2.2. Naiver Realismus der Moderne

In der Moderne, hatten wir bereits ausgeführt, werden die immanenten Seienden  weitestgehend zu den Bausteinen der Physik, so daß die objektive Welt letztlich in den Kosmos der Naturwissenschaften übergeht.

Das ist aber nur die eine Veränderung; eine zweite, ebenso fundamentale besteht im Wechsel der Art und Weise, wie oder woher wir von den immanenten Seienden wissen können.

In Antike und Mittelalter war dies ein kompliziertes theoretisches Problem, über das sich die Philosophen und Theologen mit Recht den Kopf zerbrochen haben, das aber die meisten Menschen natürlich kaum interessierte und von ihnen weder gesehen noch gar verstanden wurde.

Die Moderne schließt sich weitgehendst dieser Mehrheit an und simplifiziert das traditionelle Erkenntnisproblem entsetzlich:

„Dort ist die – an sich – seiende objektiv-reale Sonne; schau einfach hin, dann siehst Du sie.“

Dieser Satz klingt  wie selbst-, ist aber absolut unverständlich und voller Widersprüche.

 

Das Ergebnis der beiden soeben angedeuteten Veränderungen innerhalb des traditionellen Denkens fassen wir als Naiven Realismus zusammen:

– Die immanenten Seienden nehmen die Form physikalischer Bausteine an, das heißt, sie bestehen in Körpern (oder Strahlungen) aller Art sowie deren mikroskopischen Bestandteilen.

– Durch (adäquates) Abbilden erlangen wir Wissen von diesen Seienden.

Ich wiederhole nochmals:

Der Naive Realismus darf keinesfalls auf die gesamte Tradition übertragen werden; Antike und Mittelalter waren nicht naiv-realistisch – nur die Moderne ist es zum übergroßen Teil. Aber das traditionelle Denken mit seinem Glauben an eine objektive Wirklichkeit umgreift alle drei Perioden, so daß sein Ende mit dem der Moderne zusammenfällt.

Damit läßt sich unsere Gegenwart als Übergang nicht nur von der Tradition, sondern auch vom Naiven Realismus zur Postmoderne verstehen. Das ist ein Paradigmenwechsel sowohl im Alltag als auch in Philosophie und Theologie, dessen Konsequenzen wir wohl noch nicht einmal erahnen können.

 

AD: „Haben Sie bewußt nur von Philosophie und Theologie gesprochen oder lediglich die anderen Wissenschaften nicht erwähnt?“

Das war Absicht!

Mit dem Übergang zur Postmoderne wird die Wirklichkeit meines Erachtens eine ganz andere, indem die objektiv-traditionelle Wirklichkeit in das subjektive Leben übergeht. Da dieses den entscheidenden Gegenstand von Philosophie und Theologie bildet, müssen sich die beiden mächtig andern.

Bei allen übrigen Wissenschaften ist das zumindest nicht im gleichen Maße der Fall, da sie gar nicht von der Wirklichkeit sprechen bzw. sprechen sollen. Sie handeln lediglich von Denkmodellen, so daß sich eine Anderung der Wirklichkeit theoretisch überhaupt nicht auf sie auswirken müßte.

Der Apfel fällt nicht vom Baum, weil die Erde ihn anzieht, wie es uns wahrscheinlich allen in der Schule gelehrt wurde. Vielmehr haben wir mit Newtons Gravitationskraft ein physikalisches Modell erfunden, mit dessen Hilfe sich die Bewegung des Apfels phantastisch genau sowohl beschreiben als auch vorhersagen läßt; mehr kann, soll und darf die Physik nicht.   

 

Das „andern“ soeben war kein Schreibfehler; ich benutze dieses Kunstwort, um eine Variation zu bezeichnen, die wir nicht mit den üblichen Änderungen verwechseln dürfen.

Bei letzteren existiert stets (mindestens) ein Begriff, der konstant bleibt; der Ort, die Farbe oder das Wetter können sich ändern – aber es bleibt ein Ort, eine Farbe bzw. das Wetter. Die für Änderungen notwendige Konstanz müssen wir deutlich von der Unveränderlichkeit unterscheiden, denn diese ist lediglich eine spezielle Änderung vom Wert 0 – bei konstant bleibender Begrifflichkeit.

Fehlt der für Änderungen oder Nicht-Änderungen erforderliche konstante Begriff, so handelt es sich bei der Variation um eine Anderung. Philosophie und Theologie müssen sich andern, wenn dies für die Wirklichkeit als ihren einzigen Gegenstand gilt.    

 

AD: „Jetzt haben Sie sich selbst widersprochen:

Wenn Philosophie, Theologie und ihr Gegenstand sich ‚andern‘, ändern sie sich nur, denn die Begriffe Philosophie, Theologie sowie Gegenstand bleiben ja konstant – genau wie bei Ort, Farbe oder Wetter.“

Prinzipiell haben Sie Recht und ich räume problemlos ein, daß meine Unterscheidung zwischen Änderungen und Anderungen nicht sauber definiert ist. Es gibt so allgemeine Begriffe – Entität, Ding oder Idee und eben auch Gegenstand beispielsweise –, daß sie selbst bei den größten Variationen als konstant betrachtet werden können.

Aber wenn ich sage, der Gegenstand wechselt von der objektiven Realität zum subjektiven Leben, und wir noch gar keine Ahnung haben, worin letzteres bestehen könnte, wäre es auch irrführend, wie bei Rot-Werden eines Apfels von einer bloßen Änderung zu sprechen.    

 

Innerhalb der Philosophie wurde der Naive Realismus bereits von Kant sowie dessen unmittelbaren Nachfolgern – Fichte, Schelling, Hegel – kritisch infragegestellt, und später nicht zuletzt von Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein oder Alfred North Whitehead immer skeptischer betrachtet. Diese Diskussion, der sich insbesondere zahlreiche Künstler angeschlossen haben, ist wohl noch lange nicht beendet.

Außerhalb von Philosophie und Kunst – nicht zuletzt in den Naturwissenschaften, der Theologie sowie im Glaubensleben und Alltagsdenken – ist das freilich ganz anders. Dort wird der physikalische Kosmos als – scheinbar – offen-sichtliche und selbst-verständliche objektive Realität kaum hinterfragt, da man ja angeblich nur hinschauen muß, um ihre Seienden abzubilden.

 

Der physikalische Kosmos merkt nicht, wenn wir ihn erkennen, so daß nur eine einseitige Wirkung von ihm auf uns existiert, die sich wohl tatsächlich am besten – und sehr anschaulich – als ein Abbilden verstehen läßt:

Wir erkennen den physikalischen Kosmos, indem wir Abbilder von ihm in unserer Psyche produzieren, was die Seienden zu den entsprechenden Urbildern werden läßt. Dort befindet sich zum Beispiel das Urbild namens „Sonne“; es ist abbildbar, und durch das Hinschauen erhalten wir ein Abbild von ihm in unserer Psyche.

 

Wer so, naiv-realistisch denkt, braucht natürlich keine Philosophie und staunt nur, wie man sich mit deren „absurden Hirngespinsten“ beschäftigen kann, obwohl doch „in Wirklichkeit alles so einfach und selbstverständlich ist“:

„Was wollen diese Philosophen eigentlich? Sie konstruieren nur sinnlose Schein-Probleme an Stellen, wo es keine tatsächlichen gibt. Wirkliche Schwierigkeiten bereiten die ‚harten Fakten‘ des Alltags sowie der Wissenschaft und Technik. Wozu noch Geisteswissenschaften? Die lösen keine Probleme, sondern erzeugen sie nur unnötig.“

 

Im Sinne von Wittgenstein würde ich einer solchen Stammtisch-Philosophie etwa Folgendes entgegnen:

1. Die Philosophen konstruieren keine Schein-Probleme, sondern versuchen, wirkliche Probleme auf-scheinen zu lassen, indem sie angebliche Selbstverständlichkeiten der Wissenschaft, des Alltags oder Glaubens infrage stellen.

2. Daß die Philosophen keine Probleme lösen, sieht der Naive Realist freilig richtig; darin besteht die Aufgabe der Wissenschaft.

3. Die Philosophie ist keine Wissenschaft, sondern eine Therapie, die  „die Probleme wie eine Krankheit behandeln“, das heißt, nicht lösen, sodern zum Verschwinden bringen soll.

„Die ‚Lösung‘ der Probleme des Lebens merkt man am Verschwinden dieser Probleme.“

„Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat.“

4. Das setzt allerdings ein möglichst offenes und sauberes Denken voraus, aber „die Wissenschaft denkt nicht.“ (Martin Heidegger)

Diese „Verleumdung“ läßt sich recht gut verstehen:

Um die Probleme oder „Rätsel der normalen Wissenschaft“ (Thomas S. Kuhn) zu lösen, stehen Denkwerkzeuge – Paradigmen, Theorien, Modelle und Techniken – zur Verfügung, die nur angewandt werden müssen. Das erfordert mehr Routine durch Üben oder Lernen als Denken und entspricht eher einem Handwerk.

„Normale“ Wissenschaftler sind geistige Handwerker, die mit den bereits bestehenden Begriffen werkeln.

5. Zur „wissenschaftlichen Revolution“ als einem „Paradigmenwechsel“ (Kuhn) gehört dagegen grund-legendes Denken.

6. Das ist aber auch schon der Bereich der Philosophie, weil dadurch die Probleme des alten Paradigmas – nicht wissenschaftlich gelöst werden, sondern – durch das Erfinden oder Schaffen neuer Begriffe therapeutisch verschwinden.

7. Diese Probleme bestanden also nicht an sich, sondern wurden lediglich durch unser unzureichendes Denkwerkzeug – das alte Paradigma mit seinen unfruchtbar gewordenen Begriffen – erzeugt.

8. Als Therapie kann und soll die Philosophie uns helfen zu leben, aber sie hat nicht – wie die Tradition häufig meint – die Aufgabe, ewig wahre Antworten auf die letzten, größten oder allgemeinsten Fragen der Menschheit zu finden und endlich zu klären, worin Sein oder Sinn, das Eine, Wahre, Gute und Schöne  bzw. Gott nun wirklich bestehen.

9. Das sind für die Postmoderne keine besonders tiefen, sondern überholte, weil heute falsch gestellte Fragen. Uns interessiert auch nicht mehr, wie der Rand der Erdscheibe beschaffen ist.

10. Sinnvoll könnten die traditionellen Fragen bestenfalls sein, wenn die Wirklichkeit in einer objektiv-zeitlosen Realität und nicht im subjektiv-zeitlichen Leben bestände. Aber was hat ein einzigartiges Subjekt bzw. sein unaustauschbares Leben mit einer angeblichen Objektivität zu tun? 

11. Die philosophische Tradition sucht ewig-wahre Antworten; die Postmoderne erkennt, daß nicht einmal unsere Fragen diese Eigenschaft besitzen.

12. Ihr geht es um „das Andere der Vernunft“ – das Irrationale, Irreale, Unschickliche oder Alogische; den Leib, das Begehren, die Phantasie und Gefühle –, das die Tradition unter den Tisch fallen läßt, weil sie es nicht denken kann.

13. Wir versuchen es trotzdem und betrachten das Andere der Vernunft als die Leibhaftigkeit unseres Lebens.