2.1. Das Seins-Bild als Orientierungsmöglichkeit

Wenn Menschen sich als unglücklich erleben, hängt das natürlich eng mit ihren persönlichen Lebensumständen zusammen. Aber daß das eigene Seins-Bild ebenfalls massiv menschliches Leid befördern kann, scheint mir auch unbestreitbar zu sein.

Wir haben in der Moderne darauf gesetzt, dem angeblich richtigen Welt-Bild immer näherzukommen, und uns vom Erreichen dieses Zieles letztendlich die Lösung all unserer Probleme versprochen.

Ich halte das nicht für falsch, sondern für unmöglich, weil es keine objektive Wirklichkeit gibt. Konnten Sie schon einmal Ihr Welt-Bild mit der Welt vergleichen? Wenn „ja“, wie haben Sie das gemacht? Wo befindet sich die objektive Welt – außerhalb unserer Psyche? Wohin muß man schauen, um sie  zu sehen?

 

Die Seins-Bilder haben meines Erachtens eine ganz andere Aufgabe; sie handeln nicht von einer angeblichen objektiven Wirklichkeit, sondern beeinflussen unser subjektives Leben. Wir orientieren uns an ihnen und müssen dies tun, weil scheinbar gar nichts anderes dafür zur Verfügung steht.

Wer ein „falsches“ Seins-Bild besitzt, hat, mit anderen Worten, keine unrichtigen Vorstellungen von der Wirklichkeit, sondern könnte – durch ein besseres Seins-Bild – wesentlich wahrer, tiefer oder erfüllter und in diesem Sinne „mehr“ leben.

 

Die Postmoderne stupst uns mit der Nase auf diese Funktion der Seins-Bilder, die in der Moderne nahezu vollkommen übersehen wurde.

„Hurra; wir haben bald die Weltformel gefunden!“

Na und?

Michel Henry spricht von uns als den „verlorenen Menschen“, die sich durch „ihr einseitig objektivistisches Denken in eine Masse von geistig Behinderten verwandeln“ werden, denn „jeder reine Objektivismus ist eine Philosophie des Todes“.

„Masse von geistig Behinderten“ und „Philosophie des Todes“ klingen nicht sehr ermutigend. Aber wenn wir uns umschauen – bis in die Universitäten und Kirchen hinein –, wo heute noch

– konsequent und tiefgründig nachgedacht,

– das Erbe der Aufklärung hochgehalten,

– das Subjekt ernstgenommen und

– nach der Wirklichkeit seines Lebens gefragt wird,

werden wir vielleicht doch erschrecken und Henry stillschweigend-verzweifelt ein wenig Recht geben.

 

AD: „Daß würde aber doch bedeuten, daß unser Seins-Bild mehr mit Philosophie, Theologie und Ethik zu tun hätte als mit Physik?“

Ja; wenn Sie beispielsweise glaubten, daß die Erdscheibe von einem Elefanten getragen wird, der auf einer Schildkröte steht, während diese im Ozean des Nichts schwimmt, würde ich mich gewiß sehr wundern und vielleicht nachfragen, wie Sie davon überzeugt sein können.

Daß diese Sichtweise „von gestern“ oder „unwissenschaftlich“ sein soll, ist dabei völlig belanglos; es geht nicht um Modetrends bzw. den Zeitgeist, sondern um das wahre Leben.

Als entscheidend kann somit immer nur die Frage gelten, ob und gegebenenfalls wie Ihr Seins-Bild Ihnen bei der Suche nach dem wahren Leben hilft. „Was bringt Ihnen dieser Glaube?“ – verstanden freilich in einem existenziellen Sinne.

Wenn Sie mit Ihrem Tier-Seins-Bild glücklich und zufrieden sind, ziehe ich den Hut und mich diskret zurück, weil ich Ihnen dann nichts Konstruktives zu sagen hätte. Niemand kann mehr, als seinen eigenen Weg zur Fülle des Lebens finden. Ich möchte denen helfen, die intellektuell redlich danach suchen, ihren Weg aber noch nicht gefunden haben.

 

Mein Protest – im gesamten Buch und speziell in diesem zweiten Teil – richtet sich folglich absolut nicht gegen Ihr Seins-Bild, sondern allein gegen die traditionelle Behauptung, mit ihm die objektive Wirklichkeit erkannt zu haben, so daß alle anderen hinreichend schlauen Menschen zustimmen müßten.

Postmodern sollten diese ein bestimmtes Seins-Bild jedoch nur dann und in dem Maße übernehmen, wie sie es als Hilfe für ihr eigenes Leben erkennen

Daß ich das Gleiche auch sagen würde, wenn wir Ihr Tier-Fundament durch den Kreationismus oder einen evolutiven Kosmos mit Urknalltheorie und Zufallsmutationen ersetzen, bedürfte wohl kaum noch der Erwähnung. Es gibt keine wahren, sondern höchstens richtige Seins-Bilder – und das sind die hilfreichen oder lebensdienlichen.

 

Traditionell-modern sagt man:

Unsere Vorfahren haben beispielsweise eine Himmelsglocke, Götter und Dämonen wahrgenommen – als wahr (an)genommen –, die natürlich alle nicht existieren. Wir sind dagegen aufgeklärt und bilden die objektive Wirklichkeit so ab, wie sie wirklich ist.

Den zweiten Satz müßten wir erheblich korrigieren: 

Wir sind nicht aufgeklärt in dem Sinne, daß etwas grundsätzlich anders geworden wäre, sondern haben lediglich, wie dies immer geschieht, die Wissungen unserer Vorfahren – vor allem mittels der exakten Wissenschaften – uminterpretiert, aufgehoben oder überformt und sind so zu unserem modernen Seins-Bild gelangt. 

 

Aus den Göttern wurden vielleicht „Zufall und Notwendigkeit“ (Jacques Monod), aus der Himmelsglocke ein potentiell unendlicher Kosmos und aus den Dämonen psychische Störungen.

All das – Zufall und Notwendigkeit, einen unendlichen Kosmos oder psychische Störungen – gibt es jedoch objektiv-wirklich ebensowenig wie Götter, eine Himmelsglocke oder Dämonen.

Wir haben lediglich unsere Wissungen geandert, so wie das alle Kulturen stetig tun (müssen), um ein hinreichend gemeinsames Seins-Bild aufrechterhalten zu können, das die Menschen der jeweiligen Deutegemeinschaft zusammenleben läßt. Wir merken doch gerade gegenwärtig überdeutlich, wie die Gesellschaft dissoziiert, wenn zu viele verschiedene und einander widersprechende Seins-Bilder geglaubt werden.

Ihr intersubjektiver Effekt, der als gesellschaftlicher Kitt dient, kommt zu dem rein subjektiven Effekt des glückenden individuellen Lebens hinzu und ist ebenso wichtig wie dieser. 

 

Traditionell Denkende halten unseren Bewußtseinswandel – vom Abbilden der objektiven zum Konstruieren oder Erfinden einer subjektiven Wirklichkeit – natürlich für unsinnig.

Gäbe es uns nicht, wäre die objektive Wirklichkeit ihrem Denken zufolge exakt die gleiche; jede leicht abschwächende Formulierung – „natürlich ohne unsere Körper“ – würde zwar theoretisch stimmen, grenzte aber angesichts der praktischen Unendlichkeit dieser objektiven Wirklichkeit an Größenwahn.

Anders herum bedeutet das freilich, daß wir im physikalischen Kosmos pure Nichtse sind; jede Ameise ist für ihren Haufen millionenfach wichtiger als wir für die traditionelle Welt.

 

Jacques Monod schrieb in seinm Bestseller „Zufall und Notwendigkeit“ ganz in diesem Sinne:

„Das Universum trug weder das Leben, noch trug die Biosphäre den Menschen in sich. Unsere ‚Losnummer‘ kam beim Glücksspiel heraus.

Der Mensch weiß endlich, daß er in der teilnahmslosen Unermeßlichkeit des Universums allein ist, aus dem er zufällig hervortrat. Wir sind Zigeuner am Rande eines Universums, das taub ist für unsere Musik und unempfindlich für unsere Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.

Nicht nur sein Los, auch seine Pflicht steht nirgendwo geschrieben. Es ist an ihm, zwischen dem Reich und der Finsternis zu wählen.“

Monod ist nicht zynisch oder verletzend, sondern einfach nur ehrlich und bereit, konsequent traditionell-modern zu denken; lediglich sein Mut unterscheidet ihn von den meisten der heutigen Traditionalisten.

 

Ich kann mir kaum vorstellen, wie sich die Fragen nach Sinn, Liebe, Wahrheit, Glück, Leben und Sterben in einem solchen Seins-Bild befriedigend beantworten lassen sollen. Wir Menschen werden ihm zufolge einmal ausgestorben sein – und weder ist dann im Kosmos etwas Entscheidendes geschehen, noch wird uns jemand vermissen.

Robert Spaemann und Reinhard Löw hatten gewiß Recht damit, daß wir „Die Frage Wozu?“ subjektiv gar nicht ernst genug nehmen können. Aber müßte dies nicht auch für den Kosmos gelten? Wozu der Aufwand mit den unermeßlichen Dimensionen – wenn es dem christlichen Glauben zufolge doch allein um uns als die Krone der Schöpfung geht?

 

Schon Blaise Pascal konstatierte:

„Ich sehe diese entsetzlichen Weiten des Weltalls, die mich einschließen, und ich finde mich an einen Winkel dieses gewaltigen Raums gefesselt, ohne daß ich weiß, warum ich an diesen Ort und nicht vielmehr an einen anderen gestellt bin und warum diese kurze Frist, die mir zu leben gegeben ist, mir gerade zu diesem Zeitpunkt und nicht vielmehr zu einem anderen der ganzen Ewigkeit, die mir vorausgegangen ist, und der ganzen Ewigkeit, die auf mich folgt, bestimmt ist . . . 

Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume und Zeiten erschreckt mich.“

 

Veranschaulichen wir uns die gewaltige Differenz zwischen dem traditionellen und dem von uns angezielten postmodernen Denken noch an einer einfachen, aber sehr deutlichen Konsequenz:

Wenn ein Subjekt stirbt, gibt es traditionell einen lebenden Körper weniger im Kosmos, was darin freilich auch nicht die geringste Rolle spielt. Selbst wenn wir Menschen vollständig ausstürben, hätte dies für den Kosmos keine Konsequenzen, würde von ihm gar nicht bemerkt und noch weniger betrauert.

Ohne objektive Wirklichkeit – bei unserem Ansatz also – können keine Körper verschwinden; dazu hätten sie ja erst einmal vorhanden sein müssen. Die Verstorbenen entziehen sich aber trotzdem; wo?

Natürlich allein dort, wo sie sich auch zuvor schon befunden haben, nämlich in den subjektiven Psychen derjenigen zurückbleibenden Subjekte, denen die Verstorbenen nahestehen.

Damit läßt sich möglicherweise auch eine positive Antwort auf die Frage nach dem Wozu, Warum oder Sinn unseres subjektiven Lebens finden. In einer objektiven Welt halte ich das für ausgeschlossen, weil der Sinn keine physikalische Kategorie darstellt; Henry muß nicht übertrieben haben.

 

AD: „Aber wäre es nicht auch denkbar, daß dieser ganze Aufwand mit seinen Wahnsinns-Ausdehnungen notwendig ist, damit wir überhaupt existieren können? Dann sind wir vielleicht doch sogar die ‚Krone der Schöpfung‘, weil Gott all das um unseretwegen schaffen ‚mußte‘?“

Natürlich darf man das nicht ausschließen; diese Idee allein genügt jedoch ebensowenig wie die eigene Überzeugung davon. Auch mit dem festesten Glauben an das Absurde diene ich niemanden; da wirke ich – mit Recht – lediglich als dickköpfig, stur oder beratungsresistent. Wer etwas Altes glaubt, ohne zeigen zu können, daß es auch heute noch sinnvoll gedacht werden kann, „ist von gestern“.

Diese Denkbarkeit ist ein wesentliches Kriterium des Glaubens; Martin Seel konkretisierte sie  sehr schön:

Denkbar ist bekanntlich vieles,

konsistent denkbar schon erheblich weniger und  

plausibel denkbar– das heißt, in Einklang mit unserem übrigen Wissen von der Welt – gar nicht mehr so viel.“

 

Vielleicht darf ich Sie auch nochmals an das obige Zitat von Höhn erinnern:

„Wer Theologie studiert, muß lernen, daß Frömmigkeit nicht vor Leichtgläubigkeit schützt. Wer nur etwas bezeugt, ohne davon auch überzeugen zu können, hat ein Glaubwürdigkeitsdefizit. Den Glauben zu festigen, vermag keine Theologie, der die Frömmigkeit ihres Anstrichs wichtiger ist als ihre wissenschaftliche Redlichkeit.“

Ihr Gedanke kann also allein dann von Interesse sein, wenn eine entsprechende Denk-Möglichkeit besteht und auch deren Realisierung nicht völlig ausgeschlossen ist. Erst und allein dann läßt sich mit dieser Idee argumentieren; ein vernünftiger Glaube ist kein Wunschkonzert – obwohl er „nur“ Glaube ist.

 

Man nennt den Gedanken, daß alles so beschaffen sein müsse, wie es ist, damit – physikalisch formuliert – im Kosmos Beobachter auftreten können, für die es diesen Kosmos gibt, das („starke“ oder „schwache“) „anthropische Prinzip“. Auf einem enorm hohen Reflexionsniveau wurde es beispielsweise von John Archibald Wheeler, dem letzten großen Schüler Albert Einsteins, ausgearbeitet. Aber selbst sein Versuch – nachzuweisen, daß der traditionelle Kosmos für unsere Existenz erforderlich ist, – scheiterte.

Anton Friedrich Koch unternimmt gegenwärtig einen neuen Anlauf in diese Richtung; sein Ergebnis ist wohl noch offen, aber leider auch nicht besonders leicht nachvollzieh- oder gar überprüfbar.