2. Kritik des traditionellen Denkens der Moderne

In der Moderne wurden die ideellen Seienden kaum noch geglaubt und weitgehendst durch Begriffe ersetzt. Im Kern verbleiben nur noch die materiellen Seienden, deren Gesamtheit den physikalischen Kosmos ergibt; sie sind prinzipiell wißbar oder bilden das potentiell Gewußte.

Zum aktual oder wirklich Gewußten werden die Seienden dadurch, daß wir sie wahrnehmen, das heißt, als sinnliche Abbilder in unserer Psyche darstellen. Entsprechen sie adäquat ihren Urbildern, müssen die Abbilder auch untereinander übereinstimmen oder intersubjektiv sein.

Die inadäquaten „Abbilder“ sind zwar keine Ab-, sondern lediglich Trugbilder, gehören aber natürlich dennoch unserer Psyche an.

Das führt wieder zu meinem Igel-Problem:

Wie sollen wir die Ab- von den Trugbildern unterscheiden, wenn sich die Seienden außerhalb der Psyche befinden und uns dadurch prinzipiell nicht zugänglich sind?

 

Natürlich existieren ungezählte „Sonder-Bilder“, denn nicht hinter allen Wahrnehmungen stehen Seiende, so daß jene weder Ab- noch Trugbilder darstellen. Die wenigsten Menschen werden Lichtreflexe, Regenbogen, Schatten, Strömungen oder ähnliches in diesem Sinne verstehen.

Aber behaupten läßt sich die Existenz von Seienden natürlich immer; weshalb sollte gerade jene Spiegelung dort keine Abbildung darstellen?

 

Diesen Gedanken nehmen wir konstruktiv in unsere Kritik auf:

Die Existenz von Urbildern als Basis unserer Wahrnehmungen

läßt sich nicht nur stets behaupten – auch wenn sie nicht vorliegt –, sondern

wird immer lediglich behauptet – und liegt nie vor.

Es gibt keinerlei Seiende; hinter Baum-Wahrnehmungen ebensowenig wie hinter den zugehörigen Schatten-Wahrnehmungen.

Wir bestreiten natürlich weder die einen noch die anderen Wahrnehmungen; ansonsten könnten Sie mein Buch mit Recht als „unsinnig“ zur Seite legen. Ich glaube nur nicht an Hinterwelten, . . .

. . . stehe damit aber freilich (im dritten Teil) vor der Aufgabe, sowohl die Baum- als auch seine Schatten-Wahrnehmungen ohne urbildliche Bäume bzw. Schatten erklären zu müssen. 

 

Die materiellen Seienden setzen sich aus Objekten und Subjekten zusammen; zu letzteren gehören natürlich auch wir selbst.

Die Tradition geht davon aus, daß auch wir Subjekte im wesentlichen unser Körper sind und folglich als solche dieser Realität angehören. „Ich bin mein Körper“ gilt weitestgehend als eine Selbstverständlichkeit.

 

Und das, obwohl diese Formulierung – ganz abgesehen von ihrem philosophischen Gehalt – schon rein logisch falsch sein muß:

Nur ein Subjekt, das den Körper besitzt oder hat, kann sinnvoll „mein Körper“ sagen. Würde das Subjekt – dem traditionellen Denken folgend – mit dem Körper zusammenfallen, würde dieser von sich selbst als „seinem Körper“ sprechen, und das wäre offensichtlich Unsinn. 

Wir können also nicht unser Körper sein, sondern ihn lediglich haben. Natürlich anders als zum Beispiel ein Auto. Das ist aber kein Grund, aus dem Körper-Haben ein Körper-Sein zu machen; vielmehr müssen wir aufzeigen, worin sich die beiden Arten des Besitzens – von Körper bzw. Auto – voneinander unterscheiden

 

Viele Philosophen und die allermeisten Theologen der Moderne haben sich zwar gegen einen solchen Materialismus oder Physikalismus gewandt, dies jedoch zumeist bloß sehr halbherzig getan:

„Natürlich sind die Subjekte im wesentlichen ihr Körper“, wurde nahezu ausnahmslos zugestanden; „aber doch nicht nur. Wir müssen dem Körper noch ein Innen hinzufügen, das aus ihm als Objekt ein Subjekt macht: Subjekte sind Körper mit Innen.“

Letzteres kann freilich die verschiedensten Formen annehmen und zum Beispiel im Geist, in einer Seele oder in einer Kombination beider etwa als unsterbliche Geist-Seele bestehen. Wir können das völlig offenlassen, weil ich dieses gesamte Konzept aus tiefster Überzeugung als unsinnig erachte und in ihm einen der Hauptgründe unserer heutigen Schwierigkeiten sehe.

Es muß doch zu Problemen führen, wenn wir von uns selbst falsch denken:

 

Was auch immer einem Körper hinzugefügt werden mag: Es wandelt ihn nicht in ein Subjekt um; kein Innen, kein Odem, Hauch oder Pneuma könnte ein solches Wunder vollbringen.

Aber auch diese Selbstverständlichkeit ist jedoch völlig belanglos:

Ohne Seiende gibt es nicht einmal die Körper, von denen die Tradition ausgehen zu können glaubt.

Wir bleiben jedoch trotzdem bei unserer kurzen Darstellung ihrer Grundlagen, weil sich nur Verstandenes kritisieren läßt.  

 

Die traditionellen Subjekte bestehen also in der Einheit von Körper sowie Innen, und die Psyche, von der bisher schon laufend die Rede war, weil sie sämtliche Bilder enthält, gehört letzterem an.

Natürlich ist dieses „enthält“ unsauber formuliert. Die Psyche bildet kein Gefäß, sondern bei ihr fallen „Inhalt“ und „Gefäß“ zusammen, was wir uns leicht an einer Analogie verdeutlichen können: Jede einzelne Zahl gehört – als „Inhalt“ – der Menge aller Zahlen – dem „Gefäß“ – an.

 

Dem Außen der objektiven Realität mit ihren materiellen Seienden stehen damit unsere subjektiven Innen gegenüber.

Wir werden auch in der Postmoderne auf einen sehr ähnlichen Dualismus stoßen, ihn aber nahezu gegensätzlich verstehen:

Ist es nicht einfach irre, daß in diesem traditionell-modernen Weltbild mein Innen als unwirklich erachtet und dem als wirklich behaupteten physikalischen Kosmos untergeordnet wird?

 Für mich sind meine Wünsche, Sorgen, Hoffnungen oder Freuden wesentlich entscheidender als alle Schwarzen Löcher, Roten Riesen, Weißen Zwerge und farbigen Quarks zusammen.    

 

Bei unserem postmodernen Dualismus 

bildet das Innen die Wirklichkeit und besteht in meinem Leben, während

sich außen – keine materiellen Seienden, sondern – die rein geistigen Aktanten befinden

Sie sind subjektiv, und mit diesem Begriff decken wir den gesamten Spielraum ab von „rein subjektiv oder individuell“ über „intersubjektiv für eine Deutegemeinschaft“ bis zu „völlig intersubjektiv bzw. für alle“

 

AD: „Und das ‚materiell‘ bei den Seienden bedeutet, daß sie – im Gegensatz zu den rein geistigen Aktanten – wirklich existieren?“

Nein; aber es ist gut, daß Sie nachfragen, denn diesbezüglich herrscht auch in der Literatur ein ziemliches Durcheinander.

Zum einen hat „materiell“ nichts mit einem Bestehen-aus-Material zu tun.

Zum anderen meint es auch weder wirklich noch existent, sondern objektiv – und damit stehen die Seienden den „nur“ subjektiven Aktanten gegenüber.

Meine Bauchschmerzen sind wirklich, aber nicht materiell bzw. objektiv, vielmehr (sogar: rein) subjektiv. 

 

Mit anderen Worten bestreiten wir postmodern die Wirklichkeit, Materialität und Materielität des physikalischen Kosmos:

Die Wirklichkeit; der Kosmos ist unwirklich, weil er lediglich ein geistiges Konstrukt darstellt.

Seine Materialität; der Kosmos kennt als geistiges Konstrukt kein Bestehen-aus . . ., sondern besteht in Vorstellungen oder Überzeugungen. 

Und materiell bzw. objektiv ist der physikalische Kosmos nicht, weil er als geistiges Konstrukt nur subjektiv sein kann.

„Materiell“ und „geistig“ bilden somit zwar einen Gegensatz, wie unser üblicher Sprachgebrauch erahnen läßt; aber es ist exakt der gleiche, den wir auch durch „objektiv“ bzw. „subjektiv“ ausdrücken könnten.

 

Das Grundproblem der Tradition besteht darin, daß ihre Seienden widersprüchlich definiert sind. Es ist unmöglich, daß sie 

– sich außerhalb der Psyche befinden und 

– trotzdem erkannt oder gewußt werden können.

Gegen unsere Aktanten läßt sich diesbezüglich nichts einwenden; als Projektionen können wir sie (widerspruchsfrei) denken, denn alles kann von innen nach außen projiziert, aber nichts von außen nach innen abgebildet werden.

 

Die Seienden sind zwar widersprüchlich, aber wir können sehr gut nachvollziehen, wie die Tradition auf die Idee ihrer Existenz kommen konnte:

Meine unbestreitbare Sonnen-Wahrnehmung läßt sich am einfachsten erklären, wenn wir sie als Abbild einer Ursonne verstehen.

Ergeben sich auch die Aktanten aus einer solchen Plausibilitätsüberlegung?

Möglicherweise „ja“, denn zumindest der Beginn des entsprechenden Gedankens ist ebenso stringent wie bei der Tradition:

Meine unbestreitbare Sonnen-Wahrnehmung wäre ausgeschlossen, wenn ich nicht leben würde. Das Wahrnehmen bildet eine Facette an meinem Leben, und letzteres somit die notwendige Voraussetzung sämtlicher Wahrnehmungen.    

 

Traditionell denkende Gläubige erweitern die materiell-immanente Wirklichkeit um eine immateriell-transzendente, indem sie Gott zwar als reinen Geist behaupten, sich ihn aber dennoch nach dem Modell der Körper vorstellen. Er gehört dann zwar offiziell dem „Jenseits“ an, aber die Frage, worin sich das vom „Diesseits“ unterscheidet, wird zumeist überspielt; häufig bilden die beiden Bezeichnungen die einzige Differenz.

Es gibt das eine wie das andere; der transzendente Gott existiert neben dem immanenten Kosmos, beide sind vorhanden und wechselwirken vielleicht sogar miteinander; etwa indem Gott in die Geschichte eingreift.

Hermann Schmitz kritisierte des öfteren, daß sich die traditionelle Philosophie der Moderne an der Physik fester Körper orientiere und die Wirklichkeit im Sinne eines Lego-Baukastens verstehe. Alles, was sich in der Kiste befindet, gehört dazu – kann zusammengebastelt und in unserer Psyche abgebildet werden.

Mit meiner Kritik bestreite ich wohlgemerkt nicht die Transzendenz, sehr wohl aber Immanenz und Transzendenz in ihrer traditionellen Denkform.

 

Deswegen ist es für mich auch ausgeschlossen, daß Gott in die Geschichte eingreift.

Das ist kein Bestreiten der Allmacht Gottes, denn dazu wäre ich höchstens in der Lage, wenn mir klar wäre, worin sie überhaupt bestehen könnte. Vielmehr geht es wiederum nur um die Form, in der die Tradition Gottes Wirken in der Geschichte denkt:

Sie betrachtet letztere (ebenso wie Gott) als ein Seiendes, womit sich die gesamte traditionelle Konstruktion für uns erledigt hat. 

Möglicherweise ist Gott allmächtig, aber in die Geschichte eingreifen kann er – trotzdem – nicht. Wohl nicht einmal zu denken vermag er, wie wir im ersten Teil schon erwähnt hatten; denn was soll dieses Suchen nach der Wahrheit bei ihm bedeuten, wenn er sie selbst ist oder zumindest hat?