2.1. Die Wirklichkeit wechselt von der objektiven Welt zu meinem Leben

Der Übergang vom Mittelalter zur Moderne hat das traditionelle Denken kaum berührt. Die Erde beispielsweise blieb objektiv-real, und es wurde lediglich aus der wirklichen Scheibe eine wirkliche Kugel.

Nun dürfen wir uns freilich nicht vorstellen, die Physiker der beginnenden Moderne hätten das alte Trugbild der Erdscheibe mit der objektiv-realen Erde verglichen, den bisherigen Fehler erkannt und daraufhin das falsche Scheiben-Bild durch das richtige Kugel-Bild ersetzt. Im nächsten Abschnitt versuche ich, Ihnen zu zeigen, daß eine solche Geschichte mit Sicherheit falsch ist, weil man eine Erdkugel prinzipiell nicht wahrnehmen kann.

Möglich wäre dagegen etwa Folgendes:

Galileo Galilei und seine Kollegen sind bei ihren Naturbeobachtungen auf eine wachsende Zahl von Schwierigkeiten gestoßen, wenn sie die Erde als eine Scheibe dachten. Es existierten gewiß mehrere Wege, um die sich ergebenden Probleme zu lösen; einer von ihnen bestand darin, die bisherige Vorstellung oder das alte Modell Erde zu korrigieren und es statt der Scheibe mit einer Kugel zu versuchen.

 

Diesen letzten Absatz könnten wir wortwörtlich unterschreiben; er gilt auch in der Postmoderne, denn der einzige in dieser Hinsicht relevante Unterschied zur Tradition kommt darin nicht zum Ausdruck.

Scheibe und Kugel sind zwar in beiden Denkformen „nur“ Modelle, aber:

 

Traditionell handelt es sich um Modelle

von der objektiv-realen Erde als einem Seienden

– die sich im Verlaufe der Forschung immer stärker an die Erde annähern sollen und

die – nicht der objektiven Welt, sondern – nur dem subjektiven Weltbild angehören.

(Trotz der objektiven Welt bleiben die Weltbilder natürlich subjektiv, da jeder von uns beim Abbilden der ersteren andere Fehler begehen kann. Unterlaufen uns keine, sind die Weltbilder dennoch nicht objektiv, sondern „nur“ intersubjektiv.)

 

Postmodern handelt es sich – da keine Seienden existieren – um Modelle

ohne ein Wovon bzw. einen Referenten,

– die sich also weder auf etwas beziehen noch an etwas annähern und

nur dem subjektiven Weltbild angehören können, denn eine subjektive Welt gibt es nicht.

 

AD: „Darf ich Sie bitte einmal unterbrechen, auch wenn es gerade sehr spannend war . . .

Die objektive Welt mit ihren Seienden nehmen Sie der Tradition nicht ab und wird gecancelt. 

Wir sind zwar überzeugt von der Wirklichkeit der Aktanten; aber die gehören – wie alle Modelle und insbesondere Scheibe sowie Kugel soeben – zum subjektiven Weltbild.

Eine subjektive Welt ist unmöglich, weil widersprüchlich, sofern wir die Welt als etwas uns Vorgegebenes oder von uns Unabhängiges verstehen. Dann lebt auch der „Kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry auf seinem Planeten in einer eo ipso objektiven Welt – obwohl er ganz allein ist. 

 

Damit sind wir endlich bei meinem Problem:

In einem Weltbild kann niemand leben; zum Beispiel weil es rein geistig ist; wo lebe ich dann, wenn Sie die objektive Welt ablehnen und sich die subjektive als widersprüchlich erweist?“

 

Ihre Frage nach der Sphäre, in der sich unser Leben abspielt, ist nur dann sinnvoll, wenn wir als Subjekte etwas räumlich Ausgedehntes sind. Auf diese Thematik waren wir bereits einmal gestoßen; es gibt beispielsweise den Käfer in der Schachtel, den Kern in der Kirsche und das Gehirn im Schädel.

Wären wir Subjekte also – im Sinne der Tradition – tatsächlich unser Körper, hätten Sie mich jetzt in Verlegenheit gebracht: Wo sollten wir leben ohne Welt?

Aber bei unräumlichen Entitäten ist Ihre Fragenicht unbeantwortbar, sondern – sinnleer: Wo ist die Seele? Der Geist? Das Leben? Das Bewußtsein? Der Sinn? Gott?   

 

Sollte sich im Zuge unserer weiteren Überlegungen bestätigen, daß wir Subjekte tatsächlich keine räumliche Ausdehnung besitzen, dürfte ich an dieser Stelle abbrechen:

Ihre Frage ist falsch gestellt, weil Subjekte keine Sphäre besitzen oder benötigen, in der sie leben (können).

 

Christen würden unser Gespräch möglicherweise nicht beenden, sondern Ihnen antworten, daß wir oder ausnahmslos alle Subjekte in Gott leben – freilich mit einem ganz anderen, weil unräumlichen „in“.

Ich glaube das auch, möchte aber unbedingt hinzufügen:

Ich muß das nicht sagen, denn Sie haben mich nicht in Verlegenheit gebracht; es ist gar kein „Lebens-Raum“ erforderlich. Meine Bestätigung soeben ist also kein neuer Gottesbeweis, sondern lediglich ein Glaubensbekenntnis, das Sie

– nicht teilen sollen und

– sich für unsere gemeinsamen Überlegungen natürlich als absolut belanglos erweist.

 

Aber daß es um einen gewaltigen Bewußtseinswandel geht, dürfte bereits deutlich geworden sein – obwohl sich scheinbar gar nicht viel am traditionellen Denken geändert hat:

Wir haben lediglich 

– die Seienden gestrichen, die aber ohnehin noch niemand jemals erfahren hat, und

– nehmen ernst, daß wir dann auch

  — nicht mehr unser Körper (mit einem beliebigen Innen) sein können sowie

  — das traditionelle Wahrheitsverständnis korrigieren müssen (Abschnitt 2.1.2.). 

Wie ist es möglich, daß Korrekturen an einem bloßen Glaubensbekenntnis tiefgreifende Konsequenzen nach sich ziehen? 

Meine wichtigste Antwort läuft darauf hinaus, daß die subjektiven Weltbilder mit ihren Modellen von der Tradition bzw. Postmoderne nahezu gegensätzlich verstanden werden:

 

Traditionell von der Welt her; das Weltbild sollte letztere möglichst adäquat wiedergeben. Vom Erreichen dieses Zieles hat sich zumindest die Moderne die Lösung all unserer Probleme versprochen.

Natürlich war das naiv; niemand konnte oder kann jemals sein Weltbild mit der Welt vergleichen. Wäre dies möglich, müßte unser Streichen der Welt unter anderem auf Widersprüche führen, von denen ich bisher nichts sehe. 

Sollten Sie glauben, jemals Ihr Weltbild an der Welt upgedated zu haben, wüßte ich gerne, wie Sie dabei vorgegangen sind. Wo befindet sich die objektive Welt? In welche Richtung muß man schauen, um sie selbst zu sehen und nicht bloß Wahrnehmungen zu haben (Abschnitt 2.1.3.)? Wie sind Sie – die Abbilder überspringend – zu den Urbildern gelangt?

 

Die Postmoderne kennt nicht nur keine Welt, sondern versteht auch gar nicht, wozu eine solche dienen könnte: 

1.    Im dritten Teil werden wir zeigen, daß sich die Wahrnehmungen sehr leicht und sogar anschaulich ohne Seiende erklären lassen. 

2.    Nur dazu und zu keinem anderen Zweck werden letztere traditionell benötigt, so daß wir sie getrost streichen können.

3.    Wichtig sind dagegen die Weltbilder, denn in beiden Denkformen orientieren wir Subjekte uns an ihnen, und eine andere Möglichkeit besteht gar nicht.

4.    Damit herrschen klare Verhältnisse, und wir sind nicht mehr genötigt, irgendetwas anzunehmen oder grundlos zu behaupten:

   a) Unsere Wahrnehmungen werden ohne Seiende erklärt.

   b) Die Weltbilder können bei fehlender Welt keine Bilder von dieser sein.

   c) Vielmehr verstehen wir sie in dem einen Sinn, in dem sie seit zweieinhalb tausend Jahren genutzt werden – zur Orientierung im eigenen Leben. 

5.     Wir ersetzen in unserem Ansatz also das, was als Wirklichkeit gilt; aus der objektiven Welt der Tradition wird in der Postmoderne mein subjektives Leben

6.    Damit führt keine theoretische Erkenntnis mehr von der Welt zum Weltbild, sondern eine praktische vom Weltbild zum eigenen Leben

 

AD: „Wenn ich Sie richtig verstehe, gilt Ihre Kritik allein dem Glauben an eine objektive Welt, denn eine subjektive wäre widersprüchlich und ist damit ohnehin ausgeschlossen. Es gibt also gar keine Welt, aber die eo ipso subjektiven Weltbilder sind Ihnen völlig gleichgültig?

Natürlich; würden Sie beispielsweise glauben, daß die Erdscheibe von einem Elefanten getragen wird, der auf einer Schildkröte steht, während diese im Ozean des Nichts schwimmt, würde ich mich gewiß sehr wundern und vielleicht nachfragen, wie Sie davon überzeugt sein können.

Daß diese Sichtweise „von gestern“ oder „unwissenschaftlich“ sein soll, ist dabei völlig belanglos; es geht weder um Modetrends noch um den Zeitgeist, sondern allein um Ihr Leben. Als entscheidend kann somit immer nur die Frage gelten, ob das Weltbild ihm dient.

Wenn Sie mit Ihrem Tier-Bild glücklich und zufrieden sind, ziehe ich den Hut und mich diskret zurück, weil ich Ihnen dann nichts Konstruktives zu sagen habe. Niemand kann mehr, als seinen eigenen Weg zur Fülle des Lebens finden. Ich möchte denen helfen, die intellektuell redlich danach suchen, ihn aber noch nicht gefunden haben und leere Worte nicht mehr hören können.

 

Michel Henry spricht von den modernen als den „verlorenen Menschen“, die sich durch „ihr einseitig objektivistisches Denken in eine Masse von geistig Behinderten verwandeln“ werden, denn „jeder reine Objektivismus ist eine Philosophie des Todes“.

„Masse von geistig Behinderten“ und „Philosophie des Todes“ klingen nicht sehr ermutigend. Aber wenn wir uns umschauen – bis in die Universitäten und Kirchen hinein –, wo heute noch

– konsequent und grund-legend nachgedacht,

– das Erbe der Aufklärung hochgehalten,

– die Subjektivität ernstgenommen und

– nach der Wirklichkeit des Lebens gefragt wird,

werden wir vielleicht doch erschrecken und Henry stillschweigend-verzweifelt ein wenig Recht geben.

 

AD: „Dem traditionellem Denken zufolge sind wir unser Körper und damit im physikalischen Kosmos pure Nichtse; jede Ameise ist für ihren Haufen millionenfach wichtiger als wir für die Welt.

Jacques Monod schrieb in seinem Bestseller ‚Zufall und Notwendigkeit‘ ganz in diesem Sinne:

‚Das Universum trug weder das Leben, noch trug die Biosphäre den Menschen in sich. Unsere Losnummer kam beim Glücksspiel heraus.

Der Mensch weiß endlich, daß er in der teilnahmslosen Unermeßlichkeit des Universums, aus dem er zufällig hervortrat, allein ist. Wir sind Zigeuner am Rande eines Universums, das taub ist für unsere Musik und unempfindlich für unsere Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.

Nicht nur sein Los, auch seine Pflicht steht nirgendwo geschrieben. Es ist an ihm, zwischen dem Reich und der Finsternis zu wählen.'“

 

Dieses Unbehaust-Sein ist eine Atmosphäre, die das Denken großer Geister seit dem Zerfall der christlichen Schöpfungsordnung zu Beginn der Moderne mitbestimmte. Schon Blaise Pascal konstatierte:

„Ich sehe diese entsetzlichen Weiten des Weltalls, die mich einschließen, und ich finde mich an einen Winkel dieses gewaltigen Raums gefesselt, ohne daß ich weiß, warum ich an diesen Ort und nicht vielmehr an einen anderen gestellt bin und warum diese kurze Frist, die mir zu leben gegeben ist, mir gerade zu diesem Zeitpunkt und nicht vielmehr zu einem anderen der ganzen Ewigkeit, die mir vorausgegangen ist, und der ganzen Ewigkeit, die auf mich folgt, bestimmt ist . . . 

Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume und Zeiten erschreckt mich.“

 

AD: „Wenn Sie Recht haben mit Ihrer Überzeugung, daß keine Welt existiert, läßt sich dieses traditionell-moderne Denken nicht damit rechtfertigen, daß es richtig sei. Weshalb denken wir trotzdem so ‚unmenschlich‘?  Warum tun wir uns das an?“

Sie stellen damit eine fundamentale Frage. Es gibt keine Welt, die unser Denken erzwingen, provozieren oder wenigstens leiten könnte. Wer oder was tut es dann?

Meines Erachtens gibt es nur eine Antwort; wir erkennen sie jedoch nicht sofort, weil unsere Frage die Form „Warum führt unser Denken zu diesem Weltbild?“ besitzt.

Ich glaube, sie ist falsch gestellt, weil wir darin Ursache und Wirkung vertauschen. Unser Denken führt im allgemeinen nicht oder höchstens geringfügig zum eigenen Weltbild; primär wurde uns letzteres gelehrt. Dieses anerzogene Weltbild bestimmt unser Denken, weil es ungemein schwerfällt, seinen Horizont oder Rahmen zu verlassen und dagegen anzudenken.

 

AD: „Sie sagen also, daß umgekehrt das Weltbild zum Denken führt – und wir geben es an unsere Kinder weiter . . .; der Gedanke, daß mit ‚Erbsünde‘ etwas derartiges gemeint sein könnte, drängt sich förmlich auf.“

Ja; wie schwer es ist, die Überlieferung hinter sich zu lassen,

– erfahren Sie unmittelbar beim Lesen meines Buches und

– zeigt sich an den vielen Versuchen,

  — unsere brennenden Fragen zu beantworten, 

  — ohne das Weltbild wesentlich korrigieren zu müssen.

 

AD: „Hätten Sie dazu vielleicht ein eingängiges Beispiel?“

Natürlich; unsere obige Problematik, daß wir als „Krone der Schöpfung“ im physikalischen Kosmos pure Nichtse sind, versuchen einige Philosophen mit Hilfe des (starken oder schwachen) anthropischen Prinzips zu lösen. Ihm zufolge ist der ganze Aufwand mit seinen Wahnsinns-Ausdehnungen notwendig, damit wir existieren können. Wir sind die „Krone der Schöpfung“, weil Gott den physikalischen Kosmos um unseretwegen schaffen „mußte“.

 

Das ist ein Gedanke, der nicht von vornherein unsinnig sein muß. Die Idee allein genügt jedoch ebensowenig wie die eigene Überzeugung davon. Auch mit dem festesten Glauben dienen wir noch niemandem; das wirkt – mit Recht – häufig als dickköpfig, stur oder beratungsresistent.

Wer etwas Altes glaubt, ohne zeigen zu können, daß es auch heute noch sinnvoll gedacht werden kann, ist nicht rechtgläubig-treu, sondern „von gestern“. Die Denkbarkeit ist ein wesentliches Kriterium des Glaubens; Martin Seel konkretisierte das sehr schön:

Denkbar ist bekanntlich vieles,

konsistent denkbar schon erheblich weniger und  

plausibel denkbar– das heißt, in Einklang mit unserem übrigen Wissen – gar nicht mehr so viel.“

 

Vielleicht darf ich Sie auch nochmals an das obige Zitat von Höhn erinnern:

„Wer Theologie studiert, muß lernen, daß Frömmigkeit nicht vor Leichtgläubigkeit schützt. Wer nur etwas bezeugt, ohne davon auch überzeugen zu können, hat ein Glaubwürdigkeitsdefizit. Den Glauben zu festigen, vermag keine Theologie, der die Frömmigkeit ihres Anstrichs wichtiger ist als ihre wissenschaftliche Redlichkeit.“

Das anthropische Prinzip kann also, mit anderen Worten, allein dann von Interesse sein, wenn

– zum einen die entsprechende Denk-Möglichkeit ersichtlich und

– zum anderen deren Realisierung nicht völlig ausgeschlossen ist.

Erst und allein dann läßt sich mit dieser Idee argumentieren; ein vernünftiger Glaube entspricht keinem Wunschkonzert – obwohl er „nur“ Glaube ist.

 

Auf einem enorm hohen Reflexionsniveau wollte beispielsweise John Archibald Wheeler, der letzte große Schüler Albert Einsteins, die Denk- und Realisierbarkeit des anthropischen Prinzips nachweisen. Aber selbst sein Versuch, die Notwendigkeit des modernen Kosmos für unsere Existenz nachzuweisen, scheiterte.

Anton Friedrich Koch unternimmt gegenwärtig einen neuen Anlauf in diese Richtung; sein Ergebnis ist wohl noch offen, aber leider auch nicht besonders leicht nachvollzieh- oder gar überprüfbar. Die Fragestellung lautet: 

„Wie muß der Kosmos beschaffen sein, damit in ihm Beobachter möglich sind, für die er existiert?“