Im Kapitel 2.1. hatte ich geschrieben, daß wir nach unserem Streichen der Seienden das traditionelle Wahrheitsverständnis korrigieren müßten. Darum soll es nun gehen, und es besteht kein Grund, uns hierbei auf den physikalischen Kosmos zu beschränken.
Die Wirklichkeit besteht für die Tradition in Seienden, die vollkommen unabhängig von uns oder objektiv vorhanden sind; die materiellen Seienden des Kosmos bilden die eine Variante und die ideellen Seienden der Ideenwelt die andere.
In unserer Psyche befinden sich die verschiedensten Bilder, und wir haben die Aufgabe festzustellen, welche von ihnen die adäquaten Abbilder der uns vorgegebenen Urbilder sind. Nur auf sie ist Verlaß, und ausgehend von ihnen müßten wir unser Wirklichkeitsbild gestalten.
Da uns die Seienden verborgen bleiben, ist das eine mehr als problematische Aufgabe. Nach welchem Kriterium sollten wir vorgehen, um die Übereinstimmung zweier Seiten zu prüfen, von denen die eine immer fehlt?
Daß sich bestimmte Wahrnehmungen stetig wiederholen, ist auch kein gutes Argument. Vielleicht beschreiben und „messen“ wir nur immer wieder gleich, haben einen Tick oder sind vernarrt in bestimmte Überzeugungen.
Die großen Denker der Tradition waren sich dieser Schwierigkeit bewußt und definierten trotzdem „veritas est adaequatio intellectus et rei“, das heißt, die Wahrheit als Übereinstimmung der Abbilder mit ihren Urbildern.
Finden können wir eine solche Wahrheit freilich nur dann, wenn uns Gott bzw. der Nous auf seiten der Wirklichkeit helfen, denn sie allein sind zu dem Vergleich fähig, den die Erkenntnis der Wahrheit verlangt. Damit wird verständlich, weshalb Gott in der abendländischen Philosophiegeschichte eine so große Bedeutung zukommt.
Gott | |||||
↓ | ↓ | ||||
Außen | Innen | ||||
Wirklichkeit | Psyche | ||||
Seiende | Bilder | ||||
Urbilder | ← Wahrheit → | – Abbilder | |||
———– | – Trugbilder | ||||
———– | – Sonderbilder |
Abbildung 2.1.2.
Ich persönlich habe damit auch keine Schwierigkeiten; das Einbeziehen Gottes muß nur tatsächlich notwendig sein und darf nicht erforderlich werden, um unsere Unzulänglichkeiten zu kompensieren:
1. Mir ist die Wahrheit etwas sehr Wichtiges.
2. Der Tradition zufolge können wir sie ohne Gott nicht erreichen.
3. Das ermöglicht zumindest zwei Deutungen:
a) Manche Christen sehen darin einen Gottesbeweis.
b) Ich lehne das ab und halte den zweiten Punkt für falsch.
Was soll ein „Verständnis“ der Wahrheit, wenn wir keinen Zugang zu ihr besitzen?
Haben wir dann überhaupt etwas verstanden?
AD: „Vielleicht geht das auch gar nicht; die Christen sagen, Gott sei die Wahrheit.“
Im Sinne der Tradition ist dieser Satz sinnleer:
Wir wissen nicht, was Wahrheit sein soll, so daß die Christen mit ihrer Aussage Gott kein Prädikat zuordnen können.
Dann läßt sie sich jedoch nur so verstehen, daß „Wahrheit“ einen zweiten – und damit unnötigen – Namen für Gott darstellt.
AD: „Sie betonen, daß der Satz im Sinne der Tradition sinnleer sei; ist das postmodern anders?“
Ich glaube „ja“. Wir kommen noch ausführlich darauf zu sprechen; jetzt nur kurz eine Antwort auf Ihre Frage:
Wir unterscheiden im weiteren sehr genau zwischen „wahr“ und „richtig“.
Nur was wirklich ist, kann sich als wahr oder unwahr erweisen; das betrifft folglich ausschließlich mein eigenes Leben; es sollte wahr sein. In diesem Zusammenhang ist auch der Gedanke, daß Gott die Wahrheit sei, nicht ausgeschlossen.
Alles Unwirkliche – also beispielsweise meine Vorstellungen und mein Gesagtes – kann dagegen bestenfalls richtig bzw. falsch sein.
AD: „Aber Nietzsche hat doch wirklich gesagt: ‚Gott ist tot.‘„
Ja; wir sprechen so im Alltag, dürfen das aber nicht ungeprüft als bloße Floskel übernehmen, um dann philosophische Konsequenzen daraus zu ziehen.
Nietzsche hat gesagt: „Gott ist tot.“
Sie haben gesagt: „Nietzsche hat gesagt: ‚Gott ist tot.'“
Das läßt sich natürlich beliebig fortsetzen . . .
Die Wirklichkeit besteht allein in meinem Leben, und dazu zählt nicht zuletzt auch mein Sagen; all das kann unwahr und sollte wahr sein.
Da das Sagen jedoch nicht nur zum Leben gehört, sondern nur zum Leben gehören kann, gibt es einzig und allein mein eigenes Sagen; ich besitze doch keinerlei Zugang zu einem anderen Leben.
Das läßt sich wortwörtlich auf das Hören übertragen. Dazu müssen wir lediglich die beiden Vorurteile überwinden,
– unser Hören erfolge rein passiv, so daß
– das Gehörte mit dem von anderen Gesagten zsammenfalle.
Auch das Hören existiert folglich nur als das meinige und sollte ebenfalls wahr sein.
Damit können wir diesen Gedankengang abschließend zusammenfassen:
1. Es gibt nur mein Sagen sowie Hören.
2. Wozu ersteres – eo ipso bei anderen Subjektivitäten – führt, ist mir nicht zugänglich.
3. Mein Hören bewirkt das Gehörte, das (unter anderem) richtig oder falsch sein kann.
4. Wie oft das Wort „Sagen“ in dem rot hervorgehobenem Text auch immer vorkommen mag; das ist ausschließlich Gehörtes, . . .
5. . . . denn es gibt nur mein Sagen, mein Hören und mein Gehörtes.
6. Aus dem traditionellen „Herr Müller hat gesagt . . .“, wird postmodern „ich habe gehört . . .“.