2.3. Kosmos – Welt – Leben

Möglicherweise wundern Sie sich die ganze Zeit schon, weshalb ich zumeist zwischen der objektiven Welt und dem physikalischen Kosmos unterscheide. An Ihrem Erstaunen zeigt sich gegebenenfalls, wie massiv wir uns im Verlauf der letzten drei Jahrhunderte an das Denken der exakten Wissenschaften angepaßt haben.

In vielen Büchern und Artikeln wird gegenwärtig spekuliert, daß wir Menschen möglicherweise gar nicht nur in unserem physikalischen Kosmos als einem Universum leben, sondern in einem Multiversum – in Kosmen gewissermaßen. Das geschieht teilweise auf einem sehr hohen intellektuellen Niveau, etwa im Zusammenhang mit Hugh Everetts „Quantentheorie der vielen Welten“.

Ich meine jedoch etwas völlig anderes und in gewissem Sinne sogar das glatte Gegenteil.

 

Der physikalische Kosmos stellt nur einen winzigen Teil der (irdischen) Welt dar.

Überlegen Sie bitte einmal, was Ihnen in Ihrem Leben besonders wichtig ist. Befindet sich darunter – bei Nicht-Physikern – etwas Physikalisches? Vielleicht denken Sie an Liebe und Freundschaft, bestimmte Menschen, Lebensziele und Selbstverwirklichung, Hobbys, Handwerk, Bücher, Kunst, Bildung oder einfach nur gutes Essen und Trinken.

All das sind keine Gegenstände der Physik – und sie können somit in deren Welt, dem Kosmos, auch nicht vorkommen. Darin gibt es keine Sprachen oder Gedichte, keine Gemälde oder Bierdeckel, weder Schön- noch Gemeinheit, weder Geld noch Armut, keine Verbrechen oder Fußballspiele, keine Staaten mit Flaggen und Hymnen, keine Bedürfnisse und kein Begehren.

Im physikalischen Kosmos existiert fast nichts; zu ihm kann nur das Wenige gehören, das sich vollständig mittels der Physik beschreiben läßt. Das ist bereits bei Reißzwecken, Sicherheitsnadeln und Büroklammern nicht mehr möglich, weil sie einen Zweck besitzen, dieser aber keine physikalische Kategorie darstellt, das heißt, daß der Physiker als Physiker nicht verstehen kann, was ein Zweck – und damit auch eine Reißzwecke – sein soll.

Es verbleiben ihm somit nur die traditionellen primären Qualitäten Anzahl, Größe, Masse, Form, Ort, Geschwindigkeit usw.

 

AD: „Wieso sollen Reißzwecken, Sicherheitsnadeln und Büroklammern keine physikalischen Gegenstände und somit auch nicht im Kosmos enthalten sein?“

Entschuldigung; mein „nicht“ war falsch; sie befinden sich auch, aber nicht nur im Kosmos.

Reißzwecken, Sicherheitsnadeln und Büroklammern haben eine bestimmte Größe, Form, Masse, Festigkeit sowie weitere Eigenschaften, für die die Physik zuständig zeichnet, und hierdurch gehören diese Gegenstände natürlich dem Kosmos an – pardon.

Das wollte ich keineswegs bestreiten; aber damit handelt es sich noch nicht um Reißzwecken, Sicherheitsnadeln bzw. Büroklammern, denn das sind sie erst durch ihren jeweils noch hinzukommenden Zweck. Und mit ihm transzendieren sie den Kosmos und reichen in andere Dimensionen der Welt hinein.

Ich korrigiere mich also; sämtliche Dinge, die physikalische Aspekte besitzen, gehören auch dem Kosmos an, gehen aber zumeist weit über ihn hinaus; er ist – anschaulich gesprochen – zu eng für sie.

Unbestreitbar bedeutet unser Rendezvous auch eine Ortsveränderung, aber daß es nur das sein soll, können hoffentlich auch die dreistesten Physikalisten selbst nicht glauben.

 

Viele Menschen finden in ihrem Leben keinen Sinn und haben damit auch vollkommen Recht, wenn sie ihre Welt auf die physikalischen Komponenten reduziert haben. Darin kann es natürlich keinen Sinn geben, weil er ebenfalls keine physikalische Kategorie darstellt. Auch Physiker finden keinen Sinn im Kosmos; hoffentlich bei ihrer Arbeit, aber die erfolgt nicht im Kosmos, sondern handelt nur von ihm.

Wir können nicht unsere Wohnung schwarz überstreichen und dann klagen, daß die Farben fehlen. Doch; natürlich können wir es; wir tun es ja weitestgehend, indem wir die (moralisch-)praktische Wahrheit unseres Lebens durch die (erkenntnis-)theoretische Richtigkeit des Weltbilds ersetzen.

 

AD: „Die nicht-physikalischen Partial-Welten, die Sie andeuten, spielen aber doch wirklich nur eine untergeordnete Rolle . . .“

Das ist richtig; aber nicht weil es sich objektiv so verhält, sondern weil wir uns in der Moderne einreden lassen haben, allein die physikalische Partial-Welt sei entscheidend. Überlegen Sie bitte einmal, was wir alles über unseren Kosmos erzählen könnten, und wie rudimentär sich daran gemessen – bei den meisten von uns – das musische oder poetische Vokabular ausnimmt, wie beschränkt unsere Partial-Welten beispielsweise des Schönen, Guten, Religiösen und der Gabe oder Stille entwickelt sind.

Bei dem Wort „Krieg“ beispielsweise assoziieren die meisten Menschen heute physikalisch-elektronische Waffen(-Systeme) und deren Abwehr. Aber müßte uns nicht als erstes das Leid der Betroffenen – Menschen, Tiere und vielleicht sogar Pflanzen – in den Sinn kommen?

 

Nun sollte verständlich sein:

Die Welt besitzt nicht nur die vier Dimensionen der physikalischen Raum-Zeit, sondern potentiell unendlich viele und ist unabsehbar reichhaltig oder mannigfaltig. Der Kosmos mit seinen armseligen Inhalten nimmt sich daran gemessen entsetzlich provinziell aus. Auch wenn er räumlich sowie zeitlich praktisch keine Grenzen besitzt, bleibt der Kosmos gegenüber dem Reichtum, der Vielfalt und Faszination der Welt, die ihn umgreift, nahezu vernachlässigbar.  

Allein das traditionelle Denken im modernen Abendland glaubt, mit der Physik den Nabel oder die Einheit der Welt gefunden zu haben, so daß die physikalische Weltformel als das letzte noch zu lüftende Rätsel gehandelt und als Endlösung verkauft wird.

 

Wir setzen diese Horizonterweiterung vom Kosmos zur Welt fort und gehen mit der Postmoderne zum eigenen Leben über:

objektiver Kosmos   →   objektive Welt   →   subjektives Leben

 

AD: „Und dieses subjektive Leben erfolgt in der subjektiven Wirklichkeit, die zugleich mit ihm entsteht; das erinnert ein bißchen an das Perpetuum mobile . . .

Trotzdem ist Ihr Versuch, eine rationale Antwort zu geben, anerkennungswert; ich hatte die fromme Variante ‚Wir leben in Gott‘ erwartet.“ 

Nein; sie wäre völlig daneben; nicht weil ich diese Antwort für falsch halte, sondern weil sie an dieser Stelle nichts zu suchen hat:

Wenn ich behaupte, es gäbe keine objektive Welt, muß ich Ihre Frage, wo wir dann leben, vernünftig beantworten können. Mißlingt mir das, habe ich nicht die Notwendigkeit Gottes bewiesen, sondern dumm dahergeredet

Konnte ich Ihr Problem jedoch befriedigend klären (soweit sind wir noch nicht) und sage dann vollkommen unabhängig davon, daß dies alles meines Erachtens ohne Gott nicht möglich wäre, habe ich freiwillig ein Bekenntnis abgelegt.

Hier geht es also nicht um eine Alternative; vielmehr ist die erste Antwort für einen vernünftigen Dialog unbedingt erforderlich, und die zweite fakultativ.