Mit ihren identischen Ideen leugnet die Tradition die – Wirklichkeit der – Zeit.
Das wäre vielleicht meine grundlegendste Kritik an diesem Denken; sie tritt an die Stelle derjenigen von Heidegger, welcher der Tradition vorwarf, das Sein vergessen zu haben. Aber vielleicht besteht gar kein so großer Unterschied zwischen diesen beiden Vorhaltungen; darauf deuten jedenfalls die letzten zwei Sätze von „Sein und Zeit“ hin, in denen Heidegger fragt:
„Führt ein Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des Seins? Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?“
Wir suchen in unserem Buch nach einer Möglichkeit, diese beiden Fragen auf nachvollziehbare Weise bejahen zu können.
Dazu sollten wir sie aber erst sauber formulieren, denn Heidegger hat sich an der fraglichen Stelle etwas zu salopp ausgedrückt. Es kann nicht darum gehen, ob die Zeit eventuell den Horizont des Seins bildet; das tut sie natürlich nicht, weil sich Sein und Zeit widersprechen, wie in den nächsten beiden Abschnitten deutlich werden soll.
Heidegger meinte meines Erachtens nicht den Horizont des Seins, sondern denjenigen der Wirklichkeit und damit die Frage, ob dieser
– – wie die Tradition glaubt – tatsächlich im Sein besteht oder
– – im Sinne (meines Verständnisses) der Postmoderne – durch die Zeit ersetzt werden müßte.
Daß das Sein den Horizont der traditionellen Wirklichkeit bildet, klingt vielleicht etwas abgehoben, meint aber ganz einfach, daß alles Wirkliche ist. Die Tradition kennt sowohl Seiende als auch Ideen, und sie alle sind.
Im Horizont der Zeit dagegen ist keinerlei Wirklichkeit und kann sie auch prinzipiell nicht sein; die Wirklichkeit ist nicht, sondern andert sich.
Den Begriff des Anderns hatte ich im vorigen Kapitel schon en passant benutzt; das war kein Schreibfehler, sondern wir müssen die Anderungen der Wirklichkeit im Horizont der Zeit deutlich von ihren Änderungen im Horizont des Seins unterscheiden. Es gibt jeweils nur eines von beiden; die Tradition kennt keine Anderungen und unsere Postmoderne keine Änderungen der Wirklichkeit.
Da ich das traditionelle Denken für falsch halte, existieren allein die Anderungen der Wirklichkeit. Aber um sie zu verstehen, sollten wir bei deren Ihnen bereits bekannten Änderungen beginnen. Die gibt es zwar gar nicht, aber seit zweieinhalb tausend Jahren reden alle davon.
AD: „Ich habe noch ein anderes Problem:
Sie reden die ganze Zeit von Ihrer postmodernen Wirklichkeit, die wir aber immer noch nicht kennen, sondern von der Sie lediglich verraten haben, daß sie
– weder ist
– noch gewußt werden kann.
Was soll das sein, und kann es dergleichen überhaupt geben?“
Eine sehr berechtigte Frage: „Was ist das; du kannst es nicht wissen, aber es ist deine Wirklichkeit?
Ich glaube, daß nur eine einzige Antwort möglich ist:
Es gibt keine gemeinsame oder objektive Wirklichkeit für alle Subjekte, sondern
– zu jedem von uns gehört seine eigene subjektive Wirklichkeit, und
– diese besteht im jeweiligen Leben.
Meine Wirklichkeit ist mein Leben.
AD: „Chapeau; das ist auf den ersten Blick genial, denn auf diesem Wege erfüllen Sie beide Bedingungen: Natürlich ist mein eigenes Leben für mich wirklich; ich weiß es nicht, sondern lebe es – auf der Grundlage meines subjektiven Orientierungs-Wissens.
Aber bei genauerem Nachdenken kann Ihre Beschränkung auf das eigene Leben nicht ganz stimmen, weil es in dasjenige vieler anderer Subjekte hineinspielt.“
Die von Ihnen angedeutete Wechselwirkung besteht natürlich, widerspricht aber der von mir vertretenen reinen Subjektivität jedes einzelnen Lebens in keiner Weise:
Wenn zum Beispiel wir beide uns unterhalten, ergibt sich kein objektives Gespräch mit zwei Teilnehmern, denn das wäre ein Seiendes.
Vielmehr haben Sie in Ihrem Bewußtsein rein subjektive Erlebungen, die mir absolut nicht zugänglich sind, und Entsprechendes kann ich auch sagen. Wir sind persönlich begeistert oder enttäuscht voneinander, lernen etwas und freuen bzw. ärgern uns darüber.
Das Zusammenspiel unserer Leben führt dazu, daß natürlich meine Erfahrungen von Ihnen, und die Ihrigen von mir beeinflußt werden.
Aber das ist nur die eine Seite, und die andere ist ebenso richtig:
Zu meiner Wirklichkeit gehört nur, was ich in meinem Bewußtsein erlebe, und dazu haben Sie absolut keinen Zufang. Ebenso ist Ihre Wirklichkeit in Ihrem Bewußtsein – nicht vor mir geschützt, denn ich kann ja hineinwirken, aber trotzdem – für mich unerfahrbar.
Zusammengefaßt bedeutet dies, daß auch bei der kompliziertesten Wechselwirkung zwischen uns Subjekten die einzelnen Leben oder Wirklichkeiten sauber getrennt bleiben: Mein Leben ist ganz allein mein Leben – wie massiv auch immer Sie hineinwirken.
Nur so läßt sich vielleicht „verstehen“, daß wir einander töten, foltern, mißbrauchen, unterdrücken oder kränken können.