlei Kenntnis von bzw. über Gott voraus.

AD: „Geht das denn überhaupt? Sie definieren Gott, ohne etwas von ihm zu wissen?“

Natürlich; es muß doch klar sein, wovon wir nichts wissen.

Vielleicht wissen wir auch nichts vom Buhmann; aber jetzt interessiert allein, daß wir speziell von Gott nicht(s) wissen; und das setzt voraus, daß er selbst uns klar ist. Nur wenn wir wissen, was mit Gott gemeint ist, besitzt die Aussage, nicht(s) von ihm wissen zu können, einen Sinn.

 

Zu unserer Welt gehören also Grenzbegriffe, die anschaulich gesprochen – wie die Asymptoten der Mathematik – ganz am Rand dieser Welt stehen, so daß nach ihnen nichts mehr kommt.

Das sind Begriffe die wir in der Psyche – wo auch sonst? – gerade noch wissen, weil unser Weltbild sie unbedingt erforderlich macht. Die Begriffe im Inneren der Welt sind beidseitig vernetzt; sie verweisen auf weitere Begriffe, und andere auf  sie. Zu den Grenzbegriffen führen dagegen nur Einbahnstraßen.

Das Paradebeispiel hierfür bildet für mich persönlich Gott. Ich weiß nichts über ihn, kann aber sagen, wovon ich nichts weiß; allein dadurch sage ich nicht nur „blablabla“.        

 

Peter Knauer schlägt ganz in diesem Sinne als Definition vor, Gott sei derjenige, ohne den nichts ist.

Meine Version hatte ich oben schon vorangestellt: Gott ist der, die, das oder alles, was absolut nicht an sich existiert, sondern allein im liebevollen Wollen der Fülle eines freiheitlichen Lebens für uns.

Schon diese beiden Beispiele zeigen uns, daß es vielleicht sogar sehr viele Weltbilder gibt, in denen sich der Gott-nur-für-uns denken läßt. Keines von ihnen ist wahr, aber sie dienen – hoffentlich – dem Leben. 

Nochmals:

Gott hängt nicht von unserem Weltbild ab, sondern umgekehrt ist er derjenige, ohne den es auch keinerlei Weltbilder gibt.

Aber es hängt sehr wohl von unserem Weltbild ab, ob wir mit dem Wort „Gott“ den Gott-nur-für-uns treffen, den Teufel oder auch ohne jeglichen Sinnverlust „blablabla“ sagen könnten.

 

AD: „Denken wir nicht nur traditionell, sondern zudem auch noch recht kindlich, gab es einmal ein Vor-der-Schöpfung. Schon die (meisten) antiken und mittelalterlichen Theologen wußten meines Erachtens, daß diese Vorstellung unsinnig ist, weil die Zeit selbst einen Teil der Schöpfung bildet und ein zeitliches Vor-der-Schöpfung somit einen Widerspruch enthält.

Das mag theoretisch alles richtig sein; aber wie können wir dann Gott in unserem Weltbild vernünftig als Schöpfer denken? Muß er dazu nicht notwendigerweise – wie ein Bauherr bereits vor der Schöpfung – und damit als ein Seiendes – existieren?“ 

 

Wenn Gott ein Gott-nur-für-uns ist, kann es ihn ohne uns nicht geben und auch niemals gegeben haben. Andernfalls nehmen wir dieses „nur“ nicht ernst; Gott ist nichts anderes als pures Für-uns-Sein, so daß er ohne uns ebenfalls nicht existiert.

Er kann jedoch auch keineswegs gleichzeitig mit uns entstanden sein, weil es ohne Zeit gar Entstehen gibt, sie aber selbst der Schöpfung angehört.

Damit ergeben sich drei Forderungen, die wir ohne Abstriche widerspruchsfrei zusammenfügen müssen:

1. Es gibt Gott und seine Schöpfung nur gemeinsam; er war nie ein „Bauherr, der noch plant“.

2. Die Schöpfung existiert allein durch Gott oder ist reine Abhängigkeit von ihm.  

3. Gott besteht in nichts anderem als allein dem grenzen- oder vorbehaltlosen Sein-nur-für-uns bzw. -seine-Schöpfung.

 

Dem ersten Punkt zufolge bilden letztere und Gott eine untrennbare Einheit, innerhalb derer wir die beiden wegen der letzten zwei Punkte aber sehr wohl unterscheiden müssen.

AD: „Das geht nicht, weil es widersprüchlich ist.“

Jein; Ihre Begründung stimmt nicht ganz:

Ob etwas widersprüchlich ist oder nicht, hängt traditionell von den Seienden ab, postmodern aber vom jeweiligen Weltbild. Denken wir traditionell, haben Sie natürlich Recht; Gott und seine Schöpfung können nicht zugleich ein Seiendes (1.) sowie zwei Seiende (2. und 3.) bilden.

Aber postmodern geht es, und ich übernehme unsere Lösung dieses Problems von Peter Knauer. Er denkt nicht (mehr) in Seienden, sondern versteht die Schöpfung als eine Relation.

 

Relationen sind nicht im traditionellen Sinne, weder existieren sie noch sind sie vorhanden wie Seiende.  

(1)  Eine Relation „ist“

(2)  – – nichts anderes als – ihre Abhängigkeit vom Relatum, und

(3)  – dieses besteht allein im Ermöglichen, Tragen oder „Schaffen“ der Relation.

 

Verstehen wir Gott als dieses notwendige Relatum, finden sich hier unsere drei Forderungen von soeben wieder:

1. Die Schöpfung ist eine Relation.

2. Die Schöpfung ist reine Abhängigkeit von Gott.

3. Gott ist nur die Ermöglichung der Schöpfung.

 

AD: „Damit haben wir eine eindeutige Priorität Gottes gegenüber der Schöpfung, die auf seiner Seite keinerlei Abhängigkeit, Wechselwirkung, Rückkopplung, Zeitlichkeit oder dergleichen kennt.

Und trotzdem entfällt das Vor-der-Schöpfung; wir benötigen den einsamen Bauherrn nicht mehr. Die notwendige Priorität Gottes ist keine zeitliche, sondern eine wirkmächtige; alles geht von ihm und nichts von der Schöpfung aus.“

Ja; aber diese tolle Lösung hat natürlich auch ihren Preis (den wir später noch zu bezahlen versuchen):

 

Wenn Gott nichts anderes ist als der Träger der Relation oder die Ermöglichung seiner Schöpfung, kann er natürlich nicht – zusätzlich auch noch – in ihr wirken. Dafür wäre es erforderlich, daß Gott mehr als das Relatum darstellt – und wir hätten ihn wieder als einssamen Bauherrn oder Seiendes an sich.

Das führt unmittelbar zur Frage nach Möglichkeit, Funktionsweise oder Grenze des Bittgebets. Was aber wohl noch viel einschneidender ist und worauf Knauer ganz explizit hinweist:

Wie soll eine Offenbarung Gottes an seine Schöpfung möglich sein, wenn er voll und ganz in seiner Schöpfer-Funktion aufgeht oder mit ihr „ausgelastet“ ist?

2.3. Welt und Weltbild

Bezüglich der beiden Begriffe, die im Zentrum dieses Kapitels stehen, soll nun noch deutlicher werden, was sich bisher bestenfalls angedeutet hatte:

1. Es gibt keine objektive Welt bzw. Realität.

2. Jeder Mensch besitzt seine eigene subjektive Welt mit dem zugehörigen Weltbild.

3. Diese beiden bilden eine Einheit, die sich als Resultat unseres bisherigen Lebens verstehen läßt.

 

AD: „Jetzt würde mich erst einmal interessieren, warum Sie nach Ihren bisherigen Ausführungen überhaupt noch von einem ‚Weltbild‘ sprechen.

Zum einen scheidet die wortwörtliche Bedeutung – Bild von der Welt – ohne objektive Welt zwangsläufig aus.

Und zum anderen haben Sie uns oben erklärt, daß das Weltbild weniger mit der Welt als mit der Orientierung in unserem Leben zu tun hat, so daß ‚Lebensführungs-Vorlage‘ doch besser wäre.“

 

Beide Probleme lösen sich meiner Meinung  nach von selbst, wenn wir beachten, daß ich

– nur die Existenz einer objektiven Welt bestreite,

– sie aber nicht ersatzlos cancele, sondern

– durch eine subjektive Welt ersetze.

Jeder Mensch besitzt – trotz aller unbestreitbaren intersubjektiven Gemeinsamkeiten – letztlich seine eigene Welt.

 

Das Weltbild ist der Entwurf, den wir auf der Grundlage der uns zur Verfügung stehenden Begrifflichkeit subjektiv entwickeln: „So dürfte die Welt aussehen.“

Sie kommt nicht vor unserem Vorstellen, sondern entsteht erst  durch dieses. Das Weltbild ist – ganz wörtlich verstanden – ein Bild der subjektiven Welt; es stellt jedoch keine Kopie dar, sondern eine Kreation; die Welt wird von unserem Weltbild präsentiert und nicht repräsentiert.

Wir dürfen nur Bild nicht mit Abbild verwechseln; für letzteres wäre natürlich eine vorgegebene objektive Welt erforderlich. Gerade darin besteht aber meines Erachtens der entscheidende Fehler der Tradition:

Auch sie entwirft eine Welt, verliebt sich jedoch so sehr in ihr eigenes Produkt, daß die Tradition irrtümlich glaubt, es handle sich dabei um die Wirklichkeit selbst, die sie adäquat erkannt habe.

 

Nahezu alle unserer Zeitgenossen dürften überzeugt sein, daß es keine Marsmenschen, Pegasi und Osterhasen gibt. Das sind Vorstellungen oder Phantasmen, denen natürlich keine Seienden entsprechen.

Hätte ich als Beispiele Higgs-Teilchen, das Ungeheuer von Loch Ness bzw. den Teufel gewählt, wären die Meinungen wahrscheinlich schon etwas geteilt, denn diese Entitäten gehören den subjektiven Welten vieler Menschen an.

Die Frage, ob es den Eiffelturm, Erdmittelpunkt und Feldhase gibt, traue ich mich ja kaum zu stellen.

Traditionell „selbstverständlich“; aber um „existieren“ bzw. „nicht-existieren“ geht es für uns in keinem der neun Beispiele:

 

Das sind alles Begriffe, die kreativ hervorgebracht wurden, um das eigene oder fremde Leben verstehen, nachvollziehen und bewältigen zu können.

Die Philosophie, hatte ich oben bereits ausgeführt, besteht wesentlich im Erfinden von Begriffen. Wir treffen mit ihnen nichts Vorgegebenes bzw. Seiendes – Begriffe sind keine Namen –, sondern ermöglichen Erstmaliges oder Neues, das zuvor undenkbar war und damit auch nicht erlebt werden konnte.

Ein superintelligenter mittelalterlicher Mensch würde heute bei uns keine Fernsehapparate wahrnehmen. Nicht weil ihm der Name „Fernsehapparat“, sondern weil ihm in seiner Welt der entsprechende Begriff fehlt. Den kann man jedoch nicht einfach hinzufügen wie Namen; vielmehr muß sich die gesamte Welt andern, damit Fernsehapparate möglich werden.   

 

Im Verlaufe unseres Leben wurde uns eine gewaltige Palette von Begriffen angeboten; viele weitere könnten noch dazugehören, sind uns aber nicht begegnet. Wären wir beispielsweise mit einem Schamanen befreundet oder einem Mathematk-Genie, ständen uns vielleicht noch ganz andere Begriffe zur Auswahl.

Einige haben uns nur oberflächlich erreicht, andere wurden wieder vergessen. Innerhalb der verbliebenen verfügbaren Begriffe können wir wählen, welche von ihnen der eigenen Welt angehören sollen. Ich persönlich sage zum Beispiel „ja“ zu Feldhasen und Tasmanischen Teufeln, „nein“ zu Osterhasen und richtigen Teufeln.

Die eigene Welt besteht in der Einheit der von uns bejahten, akzeptierten oder anerkannten Begriffe.

 

Traditionell Denkende glauben das jedoch nicht, sondern sind überzeugt, in den Feldhasen Abbilder von Seienden und in den Osterhasen bloße Phantasiegebilde vor sich zu haben.

Mit welcher Begründung? Was rechtfertigt diesen gewaltigen Unterschied? Warum nicht umgekehrt?

AD: „Weil wir alle schon des öfteren Feldhasen, aber noch nie Osterhasen gesehen haben.“

 

Das ist eine ganz starke Bestätigung des traditionellen Denkensfür diejenigen, die seine Voraussetzungen bereits akzeptieren:

1. Prämisse:

Feldhasen zu sehen, bedeutet, daß

– sie als Seiende existieren (müssen),

– wir unseren Sehstrahl auf sie gerichtet haben und

– die Feldhasen damit abbilden oder „einfangen“.

2. Prämisse:

Ich habe schon des öfteren Feldhasen gesehen.

Konklusion:

Also müssen sie existieren; q. e. d.

 

Zum einen wäre das natürlich ein Zirkelschluß; die Feldhasen-Wahrnehmungen „beweisen“ die traditionelle Abbildtheorie nur, wenn sie bereits geglaubt wird; dann werden wir in unseren diesbezüglichen Vorurteilen bestätigt.

Zum anderen enthält der „Beweis“ aber auch einen Denkfehler:

Wir wollen in eine bestimmte Richtung schauen, um den Hasen zu sehen. Diese Intension oder Absicht muß unserer Psyche angehören, denn sonst könnten wir sie gar haben.

Der objektiv-reale Hase befindet sich jedoch außerhalb der Psyche. Wir können ihn also nicht darin finden oder auch nur suchen – und somit auch keinen Sehstrahl auf ihn richten.

Wohin müssen wir denn schauen, um aus unserer Psyche heraus die Seienden zu  entdecken? Der Hase

– befindet sich entweder in der Psyche und ist somit eine Erlebung, aber kein Seiendes,

– oder er läuft angeblich als Seiendes außerhalb von ihr herum und bleibt dadurch nicht nur unsichtbar, sondern wir können ihn nicht einmal suchen.

 

AD: „Darf ich bitte an einem Beispiel wiederholen:

Wir haben als Kinder die zwei Hasenarten-Begriffe kennengelernt und waren somit auch offen für beide Wahrnehmungs-Möglichkeiten, von denen jedoch bisher nur die Feldhasen-Wahrnehmung vorkommt.

Deswegen sagt die Tradition, Feldhasen gibt es und Osterhasen nicht.

Sie widersprechen, daß beide Aussagen unverständlich seien, akzeptieren aber den Begriff Osterhasen in Ihrem Weltbild nicht. Insbesondere gehen Sie also davon aus, weiterhin keine Osterhasen wahrzunehmen; aber auch sonst versprechen Sie sich von diesem Begriff keine Lebenshilfe.“

 

Damit wäre ich einverstanden; wir  müssen jedoch auch sehen, daß sich hier ein riesiges – nicht theoretisches, aber – praktisches Problem auftut:

Vom tapferen Schneiderlein, Pittiplatsch oder Räuber Hotzenplotz hätten uns die Eltern nicht unbedingt erzählen müssen; sie entsprechen alle dem Osterhasen und werden – wie er – für unser Leben kaum benötigt.

Aber umgekehrt müßten wir fragen:

Was ist mir alles unbekannt, weil mich die entsprechenden Begriffe nie erreicht haben und somit auch kein Teil meiner Welt werden konnten? Welche Begriffe mögen mir alle entgangen sein, die mein Leben durch radikal andere Erlebungen hätten fundamental umgestalten können? Vielleicht versuche ich nicht nur, unsinnige Scheinprobleme zu lösen – weil ich das Wesentliche gar nicht erkenne –, sondern tue dies zudem auch noch mit völlig ungeeigneten Denkwerkzeugen?

Wir können natürlich höchstens über die uns zugänglichen Ressourcen verfügen und haben keine Ahnung von allen anderen, die – theoretisch, das heißt, unter anderen Lebensumständen – ebenfalls möglich wären.

 

In meiner Welt gibt es zum Beispiel keinen Teufel.

Das kann ich nur denken und sagen, weil der Teufel zu meinem Begriffs-Reservoir gehört; andernfalls hätte ich diesen Begiff gar nicht, so daß „Teufel“ nur ein leeres Wort oder ein nichtssagender Name mit sechs Buchstaben wäre; wie „Lefuet“.

Daß sich in meiner Welt kein Teufel befindet, kann keine Erkenntnis sein, denn an einer Welt, die uns nicht vorgegeben ist, gibt es nichts zu erkennen. Ich muß mich also gegen den Teufel entschieden haben; ich will ihn nicht und bin überzeugt, den Teufel für mein Leben nicht gebrauchen zu können.

Gesunde Erwachsene, hatte ich oben geschrieben, seien nicht nur für das eigene Tun, sondern auch für ihr Wissen, Glauben und Denken verantwortlich; nun sollte allmählich deutlich werden, wie das überhaupt möglich ist.

 

AD: „In Ihrem Weltbild kommt der Begriff Teufel vor; nur weil das der Fall ist, können Sie entscheiden, ob er Ihrer Welt angehören soll. Sie verneinen dies, denn eine Welt ohne Teufel scheint Ihnen möglicherweise ehrlicher, weil ein allgemein anerkannter Sündenbock fehlt; oder vielleicht auch intellektuell herausfordernder, weil sich das Böse dann nicht mehr allzu simpel mit dem Bösen erklären läßt.

Und ganz entsprechend könnten Atheisten es als redlicher erachten, ohne den Begriff Gott auszukommen?

Wenn das stimmt, ist  die traditionelle Frage ‚Existiert Gott?‘ tatsächlich völlig falsch gestellt!“

Ja; ich hatte ja oben schon einmal angedeutet, davon überzeugt zu sein; die Fragen „Existiert . . .?“ oder „Gibt es . . .?“ sind auf Seiende gerichtet und damit meines Erachtens so absurd gestellt, daß beide unmittelbaren Antworten falsch sein müssen.

Wir können uns das damit Gemeinte leicht an der Frage des Richters „Haben Sie endlich aufgehört, Ihre Frau zu schlagen?“ verdeutlichen.  

 

AD: „Daß würde aber bedeuten, daß Welt und Weltbild mehr mit Philosophie, Theologie und Ethik zu tun haben als mit Physik.“

Ja; wenn Sie beispielsweise glaubten, daß die Erdscheibe von einem Elefanten getragen wird, der auf einer Schildkröte steht, während diese im Ozean des Nichts schwimmt, würde ich mich gewiß sehr wundern und wahrscheinlich nachfragen, wie Sie davon überzeugt sein können.

Daß diese Sichtweise „von gestern“ oder „unwissenschaftlich“ sein soll, ist dagegen völlig belanglos; es geht nicht um Modetrends bzw. den Zeitgeist, sondern um das wahre Leben.

Als entscheidend kann somit immer nur die Frage gelten, ob und gegebenenfalls wie Ihr Weltbild Ihnen hilft zu leben. „Was bringt Ihnen dieser Glaube?“ – verstanden freilich in einem existenziellen Sinne.

Wenn Sie mit Ihrem Tier-Weltbild glücklich und zufrieden sind, ziehe ich den Hut und mich diskret zurück, weil mehr gar nicht möglich ist, so daß ich Ihnen nichts Konstruktives zu sagen habe. Niemand kann mehr, als seinen eigenen Weg finden; ich versuche denen zu helfen, die ihn noch nicht gefunden haben – aber danach suchen.

 

Mein Protest – im gesamten Buch und speziell in diesem zweiten Teil – richtet sich folglich absolut nicht gegen Ihr Weltbild, sondern allein gegen die traditionelle Behauptung, mit ihm die objektive Welt bzw. Realität erkannt zu haben, so daß alle anderen hinreichend schlauen Menschen zustimmen müßten.

Postmodern sollten diese ein beliebiges Weltbild jedoch nur dann oder in dem Maße übernehmen, wenn bzw. wie sie es als Hilfe für ihr eigenes Leben erkennen

Daß ich das Gleiche auch sagen würde, wenn wir das Tier-Fundament durch den Kreationismus oder einen evolutiven Kosmos mit Urknalltheorie und Zufallsmutationen ersetzen, bedürfte wohl kaum noch der Erwähnung. Es gibt keine wahren, sondern höchstens richtige Weltbilder – und das sind die lebensdienlichen.

2.4. Begriffe

AD: „Ich habe immer noch Schwierigkeiten mit Ihrer Welt.

Es hat doch nichts mit irgendwelchen Theorien  zu tun, daß wir die Welt (zumindest teilweise) als materiell, massiv, hart, undurchdringlich und ähnlich erleben.

Zu unseren Begriffen gehören unter anderem Eiche sowie Gilboa-Baum, und wir haben uns entschieden, nur ersteren in unsere (heutige) subjektive Welt zu übernehmen; der Gilboa-Baum ist nicht mehr erforderlich. Weil wir den rein geistigen Begriff Eiche – im Gegensatz zum Begriiff Gilboa-Baum – anerkennen, können wir uns in der Welt an Eichen, aber nicht an Gilboa-Bäumen den Kopf wund stoßen und Beulen holen

Das glaubt Ihnen niemand!“

 

Ich hoffe, in fünf Minuten sind Sie die erste Ausnahme!

Unser modernes Weltbild wird überaus stark von der Physik geprägt, und dazu gehört ganz wesentlich ihr Begriff der Materie. Der ist – wie jeder Begriff – natürlich ein geistiger; Schmutz, Unrat, Kot oder eklig bilden – wie eklig auch immer die ihnen zugrundeliegende Wirklichkeit sein mag – rein geistige Begriffe, denn es gibt überrhaupt keine anderen.

Daß wir uns die Welt in der Moderne als eine materiell-wirkliche vorstellen, bedeutet also nicht, daß sie wirklich aus Materie – Stein, Erde und Lava – besteht, sondern daß wir sie mittels der geistig-unwirklichen Begriffe Materie, Stein, Erde oder Lava denken. 

 

Diese Begriffe nehmen wir aus dem uns zur Verfügung stehenden Angebot in die Welt auf; dabei passiert jedoch gar nichts. Die Begriffe bleiben exakt die Begriffe, die sie bereits zuvor waren; das Anerkennen führt keineswegs zu irgendeiner Transsubstantiation.  

Auf der einen Seite verfügen wir also über eine subjektive Welt, die aus rein geistigen Begriffen besteht.

Auf der anderen Seite läßt sich aber schwerlich bestreiten, daß wir diese Welt (zumindest teilweise) als materiell, massiv, hart, undurchdringlich und ähnlich erfahren.

Das wäre ein Widerspruch,

– wenn unser Erfahren der Welt

– durch deren Bestandteile bedingt sein müßte,

denn die Welt könnte dann nicht zugleich

als materiell, massiv, hart oder undurchdringlich erlebt werden, aber

aus rein geistigen Begriffen bestehen

 

AD: „Das war’s dann wohl . . .“

Noch nicht!

Im traditionell-modernen Denken hätten Sie wohl Recht; da ließe sich der Widerspruch kaum lösen:

Wir Subjekte erkennen die Welt durch Abbilden, und wenn sie aus rein geistigen Begriffen besteht, kann sie nicht stofflich erfahren werden.

Bei uns sieht das jedoch anders aus:

Wir Subjekte erkennen die Welt durch Erleben, und das ist auf zwei Arten möglich, die sich massiv unterscheiden; wir können unsere subjektive Welt sowohl vorstellen als auch wahrnehmen.

 

Vorstellungen sind unwirklich, und stehen nicht im Widerspruch zu den rein geistigen Begriffen, aus denen sich  die Welt zusammensetzt; die beiden Seiten passen also gut zusammen. Natürlich kann trotzdem auch das Vorstellen kein Abbilden einer – nicht-vorhandenen – objektiven Welt sein, sehr wohl aber ganz einfach das Vorstellen unserer subjektiven Welt.

Sie kommt nach dem oder durch das Vorstellen, hatten wir oben erkannt; letzteres präsentiert, kreiert oder schafft die subjektive Welt. Das Vorstellen bildet eine Facette unseres Lebens, und diese kann darin bestehen, daß wir uns Teile der eigenen Welt vorstellen.

 

Die Wahrnehmungen erweisen sich dagegen als wirklich; das verkompliziert die Situation natürlich erheblich. Aber wir können aus unseren Überlegungen zu den Vorstellungen soeben etwas ganz Wesentliches lernen:

Beim Vorstellen der Welt kommt jenes vor dieser; ohne Vorstellen gibt es also weder eine Welt noch Vorstellungen.

Da die subjektive Welt nicht vorhanden oder vorgegeben ist, müssen wir das übernehmen:  

Beim Wahrnehmen der Welt kommt jenes vor dieser; ohne Wahrnehmen gibt es also weder eine Welt noch Wahrnehmungen.

Wenn das Wahrnehmen den Ausgangspunkt darstellt, der sowohl zur Welt als auch zu den Wahrnehmungen führt, können diese jedoch – ohne jeden Widerspruch – Eigenschaften besitzen, die der Welt nicht zukommen.

 

AD: „Mit einer solchen Lösung habe ich nicht gerechnet; sie ist aber nachvollziehbar. Ein anderes Problem habe ich jedoch trotzdem noch:

Wir können uns sowohl die Erde als auch den Mond einzeln oder ganz allein vorstellen. Aber die beiden Begriffe der Erde bzw. des Mondes lassen sich nicht voneinander lösen, denn ohne die Erde ist es nicht der Mond und umgekehrt.  

Das sollte ein deutliches Beispiel sein; aber mir geht es darum, daß Entsprechendes letztlich doch für sämtliche Begriffe gelten muß. Mit anderen oder ganz ohne Gänseblümchen ist auch die Rose eine andere.

Wie kann die Welt aus Begriffen bestehen, wenn diese ein einziges Netzwerk bilden?“ 

 

Gar nicht! Sie haben vollkommen Recht; ich habe mich oben teilweise mißverständlich ausgedrückt, weil mir andere Zusammenhänge zunächst einmal wichtiger waren.

Das Bestehen-aus läßt sich auf unsere subjektive Welt gar nicht anwenden, weil sie nur als eine integrale und in sich geschlossene Einheit existiert. Jeder Begriff verweist auf alle anderen und hängt selbst von ihnen ab.

Andert sich beispielsweise der Begriff Menschen ein wenig, ziehen die Begriffe Tiere, Roboter oder Engel augenblicklich nach. Dann kann es exakt diejenigen Menschen, die gemeinsam mit Tieren, Robotern und Engeln einer bestimmten Welt angehören, in einer Welt ohne Tiere, Roboter bzw. Engel gar nicht geben.

 

Zusammenfassend erscheinen mir die folgenden zehn Punkte als sehr wichtig:

1. Das Weltbbild besteht in der Einheit der uns zugänglichen Begriffe und muß somit unbewußt sein, da letztere nie alle zugleich der Psyche angehören können.

2. Die Welt ist die darin enthaltene partielle und natürlich ebenfalls unbewußte Einheit der als hilfreich oder lebensdienlich erachteten Begriffe. 

3. Die Begriffe gelangen – (außerhalb der Strukturwissenschaften wie Mathematik, Logik oder Theoretischer Informatik) im allgemeinen nicht als Begriffe, sondern – nur als Komponenten der Erlebungen in unsere Psyche.

4. Hierbei bestehen die Wahrnehmungen (mit Kant) in der Einheit von Begriff sowie Anschauung und die Vorstellungen in der Einheit von Begriff sowie Ausmalung; darauf kommen wir noch ausführlich zu sprechen.

5. Durch ihre totale Vernetzung, die sämtliche Begriffe untereinander verbindet, entspricht einerseits jeder Begriff dem gesamten Weltbild; um ihn zu erklären, benötigen wir alle anderen Begriffe.

6. Ein Begriff ist das Weltbild, wie es sich von ihm bzw. seiner Stelle im Weltbild aus zeigt

7. Zum anderen kann das Weltbild demzufolge natürlich nicht aus den Begriffen bestehen, denn ihre „Summe“ würde ebensoviele Weltbilder wie Begriffe enthalten.  

8. Unsere Begriffs-Welt ist in sich geschlossen; weder verweisen die Begriffe auf etwas außerhalb ihrer Welt noch spiegeln sie etwas davon wider.

9. Begriffe sind insbesondere keine Namen; sie benennen nicht(s), sondern konstituieren.

10. Deswegen verstehen wir sie als geistige oder Denkwerkzeuge, und mit jedem von ihnen wirkt, anschaulich gesprochen, die ganze geistige Welt auf unser Leben; jeweils von der Stelle des Begriffs im Weltbild her.

2.5. Naiver Realismus der Moderne

In der Moderne werden die traditionellen immanenten Seienden  weitestgehend zu den Bausteinen der Physik, so daß die objektive Welt letztlich in den Kosmos der Naturwissenschaften übergeht.

Das ist aber nur die eine Veränderung; eine zweite, ebenso fundamentale besteht im Wechsel der Art und Weise, wie oder woher wir von der objektiven Realität wissen können.

In Antike und Mittelalter war dies ein kompliziertes theoretisches Problem, über das sich die Philosophen und Theologen mit Recht den Kopf zerbrochen haben, das aber die meisten Menschen natürlich kaum interessierte und von ihnen weder gesehen noch gar verstanden wurde. Die Moderne schließt sich dieser Mehrheit an und simplifiziert das Erkenntnisproblem entsetzlich:

„Dort ist die – an sich – seiende objektiv-reale Sonne; schau einfach hin, dann siehst Du sie.“

Dieser Satz klingt  wie selbst-, ist aber absolut unverständlich und voller Widersprüche.

 

Diese beiden Veränderungen innerhalb des traditionellen Denkens fassen wir als Naiven Realismus zusammen:

– Die immanenten Seienden nehmen die Form physikalischer Bausteine an, das heißt, sie bestehen in Körpern (oder Strahlungen) aller Art sowie in deren mikroskopischen Bestandteilen.

– Durch (möglichst) adäquates Abbilden erlangen wir Wissen von diesen Seienden.

Ich wiederhole nochmals:

Der Naive Realismus darf keinesfalls auf die gesamte Tradition übertragen werden; Antike und Mittelalter waren nicht naiv-realistisch – nur die Moderne ist es weitestgehend. Aber das traditionelle Denken mit seinem Glauben an eine objektive Welt umgreift alle drei Perioden, so daß sein Ende mit dem der Moderne zusammenfällt.

Damit läßt sich unsere Gegenwart als Übergang von der Tradition oder auch vom Naiven Realismus zur Postmoderne verstehen; das ist ein Paradigmenwechsel sowohl im Alltag als auch in Philosophie und Theologie, dessen Konsequenzen wir wohl noch nicht einmal erahnen können.

 

AD: „Haben Sie bewußt nur von Philosophie und Theologie gesprochen oder lediglich die anderen Wissenschaften nicht erwähnt?“

Das war Absicht!

Mit dem Übergang zur Postmoderne wird die Wirklichkeit eine ganz andere; wir ersetzen die  objektive Welt durch das subjektive Leben. Philosophie und Theologie haben die Aufgabe, uns die Wirklichkeit verständlich zu machen; deswegen werden sich die beiden meines Erachtens mächtig andern (müssen).

Bei allen (übrigen) Wissenschaften ist das zumindest nicht im gleichen Maße der Fall, da ihr Gegenstand niemals in der Wirklichkeit bestand oder auch nur bestehen könnte. Sie handeln lediglich von Denkmodellen, so daß sich eine Anderung der Wirklichkeit überhaupt nicht auf sie auswirken muß.

Der Apfel fällt nicht vom Baum, weil die Erde ihn anzieht – wie es uns wahrscheinlich allen in der Schule gelehrt wurde –, sondern mit Newtons Gravitationskraft haben wir ein physikalisches Modell erfunden, mit dessen Hilfe wir die Bewegung des Apfels phantastisch genau beschreiben können.   

 

Innerhalb der Philosophie wurde der Naive Realismus bereits von Kant sowie dessen unmittelbaren klassischen Nachfolgern – Fichte, Schelling, Hegel – kritisch infragegestellt, und später nicht zuletzt von Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein oder Alfred North Whitehead immer offensichtlicher ad absurdum geführt. Seit 100 Jahren gilt der Naive Realismus bei den Philosophen weitestgehend als obsolet, und ich kenne gegenwärtig keinen Großen unter ihnen, der (an) irgendeine objektive Welt glaubt.

Außerhalb der Philosophie – nicht zuletzt in den Naturwissenschaften, der Theologie sowie im Glaubensleben und Alltagsdenken – ist das freilich ganz anders. Dort wird der physikalische Kosmos als – scheinbar – offen-sichtliche und selbst-verständliche objektive Wirklichkeit kaum hinterfragt, da man ja angeblich nur hinschauen muß, um ihn in seiner Realität wahrzunehmen.

 

Der physikalische Kosmos merkt nicht, wenn wir ihn erkennen, so daß nur eine einseitige Wirkung von ihm auf uns existiert, die sich tatsächlich am besten – weil sehr anschaulich – als Abbilden verstehen läßt:

Wir erkennen den physikalischen Kosmos, indem wir Abbilder von ihm in unserer Psyche produzieren, was die Seienden zu den entsprechenden Urbildern werden läßt. Dort befindet sich zum Beispiel das Urbild namens „Sonne“; es ist abbildbar, und durch das Hinschauen erhalten wir ein Abbild von ihm in unserer Psyche.

 

Wer so, naiv-realistisch „denkt“, braucht natürlich keine Philosophie und staunt nur, wie man sich mit deren „absurden Hirngespinsten“ beschäftigen kann, obwohl doch „in Wirklichkeit alles so einfach und selbstverständlich ist“:

„Was wollen diese Philosophen eigentlich? Sie konstruieren nur sinnlose Schein-Probleme an Stellen, wo es keine tatsächlichen gibt. Wirkliche Schwierigkeiten bereiten die ‚harten Fakten‘ des Alltags sowie der Wissenschaft und Technik. Wozu noch Geisteswissenschaften? Die lösen keine Probleme, sondern erzeugen sie nur unnötig.“

 

Im Sinne von Wittgenstein würde ich einer solchen Stammtisch-„Philosophie“ etwa Folgendes entgegnen:

1. Die Philosophen konstruieren keine Schein-Probleme, sondern versuchen, wirkliche Probleme auf-scheinen zu lassen, indem sie angebliche Selbstverständlichkeiten der Wissenschaft, des Alltags oder Glaubens infrage stellen.

2. Daß die Philosophen keine Probleme lösen, sieht der Naive Realist freilig richtig; darin besteht die Aufgabe der Wissenschaft.

3. Die Philosophie ist keine Wissenschaft, sondern eine Therapie, die  „die Probleme wie eine Krankheit behandeln“, das heißt, nicht lösen, sodern zum Verschwinden bringen soll.

„Die ‚Lösung‘ der Probleme des Lebens merkt man am Verschwinden dieser Probleme.“

„Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat.“

4. Das setzt sauberes Denken voraus, aber „die Wissenschaft denkt nicht.“ (Martin Heidegger)

Diese „Verleumdung“ läßt sich recht gut verstehen:

Um die Probleme oder Rätsel der „normalen Wissenschaft“ zu lösen, stehen Paradigmen, Theorien, Modelle und Techniken zur Verfügung, die nur angewandt werden müssen. Das erfordert mehr Routine durch Üben oder Lernen als Denken und entspricht eher einem Handwerk.

„Normale“ Wissenschaftler sind geistige Handwerker, und die bereits bestehenden Begriffe bilden ihre Denkwerkzeuge – zum Werkeln.

5. Zur „wissenschaftlichen Revolution“ als einem „Paradigmenwechsel“ (Thomas S. Kuhn) gehört dagegen grund-legendes Denken.

6. Das ist aber auch schon der Bereich der Philosophie, weil dadurch die Probleme des alten Paradigmas – nicht wissenschaftlich gelöst werden, sondern – durch das Erfinden oder Schaffen neuer Begriffe therapeutisch verschwinden.

7. Diese Probleme bestanden also nicht an sich, sondern wurden lediglich durch unser unzureichendes Denkwerkzeug – das alte Paradigma mit seinen unfruchtbar gewordenen Begriffen – erzeugt.

8. Als Therapie kann und soll die Philosophie uns helfen zu leben, aber sie hat nicht – wie die Tradition häufig meint – die Aufgabe, ewig wahre Antworten auf die letzten, größten oder allgemeinsten Fragen der Menschheit zu finden und endlich zu klären, worin Sein oder Sinn, das Eine, Wahre, Gute und Schöne  bzw. Gott nun wirklich bestehen.

9. Das sind für die Postmoderne keine besonders tiefen, sondern überholte, weil heute falsch gestellte Fragen.

10. Sinnvoll wären sie nur, wenn die Wirklichkeit in einer objektiven Welt und nicht im subjektiven Leben bestände. Was hat ein einzigartiges Subjekt bzw. sein unaustauschbares Leben mit der Objektivität zu tun? 

11. Die philosophische Tradition sucht ewig-wahre Antworten; die Postmoderne erkennt, daß nicht einmal unsere Fragen diese Eigenschaft besitzen.

12. Ihr geht es um „das Andere der Vernunft“ – das Irrationale, Irreale, Unschickliche oder Alogische; den Leib, das Begehren, die Phantasie und Gefühle –, das die Tradition unter den Tisch fallen ließ, weil sie es nicht denken kann.

2.6. Kosmos – Welt – Leben

Möglicherweise wundern Sie sich die ganze Zeit schon, weshalb ich zumeist zwischen der objektiven Welt – der gesamten Tradition – und dem physikalischen Kosmos als ihrem Spezialfall – in der Moderne – unterscheide. An Ihrem Erstaunen zeigt sich gegebenenfalls, wie massiv wir uns im Verlauf der letzten drei Jahrhunderte an das Denken der exakten Wissenschaften angepaßt haben.

In vielen Büchern und Artikeln wird gegenwärtig spekuliert, daß wir Menschen möglicherweise gar nicht nur in unserem physikalischen Kosmos als einem Universum leben, sondern in einem Multiversum – in Kosmen gewissermaßen. Das geschieht teilweise auf einem sehr hohen intellektuellen Niveau, etwa im Zusammenhang mit Hugh Everetts „Quantentheorie der vielen Welten“.

Ich meine jedoch etwas völlig anderes und in gewissem Sinne sogar das glatte Gegenteil.

 

Der physikalische Kosmos stellt nur einen winzigen Teil der Welt dar.

Überlegen Sie bitte einmal, was Ihnen in Ihrem Leben besonders wichtig ist. Befindet sich darunter – bei Nicht-Physikern – etwas Physikalisches? Vielleicht denken Sie an Liebe und Freundschaft, bestimmte Menschen, Lebensziele und Selbstverwirklichung, Hobbys, Handwerk, Bücher, Kunst, Bildung oder einfach nur gutes Essen und Trinken.

All das sind keine Gegenstände der Physik – und sie können somit in deren Welt, dem Kosmos, auch nicht vorkommen. Darin gibt es keine Sprachen oder Gedichte, keine Gemälde oder Bierdeckel, weder Schön- noch Gemeinheit, weder Geld noch Armut, keine Verbrechen oder Fußballspiele, keine Staaten mit Flaggen und Hymnen, keine Bedürfnisse und kein Begehren.

Im physikalischen Kosmos existiert fast nichts; zu ihm kann nur das Wenige gehören, das sich mittels der Physik vollständig beschreiben läßt. Das ist bereits bei Reißzwecken, Sicherheitsnadeln und Büroklammern nicht mehr möglich, weil sie einen Zweck besitzen, dieser aber keine physikalische Kategorie darstellt, das heißt, daß der Physiker als Physiker nicht verstehen kann, was ein Zweck – und damit auch eine Reißzwecke – sein soll.

Es verbleiben somit nur die traditionellen primären Qualitäten Anzahl, Größe, Masse, Form, Ort, Geschwindigkeit usw.

 

AD: „Wieso sollen Reißzwecken, Sicherheitsnadeln und Büroklammern keine physikalischen Gegenstände und somit auch nicht im Kosmos enthalten sein?“

Entschuldigung; mein „nicht“ war falsch; sie befinden sich auch, aber nicht nur im Kosmos.

Reißzwecken, Sicherheitsnadeln und Büroklammern haben eine bestimmte Größe, Form, Masse, Festigkeit sowie weitere Eigenschaften, für die die Physik zuständig zeichnet, und hierdurch gehören diese Gegenstände natürlich dem Kosmos an – pardon.

Das wollte ich keineswegs bestreiten; aber damit handelt es sich noch nicht um Reißzwecken, Sicherheitsnadeln bzw. Büroklammern, denn das sind sie erst durch ihren jeweils noch hinzukommenden Zweck. Und mit ihm transzendieren sie den Kosmos und reichen in andere Dimensionen der Welt hinein.

Ich korrigiere mich also; sämtliche Dinge, die physikalische Aspekte besitzen, gehören auch dem Kosmos an, gehen aber zumeist weit über ihn hinaus; er ist – anschaulich gesprochen – zu eng für sie.

Unbestreitbar bedeutet unser Rendezvous auch eine Ortsveränderung, aber daß es nur das ist, können hoffentlich auch die dreistesten Physikalisten selbst nicht glauben.

 

Viele Menschen finden in ihrem Leben keinen Sinn und haben damit auch vollkommen Recht, wenn sie ihre Welt auf die physikalischen Komponenten reduziert haben. Darin kann es natürlich keinen Sinn geben, weil er ebenfalls keine physikalische Kategorie darstellt. Auch Physiker finden keinen Sinn im Kosmos; hoffentlich bei ihrer Arbeit, aber die erfolgt nicht im Kosmos, sondern handelt nur von ihm.

Wir können nicht unsere Wohnung schwarz überstreichen und dann klagen, daß die Farben fehlen. Doch; natürlich können wir es; wir tun es ja weitestgehend, indem wir die wirkliche (moralisch-)praktische Wahrheit unseres Lebens durch eine angeblich (erkenntnis-)theoretische Richtigkeit des Weltbilds ersetzen – und dann vielleicht unglücklich sind.

„Was sollen wir mit der?“

 

AD: „Die nicht-physikalischen Partial-Welten, die Sie andeuten, spielen aber doch wirklich nur eine untergeordnete Rolle . . .“

Das ist richtig; aber nicht weil es sich in der objektiven Welt so verhält, sondern weil wir unsere subjektiven Welten in der Moderne so einseitig entwickelt haben. Überlegen Sie bitte einmal, was wir alles über unseren Kosmos erzählen könnten, und wie rudimentär sich daran gemessen – bei den meisten von uns – unter anderem das musische oder poetische Vokabular ausnimmt, wie beschränkt unsere Partial-Welten beispielsweise des Schönen, Guten, Religiösen und der Gabe oder Stille entwickelt sind.

Bei dem Wort „Krieg“ beispielsweise assoziieren die meisten Menschen heute physikalisch-elektronische Waffen(-Systeme) und deren Abwehr. Aber müßte uns nicht als erstes das Leid der Betroffenen – Menschen, Tiere und vielleicht sogar Pflanzen – in den Sinn kommen?

 

Nun sollte verständlich sein:

Die traditionelle Welt besitzt nicht nur die vier Dimensionen der physikalischen Raum-Zeit, sondern potentiell unendlich viele und ist unabsehbar reichhaltig oder vielfältig. Der Kosmos mit seinen armseligen Inhalten nimmt sich daran gemessen entsetzlich provinziell aus. Auch wenn er innerhalb der Raum-Zeit praktisch grenzenlos ist, bleibt der Kosmos gegenüber dem Reichtum, der Vielfalt und Faszination der Welt nahezu vernachlässigbar. Letztere enthält den Kosmos, geht aber in potentiell unendlich vielen Dimensionen darüber hinaus.  

Allein das traditionelle Denken im modernen Abendland glaubt, mit der Physik den Nabel oder die Einheit der Welt gefunden zu haben, so daß die physikalische Weltformel als das angeblich letzte noch zu lüftende Rätsel gehandelt und als Endlösung verkauft wird.

 

Wir setzen diese Horizonterweiterung vom Kosmos zur Welt mit der Postmoderne fort und gehen zum eigenen Leben über:

objektiver Kosmos   →   objektive Welt   →   (mein) Leben in der subjektiven Welt

 

AD: „Mit Ihrer Fortsetzung habe ich Probleme; daß wir in der eigenen Welt leben, halte ich aus mindestens zwei Gründen für ausgeschlossen:

Erstens können wir nicht in einer Welt leben, die nur aus rein geistigen Begriffen besteht; wir sind doch keine Gespenster.

Und zweitens wäre es meines Erachtens auch widersprüchlich, in einer Welt leben zu wollen, die es ohne mich gar nicht gäbe. Wohinein werde ich denn dann geboren?“

 

Ich halte mich an Ihre Reihenfolge:

Wären wir Gespenster – und damit sinnliche Erlebungen –, könnten wir nicht in einer rein begrifflichen Welt leben; Gespenster sind vielleicht Geister, aber nichts rein Geistiges. Die Körper passen jedoch – als Begriff – phantastisch in die Welt hinein. Und da wir den eigenen Körper schwerlich ablehnen oder verneinen können, gehört er bei jedem von uns zur subjektiven Welt.  

Als wir – in den subjektiven Welten unserer Eltern – Babys waren, gab es für uns selbst weder eine Welt noch den eigenen Körper (und damit natürlich auch keine Babys). Unsere Welt hat sich gemeinsam mit dem zugehörigen eigenen Körper bei Null beginnend zum Status quo entwickelt.

Konkret lautet meine Antwort auf Ihre zweite Frage also:

Wir wurden in die Welten unserer Eltern hineingeboren – und erhielten dadurch die Möglichkeit, eine eigene subjektive Welt zu generieren.

2.7. Die philosophische Transzendenz aller Seienden

Wittgenstein wies des öfteren darauf hin, daß wir Wahrnehmungen nicht sinnvoll anzweifeln oder bestreiten können und sie somit keine „normalen“ Wissungen darstellen. Bei letzteren besteht ja immer die Möglichkeit, daß sie falsch sind; Wisungen sind fehlbar, Wahrnehmungen jedoch nicht; sie sind in der Sprache Wittgensteins gewiß.

Der Satz „Ich habe A wahrgenommen, weiß aber nicht, ob es A war“ ist widersprüchlich, weil er den Sinn der Wahrnehmungen ignoriert; sie sind nicht nur wirklich, sondern auch gewiß, während sich die unwirklichen Vorstellungen stets als fehlbar erweisen.  

 

Stellen wir uns zum besseren Verständnis einen Dürstenden in der Wüste vor, der Wasser sieht; das ist eine Wahrnehmung, und als solche kann sie nur unfehlbar sein. Gewißheit bedeutet also, daß ein gegenwärtiger Irrtum ausgeschlossen ist.

Der Ärmste will trinken, aber es gelingt ihm nicht. Darin besteht eine neue Wahrnehmung, die ihn belehrt, daß es sich bei dem angeblichen Wasser um eine Fata Morgana handelt.

AD: „Dann war es aber auch zu Beginn schon eine und somit doch ein Irrtum.“

Nein; zu diesem Zeitpunkt wußte er das ja nicht; und ein „Irrtum“, der nicht als solcher gewußt wird, ist kein Irrtum. Wer das anders sieht, maßt sich die Perspektive Gottes an.

Der Dürstende erkennt erst im Nachinein, daß er sich zuvor getäuscht haben muß; und darin besteht seine neue – freilich immer nur gegenwärtige und niemals endgültige – Gewißheit:

„Es muß eine Fata Morgana sein.“

Das „Wahr-Nehmen“ ist also stets ein Gewiß- und Wirklich-, aber kein Wahr-Nehmen.

 

Irrtümer können also bei Wahrnehmungen immer erst rückblickend oder im Nachhinein durch neue Wahrnehmungen erkannt werden; sie kennen keine gegenwärtigen Irrtümer.

Aber was heißt hier „Irrtümer“? Vielleicht stellt sich in einem erneuten Anlauf heraus, daß es doch Wasser ist und der Dürstende bei seinem ersten Versuch nur bereits zu schwach war, um noch trinken zu können. 

Wir befinden uns also stets in der Situation:

So sehe ich es gegenwärtig und müßte lügen, mich dumm stellen oder einfach irgendetwas plappern, sollte ich etwas anderes sagen.“

 

Daß Wahrnehmungen wirklich und gewiß sind, läßt sich in die traditionelle Sprache der Philosphie übersetzen:

Zum einen kommt ihnen die Existenz, das Sein oder Daß zu.

Und zum anderen bilden alle Wahrnehmungen ein Etwas, das heißt, bei jeder von ihnen können wir sinnvoll fragen „Was ist das?“ oder „Wessen sind wir uns gewiß?“. Wieder traditionell formuliert besitzen die Wahrnehmungen eine Essenz, ein Wesen oder Was.

Diese beiden Tripel von Grundbegriffen der traditionellen Philosophie entsprechen also der Wirklichkeit bzw. Gewißheit im postmodernen Denken.

Unsere Wahr- bzw. Unwahrheit bezieht sich nur auf das eigene Leben und besitzt kein direktes Pendant in der Tradition. Natürlich nicht, da sie ja das Leben lediglich als ein spezielles Seiendes betrachtet.

Bei uns können nur die unwirklichen Vorstellungen richtig oder falsch sein, traditionell sämtliche Wissungen.

 

Nun kommt der meines Erachtens entscheidende Fehler der Tradition:

Die Wahrnehmungen befinden sich in unserer Psyche, und dadurch können wir vernünftig über sie nachdenken sowie sprechen.

Die Tradition bezieht die beiden Eigenschaften, die die Wahrnehmungen postmodern besitzen, – nämlich Wirklichkeit und Gewißheit bzw. Daß und Was – jedoch nicht auf die Wahrnehmungen, sondern erfindet als deren Träger Seiende, die angeblich außerhalb der Psyche lokalisiert und damit absolut unerreichbar sind. Das ist pures Jägerlatein, denn wir können diesen Seienden prinzipiell nicht begegnen; sie sind nicht immanent, sondern transzendent

 

Bitte nehmen Sie sich an dieser Stelle ein wenig Zeit!

Wir sprechen nicht von Religion, Glaube oder Gott, sondern vom traditionellen philosophischen Denken:

Ausnahmslos alle Seienden – die diesseitige Materie ebenso wie die jenseitigen Platonischen Ideen – gehören einer philosophischen Transzendenz an.

Deswegen können weder die Sonne noch die Platonischen Ideen als Seiende in unserem Leben vorkommen; wir haben höchstens immanente Abbilder – Wahrnehmungen oder Vorstellungen – von ihnen.

Naive Realisten glauben (an) die philosophische Transzendenz; daß sie das wahrscheinlich nicht wissen und wohl auch nicht für möglich halten würden, spieltt dabei keine Rolle.

 

Wenn traditionell Denkende von Religion, Glaube oder „Gott“ sprechen, müssen sie also innerhalb der philosophischen Transzendenz ihrer gesamten objektiven Welt zwischen Diesseits und Jenseits unterscheiden; transzendent sind natürlich beide.

Die Materie gehört in das transzendente Diesseits und „Gott“ in das transzendente Jenseits.

Natürlich kennt die Tradition auch eine Immanenz; aber sie beschränkt sich auf die Psychen mit der Leibhaftigkeit sowie Reflexion des Lebens und ist damit unwirklich.

 

AD: „Das war mehr als überraschend, aber ich glaube, Sie verstanden zu haben.

Wir streichen alle Seienden; damit entfällt die philosophische Transzendenz – was uns im weiteren vor Verwechslungen schützt –, und wer trotzdem von ihr spricht, ist hinterwäldlerisch. 

Fraglich ist mir lediglich noch, weshalb Sie ‚Gott‘ beim traditionellen Denken immer mit Anführungsstrichen versehen.“

Weil dieser „Gott“ nicht – der wahre – Gott sein kann. Er ist transzendent nur im philosophischen Sinne. Die Seienden bilden lediglich Projektionen unserer Vorstellungen und gehören damit der subjektiven Welt an, so daß dieser „Gott“ ohne uns nicht existieren würde.  

Er ist derjenige, den Dietrich Bonhoeffer mit seinem Bonmot „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht“ andeutet, und nur ein solcher kann die jenseitige Komponente der objektiven Realität bilden.

 

 

traditioneller Ansatz postmoderner Ansatz
Hinterwelt
         
philosophische Transzendenz Tranzendenz Immanenz
objektive Welt Denknotwendigkeit Reflexion des Lebens
subjektive Welt
Seiende Ungewußtes Wahrnehmungen Vorstellungen
Begriffe
{ Daß + Was }
    { Daß + Was } Was
Was
wirklich
    wirklich unwirklich
objektiv     gewiß fehlbar Denkwerkzeuge
          +  
Diesseits Jenseits     Leibhaftigkeit des Lebens
Kosmos „Gott“ Gott      

Abbildung 2.7.

 

Damit haben wir die philosophische Transzendenz überwunden bzw. als Hinterwelt durchschaut:

Es gibt keine Seienden; weder dies- noch jenseitige.

Wer – die Immanenz oder Transzendenz – denken will, muß dies also nicht-traditionell versuchen.

 

AD: „Angenommen Sie sprechen von X, ich verstehe X nicht und bitte um eine Erklärung. Sie helfen mir, aber nicht – wie jeder Traditionalist erwarten würde – mit dem Seienden X, nach dem ich eigentlich gefragt hatte, sondern mit einer anderen Vorstellung Y, die ich vielleicht wieder nicht verstehe.

In diesem Falle würde sich unser Spielchen fortsetzen, bis ich irgendwann verstanden habe – oder aufgebe?“

Vollkommen richtig; ich kann Ihnen nur mit weiteren immanenten Erlebungen, aber nicht mit transzendenten Seienden helfen. Erklären Sie mir bitte einmal, was ich in diesem Fall tun müßte. Woher soll ich das Seiende nehmen? Wie Ihnen zeigen? Und was ist das überhaupt?

 

Was Sie hier intuitiv richtig wiedergeben, bildet den Grundgedanken der „Philosophie des Zeichens“ von Josef Simon. Ihr zufolge muß jede Erklärung eine Lösung bieten, die subjektiv

– verstanden und

– als Erklärung akzeptiert wird,

womit sich – aufgrund des Einverständnisses – dann auch die Frage nach ihrer Richtigkeit erledigt hat.

 

„Ich akzeptiere das Y“ oder „bin damit einverstanden“ heißt, es im weiteren so zu sehen und entsprechend zu leben. Aber natürlich stets unter dem Vorbehalt einer möglichen begründeten Korrektur durch neue Einsichten – wie oben bei der Fata Morgana.

Vielleicht ist das mit der biblischen Forderung gemeint, wir sollten werden wie die Kinder. Das hätte dann weder mit „kindisch“ noch mit „naiv“ oder „untertänig“ bzw. „demütig“ etwas zu tun, sondern würde einfach bedeuten, daß wir selbst unsere sichersten Überzeugungen nicht zur Wahrheit oder auch nur Richtigkeit überhöhen dürften, sondern stets offenbleiben sollten für neue Erlebungen.

2.8. Vom Sein der Seienden zum Erleben der Erlebungen

Die Philosophen versuchen seit zweieinhalb tausend Jahren zu klären, worin die Existenz, das Sein oder Daß der transzendenten Seienden besteht. Spätestens Kant zeigte jedoch relativ deutlich, daß „die Wirklichkeit kein Prädikat“ darstellt und diese Frage somit prinzipiell nicht beantwortet werden kann.

Einfacher formuliert haben wir keine Ahnung, worin das Es-gibt, Sein oder Vorhandensein, die Wirklichkeit bzw. Existenz der objektiven Realität und ihrer Seienden bestehen könnten. Die entsprechenden Worte werden nahezu ununterbrochen benutzt – aber niemand versteht sie.

„Dort ist der seiende oder urbildliche Mond.“

„Was meinst Du damit? Ich kann Dir nicht folgen, weil er einer Hinterwelt angehören müßte. Letzteres habe ich bei Kant zwar nicht gefunden; aber er wies sehr entschieden nach, daß niemand weiß, was Dein ‚ist‘ bedeuten könnte.“

 

Wir können die recht abstrakten Überlegungen Kants auf sich beruhen lassen, und ich versuche lediglich, Ihnen seine Begründung ein wenig plausibel zu machen.

Traditionell, insbesondere in Antike und Mittelalter, hat man das Sein der Seienden als eine Eigenschaft verstehen können.

Krokodile gibt es; sie haben 1000 Eigenschaften, und eine von ihnen besteht in ihrer Wirklichkeit oder Existenz.

Drachen besitzen ebenfalls 1000 Eigenschaften, aber die Wirklichkeit bzw. Existenz ist nicht darunter; deswegen gibt es sie nicht.

 

Kant will uns zeigen, daß ein solches Denken fehlerhaft ist und fragt deshalb, ob die 100 Taler, die wir nicht besitzen, etwas anderes sind als die 100 Taler, die wir haben.

Wenn wir von den Talern reden – und nicht von uns –, besteht tatsächlich kein Unterschied. 100 Taler sind 100 Taler; und gerade weil es so ist, können wir die exakt gleichen 100 Taler sowohl haben als auch nicht-haben.

Deswegen läßt sich die Wirklichkeit oder Existenz – zum Beispiel der 100 Taler – nicht mehr als Eigenschaft verstehen.

 

Damit entfällt jedoch auch eine – zwar etwas zu simple, aber dennoch (oder gerade deswegen) – weit verbreitete Interpretation des „ontologischen Gottesbeweises“ (Anselm von Canterbury):

Ein vollkommener Gott, der existiert, hat mit seiner Wirklichkeit eine positive Eigenschaft mehr, als exakt dieser gleiche „fast vollkommene“ Gott, der nicht existiert.

Wir definieren Gott mit Anselm „als das vollkommenste aller Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann„.

Angenommen wir denken uns ein großartiges und absolut vollkommenes Wesen nahezu ohne jeden Makel – bis auf einen einzigen: Es existiert leider nicht.

Dann ist es jedoch nicht das vollkommenste Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann, denn das gleiche Wesen wäre auch existierend denkbar.

Gott – als das vollkommenste Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann – muß also notwendigerweise existieren, denn ansonsten wäre er nicht das vollkommenste Wesen.

 

AD: „Dieser ontologische Gottesbeweis gefällt mir nicht, denn er spielt allein in der Sphäre der Vorstellungen oder Denkungen, und die sind alle unwirklich. Wie sollte man damit die Wirklichkeit Gottes beweisen können?

Aber unabhängig davon vermute ich, daß Kant sich getäuscht hat und die Wirklichkeit doch eine Eigenschaft darstellt:

Träume ich von Wasser oder stelle es mir vor, dann ist das Wasser unwirklich; sonst könnten Menschen in der Wüste nicht verdursten; Vorstellen geht ja immer. Wirkliches Wasser ist dagegen solches, das man tatsächlich trinken kann.“

 

Nein; ich fürchte. jetzt werfen Sie alles ein bißchen durcheinander.

Die Seienden sind transzendent, und dennoch wurde und wird vielleicht mitunter heute noch ihre Existenz als Eigenschaft verstanden. Mir ist es ein Geheimnis, wie man sinnvoll über transzendente Seiende sprechen kann; deshalb lehne ich das ab und betrachte sie mit all ihren Eigenschaften oder Nicht-Eigenschaften als Hinterwelt.

Damit wird natürlich auch die Unterscheidung zwischen wirklichem und unwirklichem Wasser oder wirklichen und unwirklichen Talern hinfällig, weil hinterwäldlerisch.

 

An deren Stelle treten postmodern die entsprechenden Erlebungen.

Wasser und Taler gehören der philosophischen Transzendenz oder Hinterwelt an.

In unserer Psyche gibt es Wasser-Wahrnehmungen, die man trinken kann, und Wasser-Vorstellungen, mit denen dies nicht möglich ist; Taler-Wahrnehmungen, die an der Kasse entgegengenommen, und Taler-Vorstellungen, die zurückgewiesen werden.   

 

Mit dem Übergang von der Tradition zur Postmoderne verschwindet die objektive (Hinter-)Welt, und an ihre Stelle tritt das subjektive Leben, was eine viel größere Freiheit ermöglicht. Jeder von uns könnte sagen:

„Alles, was es für mich gibt – die gesamte Wirk- und Unwirklichkeit –, besteht in meinem eigenen Leben.“

AD: „Ist das nicht ganz schön egoistisch oder zumindest kurzsichtig?“

Nein; keineswegs; wir beide sind uns auf einem technischen Weg begegnet und kommunizieren nun digital miteinander. Dadurch gibt es für mich neue Erlebungen, die jedoch alle ausnahmslos nur zu meinem Leben gehören.

Diese Antwort können und sollen Sie wortwörtlich für sich wiederholen; sie bleibt richtig; auch für die – vielleicht ganz anderen – Erlebungen in Ihrem subjektiven Leben.

 

Meine Aussage, daß alles, was es für mich gibt, in meinem eigenen Leben besteht, bedeutet also ausführlicher:

1. Andere subjektive Leben existieren nicht nur, sondern sollen mich auch berühren – weder bin ich ein Solipsist noch will ich ein Egoist sein.

(Solipsismus kommt von „solus“, das heißt, „allein“ und meint ein Weltbild, demzufolge nur ich mit meiner eigenen Psyche und ihren Erlebungen existiere. Das erscheint Ihnen wahrscheinlich als absurd; es läßt sich aber widerspruchsfrei denken und dürfte somit prinzipiell unwiderlegbar sein.) 

2. Jeder von uns ist einzig und führt sein eigenes subjektives Leben.

3. Wir  besitzen absolut keinen Zugang zum Leben der Anderen, denn sie befinden sich vollständig außerhalb unserer Psyche.

4. Zwar wechselwirken wir mit- und wirken dadurch aufeinander; aber jeder kennt das Resultat dieser Beeinflussung nur als Bestandteil des eigenen Lebens. 

 

AD: „Auf die Frage, wieso ich wahrnehmen kann, sind vier – für uns stilisierte – Antworten möglich:

1. Weil es Wahrnehmbares gibt und ich lebe.

2. Weil es Wahrnehmbares gibt, obwohl ich nicht lebe.

3. Es gibt zwar kein Wahrnehmbares, aber daß ich lebe genügt.

4. Obwohl es kein Wahrnehmbares gibt und ich auch nicht lebe.

 

Die ersten beiden Antworten scheiden aus, weil wir nicht verstehen, daß es Wahrnehmbares geben soll, und die vierte ist keine Antwort, sondern läßt uns ratlos zurück, so daß nur Nummer 2 übrigbleibt.

Wir müssen unsere Wahrnehmungen also aus dem eigenen Leben erklären, und dann versteht es sich von selbst, daß die gesamte uns zugängliche Wirklichkeit nur im eigenen Leben mit seiner Leibhaftigkeit sowie Reflexion bestehen kann.“

Sehr schön; und zu meinem Leben gehören natürlich auch die Vorstellungen, die ich mir von Ihnen, der Geschichte, dem Mount Everest, dem ewigen Leben, Rotkäppchen oder Marsmenschen mache. Vollkommen unabhängig davon, ob sie meiner Welt angehören oder nicht, befinden sich diese Vorstellungen alle nur in meiner Psyche und gehören somit als Reflexionen zu meinem Leben.  

2.9. Urbilder und Abbilder – im logischen Zirkel

Ein Kind sieht zum ersten Mal in seinem Leben den Mond. Der merkt natürlich nichts von seinem Bestaunt-Werden, so daß wir es mit einem völlig einseitigen Verhältnis zu tun haben. Das scheint sich zwar am besten durch ein Abbilden beschreiben zu lassen – geht aber nicht.

 

AD: „Wieso soll das unmöglich sein? Das Abbilden ist doch etwas ganz Alltägliches; denken wir nur an das Photographieren, Malen und Beschreiben, an Landkarten, technische Zeichnungen oder Veranschaulichungen.“

Das stimmt; Sie übersehen aber, daß wir es hier mit zwei völlig verschiedenen Formen des Abbildens zu tun haben. Ihr alltägliches Abbilden(A) steht dem traditionell-philosophischen Abbilden(T) diametral gegenüber.

 

Wir stehen vor dem objektiv-realen Eiffelturm, bilden ihn in unserer Psyche ab und schießen ein Erinnerungsphoto, so daß sich zwei verschiedene Arten von „Abbildern“ ergeben.

Die Anführungsstriche soeben waren wichtig, denn es ist mehr als verwegen, hierbei Abbilder als gemeinssamen Oberbegriff zu benutzen: 

Natürlich ist ein Photo vom Eiffelturm nicht der Eiffelturm, sondern lediglich ein Abbild(A) von ihm; aber das Photo, das wir dann in der Hand halten oder auf dem Handy sehen, stellt ebenfalls ein Urbild dar und ist in diesem traditionell-philosophischen Sinne so wirklich wie der Eiffelturm.

In unserer Psyche befindet sich dagegen ein ganz anderes Abbild(T), das weder Urbild noch wirklich ist.

 

 

Urbilder

Eiffelturm

wirklich

Photo vom Eiffelturm

wirklich

Photo vom Photo vom . . .

wirklich

erfunden
 

|

Abbilden(T)

|

Abbilden(T)

|

Abbilden(T)

erfunden
    — Abbilden(A) —→   getan
Abbilder

Eiffelturm

unwirklich

Photo vom Eiffelturm

unwirklich

Photo vom Photo vom . . .

unwirklich

gegeben

Abbildung 2.8.

 

Beim Abbilden(A) sind uns sowohl Ur- als auch Abbild(A) gegeben; beim Photographieren können wir beispielsweise die aufgenommene Landschaft unmittelbar mit dem Bild davon vergleichen, und wir sehen – lax ausgedrückt – doppelt; das Original und sein Photo. Dem Künstler steht ein Mensch gegenüber, und er malt dessen Porträt; wir orientieren uns in der Natur mittels einer Wanderkarte.

 

Mit Ur- bzw. Abbild(T) in unserem traditionell-philosophischen Sinne haben diese Beispiele auch nicht das Geringste zu tun. Die Wanderkarte, das Photo oder Porträt stellen keine Abbilder(T) dar, und die Natur oder Landschaft bzw. der Mensch sind keine Urbilder(T).

Beim Abbilden(T) ist uns nur das Abbild(T) in der Psyche gegeben. Das Kind von soeben beispielsweise nimmt nur einen Mond wahr und sieht keineswegs doppelt.

 

Die Tradition erfindet und behauptet lediglich niemals gesehene Urbilder(T) im Außerhalb der Psyche, um mit ihrer Hilfe die Entstehung der Abbilder(T) in der Psyche sehr leicht erklären zu können.

Der Mond in der Psyche ist natürlich unbstreitbar; aber

– wir leugnen das Urbild(T) oder Seiende namens „Mond“, so daß

– der Mond in der Psyche den einzigen Mond darstellt und somit

– auch nicht länger als Abbild(T) verstanden werden kann.

 

AD: „Wir sehen nicht doppelt; das Urbild(T) Mond ist natürlich ‚unsichtbar‘, weil es sich außerhalb der Psyche befindet; aber unsere Vernunft verlangt seine Existenz: Wir könnten keinen Mond sehen, wenn er sich nicht dort befände.“

Ihr letzter Satz ist zumindest zweideutig.

Zum einen stellt er eine Tautologie dar: Gäbe es dort keinen Mond, würden wir auch keinen sehen; dem vermag niemand zu widersprechen.

Zum anderen – und nur das können Sie zur Verteidigung der Tradition gemeint haben – läßt sich Ihr Satz auch so verstehen, daß zwei Monde unterschieden werden müssen: 

Die Mond-Sehung X in unserer Psyche wäre unmöglich, wenn sich der Ur-Mond Y nicht dort im Weltraum befände.

 

Die erste Interpretation ist tautologisch und die zweite meines Erachtens zumindest fragwürdig. Sie erfinden einen unsichtbaren Ur-Mond Y im Außerhalb der Psyche, um Ihre Mond-Sehung X erklären zu können. Ich bezweifle jedoch sehr stark, daß es sich hierbei um eine Erklärung, das heißt, um etwas Akzeptables handelt:

1. Gegeben ist die Mond-Sehung X.

2. Deren Zustandekommen möchten Sie verstehen.

3. Dazu erfinden Sie einen unsichtbaren Ur-Mond Y.

4. Der einzige Hiinweis auf ihn, besteht in unserer Mond-Sehung X.

5. Sie interpretieren letztere als Abbildung des erfundenen Ur-Monds Y.

 

Damit leiten Sie aus der Mond-Sehung X den Ur-Mond Y – als eine mögliche Erklärung – ab und schließen zugleich aus der Existenz der Mond-Sehung X auf deren Richtigkeit – wobei vielleicht auch 1000 andere Erklärungen möglich gewesen wären.

 

Kann ein logischer Zirkel perfekter sein?

Sie erklären die Mond-Sehung X mittels des Ur-Monds Y, von dem Sie nur durch die Mond-Sehung X wissen:

Von den Urbildern wissen wir allein durch ihre Abbilder.

Die Urbilder machen uns die Abbilder verständlich.

→   Es gibt Urbilder.

 

Diese „Logik“ kannten schon die alten Germanen:

Von Donar wissen wir allein durch den Donner.

Donar macht uns den Donner verständlich.

→   Es gibt Donar.

 

Rein logisch besteht zwischen diesen beiden Zirkelschlüssen auch nicht der geringste Unterschied:

Das Wissen, das sich aus den Abbildern ergibt, macht uns die Abbilder verständlich.

Das Wissen, das sich aus dem Donner ergibt, macht uns den Donner verständlich.

Nicht nur Donar, sondern auch die Urbilder sind meiner tiefsten Überzeugung zufolge pure Erfindungen, mit denen wir uns selbst belügen, solange wir glauben, etwas erklärt zu haben.

Es handelt sich bei diesen zwei Beispielen um einen (relativ weit verbreiteten) logischen Fehlschluß, den wir rein formal folgendermaßen darstellen können:

 

Prämisse 1 p → q Regnet es, wird die Straße naß. Das Urbild macht das Abbild verständlich.
Pränisse 2 q Die Straße ist naß. Das Abbild ist verständlich.
falsche Konklusion → p Also hat es geregnet. Also existiert das Urbild.

Die erste Schlußfolgerung – „Also hat es geregnet“ – ist offensichtlich nicht zwingend, weil zum Beispiel auch Schnee geschmolzen, ein Wasserrohr geplatzt oder der Sprengwagen gefahren sein könnte. Die Prämisse lautete nicht „Wenn es regnet, aber auch  nur dann, wird die Straße naß“.  

Da die Logik nicht vom Inhalt abhängt, kann die zweite Konklusion – „Also existiert das Urbild“ – ebenfalls nicht zwingend sein. „Das Urbild und nichts anderes macht das Abbild verständlich“ – aber wir suchen nach einer anderen Erklärung, die keine Hinterwelt benötigt.

Sowohl Donar als auch die Urbilder stellen Versuche dar, etwas verständlich zu machen; sie mögen vielleicht ihre Zeit und ihr Recht gehabt haben; das muß uns nicht interessieren. Aber wenn wir ihre Schwachstellen kennen und die traditionellen Schlüsse nicht mehr intellektuell redlich nachvollziehen können, müssen wir nach etwas Konsistenterem Ausschau halten

 

AD: „Ich verstehe Ihre Überlegungen in diesem Kapitel so, als würden Sie sich der Projektions-Theorie von Ludwig Feuerbach anschließen?“ 

Natürlich; denn er wollte mit seinen Überlegungen plausibel machen, wie die Traditionell-Gläubigen auf die Idee kommen, es gäbe einen Gott, der zwar als „transzendent“ bezeichnet, aber völlig analog zur immanenten objektiven Realität vorgestellt wird.

Sie haben Feuerbach zufolge eine Vorstellung von Gott, projizieren diese aus ihrer Pyche heraus und glauben an ihre eigene Projektion. Folglich hat nicht Gott die Menschen nach seinem Bild, sondern sie haben ihn nach ihren Vorstellungen erschaffen – was diejenigen Gläubigen, die so denken, natürlich massiv bestreiten und völlig anders sehen.

 

Ich kann Feuerbach natürlich nur beipflichten; er hat meines Erachtens völlig Recht.

Da es ihm jedoch im wesentlichen um seine Religionskritik ging, war er allein auf Gott fixiert, obwohl seine logisch saubere Argumentation auch nicht das Geringste mit Gott zu tun hat und deswegen wortwörtlich auf die gesamte objektive Realität übertragen werden könnte.

Wieso ist Gott eine Projektion, aber der Urknall nicht?

Mir geht es nicht um eine Kritik der Religion, sondern um eine solche sowohl des theologischen wie auch des philosophischen Aberglaubens.

 

Deswegen schließe ich mich Feuerbach nicht nur an, sondern erweitere seine Kritik an Gott auf eine solche aller Seienden, das heißt, der gesamten Hinterwelt. Er hat Recht, hätte aber weitermachen müssen; auch die objektiv-reale Materie ist nur eine Projektion.

Feuerbach hat

– allein von der philosophischen Transzendenz gesprochen,

– die theologische vielleicht gar nicht gesehen und

– seine berechtigte Kritik an jener unbegründet allein auf Gott beschränkt.

2.10. Es gibt kein Abbilden

Der Naive Realismus geht davon aus, unsere Wahrnehmungen – insbesondere die Sehungen – mittels der entsprechenden Urbilder vernünftig erklären zu können. Wir bestreiten das wegen des logischen Zirkels, der in dieser „Erklärung“ notwendigerweise enthalten ist.

Um einen Schritt weiterzukommen und unsere eigene Position besser zu verstehen, lassen wir uns aber nochmals auf das angebliche Abbilden ein. Dann bestehen hinsichtlich unserer Wahrnehmungen theoretisch zwei Möglichkeiten; sie könnten selbst die Urbilder oder bereits deren Abbilder sein. 

 

Wenn uns die Urbilder selbst in Form der Wahrnehmungen gegeben sind, benötigen wir weder ein Abbilden noch Abbilder; beide sind völlig überflüssig.

Bestehen die Wahrnehmungen dagegen in den Abbildern, liegt das Abbilden bereits hinter ihnen. Weder wissen wir etwas davon noch haben wir abgebildet, denn die Wahrnehmungen sind diesbezüglich das Erste, das uns begegnet.

Bei beiden Denk-Möglichkeiten – Wahrnehmungen sind Ur- bzw. Abbilder – gibt es also kein Abbilden. Das eine Mal entfällt es gemeinsam mit den Ab- und das andere Mal gemeinsam mit den Urbildern. Das paßt genau; eine Bild-Sorte fehlt immer, denn wir sehen nie doppelt.

 

Üblicherweise wird argumentiert:

Weil der Naive Realismus das Abbilden erforderlich macht – denken Sie an unser Baby, das erstamls den Mond sieht –, muß es irgendwie vonstatten gehen.

Wir kehren die Logik um:

Weil das Abbilden niemals vorkommt, muß der Naive Realismus, der es unbedingt benötigt, falsch sein.

 

Daß wir Wahrnehmungen haben – Sehungen sehen, Hörungen hören usw. –, dürfte unbestreitbar sein. Wir plädieren mit der Postmoderne dafür, es vorerst einmal hierbei zu belassen.

Die Tradition erfindet jedoch Urbilder als Wahrnehmbare – Sehbare oder Hörbare beispielsweise –, steht damit vor dem Problem, wie wir diese Seienden wahrnehmen können und löst es in der Moderne durch Abbilden:

Indem

– erfundene Wahrnehmbare der Außenwelt

– angeblich in der Psyche abgebildet werden,

– gelangen wir zu den Wahrnehmungen

und sind damit wieder bei dem, was uns von Anbeginn gegeben war – den Wahrnehmungen.

Das hätten wir einfacher haben können!

 

Oben sollte deutlich werden, daß kein Abbilden existiert.

Nun erkennen wir, daß dies auch nicht erforderlich ist, wenn wir es bei den uns gegebenen Wahrehmungen bewenden lassen.

Die Abbildtheorie stellt einen philosophischen Nonsens von bloßen Vorstellungen dar, der an Unlogik kaum zu überbieten ist:

Es gibt keine Seienden, Urbilder oder Wahrnehmbaren, das heißt, . . .

. . . keinen Regenbogen, ohne daß wir ihn sehen.

. . . keine Festigkeit, ohne daß wir sie fühlen.

. . . keine Anzahl, ohne daß wir sie zählen oder berechnen.

. . . keine Materie, ohne daß wir sie messen.

. . . keine Seele, ohne daß wir sie fühlen.

. . . keinen Geist, ohne daß wir ihn erfahren.

 

AD: „Daß es das Abbilden gar nicht geben soll, will ich immer noch nicht glauben. Ihre Argumentation war stark, und ich finde keinen Fehler darin – aber:

Wir kennen doch alle aus unserer Schulzeit noch die physikalische Theorie des Sehens, derzufolge beispielsweise der Baum am Straßenrand als Urbild dienen kann. Die Lichtstrahlen, die er reflektiert, werden von unseren Pupillen, die als Sammellinsen fungieren, fokussiert, so daß auf der Netzhaut der Augen ein kopfstehendes, verkleinertes Abbild des urbildlichen Baumes entsteht. Das Funktionieren unserer Brillen, Lupen und Fernrohre beweist doch hinreichend, daß wir es hier tatsächlich mit einem – zumindest nicht völlig falsch beschriebenen – Abbilden zu tun haben.

Die Netzhaut mit ihren Stäbchen und Zäpfchen wirkt auf den Sehnerv, und dieser feuert mit einer Frequenz, die bei Erhöhung der Erregung ansteigt. Die dabei gesandten Signale sind jedoch völlig neutral im Sinne von sinnesunspezifisch; beispielsweise benutzt der Sehnerv exakt den gleichen Code wie der Hörnerv.

Wir verstehen noch nicht, wieso ein und dieselben Impulse einmal zu Bildern und ein andermal zu Tönen – oder auch Gerüchen, Gefühlen oder Geschmacksvarianten – werden. Hier besteht zwar eine von den meisten Autoren anerkannte ‚Erklärungslücke‘, die aber meines Erachtens den physikalischen Teil unseres Abbildens überhaupt nicht berührt.“

 

Ich komprimiere Ihren Einwand auf eine Kurzform, mit der wir besser arbeiten können:

Die physikalische Theorie des Sehens beschreibt sehr gut, wie der Ur-Baum vom Straßenrand auf der Netzhaut abgebildet wird. Den Ur-Baum sehen wir alle, und sein Abbild nimmt der Optiker wahr, der uns in die Augen schaut.

Das war wohl Ihre Intention. Dabei übersehen Sie jedoch, daß wir unseren obigen Überlegungen zufolge zwei Formen des „Abbildens“ unterscheiden müssen; das traditionell-philosophische und das alltägliche. Was Sie gesagt bzw. im Physikunterricht richtig gelernt haben,

– war völlig in Ordnung,

– bezieht sich aber nur auf das alltägliche Abbilden(A) und

– hat demzufolge mit dem traditionell-philosophischen Abbilden(T) nichts zu tun.

 

Ich korrigiere in diesem Sinne und führe dazu noch einen Index „P“ für „postmodern“ ein:

Die physikalische Theorie des Sehens beschreibt sehr gut, wie die Sehung(P) Baum vom Straßenrand auf die Netzhaut abgebildet(A) wird. Die Sehung(P) Baum haben wir alle, und ihr Abbild(A) – eine weitere Sehung(P) – nimmt der Optiker wahr, der uns in die Augen schaut.

(Straßenrand, Netzhaut, Optiker und Augen sind natürlich ebenfalls Sehungen(P); sie  stehen bei diesem Beispiel lediglich nicht im Zentrum.)

 

Damit sollte deutlich werden, daß die physikalische Theorie des Sehens das philosophische Abbild-Scheinproblem nicht nur weder löst noch beseitigt, sondern auch nicht im entferntesten tangiert. Von Urbildern(T) und deren Abbilden(T) ist in der Physik gar nicht die Rede; sie kennt lediglich – zwei Arten von – Sehungen, den Baum am Straßenrand – der traditionll gedacht also bereits ein Abbild(T) wäre –  und dessen Abbild(A) auf der Netzhaut.

Der Baum am Straßenrand ist kein Ur-Baum, sondern ebenso wie das Netzhaut-Bild(A) bereits eine Sehung – denn andernfalls wüßten wir nichts von ihm.

 

Genau dadurch, daß Ihre Beschreibung eine rein physikalische ist und mit unserem philosophischen Abbild-Scheinproblem nichts zu tun hat, wird sie nicht nur sinnvoll und verständlich, sondern kann sogar zum Bau optischer Geräte genutzt werden.

Hier wird nicht erklärt, wie Sehungen zustandekommen, indem angebliche Urbilder(T) zu Sehungen abgebildet(T) werden. Vielmehr zeigt diese Theorie, wie sich – bereits bestehende – Sehungen(P) durch den Raum vom Straßenrand in die Augenhöhle abbilden(A) und damit in andere Sehungen(P) umformen lassen.

Das kann die Physik sehr gut erklären – weil es aber auch gar nichts mit Philosophie zu tun hat.

 

AD: „Jein; es stimmt doch sehr vieles von dem, was die physikalische Theorie zum Sehen sagt. Schließen wir beispielsweise die Augen oder unterbricht ein Hindernis unseren Sehstrahl, so sehen wir nichts (mehr); müßten wir daraus nicht folgern, daß diese Theorie das Sehen einigermaßen richtig darstellt?“

Nein; in keiner Weise!

Wenn eine „Theorie des Sehens“ adäquat beschreibt, unter welchen Bedingungen letzteres nicht gelingt, ist sie noch lange keine Theorie des Sehens, sondern lediglich eine seiner notwendigen Voraussetzungen. Sie beziehen sich auf das Nervensystem, die Augen, den Sehstrahl, die Beleuchtung und noch vieles mehr.

Sind nicht alle notwendigen Voraussetzungen erfüllt – und allein von ihnen spricht diese Seh-Voraussetzungs-Theorie –, sehen wir nichts; das ist die Bedeutung von „notwendig“.

Wir sehen natürlich nicht, wenn unsere Augen geschlossen sind; aber daraus folgt doch absolut nicht, daß wir sehen, weil sie offen sind. Eine Puppe mit geöffneten Augen ist auch blind.

Offene Augen sind für das Sehen notwendig; aber das Hinreichende besteht nicht in ihnen, sondern in unserem Leben.

 

AD: „Aber es gibt doch sogar Abbildungsfehler, die uns die Physik wunderbar erklären kann.

Wir sehen beispielsweise das Urbild gerader Stab, wenn es schräg ins Wasser taucht, als gebrochen; unsere Sehung ist dann ein falsches Abbild, über das die Optik uns aufklärt.“

Nein; der gerade Stab ist kein Urbild, sondern bereits eine Sehung(P) – wie der obige Baum am Straßenrand. Wir sehen ihn doch auch, bevor er in das Wasser eintaucht; also muß er sich da bereits in unserer Psyche befinden.

Der „Widerspruch“ – gebrochener contra gerader Stab – besteht also zwischen zwei Sehungen(P) – Stab im Wasser bzw. nicht im Wasser – und stellt somit wieder ein rein physikalisches Problem dar, das mit unseren Überlegungen aber auch gar nichts zu tun hat; das ist kein Abbildungs(T)-, sondern ein bloßer Abbildungs(A)-„Fehler“.

Urbilder befinden sich nicht außerhalb des Wassers, sondern (angeblich) außerhalb der Psyche; deswegen sind sie unerreichbar – und damit verzichtbar.

2.11. Temporal-zeitliche Wahrnehmungen entstehen durch das modal-zeitliche Wahrnehmen

Meine Kritik am traditionellen Denken in diesem zweiten Teil, scheint mir persönlich glasklar und evident zu sein. Trotzdem mache ich immer wieder die Erfahrung, daß manche Zuhörer mich mit großen fragenden Augen anschauen und offensichtlich gar nicht verstehen (können), wovon ich überhaupt spreche.

AD: „Das kann ich sehr gut nachvollziehen!

Wenn wir Pilze sammeln, dauert es vielleicht zehn Minuten, bis wir den ersten sehen; dann befindet sich eine Pilz-Wahrnehmung in unserer Psyche.

Aber da Sie kaum behaupten werden, daß der gefundene Pilz durch unser Wahrnehmen erst entstanden ist, muß er also zuvor bereits

außerhalb der Psyche,

nämlich im objektiv realen Wald

existiert haben.

Ihre angebliche philosophische Transzendenz oder Hinterwelt enthält demzufolge mit Sicherheit immanente bzw. nicht-hinterwäldlerische Pilze.“

 

Diesem Einwand dürften einige Leser erfreut zustimmen; ich versuche dennoch, ihn zu widerlegen und übernehme hierzzu Ihren ersten Satz wortwörtlich:

„Wenn wir Pilze sammeln, dauert es vielleicht zehn Minuten, bis wir den ersten sehen; dann befindet sich eine Pilz-Wahrnehmung in unserer Psyche.“

Aber danach trennen sich unsere Denkwege sehr schnell:

1. Ich behaupte natürlich nicht, daß der gefundene Pilz durch unser Wahrnehmen erst entstanden ist, weil meines Erachtens keinerlei Seiende – insbesondere also auch keine Pilze – existieren. Weder gibt es sie, noch können Seiende entstehen.

2. Ich behaupte aber sehr wohl, daß die Pilz-Wahrnehmung durch unser Wahrnehmen erst entstanden ist. 

 

Handelt es sich zum Beispiel um eine Marone und wir wissen, daß in diesem Wald sehr viele solcher Pilze wachsen, kommt unser Fund nicht sonderlich überraschend und befand sich als Maronen-Vorstellung vielleicht schon zuvor in der Psyche.  

Das ist im Prinzip immer möglich, aber für unser Problem völlig belanglos:

Bei ihm geht es allein um die Pilz-Wahrnehmung, und ich behaupte in der Tat, daß sie erst durch das Wahrnehmen entsteht.

Wir benötigen also keinen Pilz, der bereits vor unserem Wahrnehmen im Wald steht und dann gefunden wird – oder auch nicht; das wäre die traditionelle hinterwäldlerische Lösung. Bei uns führt das Wahrnehmen zur Pilz-Wahrnehmung, und andere „wirkliche Pilze“ existieren nicht.

 

Ich kenne Menschen, die Stein und Bein schwören, den Teufel wahrgenommen zu haben. Traditionell benötigen sie einen Ur-Teufel, um erklären zu können, wie das möglich war.

Mir ist die Feststellung wichtig, daß der Glaube an den Ur-Pilz keinen Deut vernünftiger, rationaler oder aufgeklärter ist als der an den Ur-Teufel. Beide sind philosophisch transzendent und gehören folglich der Hinterwelt an.

Damit bestreite ich Teufels-Wahrnehmungen ebensowenig wie Pilz-Wahrnehmungen, jedoch stets ihre traditionelle Interpretation:

Teufels-Wahrnehmungen sind ebenso möglich wie Pilz-Wahrnehmungen, aber der Ur-Pilz ist auch ebenso absurd wie der Ur-Teufel.

 

AD:  „Das bedeutet, daß wir mit nahezu jedem grammatisch sauber formulierten Satz – ‚Ich habe den Teufel wahrgenommen‘ oder ‚den Pilz gesehen‘ beispielsweise – philosophischen Unsinn sagen . . .“

Richtig; und das paßt genau zu den Gedanken Wittgensteins, die wir oben angedeutet hatten; bei ihm lautet das konkret:

„Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache.“

 

Mit den Seienden entfällt notwendigerweise alles Wahrnehm-, Erkenn- oder Verstehbare. Nehmen wir letzteres nochmals als ein sehr deutliches Beispiel:

Während Sie jetzt lesen, will ich bei Ihnen ganz bestimmte Verstehungen bewirken, und irgendwelche werden sich auch tatsächlich einstellen. Welche das sind, kann ich nicht wissen; und welche Verstehungen ich bei Ihnen beabsichtigt hatte, ahnen Sie nicht; es gibt kein Verstehbares oder Verstandenes, sondern jeder hat immer nur seine eigenen subjektiven Verstehungen.

Gefallen Ihnen die Ihrigen – weil sie gut in Ihr bisheriges Weltbild passen, originell sind, fruchtbar, integrierend oder weshalb auch immer –, denken Sie vielleicht, mich (richtig) verstanden zu haben. Aber das ist weder von Ihnen noch von mir feststellbar; Sie sind zufrieden; mehr bleibt hierbei nicht zu sagen.

Wenn bei Ihnen dagegen alles durcheinandergeht und Sie verärgert sind, glauben Sie vielleicht, mich nicht verstanden zu haben. Das ist natürlich möglich – es könnte aber auch sein, daß Ihre Verstehungen, obwohl sie Ihnen befremdlich vorkommen, exakt dem entsprechen, was ich Ihnen sagen wollte; Sie sollten vielleicht irritiert werden.

Und wenn Sie rückfragen, kommt bei mir natürlich nicht das angeblich von Ihnen Gefragte an, sondern wiederum nur meine Verstehungen. Ebenso wie das Verstandene gibt es auch das Gefragte oder Geantwortete nicht.  

 

AD: „Jetzt wird mir endlich klar, daß Sie oben sagen konnten, alle Erlebungen seien subjektiv und gehörten nur dem eigenen Leben an:

Das Wahrnehm-, Erkenn- oder Verstehbare hätten wir ebenso wie das Gefragte oder Geantwortete notwendigerweise gemeinsam und wäre damit intersubjektiv. Sie können jedoch nur schreiben, was Sie denken, und ich verstehe, was ich eben verstehe; theoretisch müßte das eine mit dem anderen nichts zu tun haben.“

Richtig; sowohl Ihre Verstehungen als auch die meinigen kommen zwar durch unseren Dialog zustande, aber er ist möglicherweise auch das Einzige, was sie verbindet.

 

Unser Wahrnehmen bewirkt die Wahrnehmungen, das Erkennen führt zu den Erkennungen und das Verstehen schenkt uns Verstehungen.

Das klingt für unsere traditionell geschulten Ohren absurd; warum?

Heidegger warf der Tradition vor, sie hätte das Sein vergessen. Es steht mir nicht zu, ihn zu kritisieren; aber ich bin mir sehr sicher, daß das traditionelle Denken – bis heute – die Zeit nicht nur nicht ernstnimmt, sondern völlig mißversteht.     

 

Damit sich Erstmaliges, Neues, Kreatives oder Unvorhersehbares in unserem Leben ereignen kann, ist eine offene Zukunft erforderlich; sie wird von der Tradition geleugnet und irrtümlich durch eine objektive Welt der Seienden ersetzt. Dieses „So ist es!“ entspricht einer Mauer, einem Stopschild oder Schlimmeren.

Erstmaliges, Neues, Kreatives oder Unvorhersehbares kann es unter dieser Voraussetzung nur geben

– als Falsches oder

– als – endlich – Richtiges, sofern das Bisherige falsch war und korrigiert werden kann.

„Wohl denen, die dumme Vorfahren hatten! Und unsere armen Nachfahren . . .“

 

Wahrnehmungen sind veränderlich; Moritz arbeitet beispielsweise, das Auto fährt, und der Regen fällt. Änderungen sind nur innerhalb einer Zeit möglich, und diese spezielle Zeit nennen wir im weiteren Temporal-Zeit, weil sie per definitionem aus den Tempi Früher, Jetzt und Später besteht, wobei das Jetzt die Sphäre der Wahrnehmungen bildet.

Die Änderungen erfolgen an den Wahrnehmungen; ihr Bewirkt-Werden oder Entstehen läßt sich damit nicht als Änderung interpretieren, so daß hierfür auch eine andere Zeit erforderlich ist. Wir benutzen dafür die Modi Vergangenheit, Gegenwart sowie Zukunft und sprechen deshalb von der Modal-Zeit.

Die Zukunft ist der Modus, in den hinein wir – in der Gegenwart – leben, und entspricht der absoluten Offenheit, die für das Erstmalige, Neue, Kreative oder Unvorhersehbare notwendig ist. 

 

Damit können wir zusammenfassen:

In der Gegenwart der Modal-Zeit bewirkt das Wahrnehmen – als eine Facette der Leibhaftigkeit des Lebens – die veränderlichen Wahrnehmungen im Jetzt der Temporal-Zeit.

 

AD: „Dann müßten Sie uns nur noch erklären, wieso ich jedes Jahr kurz vor unserem Italienurlaub die gleiche Alpen-Wahrnehmung habe – obwohl sie angeblich immer erst durch das Wahrnehmen während des Hindurchfahrens entsteht.

Würden ‚ewig‘-seiende Alpen Ihre Schwierigkeiten nicht gewaltig reduzieren?“

Einfach-sinnleere Lösungen beseitigen nahezu jedes Problem, lösen es aber nicht.

Der Widerspruch, den Sie in meiner Antwort sehen, resultiert aus Voraussetzungen hinsichtlich der Zeit, die ich nicht mehr teile:

Der Tradition zufolge

– gibt es nur eine einzige – eben die – Zeit, in der

   — sowohl alle Subjekte leben

   — als auch sämtliche Änderungen erfolgen, und damit

– entfällt die Möglichkeit von Anderungen – dem Entstehen und Vergehen der Wahrnehmungen –, weil sich diese nicht im Sinne bloßer Änderungen verstehen lassen. 

 

Die Modal-Zeit bildet unsere subjektive Lebens-Zeit; wir leben in der Gegenwart auf eine absolut offene Zukunft hin. Dazu gehört insbesondere das Wahrnehmen, das kein Erkennen im Sinne eines Abbildens, Reproduzierens oder Repräsentierens darstellt, sondern ein Erzeugen, Produzieren bzw. Präsentieren.

Es gibt also ebenso viele Modal-Zeiten wie Subjekte bzw. Leben, und so viele Temporal-Zeiten wie Wahrnehmungen; denn:

Letztere sind veränderlich, benötigen also Temporal-Zeiten, und mit welchem Recht wollen wir behaupten, sie ließen sich alle auf eine einzige Temporal-Zeit reduzieren? Was haben Moritz‘ Arbeit, das Fahren des Autos und der fallende Regen miteinander zu tun? 

Die traditionellen Annahmen bezüglich der Zeit sind rückblickend zwar verständlich und gut nachvollziehbar, entbehren aber jeglicher Rechtfertigung. Sie resultieren im Kern daraus, daß auch die Zeit – wie alles Wirkliche – als Seiendes gedacht wurde.

 

Als Sie das erste Mal nach Italien fuhren, hat Ihr Wahrnehmen die Alpen-Wahrnehmung bewirkt. Die verändert sich sehr langsam; praktiscch gar nicht.

Wenn Sie wieder einmal Italien aufsuchen werden – in der modal-zeitlichen Zukunft also –, wird sich an Ihrer Alpen-Wahrnehmung kaum etwas verändert haben. Natürlich werden Bäume gewachsen und Gletscher geschmolzen sein, weil sie Wahrnehmungen entsprechen, die sich in ihren jeweiligen Temporal-Zeiten schneller verändern.

2.12. Die objektive Realität als Hinterwelt

Wir verstehen unter der Hinterwelt die philosophische Transzendenz der traditionellen Seienden. Hinterwäldlerisch ist sie durch die widersprüchliche Behauptung, vom Transzendenten zu wissen

Mit anderen Worten gehören alle Seienden der Hinterwelt an, weil

– sie sich außerhalb der Psyche befinden,

– angeblich trotzdem von ihnen gewußt und damit der Anspruch erhoben wird,

– sinnvoll über sie sprechen oder nachdenken zu können.

 

Ich persönlich sehe darin einen Widerspruch; das heißt, für mich gibt es keine philosophische Transzendenz oder Hinterwelt.

Natürlich existieren auch außerhalb meiner Psyche Entitäten; ich bin kein Solipsist. Es kann sogar sein, daß meinem Weltbild zufolge ganz bestimmte Dinge existieren müssen; Gott, die Vergangenheit und Zukunft hatten sich im ersten Teil als Paradebeispiele ergeben. Aber diese Erkenntnis ist nicht hinterwäldlerisch, denn wir wissen natürlich – aufgrund unseres Weltbilds –, worin Gott, die Vergangenheit bzw. Zukunft bestehen oder weshalb wir sie benötigen, aber wir wissen nichts von ihnen.

Um sagen zu können, wovon wir nichts wissen, müssen wir natürlich die betreffenden Entitäten selbst wissen.

 

AD: „Die Vertreter der Postmoderne setzen sich überall für Toleranz, Vielfalt, Harmonie, Pluralismus, Gesprächsbereitschaft und dergleichen ein. Das geht soweit, daß ihnen von der traditionell-konservativen Seite her ein „Abschied von der Wahrheit“ oder eine „Diktatur des Relativismus“ vorgeworfen werden.

Da überrascht mich jetzt Ihre Überschrift schon ein bißchen; wenn Sie die objektive Realität als Hinterwelt betrachten, bedeutet dies doch, daß der postmoderne Spaß spätestens hier endet. Wer daran glaubt, darf nicht länger mitspielen.“  

 

Nein; das wäre ein völliges Mißverständnis:

Die Toleranz der Postmoderne allen – (natürlich) menschlichen, freiheitlichen, demokratischen, friedlichen . . . – Weltbildern oder Religionen gegenüber, ist nur möglich, wenn wir auf sämtliche – Behauptungen von – Hinterwelten verzichten. Was Sie als leidige Grenze der Offenheit geschildert haben, bildet also in Wirklichkeit ihre notwendige Voraussetzung und ermöglicht erst die Freiheit als Verantwortung, die nach meinem Dafürhalten im Zentrum der Postmoderne steht.

Meine Begründung erweist sich als denkbar einfach:

Wenn es eine objektive Realität gäbe, müßten wir unsere Weltbilder – wörtlich genommen – als Bilder von dieser einen wirklichen Welt verstehen und würden ihr mit unseren Vorstellungen mehr oder weniger nahekommen. Dann existierte vielleicht sogar ein richtiges bzw. adäquates Weltbild, und wer sich in dessen Besitz wähnt, wird kaum sonderlich tolerant sein und die ihm vielleicht unverständliche Selbstbestimmung seiner Mitmenschen achten (können). Die Andersgläubigen müssen ja entweder naiv bzw. dumm oder böse sein.

 

Das Fehlen einer objektiven Realität beendet also nicht den postmodernen Spaß, um Ihre Formulierung aufzugreifen, sondern ermöglicht ihn erst.

Er endet dort, wo irgendwelche Menschen der Postmoderne widersprechen und hinterwäldlerisch beanspruchen, über wahres Wissen von einer angeblichen objektiven Realität zu verfügen, dem sich alle anderen unterzuordnen haben.

Beweist die Geschichte nicht hinreichend deutlich, daß ein solcher angemaßter Wahrheitsbesitz immer wieder die schlimmsten Verbrechen – in der Politik, Wirtschaft, Religion, im Alltag oder wo auch immer – „rechtfertigt“?

Wir können und sollen gewiß auch unser Leben andern, aber mit Sicherheit nicht „die Welt verbessern“.

 

Die objektive Realität bildet eine Hinterwelt also nicht wegen ihrer speziellen Form, sondern weil ihre Existenz als diejenige einer prinzipiell unerreichbaren Sphäre nur völlig blind oder unbegründet behauptet werden kann.

In Antike und Mittelalter bestand die objektive Welt in der Einheit von diesseitiger und jenseitiger  philosophischer Transzendenz.

Während der Moderne setzte sich immer stärker der Gedanke durch, daß letztere eine bloße Hinterwelt sei und wir uns auf die naturwissenschaftliche Seite der Welt konzentrieren sollten, die (dadurch) immer mehr zum physikalischen Kosmos degenerierte.

Das nannte sich wohl „Aufklärung“, brachte aber sehr viel Polemik ins Spiel. Der mittelalterliche Absolutheitsanspruch der Religion wurde – zu Recht – beseitigt, aber – zu Unrecht – durch den der exakten Wissenschaften ersetzt.

 

In der Postmoderne entsteht möglicherweise wieder eine fruchtbare Balance, weil nun die gesamte objektive Realität als Hinterwelt durchschaut wird; die diesseitige ebenso wie die jenseitige.

Ich erhoffe mir hiervon eine wirkliche Aufklärung, das heißt, eine Aufklärung über die „Aufklärung“, die durch die Einsicht, daß wir uns keinerlei – weder religiöser noch wissenschaftlicher – Fremdbestimmung zu unterwerfen haben, zur eigenen Selbstbestimmung befreit.

 

Hinterwäldlerisch sind also niemals die jeweiligen konkreten weltanschaulichen Vorstellungen oder Überzeugungen, sondern hinterwäldlerisch ist allein die Annahme, von einer objektiven Welt zu wissen. Wer deren Materie im Auge hat, ist folglich keinen Deut aufgeklärter als derjenige, der vom objektiv-realen Teufel spricht.

AD: „Ich darf also an nichts mit Sicherheit glauben oder von keiner Entität fest überzeugt sein, denn ich würde auf diese Weise hinterwäldlerisch und mich damit von jedem vernünftigen Diskurs verabschieden?“

Nein; das wäre ja furchtbar, würde ich dergleichen – Absurditäten – behaupteten!

Ob wir etwas und gegebenenfalls was wir subjektiv mit 100%-iger Sicherheit glauben, spielt überhaupt keine Rolle. Wir könnten uns beispielsweise todsicher sein, daß es sowohl Materie als auch eine Evolution gibt oder Gott mit seinem Hofstaat von Engeln und der Teufel nebst Unterteufeln existieren. Es wird kaum etwas Widerspruchsfreies geben, das wir nicht für selbstverständlich halten dürften.

 

Die Begründung für unseren möglicherweise tiefen Glauben müßte dabei jedoch sinngemäß stets etwa folgendermaßen lauten:

„Aufgrund meines bisherigen Lebens ergibt sich für mich zwingend, daß es sich so verhalten muß; ich kann gar nicht anders denken, will ich nicht mir selbst widersprechen, unvernünftig sein, mich absichtlich dumm stellen oder selbst belügen.

Ich spreche nur von meinen Überzeugungen und beanspruche somit auch keine Wahrheit. Ich will wahrhaftig sein – und sage deswegen ganz ehrlich, wie ich es sehe; mehr ist gar nicht möglich und vermag niemand. Das Lutherische ‚Hier stehe ich und kann nicht anders‘ trifft die Situation recht gut.

Wir können uns gegenseitig um Wahrhaftigkeit bitten, aber von niemandem die Wahrheit erwarten.“

 

Ohne den Glauben an eine objektive Realität können wir völlig problemlos die offensichtliche Tatsache anerkennen, daß Kinder und Erwachsene, Soziahilfeempfänger und Manager, Christen und Muslime sowie um Regen tanzende Hopiindianer oder atheistische Abendländer, psychisch „Kranke“ sowie Nobelpreisträger mit ihren jeweiligen subjektiven Welten leben, zwischen denen wohl häufig keinerlei Berührungspunkte bestehen.

Nietzsche wußte das schon lange vor uns und schrieb am Ausgang der Moderne, daß „die wahre Welt zur Fabel geworden ist“. Das führt zu dem postmodernen Pluralismus der subjektiven Welten, den wir heute alle bereits erleben, der aber erst am Anfang seiner Entfaltung stehen und sämtliche „Bastionen einer objektiven Wirklichkeit“ hinwegfegen dürfte.

Ob wir die Heraufkunft dieses Pluralismus begrüßen oder bedauern und die damit verbundenen neuen Freiheiten feiern oder den verlorenen Gewißheiten nachtrauern, spielt dabei keine Rolle, weil die Geschichte irreversibel ist, so daß ohne Katastrophen wie Kriege, Umweltzerstörung, Genmanipulation, Gehirnwäsche, Diktaturen usw. die eindimensionale – Naivität der – Tradition nicht wiederkehren wird.

 

Ein Hinter-die-„Aufklärung“-zurück kann sich ohnehin niemand wünschen, dem (subjektive) Vernunft und Freiheit als die Grundlagen der Menschenwürde sowie eines erfüllten Lebens wichtig sind.

In diesem Sinne verstehe ich die gesamte Menschheitsgeschichte als eine Offenbarungsgeschichte, das heißt, als den Versuch Gottes, sich uns mitzuteilen. Er ist ein Gott des Lebens, und der Glaube soll uns freimachen. Alle Institutionen, die wir schaffen, um dem zu dienen, gehören vielleicht zur Menschwerdung Gottes.

 

Wir müssen also, wie bereits ausgeführt, Überzeugung und Wahrheit deutlich auseinanderhalten.

Letztere besitzt niemand, weil man sie gar nicht besitzen kann. Behaupten wir in einem Disput, die eigene Überzeugung sei wahr, dann ist das kein – weiteres – Argument für unsere Position, sondern lediglich die unseren Gesprächspartner beleidigende Behauptung, daß seine Überzeugung falsch sein muß, insoweit sie der unsrigen widerspricht.

Krass ausgedrückt bedeutet „Ich sage die Wahrheit“ im Sreitgespräch das Gleiche wie „Sie irren – und irgendwann ist meine Geduld mit Ihnen zu Ende“.

Wer so redet, sehnt sich nicht nach Wahrheit, sondern will Recht haben.

Denn wer die Wahrheit sucht – und das würde ich für mich persönlich gerne unterschreiben –, kann nicht behaupten, sie (bereits) zu haben; entweder . . ., oder . . . Ich bin überzeugt, daß sich das, was wir haben (können), gemessen an der Wahrheit einmal als entsetzlich lächerlich erweisen wird und wir uns dann für diese kleinkarierte „Wahrheit“ schämen werden.

Das sagte beispielsweise Karl Rahner von seiner eigenen Theologie; er stellte sich vor, wie Gott darüber lacht: „Das soll ich sein?“

 

Wir können bestenfalls – und sollten natürlich auch – wahrhaftig sein; das heißt, im Sinne unserer eigenen Überzeugungen leben und damit ohne alle diesbezüglichen Wahrheitsansprüche das sagen, was wir wirklich glauben oder denken und auch dementsprechend handeln.

André Gide warnt uns vor allen Menschen, die mit dem Anspruch auftreten, die Wahrheit gefunden zu haben, und empfiehlt uns diejenigen, die nach ihr suchen.

 

In einer frommen Sprache formuliert heißt das meines Erachtens:

Christen, die sich im Besitz der Wahrheit wähnen, erwarten vom Reich Gottes lediglich die – lobhudelnde – Bestätigung, daß Sie Recht hatten; das wäre meines Erachtens entsetzlich wenig und grauselig langweilig.

Ich bin dagegen überzeugt, daß wir in unserem ganzen irdischen Leben keine Wahrheit finden können, aber nichtsdestotrotz Suchende bleiben sollen und das Reich Gottes uns mit seiner Wahrheit trotz aller Suche noch umwerfen wird.

Zumindest hoffe ich das ganz stark; es würde mich fuchtbar enttäuschen, wäre Gott nicht viel mehr und total anderes eingefallen als mir.

 

Daß wußte schon Lessing vor bald 300 Jahren, und weil er mir aus der Seele spricht, zitiere ich ihn ausnahmsweise einmal recht ausführlich:

„Wenn mir in der einen Hand die Wahrheit, in der anderen das Streben nach ihr geboten würde und ich wählen müßte, ich würde das letztere wählen, und des Apostels Aufforderung lautet: Prüfet alles! Ohne Prüfung kann man nicht erfahren, ob der Geist, der in uns spricht, und die Geister, die zu uns reden, aus Gott sind oder nicht. Nur durch redliche von reiner Liebe zur Wahrheit ausgehende Prüfung wird sie allmählich unser Eigentum.

Darum fühlen wir uns zu dem hingezogen, der uns zur Prüfung seiner angeblichen Wahrheit auffordert, und wenden uns von dem ab, der uns seine Wahrheit aufdrängen will. Ein solcher erweckt mit Recht in uns das Vorurteil, daß er selbst nicht an die Wahrheit seiner Lehren glaube.

Denn die Wahrheit kann durch Prüfung nur gewinnen; die Wahrheit besteht in der bestandenen Prüfung, die Lüge und der Wahn aber verschwinden durch sie. Wer daher die Prüfung vorgeblicher Wahrheiten scheut und verhindern will, ist kein Freund der Wahrheit, sondern ihr Feind.

Kein Mensch auf Erden hat daher Ansprüche auf sogenannte Untrüglichkeit. Wer als unbedingte Autorität gelten will, wird daher verworfen.“

 

Sie sagten zu Beginn dieses Kapitels: „Wer an eine objektive Realität glaubt, darf nicht länger mitspielen.“ Selbst diese Formulierung ist also noch zu einschneidend; Sie dürfen sogar an eine objektive Realität glauben.

Nehmen wir als Beispiel das heute herrschende evolutive Weltbild mit Urknall und reinem Physikalismus. Es könnte Ihnen so überzeugend erscheinen, daß Sie sagen: „Das ist es! Ich glaube ganz fest, daß dieses Weltbild die objektive Realität adäquat wiedergibt, und danke den Physikern für ihre großartige Umsicht. Daß J. S. die Existenz dieser objektiven Realität bestreitet, ist mir doch gleichgültig; dann täuscht er sich eben.“ 

Denken Sie so, kann ich 100%-ig mitgehen: Sie stellen sich eine bestimmte Art von objektiver Realität vor und glauben, die letztere damit adäquat wiederzugeben. Das ist völlig unproblematisch, denn wir können uns (nahezu) alles Widerspruchsfreie vorstellen und natürlich auch die eigenen Vorstellungen glauben. 

Das gilt selbstverständlich auch für die objektive Realität; bei ihr kommt sogar noch hinzu, daß wir den Zusammenhang in diesem Fall auch umkehren können:

Sie ist das, was sich nur vorstellen und glauben läßt.

 

Und damit sind wir wieder bei dem einzigen „Verbot“, dessen Übertretung uns in die Hinterwelt führt:

Sie dürfen nicht behaupten, die objektive Realität erkannt bzw. abgebildet zu haben und dadurch von ihr wissen; erst durch diese widersprüchliche Zusatzannahme würde sie zu einer Hinterwelt.

Nun also endgültig:

Der postmoderne Spaß endet nicht, wenn Sie (an) eine objektive Realität glauben, sondern erst, falls Sie

– diese als adäquat abgebildet,

– somit als erkennbar und

– folglich auch intersubjektiv verbindlich

behaupten.

 

Damit muß ich auch meine bisherige Ausdrucksweise nachträglich ein wenig relativieren, behalte sie aber der Deutlichkeit halber bei:

Wenn wir keinerlei Zugang zum Außerhalb unserer Psyche besitzen, kann ich natürlich auch unmöglich erkennen, daß die objektive Realität nicht existiert

AD: „Also steht es zwischen Ihnen und den modernen Traditionalisten 1 : 1; letztere glauben (an) die objektive Realität und Sie nicht.“

Möglicherweise „ja“; das ging aber jetzt etwas zu schnell, denn wir müssen zwei Fälle unterscheiden.

 

Wenn die modernen Traditionalisten nur sagen, es gäbe eine objektive Realität ohne deren Form zu konkretisieren, haben Sie mit Ihrem 1 : 1 theoretisch Recht.

Praktisch erhebt sich in diesem Fall jedoch die Frage, worin eigentlich der Unterschied zwischen der Existenz bzw. Nicht-Existenz einer vollkommen unbekannten objektiven Realität bestehen soll. Ist das tatsächlich ein Unterschied, der einen Unterschied macht?

 

Legen sich die traditionell Denkenden jedoch auf eine spezielle Realität fest, stimmt das 1 : 1 nicht mehr, weil ihr Glaube möglicherweise zu spezifischen Konsequenzen für unser Leben führt. Beispielsweise könnten Kühe heilig, der Koran wörtlich inspiriert und unser Leben durch die Naturgesetze oder den Willen Gottes determiniert sein. 

Wer etwas Spezielles oder Konkretes behauptet, steht in der Beweispflicht; nicht der staunende Gesprächspartner.

Daß gerade Kühe heilig sein sollen, müßte von den Gläubigen begründet und braucht nicht von uns Ungläubigen widerlegt zu werden. Es beweist (meines Erachtens) auch niemand, weshalb Flöhe – angeblich – nicht heilig sind.

 

Unsere Vorfahren haben Wege gefunden, Oliven genießbar zu machen; das ist bei dieser Frucht nicht selbstverständlich, sondern eher ein kleines Wunder. Und das, sagen die Mythen, verdanken wir der Göttin Athene, die uns Menschen gelehrt hat, die Oliven entsprechend aufzubereiten.

Wer diese dem traditionellen Denken entsprechende Erklärung für richtig hält, dem kommt eine Begründungspflicht zu.

Mit dem bloßen Ablehnen dieses Mythos vertreten wir jedoch keine ebenso konkrete gegenteilige Meinung, sondern distanzieren uns lediglich von dem Mythos. Weder bedarf das einer Rechtfertigung, noch bedeutet es, sich um eine andere Erklärung bemühen zu müssen; es interessiert uns doch vielleicht gar nicht.

 

Solange es, anders formuliert, um unsere subjektive Wahrhaftigkeit und nicht um eine angebliche objektive Wahrheit geht, sind wir absolut nicht hinterwäldlerisch, wie „hinterwäldlerisch“ auch immer unsere Überzeugungen sein mögen.

Dann sagen wir jedoch auch nicht „so ist es“; diese traditionelle Anmaßung der Wahrheit entspricht dem Hinterwäldlerischen.

 

AD:  „Und sie entspricht dem Sein-Wollen-wie-Gott?“

Ich glaube „ja“. Ohne das traditionelle Denken ist ein objektiver Wahrheitsanspruch gar nicht möglich; es bildet eine notwendige Voraussetzung dafür, muß aber nicht zu ihm führen. Menschen können traditionell denken und sich dennoch ganz bescheiden weit entfernt von jeder Wahrheit wähnen.

Wer jedoch den Anspruch erhebt, sie zu besitzen,

– will wie Gott sein,

– ist in Wirklichkeit aber hinterwäldlerisch.

2.12.1. Wissenschaft und Hinterwelt

Warum ver(sch)wende ich so viel Zeit und Mühe darauf, Ihnen die philosophische Transzendenz oder Hinterwelt wegzunehmen, die Sie ohnehin niemals erfahren haben bzw. werden?

Weil dieser traditionelle Glaube zu weitreichenden Konsequenzen führt.

Das gilt nicht zuletzt für die empirischen Wissenschaften. Obwohl in ihnen nur Wahrnehmungen und Vorstellungen auftreten (können) und noch niemandem Seiende begegnet sind, glauben sehr viele ihrer Vertreter, von deren objektiver Realität zu sprechen.

Warum eigentlich?

 

Können Wissenschaftler plausibel machen, das Ziel ihrer Forschung bestehe in der neutralen Abbildung der objektiven Realität – unabhängig davon, ob sie das nun selbst glauben oder nicht –, läßt sich letztlich jede Forschung rechtfertigen, weil sie dann voraussetzungslos sowie wertfrei sein muß und Wissen stets besser ist als Nicht-Wissen. Allein Lügner, Verführer oder Scharlatane müssen Angst vor der Wirklichkeit haben; die Zunahme des Wissens ist purer Fortschritt und immer gut.

Und außerdem befinden wir uns als diejenigen, die lediglich die objektive Realität wiedergeben, in einer beneidenswerten Position: Wie entsetzlich auch immer unsere Ergebnisse sein mögen – wir sind nicht verantwortlich und finden sie auch einfach nur schrecklich. Beschwert Euch aber bitte an einer anderen Stelle, bei Gott, der Evolution oder wo auch immer, jedenfalls nicht bei uns; wir haben das nicht gemacht, sondern bilden es ganz neutral ab. Wir zeigen Euch nur, wie schlimm alles ist; seid uns bitte dankbar“.

Nun können wir wieder den ersten rot hervorgehobenen Absatz anschließen.  

 

Eine objektive Realität zu behaupten oder eine entsprechende Hinterwelt zu erfinden, ist letztlich die Lüge, es gäbe eine Kotrollinstanz für unsere Forschung:

„Würden wir die Seienden nicht adäquat abbilden oder wären wir nicht auf dem Wege zur Wahrheit, träten Widerstände und Widersprüche auf, hätten wir keine technischen Erfolge und es entstünde ein großes Tohuwabohu. All das geschieht nicht; wir befinden uns also auf einem guten Weg, und laßt uns bitte so weitermachen. Wenn wir etwas Unrechtes tun, wird sich die Natur – der Seienden – gewiß zu Wort melden.“

 

Deswegen sehe ich im traditionellen Denken einen gewichtigen Grund für unsere aktualen Menschheitsprobleme.

Die als Kontrollinstanz behauptete objektive Realität, die dem Forschen eine Richtung vorgeben und es begrenzen oder unseren Eingriffen einen Riegel vorschieben könnte, existiert nicht. Was auch immer geschieht, wir ecken kaum an – weil gar nichts existiert, das sich uns in den Weg zu stellen vermag – und nutzen dieses Gar-nicht-Anecken-Können weidlich aus; entweder naiv oder berechnend, aber gewiß verantwortungslos.

Wir mißbrauchen, mit anderen Worten, den weit verbreiteten Glauben an eine objektive Realität, um unseren bisherigen Weg rückblickend als richtig darstellen zu können – „es hat nicht geknallt“ – und in diesem Sinne weitermachen zu dürfen – „die Seienden werden sich melden, sollten wir tatsächlich einmal danebenliegen“.

 

So geht unser „Fortschritt“ immer weiter; aber ohne angebbares Ziel können wir nicht sinnvoll von Fortschritt sprechen, denn er wird zu einem bloßen Nur-schnell-weg von diesem Hier und Jetzt.

Natürlich bliebe es ein lohnenswertes praktisches Ziel, allen Menschen ein Leben in  Freiheit und Würde zu ermöglichen; aber ich bezweifle ernsthaft, daß diese Intention in der abendländischen Moderne sonderlich stark ausgeprägt war.

Ihr Ziel ist eher ein theoretisches und bestand ursprünglich darin, die Welt zu erkennen. Wenn sich in der Postmoderne der Gedanke durchsetzt, daß es diese Welt gar nicht gibt und wir Jahrhunderte ein Pseudoziel verfolgt haben, besteht vielleicht wieder die Chance, uns den wirklich brennenden Problemen zuzuwenden. 

 

AD: „Wenn die Realität nicht objektiv ist, können die Wissenschaften es auch nicht sein.“

Stimmt; der Glaube an eine erkenntnis-theoretische Objektivität ist hinterwäldlerisch; davon können wir uns schnell überzeugen:

Es gibt keine voraussetzungslose Wissenschaft – ganz einfach, weil aus nichts auch nichts folgt. Setzen wir keine – mehr oder weniger willkürlichen – Prämissen, fehlen also auch sämtliche Konklusionen; das voraussetzungsfreie Fachbuch bleibt völig leer. 

Mit anderen Worten heißt dies, daß die Wissenschaften als ihre Resultate auch nur die Konseqenzen ihrer eigenen Voraussetzungen enthalten können. Weder die Logik noch das Experiment sind kreativ; sie steuern nichts bei, sondern die Ergebnisse der Wissenschaften bestehen lediglich in ihren eigenen – freilich explizierten, ausgefalteten oder entwickelten und dadurch möglicherweise auch sehr überraschenden – Voraussetzungen.

 

AD: „Wenn Sie Recht hätten, müßten wir die naturwissenschaftlichen Experimente auch weglassen können. Das geht jedoch nachweislich nicht, denn sie sagen sehr häufig auch ’nein‘.“

Ganz richtig; aber ich sehe gar nicht, worauf Sie mit Ihrem Einwand zielen; „nein“ zu sagen, ist doch nichts Kreatives.  

Karl Popper hat einen entsprechenden erkenntnistheoretischen Ansatz, den „Kritischen Rationalismus“, sehr weit entwickelt. Ihm zufolge liegt natürlich alle Kreativität bei den Wissenschaftlern, und die Experimente „falsifizieren“ lediglich einen Großteil der neuen Ideen

 

Ist die Wissenschaft – durch die Notwendigkeit von Prämissen – jedoch nicht voraussetzungslos, kann sie auch nicht wertfrei sein, denn mit den unabdingbaren Voraussetzungen, ohne die es gar keine Wissenschaft gibt, setzen wir zugleich ganz spezielle Werte.

Das daraus resultierende Ergebnis besteht also nicht in der, sondern in einer Wissenschaft.

So wie es beliebig viele Mathematiken gibt, wären auch die verschiedensten Physiken möglich. Wir haben uns für eine entschieden, mit deren Hilfe sich „phantastisch(e)“ Waffen bauen lassen, und können uns eine andere Physik gar nicht vorstellen. Es bleibt also insbesondere offen, ob ihr die negativen Möglichkeiten der Wissenschaft zwangsläufig angehören.    

 

Es gibt natürlich auch eine ethisch-praktische Objektivität der Wissenschaften. Ihr zufolge sollen alle Ergebnisse ehrlich zustandekommen, unabhängig von den Wünschen der Forscher und somit nicht manipuliert sein. Subjektive Interessen dürften keine Rolle spielen; messen wir, was wir nicht wollten, dann messen wir eben, was wir nicht wollten; „schade“!

Eine solche Objektivität wird hoffentlich stets das Ziel der Forschung bleiben, hängt jedoch mit unseren Überlegungen bestenfalls am Rande zusammen.

 

AD: „Wenn die objektive Realität eine Hinterwelt darstellt, können unsere diesbezüglichen Vorstellungen weder richtig noch falsch sein. Warum – und worum – streiten wir dann im Alltag, vor Gericht, in der Industrie oder Wissenschaft eigentlich häufig so erbittert?“ 

Das ist ganz einfach: Weil Alltag, Gericht, Industrie und Wissenschaft absolut nichts mit einer objektiven Realität zu tun haben; immer und überall geht es nur um unsere Erlebungen. Besonders häufig vergleichen wir diese mit intersubjektiven Konventionen oder alltäglichen bzw. experimentellen Wahrnehmungen.

Der Meteorologe sagt im Wetterbericht beispielsweise nicht voraus, daß die Ur-Sonne morgen Abend 20:16 Uhr untergeht, sondern welche Sonnen-Wahrnehmungen wir um diese Zeit erleben können.

2.12.2. Das moderne Weltbild als Mythos

Wir – das heißt, die erwachsenen und angeblich gesunden Abendländer um die zweite Jahrtausendwende – glauben zumeist, vom physikalischen Kosmos als einer objektiv-wirklichen Realität zu sprechen, während alle anderen Kulturen der Vergangenheit und Gegenwart aus unserer Sicht nur über bloße Weltbilder verfügen. Das sind Vorstellungen, die höchstens irrtümlich als Abbilder geglaubt werden – wovon aber bei vielen, besonders exotischen Weltbildern partout nicht die Rede sein kann. Unser Weltbild ist dagegen weitestgehend adäquat, und die anderen Varianten stellen bestenfalls seine Vorstufen dar oder sollten eher unter „Mythen“ kategorisiert werden.

Diese heute weit verbreitete Einstellung halte ich jedoch selbst für einen Mythos; es ist derjenige vom Fortschritt als der großen modernen „Metaerzählung“ (Jean-François Lyotard), die natürlich – wie könnte es auch anders sein – direkt zu uns als der Krone der Schöpfung Evolution führt und deshalb nur allzugerne geglaubt wird.

 

Ich halte die kosmische Evolutionstheorie dagegen für den „Weltentstehungsmythos des Atomzeitalters“ (Georg Picht).

Letzteres begann mit dem little bang von Hiroshima und Nagasaki, ist aber auch sonst ein Zeitalter der Explosionen; Bevölkerungszahlen, Wissungen, Informationen, Verfügbarkeiten, Fördermengen, Ansprüche, Geschwindigkeiten, Erwartungen, Produktionsraten usw. schnellen plötzlich in die Höhe. Damit einher gehen Zerstörungen beispielsweise von Lebensgrundlagen, Traditionen, Religionen, Werten, Sprachen, Minderheiten, Tieren oder Pflanzen.

Kann es uns überraschen, daß die Menschen einer solchen Zeit glauben, sich einem großen Knall verdanken zu müssen?

Die Urknalltheorie ist natürlich eine physikalische, aber ihre Akzeptanz wird nicht von einer angeblichen objektiven Realität her verständlich – Physiker sind keine Hinterwäldler –, sondern meines Erachtens allein psychologisch.

 

Ich bin – gegen den Zeitgeist – fest überzeugt, daß wir keine Ausnahmekultur sind und lediglich über (inter-)subjektive Weltbilder verfügen, wie alle anderen Kulturen auch. Sämtliche Varianten haben ihre Vor- und Nachteile; weder sind sie nahezu gleichwertig im Sinne von Paul Feyerabends „anything goes“, noch befinden sich wahre Weltbilder darunter

Wir glauben nicht, was richtig ist, sondern was zu glauben wir für richtig halten.

Das stellt fast eine Tautologie dar; alle gehen so vor und müssen so vorgehen. Das ist alternativlos; und ob es tatsächlich richtig war, wird bestenfalls die Zukunft zeigen.

Das gilt also auch für die traditionell Denkenden; sie erzählen ebenfalls nur, was zu glauben sie für richtig halten, und sind dabei überzeugt, uns die objektive Realität zu schildern.

 

Das traditionell verstandene Weltbild verstellt den Blick auf die Wirklichkeit des Lebens, indem es uns eine objektive Realität vorgaukelt,

– die ursprünglich oder primär sein soll und

– der wir unser Leben als sekundär unterzuordnen haben,

– weil wir angeblich in und von dieser Realität leben.

Mit einem solchen Denken belügen wir uns selbst; wir könnten das wissen, zugleich aber auch mindestens fünf Gründe angeben, weshalb wir es nicht wissen wollen:

 

1. Zunächst interessiert uns sehr, „wie es wirklich ist“; postmodern läßt sich diese Sehnsucht jedoch nicht erfüllen.

 

2. Des weiteren wünschen wir uns Sicherheit, und diese scheint nicht zuletzt dadurch gewährleistet zu sein, daß wir auf die uns als wichtig erscheinenden Fragen sowohl eindeutige als auch einfache Antworten geben können.

Es gibt sogar eine „Faszination des Primitiven“, die wir nicht nur bei politischen oder sportlichen Großveranstaltungen, sondern auch im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien mitunter ungeschminkt erleben.

 

3. Wir suchen nach wärmender Gemeinschaft und möchten gerne in ihrem Strom mitschwimmen.

Die Mehrheit denkt aber nicht, und zahlreiche Umfragen zeigen, daß sie das auch gar nicht möchte. Selbst in Freiheit zu denken, vermag nur der Einzelne – wenn er denn will und den dafür notwendigen Mut aufbringt.

 

4. Viele Vorstellungen erscheinen uns als alternativlos, so daß wir scheinbar felsenfest von ihnen überzeugt sein müssen. Aber gegen die Annahme, Denknotwendigkeit hätte etwas mit Richtigkeit zu tun, sprechen zumindest zwei sehr starke Argumente.

Zum einen resultiert die angedeutete „Evidenz“ möglicherweise aus unserer Einseitigkeit, Denkfaulheit, Ignoranz oder mangelnden Phantasie. Wer kreativer ist, intensiver überlegt oder mehr Zeit investiert, findet vielleicht noch ganz andere Antworten.

Zum anderen ist alles Argumentieren, Beweisen oder Widerlegen an unser Weltbild gebunden; Denken heißt, sich innerhalb von ihm geistig zu bewegen, denn kein einziger Gedanke, der nicht zumindest implizit zum Weltbild gehört und somit aus ihm hegeleitet werden kann, ist uns zugänglich.

Sämtliche Schlüsse, Begründungen oder Widerlegungen, derer wir fähig sind, tragen also den Vermerk „im Rahmen meines Weltbilds“, denn sie setzen dieses als unhintergehbares Nonplusultra voraus. Das eigene Weltbild legt, anders formuliert, beispielsweise fest, was – für uns – 100%-ig sicher bzw. absolut unmöglich ist.

„A kann nicht und B muß sein – in meinem Weltbild.“

Letzteres und keine angebliche objektive Realität, liefert die einzige Begründung; eine Hinterwelt kann weder etwas rechtfertigen noch anfechten.

 

5. In unserer Technik werden die exakten Wissenschaften angewandt, und daß wir technisch unglaublich erfolgreich sind, scheint zu beweisen, daß die exakten Wissenschaften die objektive Realität adäquat wiedergeben.

Dem würde ich entgegenhalten, daß andere Kulturen mit ihren – dann natürlich – „falschen“ Weltbildern teilweise sehr lange bestanden; das ägyptische Pharaonentum beispielsweise 3000 Jahre. Unser „richtiges“ modernes Weltbild stellt uns dagegen bereits nach vier Jahrhunderten vor immer größer werdende Probleme.

AD: „Das mag theoretisch stimmen, praktisch ist aber von keiner anderen Kultur jemand zum Mond geflogen.“

 

Vielleicht wollte es auch keiner!

Nicht nur, was man tun, sondern auch was man wollen kann, hängt doch vom Weltbild ab. Andere Kulturen strebten vielleicht nach einem Kontakt mit ihren Göttern oder Ahnen; den haben sie möglicherweise erreicht. Wir können ihn gar nicht wollen, weil das unserem Weltbild zufolge Nonsens wäre.

Wenn die Ägypter beispielsweise unsere Sonne als ihren Gott Re verehrt haben, mußte ihnen der Gedanke, hinfliegen zu wollen, einfach als absurd erschienen sein – sofern er überhaupt möglich war. Kennen Sie einen Gläubigen, der ernstlich in die Transzendenz fliegen möchte? Wo müßte er dann eigentlich starten und in welche Richtung?

 

Unsere diesbezügliche „Logik“ ist doch völlig verquer:

Alle wollten das, was wir können, haben es aber nicht geschafft – wodurch der Fortschritt zu und durch uns bewiesen wäre; q. e. d.

Vielleicht ließe sich auch so denken:

Keiner wollte das, was wir können; aber was unsere Vorfahren wollten und vielleicht auch konnten, können wir nicht einmal mehr wollen

 

Damit verlängern wir die Liste der allgemein bekannten Kränkungen des Menschen duch die moderne Wissenschaft über Galilei, Darwin, Freud und Turing hinaus:

1. Die angebliche objektive Realität ist nur eine Hinterwelt.

2. Alle Wahrnehmungen und Vorstellungen sind durch das eigene subektive Weltbild begrenzt, so daß sie mit diesem auch völlig danebenliegen könnten.

3. Was „danebenliegen“ bedeutet, verstehen wir jedoch bereits nicht mehr, weil es sich eo ipso nur außerhalb unseres Weltbilds befinden kann.

4. Dort spielt auch die Wirklichkeit des Lebens, so daß die Helle des Verstandes sie nicht erreicht.

2.13. Markus Gabriel als Naiver Realist

Dieses Kapitel enthält einen (leicht abgeänderten) Artikel, den ich spontan-verärgert für die „Neue Züricher Zeitung“ geschrieben hatte, um damit einer meines Erachtens grotesken Fehleinschätzung von Bruno Latours Denken durch Markus Gabriel entgegenzutreten. Sollte ich mich darin möglicherweise beleidigend ausdrücken, bitte ich um Entschuldigung; auch Gabriels Mißgriff rechtfertigt dies nicht.

Ich drucke die Rezension hier ab; zum einen in der Hoffnung, daß sie Ihrem Verständnis dient, und zum anderen um diesen zweiten Teil mit einem gegenwärtig vielzitierten Naiven Realisten abzurunden.

 

Gabriel schrieb in der NZZ vom 26. 3. 2020 unter anderem:

„. . . Doch auch progressive Intellektuelle, die sich Wissenschaftlichkeit auf die Fahnen schreiben, haben sich in den letzten Jahren einem heillosen Relativismus verschrieben. Zu ihren prominentesten Vertretern zählt der französische Soziologe Bruno Latour. Er hat sich sogar zu der absurden These verstiegen, Ramses II. könne nicht an der Tuberkulose verstorben sein, weil der Erreger erst im 19. Jahrhundert entdeckt worden sei. Das ist metaphysische Absurdität, wie der analoge Fall der Corona-Krise zeigt:

Hätten wir keine Virologen eingeschaltet, um Covid-19 zu studieren, hätte die Krankheit sich gemäß Latour nicht verbreitet, weil sie nicht einmal existiert hätte. . .“

 

An dieser Argumentation stimmt absolut nichts; Latour hat völlig Recht, und die „metaphysische Absurdität“ liegt allein bei Gabriel, weil er scheinbar keinerlei Verständnis für eine ihm fremde Sichtweise aufbringt!

Sein „Neuer Realismus“ ist so neu nicht; er kam um 1912 in den USA auf, wurde aber danach – mit Recht – schnell wieder vergessen, weil der Glaube an eine objektive Realität mindestens seit Kant philosophisch unhaltbar geworden ist und unter ernstzunehmenden Fachleuten bereits im 20. Jahrhundert kaum noch ein Rolle spielte.

Wir haben Überzeugungen, denn wir glauben, was zu glauben wir für richtig halten. Mehr kann niemand leisten – sehr wohl aber weniger, nämlich Denkfehler begehen und völlig unsinnige Behauptungen aufstellen.

 

Um zu verdeutlichen, daß dies bei Gabriel der Fall ist, betrachten wir einen Patienten aus dem Jahre 2018, der sich miserabel fühlt, zum Arzt geht und von diesem untersucht wird.

Noch kommt in keinem Weltbild Covid vor, so daß eine entsprechende Diagnose absolut ausgeschlossen ist.

AD: „Es kann sich aber trotzdem ausbreiten und den Patienten infizieren.“

Diesen Satz verstehe ich nicht, weil mir das „es“ unbekannt ist.

AD: „Covid, natürlich!“

„Covid“ hat den Menschen 2018 ebensoviel gesagt wie „es“ – nämlich  nichts. Was infiziert, wenn „Covid infiziert“, aber keiner weiß, was Covid ist?

 

Gabriel spricht über sein Weltbild; insoweit sind wir uns natürlich einig.

Des weiteren geht er aber – entgegen meiner Überzeugung – hinterwäldlerisch davon aus, daß sein Weltbild – zumindest in dem uns interessierenden Zusammenhang – ein adäquates Bild der objektiven Realität darstellt und Covid somit auch unabhängig von unserem Wissen bereits 2018 existiert hätte.

Damit werden die wirklichen Verhältnisse auf den Kopf gestellt:

1. Es gibt Covid postmodern allein für und durch unser Wissen oder innerhalb des eigenen Weltbilds.

2. Letzteres wird jedoch von Gabriel hinterwäldlerisch – das heißt, prinzipiell ohne jede Möglichkeit einer Begründung oder Widerlegung – als adäquates Bild der objektiven Realität behauptet.

3. Durch diese Naivität gibt es Covid nun an sich, das heißt, auch ohne unser Wissen.

 

Wer nicht hinterwäldlerisch ist, muß den zweiten Punkt streichen, womit automatisch auch der dritte entfällt. Der erste Punkt besagt lediglich die Selbstverständlichkeit, daß sich für mich natürlich nichts ausbreiten kann, was in meinem Weltbild gar nicht vorkommt.

Eine „Erklärung“ ist keine Erklärung für mich – und damit gar keine Erklärung –, wenn ich sie nicht verstehe und anerkenne.

 

Latour behauptet doch keineswegs, daß es dem Patienten von 2018 – ohne die Covid-Diagnose – gut gegangen wäre, was Gabriel unausgesprochen vorauszusetzen scheint; natürlich nicht. Aber niemand kann haben, was keiner kennt. Der Patient würde sich miserabel fühlen; wir wüßten nicht warum, und es begänne möglicherweise ein fieberhaftes Suchen nach der Ursache.

Dieses Sich-miserabel-Fühlen hängt nicht vom Weltbild ab, und wird daher weder von Latour noch von anderen (mir bekannten) Postmodernen bestritten.

Aber sämtliche Erklärungen sind an spezielle Weltbilder gebunden. Und wenn eine „Erklärung“ – ich wiederhole mich bewußt – in einem bestimmten Weltbild unverständlich oder unmöglich ist, stellt sie für den jeweiligen Weltbild-Haber keine Erklärung dar.

Daß die Erde um die Sonne rotiert wäre für die (meisten) Menschen der Antike wohl keine Erklärung der Jahreszeiten gewesen. Aber die Existenz der letzteren hätte wahrscheinlich trotzdem ein antiker Latour nicht bestritten.

 

Covid-19 bildet eine Vorstellung in unserem Weltbild, die nur mittels der anderen Vorstellungen erklärt werden kann und mit ihnen in einem integralen Zusammenhang – eben unserem Weltbild – steht. Es ist hinreichend rund, stimmig und widerspruchsfrei; deswegen glauben wir – fast alle – die Corona-Theorie.     

Einige Verschwörungstheoretiker nicht.

Gabriel ist das Gegenteil von ihnen, denn er glaubt noch viel mehr als wir, nämlich die naive „metaphysische Absurdität“, daß es Tuberkulose-Erreger und Covid-Viren an sich oder objektiv-real geben und somit unser gegenwärtiges Wissen oder Weltbild überhaupt keine Rolle spielen würde.

Damit mißbraucht Gabriel die Corona-Krise als Werbung für seinen metaphysischen Aberglauben an eine Hinterwelt, stellt ihn als Wissenschaft dar und bezichtigt kritische Denker wie Latour eines „heillosen Relativismus“, nur weil sie seine Naivität nicht teilen.

 

Im Mittelalter hätte ein Priester angesichts unseres sich miserabel fühlenden Patienten – im Rahmen seines Weltbilds – vielleicht von dämonischer Besessenheit gesprochen. Die meisten von uns sind sich mit Recht völlig sicher, daß diese Diagnose natürlich nichts mit einer objektiven Realität zu tun hat, denn in das heutige Weltbild passen weder Dämonen noch Besessene.

In das heutige Weltbild; das war im Mittelalter eben noch ein ganz anderes. Damals erwies sich die Erklärung des Priesters wahrscheinlich als hinreichend rund, stimmig und widerspruchsfrei; deswegen glaubten fast alle die dämonische Besessenheit.

Daraus wurden in der Zwischenzeit zumeist psychische Erkrankungen; was es wirklich ist – die Gabriel-Frage nach der objektiven Realität –, stellt ein Scheinproblem dar. Im Mittelalter befriedigten jene Antworten, und in der Moderne finden wir diese; um ewige Wahrheiten wissen zu können, müßten wir sein wie Gott.

Das sind wir nicht; wer trotzdem „über ewige Wahrheiten verfügt“, ist hinterwäldlerisch

 

Als Priester hätte ich damals sicherlich auch versucht, den Patienten durch eine Austreibung des Dämons zu heilen. Die meisten Zeitgenossen werden geglaubt haben, daß Patienten wirklich – im Sinne von objektiv-real – besessen sein und Dämonen in ihnen ihr Unwesen treiben können, obwohl das „nur“ ihrem Weltbild entsprach.

Das ist für uns kaum nachvollziehbar. Aber Gabriel müßte sich schon fragen lassen, ob er nicht auch im Mittelalter, das Denken, das damals – berechtigterweise – en vogue war, als Abbildung „seiner neuen Realität“ verstanden hätte.

Wenn nicht, warum tut er es heute?

 

Das  Argument, es gäbe doch offensichtlich einen Fortschritt vom Mittelalter zu uns, denn wir können die Viren unter dem Mikroskop sehen, sticht nicht, denn im Mittelalter hat man die dämonische Besessenheit bei geschultem Blick ebenfalls gesehen. Das gelingt uns heute nicht mehr – so wie im MIttelalter auch keiner Corona sah.

Und da hätten auch die tollsten Mikroskope nicht helfen können. Es gehört zum „Mythos des Gegebenen“ (Wilfrid Sellars), daß objektive Covid-Viren existieren würden, die von uns nur noch einen – und vielleicht sogar den „richtigen“ – Namen bekommen müßten; wie in der Schöpfungsgeschichte.

Aber Namen sind völlig inhaltsleer; was ein Covid-Virus ist, läßt sich weder zeigen noch benennen, sondern folgt einzig und allein aus dem jeweiligen Weltbild – sofern es ihn enthält. Tut es dies nicht – existieren keine Covid-Viren.

Wer Corona oder Tuberkolose für objekiv-real hält, soll uns bitte erklären, warum er dies bei der dämonischen Besessenheit nicht tut.

2.14. Zusammenfassung

In einem Lehrbuch werden die wichtigsten Punkte zusammenfassend wiederholt, damit die Studierenden sich das neue Wissen gut einprägen können.

Bei uns geht es jedoch nicht um das Lernen von Sachverhalten, sondern um ein Überarbeiten von Denkformen. Dann hat eine Zusammenfassung meines Erachtens eine völlig andere Aufgabe; nämlich die, ausgehend von dem neu erreichten Reflexionsniveau den bereits zurückgelegten – aber erst jetzt sichtbar gewordenen – Weg verständlich zu machen:

Wo befinden wir uns? Weshalb sind wir überhaupt hierher gegangen? Was erweist sich in dieser umfassenderen Sichtweise als falsch an dem alten Weg? Welche neuen Möglichkeiten eröffnet der neue?

 

Das Fehlen der Seienden bedeutet, daß wir uns von einem behauptenden oder doktrinären Denken verabschieden können – und sollten. Es geht in der Philosophie um eine selbstkritische Aufklärung, die erzieherisch oder therapeutisch wirken und damit befreien will.

Philosophie und Theologie sind die beiden einzigen „Wissenschaften“, deren Gegenstand in der Wirklichkeit und nicht nur in Modellen besteht. Bei letzteren dürfen Sie nicht in Gedanken „. . . von der Wirklichkeit“ ergänzen; ob unsere Modelle etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben oder diese überhaupt modellierbar ist, können wir doch gar nicht wissen. 

Philosophie und Theologie sollten voneinander lernen oder sich gegenseitig befruchten.

Wenn Gläubige sagen, die Verkündigung dürfe sich nicht an den Zeitgeist anpassen – wie es leider häufig und heute vielleicht sogar extrem der Fall ist –, haben sie völlig Recht. Dabei übersehen sie jedoch zumeist, daß

– dies zum einen auch für das philosophische Denken gilt und

– zum anderen das Ignorieren oder gar explizit Ablehnen der großen Philosophen – Kant im 18., Nietzsche im 19. oder Wittgenstein im 20. Jahrhundert – für den Glauben tödlich ist, weil er dann bei immer mehr Menschen nicht mehr vor deren subjektiver Vernunft bestehen kann und deshalb abgelehnt werden muß.    

„Ein der Vernunft widersprechender ‚Glaube‘ ist Aberglaube oder schlichtweg Unsinn“ schreibt Peter Knauer zurecht.

 

Ohne Seiende gibt es insbesondere keine traditionellen Subjekte, was häufig als der „Tod des Subjekts“ thematisiert wird. Aber das ist nicht ganz richtig; es konnte gar nicht sterben, weil dieses Subjekt nie gelebt hat, sondern seine Existenz immer nur unüberlegt angenommen wurde.

Das führt heute zu einem der – philosophisch-theologischen – Probleme, denen ich persönlich mich verpflichtet fühle:

Wie lassen sich Subjekte seriös denken, das heißt, ohne der Beliebigkeit oder Willkür anheimzufallen?

Das traditionelle Subjekt als Einheit von Körper sowie Seele ist und war schon immer tot, weil seine beiden Komponenten als philosophisch-transzendente Seiende nur behauptet bzw. bestritten werden können.

 

Bei der unsterblichen Seele kommt noch erschwerend hinzu, daß sie erfunden wurde, um ein Leben nach dem biologischen Exitus denkbar zu machen. Abgesehen von diesen vordergründigen Absichten ist eine solche Vorstellung jedoch sogar unchristlich:  

Eine unsterbliche Seele bedarf keines Gottes, denn sie lebt aus eigener Kraft für immer; was anders bedeutet Unsterblichkeit? Das ist griechische Mythologie, die zu einem ewigen Kosmos ohne Anfang und Ende paßt, aber sich meines Erachtens weder mit dem Gott des Alten noch mit dem des Neuen Testaments vereinbaren läßt. Christen glauben keine vollautomatische Auferstehung, sondern hoffen auf ihre Auferweckung durch Gott, weil sie nicht auf das Selbsterhaltungsvermögen der eigenen Seele setzen, sondern auf Gott vertrauen; ohne ihn geht für den Gläubigen gar nichts – „nicht einmal Auferstehung“.

Selbst Christus ist nicht „auferstanden von den Toten“, sondern bestenfalls durch Gott auferweckt worden.

 

AD: „Darf ich bitte einmal zurückgreifen:

Sie führten schon des öfteren aus, daß Begriffe angebotetene Denkwerkzeuge darstellen, die wir für uns persönlich annehmen oder ablehnen; im ersteren Fall gehören sie dann zu unserer subjektiven Welt.

Und nun sagen Sie, das traditionelle Subjekt ‚könne gar nicht sterben, weil es nie gelebt habe, sondern seine Existenz immer nur unüberlegt angenommen wurde.

Was sollten wir denn sonst mit ihm tun? Mehr als Annehmen geht doch gar nicht; Ablehnen ist weniger?“

 

Entschuldigung; das war mein Fehler; ich hatte übersehen, daß „Annehmen“ zumindest zweideutig ist.

Was Sie zu Begriffen als Denkwerkzeugen wiederholt haben, war völlig richtig; „Annehmen“ bedeutet hierbei, einen Begriff zu bejahen oder als fruchtbar für die Gestaltung des eigenen Lebens zu erachten. Ohne die Begriffe Körper, Mensch oder Zukunft beispielsweise bekomme ich es in unserem Kulturkreis gewiß nicht hin, während mir Multiversum, Hölle und Fortschritt durchaus verzichtbar zu sein scheinen.

Die Einheit der anerkannten Begriffe bildet unsere subjektive Welt, und die daraus resultierenden Wahrnehmungen entsprechen den Seienden der objektiven Welt.

Mit letzteren war die Frage nach der Wirklichkeit für die Traditon geklärt, weil wir Menschen mit unseren Körpern selbst diesen Seienden und damit der objektiven Welt angehören.

 

Das ist postmodern völlig anders:

Wir sind nicht unser Körper, sondern haben ihn nur; er gehört selbstverständlich als Begriff zur subjektiven Welt, denn es scheint mir unmöglich, den Begriff „eigener Körper“ abzulehnen; ich brauche ihn jedenfalls.

Als Subjekte sind wir diejenigen, die annehmen bzw. ablehnen, sich damit zu den angebotenen Begriffen verhalten und hierdurch eine eigene Welt konstituieren. Wir gehören nicht zu ihr, sondern verfügen über sie, und haben nicht nur einen Körper, sondern eine ganze Welt, zu der auch er – als ihr ausgezeichneter Begriff – zählt.

Wir sind – keine „Bewußthaber“, wie Hermann Schmitz häufig scchrieb, sondern – Welthaber. 

 

Bezogen auf mich als Subjekt bedeutet „Annehmen“ folglich etwas ganz anderes:

Ich „muß“ mich selbst als Einzig-artige-en annehmen, denn ich bin – im Gegensatz zu allen anderen Entitäten, die mir ja immer nur als Nicht-Ich begegnen können – weder ein Begriff in meiner subjektiven Welt noch eine Erlebung in der eigenen Psyche, sondern derjenige, für den diese beiden „Gefäße“ nebst „Inhalt“ existieren und zu denen er sich verhält

Fichte würde meinen Gedanken folgendermaßen ergänzen:

„Die meisten Menschen wären leichter dahin zu bringen, sich für ein Stück Lava im Monde, als für ein Ich zu halten.“

 

Wo leben wir dann überhaupt, wenn Welt und Psyche als Antwort ausscheiden?

Fromme Christen würden – erfreut über diese Steilvorlage – vielleicht „in Gott“ vorschlagen. Ich sage keineswegs, daß das nicht stimmt, sehr wohl aber, daß es an dieser Stelle keine gute Antwort wäre. Auch wer sich beispielsweise als Geschöpf Gottes versteht, weiß damit nichts für die Biologie-Vorlesung. 

Da Erklärungen verstanden werden müssen, um tatsächlich Erklärungen sein zu können, gehören sie notwendigerweise ausnahmslos unserem Weltbild an. Ein darin befindlicher „Gott“, ist aber niemals der wahre Gott, sondern lediglich eine subjektive Vorstellung von uns.

Das wäre meine entscheidende Begründung dafür, daß sich mit Gott absolut nichts erklären oder beantworten läßt.

Mit der Vorstellung namens „Gott“ dagegen – je nach Weltbild – möglicherweise alles; aber darin kommt Gott gar nicht vor.

 

Die Tradition in Antike und Mittelalter nahm den Unterschied

– sowohl zwischen ihrer „Gottes“-Vorstellung und dem wahren Gott

– als auch zwischen dem Schauen Gottes und unserer menschlichen Perspektive

häufig nicht ernst genug.

Vielmehr ging dieses Denken zumeist davon aus, daß unsere Sicht auf die Wirklichkeit im Prinzip mit derjenigen Gottes übereinstimmt. Natürlich ist sie viel begrenzter und auch fehlerhaft, aber das ist im gegenwärtigen Zusammenhang sekundär. Entscheidend ist an dieser Stelle allein, daß uns – obwohl wir nicht Gott sind – der Tradition zufolge sein Blick auf das Ganze möglich ist; wenn auch gebrochen. Was glasklar vor Gott steht, sehen wir zwar nur „wie durch einen Schleier“ – aber es ist der gleiche Gegenstand, den wir gemeinsam erleben.

Fromm ausgedrückt liegt vor uns ebenso wie vor Gott die Schöpfung ausgebreitet. Wir Menschen wissen – trotz unseres provinziellen Hier und Jetzt – ebenso wie er vom Urknall oder Alpha Centauri.

Häufig wurde diese übermenschliche Fähigkeit, am Schauen Gottes teilhaben zu können, mit unserer Gottesebenbildlichkeit begründet. Das überzeugte jedoch nicht alle Denker; Pascal beispielsweise führte deswegen den „Gott der Philosophen“ ein, der traditionell für unser Erkennen unbedingt notwendig ist, aber mit dem Gott des Glaubens kaum etwas gemein hat.

 

In der Moderne kann man – richtigerweise – nicht mehr mit Gott argumentieren; auch nicht mit dem „Gott“ der Philosophen. Soll das traditionelle Denken dennoch beibehalten werden, müssen wir ihn also durch einen „Gott“ ersetzen, der zwar anders genannt wird, aber exakt die gleiche Aufgabe erfüllt.

Sie besteht darin, verständlich zu machen, wie es möglich ist, daß jeder gesunde erwachsene Mensch aus seinem winzigen subjektiven Hier und Jetzt heraus das Ganze schauen oder über den „Blick von nirgendwo“ (Thomas Nagel) verfügen kann.

 

Diese Problematik führte zu einem „Paradigmenwechsel“ von der antik-mittelalterlichen Seins- zur modernen Bewußtseins-Philosophie, die besonders von Descartes, Kant und Husserl getragen wurde. Beide Philosophien benötigen Gott, weil sie traditionell denken; jene gibt das zu, diese bestreitet es.

Die Seins-Philosophie weiß, daß ihre Seienden philosophisch transzendent sind, folglich nicht abgebildet und damit ohne Gott auch nicht erreicht werden können. Er sorgt für die notwendige Übereinstimmung zwischen den Seienden und unseren Erlebungen.

Diese Funktion übernimmt in der Bewußtseins-Philosophie die objektive Vernunft, die Descartes, Sie erinnern sich vielleicht, für „die bestverteilte Sache der Welt“ hielt. Wir schauen uns ganz kurz die Kantische Version der Bewußtseins-Philosophie an, weil sie wohl die wichtigste, gewiß aber die folgenreichste darstellt.

 

Entscheidend ist, daß Kant – mit weiten Teilen der Moderne – von einer „Spaltung des Subjekts“ ausgeht, die Folgendes meint:

Ein Subjekt 

– ist weder sein Körper,

– noch entsteht es, indem wir diesen mit irgendeinem Innen versehen, sondern es

– kommt dadurch zustande, daß wir dem Körper das eine absolut intersubjektive „transzendentale Subjekt“ hinzufügen. 

Wir sind also in der modernen Bewußtseins-Philosophiie keine Einheit – von Körper und Psyche – (mehr), sondern gespalten in unseren Körper – das empirische Subjekt – und das transzenentale Subjekt.

 

Für Kant gibt es zwar bereits keine Seienden mehr, aber immer noch Dinge an sich. Das war der zaghafte Beginn des Übergangs zur Postmoderne, für dessen mangelnde Konsequenz – „Warum nicht gleich alles streichen?“ – Kant von seinen unmittelbaren klassischen Nachfolgern wie Fichte, Schelling oder Hegel gescholten wurde.

AD: „Aber was soll denn mit einer solchen Namensänderung – von ‚Seienden‘ zu ‚Dingen an sich‘ – überhaupt anders werden?“

Fast alles, denn die Dinge an sich bilden ein reines Daß oder Sein und besitzen kein Was bzw. Wesen; wir können sie also prinzipiell nicht abbilden oder wie auch immer erkennen und somit niemals wissen.

1. Nicht wir schauen die Dinge an sich, Kant zufolge, sondern das transzendentale Subjekt schaut sie.

2. Das führt zu den Objekten in unserem Bewußtsein; sie sind Erscheinungen der Dinge an sich, die es weder in der Tradition noch in der Postmoderne gibt.

3. Diese Transformation von den Dingen an sich zu den Objekten, die das transzendentale Subjekt bewirkt,

– prägt letzteren die Anschauungsformen von Raum sowie Zeit auf und

– verleiht ihn ein Was oder Wesen.

4. Dadurch wissen wir, ohne abzubilden; die Originale in ihrer Einheit von Daß und Was oder Sein und Wesen entstehen ja durch das transzendentale Subjekt erst und unmittelbar in unserem Bewußtsein.

 

Wir müssen die Notwendigkeit Gottes in der Bewußtseins-Philosophie also nicht mehr eingestehen:

Das Objektive des Tradition existiert also noch, wird aber als philosophisch-transzendent zugegeben. Dem fügt Kant noch ein ebensolches transzendentales Subjekt als verkappten „Gott“ hinzu, und das Zusammenspiel der beiden philosophischen Transszendenzen führt zur Erscheinungswelt der Objekte.

Mit ihr allein haben wir es in unserem Bewußtsein zu tun, und da zu jedem von uns das gleiche transzendentale Subjekt gehört, sind sämtliche Objekte intersubjektiv. Die Dinge an sich können getrost als hinterwäldlerisch betrachtet oder auch ganz vergessen werden; die „eigentliche Wirklichkeit“ – nicht zuletzt der Wissenschaft – beginnt doch erst mit den Objekten im Bewußtsein.   

Ob die Seins- oder die Bewußtseins-Philososophie die richtige Erklärung der Intersubjektivität bietet, läßt sich natürlich nicht entscheiden, da die Wahrnehmungen – als das einzige uns Zugängliche – in beiden Fällen übereinstimmen. Sie werden lediglich verschieden erklärt, so daß der Unterschied zwischen ihnen keinen Unterschied macht.  

Da wir nicht Roulette spielen wollen, müssen bei uns also beide Philosophien entfallen.

Postmodern existieren weder Seiende noch (die modernen) Objekte; an ihre Stelle treten unsere Wahrnehmungen.

 

Kommen Sie bitte nicht durcheinander:

Ich wollte Ihnen in möglichst einfachen Worten verständlich machen, was sich in der Moderne philosophisch ändert: Die Seins- wird zur Bewußtseins-Philosophie, weil es ohne Gott nicht geht, er aber verheimlicht werden muß.

Daß viele Traditionalisten dies ignorieren, Kant überheblich belächeln und weiterhin abzubilden glauben, spielt dabei keine Rolle, denn es handelt sich ohnehin  nur um Kosmetik, die keinen Unterschied macht. 

Der Übergang von der Seins- zur Bewußtseins-Philosophie ist deshalb auch kein richtiger Paradigmenwechsel; soetwas gibt es nur in den Wissenschaften. Alle ernstzunehmenden Physiker gehen inzwischen von den Paradigmen der Relativitäts- und Quantentheorie aus; aber die Prämissen der Bewußtseins-Philosophie zwingen nicht zur Konversion.

Nehmen Sie als Paradebeispiel wieder das transzendentale Subjekt; läßt sich das überhaupt anders als im Sinne eines traditionellen Seienden denken?

 

Wir übergehen die Bewußtseins-Philosophie und haben deshalb immer nur von der Psyche und nie vom Bewußtsein gesprochen; ich wollte Sie nicht durch falsche Assoziationen irrezuführen.

Die Psyche bildete natürlich auch in Antike und Mittelalter bereits ein Thema, das aber damals kaum im Mittelpunkt stand. Natürlich nicht, weil das keine Psychen– Bewußtseins-, sondern eine Seins-Philosophie war.

Aber daß die Welt als Wirklichkeit betrachtet wird, ist beiden gemein; bei ersterer befindet sie sich in Form der Objekte innen und bei der Seins-Philosophie in Form der Seienden außen.

Bei uns geht es hingegen um das Leben, und wir versuchen im nachfolgenden dritten Teil, einen seriösen Ausgangspunkt für die entsprechenden Überlegungen zu finden.

3. Der Ausgangspunkt unseres Nachdenkens

Den meisten Menschen gilt Philosophie heute als ein bloßes Glasperlenspiel.

„Das bringt uns nicht weiter; die Philosophie kann kein einziges der Probleme lösen, vor denen wir wirklich stehen. Dazu werden die exakten Wissenschaften benötigt sowie eine sich daraus ergebende ausgefeilte Technik. Ob ‚das Nichts nichtet‘, wie Martin Heidegger meinte, oder vielleicht doch nicht, kann uns dabei ziemlich gleichgültig sein.“

 

Wer so redet, sitzt vielleicht am Stammtisch und meint, ganz genau zu wissen, sowohl daß letzterer und er selbst existieren als auch was ein Stammtisch bzw. ein Subjekt ist. Nur ein Philosoph könnte auf die Idee kommen, solcherlei Wissen infrage zu stellen.

Hinter derartigen Selbstsicherheiten stecken jedoch unausgesprochene Voraussetzungen, die wir fast alle teilen:

Natürlich entwickelten sich unsere Überzeugungen im Verlaufe des Lebens. Als Kind und noch als Jugendlicher hatten wir vieles geglaubt zu wissen, was sich später als unhaltbar herausstellte. Aber jetzt – vielleicht seit dem Abitur oder Studium – sind wir erwachsen und haben damit diese Phase der Irrtümer hinter uns gelassen.

Zumindest zwei Punkte halte ich an einer solchen Vorstellung jedoch für höchst bedenklich:

 

Erstens besaßen wir bereits als Kinder oder Jugendliche Wissen und haben fest daran geglaubt. Es bedeutet also offensichtlich keinen Widerspruch, vom eigenen Wissen überzeugt zu sein – auch wenn ihm keine gewußte Wirklichkeit entspricht.

Wir haben uns jeweils später irgendwie eines Besseren belehren lassen; nachträglich oder rückwirkend. Aber zu der Zeit, in der wir wußten, waren wir uns ganz sicher. Ein gegenwärtiger Irrtum innerhalb der eigenen Überzeugungen ist widersprüchlich und damit ausgechlossen, denn wir können nicht fest an etwas glauben und es zugleich für falsch halten:

Zu der Zeit, in der wir wissen, sind wir uns immer ganz sicher, weil klar ist, daß es stimmt.

 

Zweitens befinden wir uns heute als Erwachsene ebenfalls in exakt dieser Situation.

Warum rechnen wir nicht mehr damit, vielleicht in Bälde eines Besseren belehrt werden zu können? Wieso wurde aus dem kindlich- oder jugendlich-revidierbaren „Ich bin mir ganz sicher“ ein erwachsen-verabsolutiertes „So ist es“?

Das ist nicht nur eine andere Sprechweise, sondern  die beiden Formulierungen sind sogar völlig unabhängig voneinander:

Die erste benötigt gar keinen Außenbezug; was hat meine Überzeugung mit einer Welt zu tun?

In dem „So ist es“ soll dagegen die Adäquation mit letzterer zum Ausdruck kommen  – die urplötzlich besteht, obwohl keiner weiß, woher sie kommt.

 

Möglicherweise erkennen wir den Zenit unseres Wissens; aber was hat er mit einer solchen Übereinstimmung zu tun? Bei einem bestimmten Level der eigenen Sichtweise hört sie angeblich auf, nur meine Sichtweise zu sein und wird zur adäquaten Erkenntnis der angeblich objektiven Seienden; das Bild wird zum Weltbild im Sinne eines adäquaten Bildes von der objektiven Welt.

Meines Erachtens entspricht die Anmaßung eines solchen Perspektivenwechsels dem biblischen Sein-wollen-wie-Gott. Wir beanspruchen damit den Besitz eines Wissens von der Welt, der in sich widersprüchlich ist, weil dieser Besitz in dem Maße, in dem das Wissen stimmt, unmöglich wird:  

Wie sollten wir aus unserem kitzekleinen Hier und Jetzt heraus, in dem wir leben, ein in Raum und Zeit praktisch unendliches Universum erkennen können?

 

Ich bin daher überzeugt, daß das Erwachsen-Werden gar nicht das geistige Ankommen bei der Wirklichkeit und damit den Besitz der Wahrheit Richtigkeit bedeutet, sondern lediglich das Ende unseres Sich-etwas-Sagen- oder –eines-Besseren-Belehren-Lassens.

Verzichten wir darauf und bleiben bescheiden wie die Kinder, so bedeutet das, auch als Erwachsener von einer Entwicklung oder Genese unseres Weltbbilds auszugehen, die möglichst ein Leben lang positiv verlaufen sollte, praktisch aber zumeist einen Höhepunkt erreicht und rückläufig wird.

Die Meinung, die sich am Ziel glaubt, blockiert das Verstehen, hatte ich oben bereits einmal zitiert.

 

Wir übertragen dieses individuell-biographische „Schlau-Werden“ auch auf das kulturell-geschichtliche, so daß die übliche Überzeugung etwa lautet:

In „primitiven Kulturen“ steht hinter deren Wissungen natürlich keine Wirklichkeit – wie bei unseren Kindern. Deshalb sprechen wir von Aberglaube, wenn wir die Hinterwelt dieser Kulturen mit ihren Göttern, Geistern und ähnlichen Phantastereien beschreiben. 

Das haben wir alles nicht mehr (nötig); hinter unserem wissenschaftlichen Wissen steht die Wirklichkeit in Form der objektiven oder physikalischen Realität.

 

Woher wollen wir das wissen, wenn ein gegenwärtiger Irrtum unmöglich ist?

Daraus ergibt sich doch eher die gegenteilige Konsquenz, daß alle anderen Menschen und Kulturen ebenso wie wir an die Richtigkeit ihrer Überzeugungen glauben müssen. Somit haben sie auch exakt den gleichen Grund, eine „objektive Welt“ anzunehmen bzw. ihre subjektive Welt als objektive mißzuverstehen.. 

 

AD: „Ich muß, wohl im Namen vieler Leser, Einspruch erheben:

Gegenwärtige Irrtümer sind nicht widersprüchlich; wir können uns sehr wohl irren; widersprüchlich würde das erst, wenn wir gleichzeitig wüßten, daß es sich um einen Irrtum handelt.

Viele unserer Vorfahren glaubten zum Beispiel, die Erde sei eine Scheibe. Damit haben sie sich geirrt; aber das war kein Widerspruch, denn sie wußten nicht, daß die Erde in Wirklichkeit eine Kugel ist.“

Es tut mir leid, aber Sie bestätigen mit Ihrem Einwand meine oben geäußerte Vermutung, im traditionellen Denken komme das Sein-Wollen-wie-Gott zum Ausdruck:

Sie wissen zum Beispiel, daß „die Erde in Wirklichkeit eine Kugel ist“, und maßen sich damit die allgegenwärtige Schau Gottes oder den Blick von nirgendwo und nirgendwann an. Verzichten wir darauf – das ist die postmoderne Bescheidenheit, von der oben die Rede war –, bleibt nur die subjektive Perspektive aus unserem Hier und Jetzt.

 

Begründet läßt sich also nur sagen, daß beispielsweise die Voodoo-Gläubige von der Existenz ihrer Geister und Zombies ebenso überzeugt sind wie wir Abendländer der Moderne von der Existenz unserer objektiven Realität. Ordnen wir erstere einer Hinterwelt zu, wird nicht ersichtlich, weshalb dies bei unserer objektiven Realität anders sein sollte.

Es handelt sich nicht – wie zumeist behauptet wird – um die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Mythos, sondern um den jeweils festen Glauben entweder an diesen oder an jenen Mythos.

Zur Postmoderne gehört es also insbesondere, die abendländische Kultur der Neuzeit nicht mehr als etwas Besonderes, als Fortschritts- oder gar Endziel zu sehen, sondern ebenso wie die anderen Kulturen auch:

Alle Weltbilder oder Mythen sind Versuche, einen Weg zum wahren Leben oder dessen Fülle zu finden.

 

Aber damit stehen wir natürlich vor einem Riesenproblem:

Wenn ein Haitianer verspricht, uns systematisch und stringent, das heißt, möglichst ohne Glaubensbekenntnisse jeglicher Couleur in die Philosophie einzuführen, und dann sein Buch mit der höchst speziellen Voodoo-Realität beginnt, sind wir wahrscheinlich kaum motiviert weiterzulesen.

Sie gehört so zur Haitianischen Hinterwelt wie die objektive Realität zu der unsrigen. Natürlich habe ich ein extremes Beispiel gewählt; aber es ist nicht absurd, sondern lediglich deutlich:

Welchen Bestandteil unseres Weltbilds auch immer wir wählen – Materie, Naturgesetze, Evolution, Urknall . . . –, all das entstammt der traditionellen Hinterwelt der Moderne und entspricht damit den Geistern und Zombies der Voodoo-Kultur

Wenn ein moderner Abendländer verspricht, uns systematisch und stringent, das heißt, möglichst ohne Glaubensbekenntnisse jeglicher Couleur in die Philosophie einzuführen, und dann sein Buch mit Materie, Naturgesetzen, Evolution oder Urknall beginnt, sollten uns demzufolge ähnliche Zweifel befallen.

 

Wir benötigen als verläßliches Fundament für unsere Überlegungen einen „neutralen“ Ausgangspunkt, und müssen dazu die „wissenschaftlichen Weltbilder“ ebenso hinter uns lassen wie die „abergläubischen Mythen“.