Als „Naiver Realist“ bezeichnet zu werden, soll nicht beleidigend sein; das entspricht tatsächlich einer philosophischen Richtung. Zu ihr gehören im wesentlichen drei Charakteristika:
1. Es existiert – natürlich für die gesamte Tradition – eine objektive Wirklichkeit.
2. Diese umfaßt – wie es die Moderne sieht – nur materielle Seiende und wird damit zu der objektiven Realität oder dem Kosmos der Physik.
3. Diese Seienden werden – und darin besteht die Naivität – durch einfaches Hinschauen abgebildet:
„Dort ist die – an sich – seiende objektiv-reale Sonne; schau einfach hin, dann siehst Du sie.“
Dieser Satz klingt wie selbst-, ist aber absolut unverständlich und voller Widersprüche.
Damit läßt sich unsere Gegenwart als Übergang nicht nur von der Tradition, sondern auch von der Moderne mit ihrem Naiven Realismus zur Postmoderne verstehen. Das ist ein Paradigmenwechsel sowohl im Alltag als auch in Philosophie und Theologie, dessen Konsequenzen wir wohl noch nicht einmal erahnen können.
AD: „Haben Sie bewußt nur von Philosophie und Theologie gesprochen oder lediglich die anderen Wissenschaften nicht erwähnt?“
Das war Absicht!
Philosophie und Theologie sind die beiden einzigen Wissenschaften, deren Gegenstand in der Wirklichkeit besteht. Deswegen entwickeln sich gegenwärtig beide in Richtung einer Phänomenologie, deren Anliegen Edmund Husserl mit den Worten „Zu den Sachen selbst“ formulierte.
Den anderen oder Einzelwissenschaften geht es nicht um die Wirklichkeit selbst; sie konstruieren, arbeiten an oder denken in Modellen, so daß sie forschungsmäßig möglicherweise die größten Umwälzungen im Wirklichkeitsverständnis „verschlafen“ bzw. unversehrt überstehen können.
Auch das komplizierteste oder schönste Modell besitzt keinen Wirklichkeitsbezug. Der Apfel fällt nicht vom Baum, weil die Erde ihn anzieht, wie es uns wahrscheinlich allen in der Schule gelehrt wurde. Vielmehr haben wir mit Newtons Gravitationskraft ein physikalisches Modell erfunden, mit dessen Hilfe sich die Bewegung des Apfels phantastisch genau darstellen und damit auch vorhersagen läßt; mehr kann und soll die Physik nicht.
AD: „Und darf sie auch nicht; Physiker sollten wie alle anderen Menschen in einer lebensdienlichen Wirklichkeit zu Hause sein und dazu ihre Überzeugung vertreten; aber als Physiker können sie diesbezüglich nichts beitragen.“
Die Frage, ob Einsteins Raum-Zeit-Krümmung die Wirklichkeit besser beschreibt als Newtons Gravitationskraft, ist völlig unverständlich.
Wir erreichen mit unseren Modellen
– eine partielle Verfügbarkeit innerhalb
– der prinzipiell unverfügbaren Wirklichkeit.
Weder kommen Modelle letzterer nahe, noch sind sie von ihr entfernt. Die beiden gehören zwei unterschiedlichen Sphären an, die wir uns jedoch nicht als räumlich getrennt voneinander vorstellen dürfen; es geht doch um eine partielle Verfügbarkeit innerhalb des prinzipiell Unverfügbaren.
In der Philosophie wurde der Naive Realismus bereits von Kant sowie dessen unmittelbaren Nachfolgern – Fichte, Schelling, Hegel – kritisch infragegestellt; viele Sachkundige würden wahrscheinlich konkretisieren: „widerlegt“. Später betrachteten nicht zuletzt Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein oder Alfred North Whitehead ein solches Denken immer skeptischer. Diese Diskussion, der sich insbesondere zahlreiche Künstler angeschlossen haben, ist wohl noch lange nicht beendet.
Außerhalb von Philosophie und Kunst – nicht zuletzt in den Naturwissenschaften, der Theologie sowie im Glaubensleben und Alltagsdenken – ist das freilich ganz anders. Dort wird der physikalische Kosmos als – scheinbar – offen-sichtliche und selbst-verständliche objektive Realität kaum hinterfragt, da man ja angeblich nur hinschauen muß, um die Seienden sehen zu können:
Dort befindet sich zum Beispiel das Urbild namens „Sonne“; es ist abbildbar, und durch das Hinschauen erhalten wir ein Abbild von ihm in unserer Psyche.
Wer so, naiv-realistisch denkt, braucht natürlich keine Philosophie und staunt nur, wie man sich mit deren „absurden Hirngespinsten“ beschäftigen kann, obwohl doch „in Wirklichkeit alles so einfach und selbstverständlich ist“:
„Was wollen diese Philosophen eigentlich? Sie konstruieren nur sinnlose Schein-Probleme an Stellen, wo es keine tatsächlichen gibt. Wirkliche Schwierigkeiten bereiten die ‚harten Fakten‘ des Alltags sowie der Wissenschaft und Technik. Wozu überhaupt noch Geisteswissenschaften? Die lösen keine Probleme, sondern erzeugen sie nur unnötig.“
Es ist schon ein wenig grotesk, daß sich die meisten Naiven Realisten selbst zur Avantgarde der Aufklärung zählen, obwohl beispielsweise Kant zu einem großen Aufklärer wurde, indem er gerade die Schwächen des Naiven Realismus aufgezeigt hat.
Der soeben angedeuteten Stammtisch-Philosophie würde ich im Sinne Wittgensteins etwa Folgendes entgegenhalten:
1. Die Philosophen konstruieren keine Schein-Probleme, sondern versuchen, wirkliche Probleme auf-scheinen zu lassen, indem sie angebliche Selbstverständlichkeiten der Wissenschaft, des Alltags oder Glaubens infrage stellen.
2. Daß die Philosophen keine Probleme lösen, sieht der Naive Realist freilig richtig; darin besteht die Aufgabe der Wissenschaft.
3. Die Philosophie ist keine Wissenschaft, sondern eine Therapie, die „die Probleme wie eine Krankheit behandeln“, das heißt, nicht lösen, sodern zum Verschwinden bringen soll.
„Die ‚Lösung‘ der Probleme des Lebens merkt man am Verschwinden dieser Probleme.“
„Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat.“
4. Das setzt allerdings ein möglichst offenes und sauberes Denken voraus, aber „die Wissenschaft denkt nicht“ (Martin Heidegger).
5. Diese „Verleumdung“ läßt sich recht gut verstehen:
Um die Probleme oder „Rätsel der normalen Wissenschaft“ (Thomas S. Kuhn) zu lösen, stehen Denkwerkzeuge – Begriffe, Paradigmen, Theorien, Modelle und Techniken – zur Verfügung, die nur angewandt werden müssen. Das erfordert mehr Routine durch Üben oder Lernen als Denken und ist ein geistiges Handwerk.
Das pflegen die „normalen“ Wissenschaftler, die mit den bereits bestehenden Denkwerkzeugen operieren.
6. Zur „wissenschaftlichen Revolution“ als einem „Paradigmenwechsel“ (Kuhn) gehört dagegen grund-legendes Denken.
7. Das ist aber auch schon der Bereich der Philosophie, weil dadurch die Probleme des alten Paradigmas – nicht wissenschaftlich gelöst werden, sondern – durch das Erfinden oder Schaffen neuer Denkwerkzeuge therapeutisch verschwinden.
8. Diese Probleme bestanden also nicht an sich, sondern wurden lediglich durch unser unzureichendes Denkwerkzeug – das alte Paradigma mit seinen unfruchtbar gewordenen Begriffen – erzeugt.
9. Als Therapie kann und soll die Philosophie uns helfen zu leben, aber sie hat nicht – wie die Tradition häufig meint – die Aufgabe, ewig wahre Antworten auf die letzten, größten oder allgemeinsten Fragen der Menschheit zu finden und endlich zu klären, worin Sein oder Sinn, das Eine, Wahre, Gute und Schöne bzw. Gott nun wirklich bestehen.
10. Das sind für die Postmoderne keine besonders tiefen, sondern überholte, weil heute falsch gestellte Fragen. Uns interessiert auch nicht mehr, wie der Rand der Erdscheibe beschaffen ist.
11. Die philosophische Tradition sucht ewig-wahre Antworten; die Postmoderne erkennt, daß nicht einmal unsere Fragen diese Eigenschaft besitzen.
12. Ihr geht es um „das Andere der Vernunft“ – das Irrationale, Irreale, Unschickliche oder Alogische; den Leib, das Begehren, die Phantasie, Triebe und Gefühle –, das die Tradition unter den Tisch fallen läßt, weil sie es nicht denken kann.
13. Wir versuchen es trotzdem und verstehen das Andere der Vernunft als die Leibhaftigkeit unseres Lebens.
14. Sie spielt jenseits der Logik und ist damit alogisch, kann aber niemals unlogisch im Sinne von widersprüchlich oder inhaltsleer sein.