2.4.3. Urbilder und Abbilder – im logischen Zirkel

Ein Kind sieht zum ersten Mal in seinem Leben den Mond. Der merkt natürlich nichts von seinem Bestaunt-Werden, so daß wir es mit einem völlig einseitigen Verhältnis zu tun haben. Das scheint sich zwar am besten durch ein Abbilden beschreiben zu lassen – geht aber nicht.

 

AD: „Wieso soll das unmöglich sein? Das Abbilden ist doch etwas ganz Alltägliches; denken wir nur an das Photographieren, Malen und Beschreiben, an Landkarten, technische Zeichnungen oder Veranschaulichungen.“

Das stimmt; Sie übersehen aber, daß wir es hier mit zwei völlig verschiedenen Formen des „Abbildens“ zu tun haben. Das philosophische Abbilden(P) hat mit dem von Ihnen gemeinten alltäglichen Abbilden(A) nahezu gar nichts gemein.

 

Wir stehen – traditionell gedacht – vor dem objektiv-realen Eiffelturm, bilden ihn in unserer Psyche ab und schießen ein Erinnerungsphoto, so daß sich zwei verschiedene Arten von „Abbildern“ ergeben.

Die Anführungsstriche soeben waren wichtig, denn es ist mehr als verwegen, hierbei Abbild als gemeinssamen Oberbegriff zu benutzen: 

 

Natürlich ist ein Photo vom Eiffelturm nicht der Eiffelturm, sondern lediglich ein Abbild(A) von ihm. Aber das Photo, das wir in der Hand halten oder auf dem Handy sehen, ist ebenso real, wie der Eiffelturm selbst. Wenn er ein Urbild sein soll, muß dies für sein Photo also ebenfalls gelten.

In Paris befinden sich folglich an der frischen Luft zwei Urbilder und in unserer Psyche die beiden zugehörigen Abbilder(P).

Wir könnten noch ein Photo vom Photo vom Photo vom . . . machen, aber an die Abbilder(P) kommen wir natürlich nicht heran.

 

 

Seiende oder Urbilder Eiffelturm Photo vom Eiffelturm Photo vom Photo vom . . .
  ——— Abbilden(A) ——
  | | |
  Abbilden(T) Abbilden(T) Abbilden(T)
 
Abbilder(P) vom . . .
Eiffelturm Photo vom Eiffelturm Photo vom Photo vom . . .
in der eigenen Psyche
     

Abbildung 2.4.3.

 

Beim Abbilden(A) sind uns sowohl Ur- als auch Abbild(A) gegeben; beim Photographieren können wir beispielsweise die aufgenommene Landschaft unmittelbar mit dem Bild davon vergleichen, und wir sehen – lax ausgedrückt – doppelt; das Original und sein Photo. Dem Künstler steht ein Mensch gegenüber, von dem er ein Porträt malt; wir orientieren uns in der Natur mittels einer Wanderkarte usw.

 

Mit Ur- bzw. Abbild(P) im traditionell-philosophischen Sinne haben diese Beispiele auch nicht das Geringste zu tun, denn beim Abbilden(P) ist uns nur das Abbild(P) in der Psyche gegeben; Urbilder(P) kommen nirgends vor. Das Kind von soeben beispielsweise sieht keineswegs doppelt, sondern nimmt nur einen Mond wahr und der gehört der Psyche des Kindes an, denn andernfalls könnte es ihn nicht sehen.

 

Die Tradition erfindet und behauptet lediglich niemals gesehene Urbilder(P) im Außerhalb der Psyche, um mit ihrer Hilfe die Entstehung der Abbilder(P) in der Psyche sehr leicht erklären zu können.

Der Mond in der Psyche ist natürlich unbstreitbar; aber

– wir leugnen das zugehörige Urbild(P) oder Seiende namens „Mond“, so daß

– der Mond in der Psyche den einzigen Mond darstellt und folglich

– auch nicht länger als Abbild(P) verstanden werden kann.

 

AD: „Wir sehen nicht doppelt; das Urbild(P) Mond ist natürlich ‚unsichtbar‘, weil es sich außerhalb der Psyche befindet; aber unsere Vernunft verlangt seine Existenz:

Wir könnten keinen Mond sehen, wenn er sich nicht dort befände.“

Ihr letzter Satz ist zumindest zweideutig.

Zum einen stellt er eine Tautologie dar: Gäbe es dort nicht den Mond als Sehung, würden wir auch keinen sehen; dem vermag niemand zu widersprechen.

Zum anderen – und nur das können Sie zur Verteidigung der Tradition gemeint haben – läßt sich Ihr Satz auch so verstehen, daß zwei Monde unterschieden werden müssen: 

Die Mond-Sehung X in unserer Psyche wäre unmöglich, wenn sich der Ur-Mond Y nicht dort im Weltraum befände.

 

In diesem Fall erfinden Sie einen unsichtbaren Ur-Mond Y im Außerhalb der Psyche, um Ihre Mond-Sehung X erklären zu können. Ich bezweifle jedoch sehr stark, daß es sich hierbei um eine Erklärung, das heißt, um etwas Akzeptables handelt:

1. Gegeben ist die Mond-Sehung X.

2. Deren Zustandekommen möchten Sie verstehen.

3. Dazu erfinden Sie einen unsichtbaren Ur-Mond Y.

4. Der einzige Hiinweis auf ihn, besteht in unserer Mond-Sehung X.

5. Sie interpretieren letztere als Abbild(P) des erfundenen Ur-Monds Y.

 

Damit leiten Sie aus der Mond-Sehung X den Ur-Mond Y – als eine mögliche Erklärung – ab und schließen zugleich aus der Existenz der Mond-Sehung X auf deren Richtigkeit – wobei vielleicht auch 1000 andere Erklärungen möglich gewesen wären.

 

Kann ein logischer Zirkel perfekter sein?

Sie erklären die Mond-Sehung X mittels des Ur-Monds Y, von dem Sie nur durch die Mond-Sehung X wissen:

Von den Urbildern wissen wir allein durch ihre Abbilder(P).

Die Urbilder machen uns die Abbilder(P) verständlich.

→   Es gibt Urbilder.

 

Diese „Logik“ kannten schon die alten Germanen:

Von Donar wissen wir allein durch den Donner.

Donar macht uns den Donner verständlich.

→   Es gibt Donar.

 

Rein logisch besteht zwischen diesen beiden Zirkelschlüssen auch nicht der geringste Unterschied:

Das Wissen, das sich aus den Abbildern(P) ergibt, macht uns die Abbilder verständlich(P).

Das Wissen, das sich aus dem Donner ergibt, macht uns den Donner verständlich.

Nicht nur Donar, sondern auch die Urbilder sind meiner tiefsten Überzeugung zufolge pure Erfindungen, mit denen wir uns selbst belügen, solange wir glauben, etwas erklärt zu haben.

Es handelt sich bei diesen zwei Beispielen um einen (relativ weit verbreiteten) logischen Fehlschluß, den wir rein formal folgendermaßen darstellen können:

 

Prämisse 1 p → q Regnet es, wird die Straße naß. Das Urbild erklärt das Abbild(P).
Pränisse 2 q Die Straße ist naß. Das Abbild(P) liegt vor.
falsche Konklusion → p Also hat es geregnet. Also existiert das Urbild.

Die erste Schlußfolgerung – „Also hat es geregnet“ – ist offensichtlich nicht zwingend, weil zum Beispiel auch Schnee geschmolzen, ein Wasserrohr geplatzt oder der Sprengwagen gefahren sein könnte. Die Prämisse lautete nicht „Wenn es regnet, aber auch  nur dann, wird die Straße naß“.  

Da die Logik nicht vom Inhalt abhängt, kann die zweite Konklusion – „Also existiert das Urbild“ – ebenfalls nicht zwingend sein. Natürlich wäre das eine mögliche Lösung dieses traditionellen Problems; aber daß wir uns gegenwärtig gar keine andere vorstellen können, beweist nicht ihre Richtigkeit, sondern unsere mangelnde Phantasie (oder Denkfaulheit).

Sowohl Donar als auch die Urbilder stellen Versuche dar, etwas zu erklären; sie mögen vielleicht ihre Zeit und ihr Recht gehabt haben; das muß uns nicht interessieren. Aber wenn wir ihre Schwachstellen kennen und die traditionellen Schlüsse nicht mehr intellektuell redlich nachvollziehen können, müssen wir nach etwas Konsistenterem Ausschau halten

 

AD: „Ich verstehe Ihre Überlegungen in diesem Kapitel so, als würden Sie sich der Projektions-Theorie von Ludwig Feuerbach anschließen?“ 

Natürlich; denn er wollte mit seinen Überlegungen plausibel machen, wie die Traditionell-Gläubigen auf die Idee kommen, es gäbe einen Gott, der zwar als „transzendent“ bezeichnet, aber völlig analog zur immanenten objektiven Wirklichkeit vorgestellt wird. Diese naiv-realistische Position in Bezug auf Gott nennt man „Theismus“.

Theisten haben Feuerbach zufolge eine Vorstellung von Gott, projizieren diese aus ihrer Pyche heraus und glauben (an) ihre eigene Projektion. Folglich hat nicht Gott die Menschen nach seinem Bild, sondern sie haben ihn nach ihren Vorstellungen erschaffen – was diejenigen Gläubigen, die so denken, natürlich massiv bestreiten und völlig anders sehen werden.

 

Ich kann Feuerbach natürlich nur beipflichten; er hat meines Erachtens völlig Recht.

Da es ihm jedoch im wesentlichen um seine Religionskritik ging, war er allein auf Gott fixiert, obwohl seine logisch saubere Argumentation auch nicht das Geringste mit Gott zu tun hat und sich damit wortwörtlich auf die gesamte objektive Realität überträgt.

Wieso ist Gott eine Projektion, aber die Materie nicht?

Mir geht es nicht um eine Kritik der Religion, sondern um eine solche des traditionell-philosophischen Aberglaubens.

Deswegen schließe ich mich Feuerbach nicht nur an, sondern erweitere zum einen seine Kritik an Gott auf eine solche aller Seienden, das heißt, der gesamten objektiven Wirklichkeit. Feuerbach hat Recht, hätte aber konsequenter sein und weitergehen müssen.

Zum anderen können überzeugte Christen nicht nur „atheistisch glauben“ (Hartmut von Sass), sondern müßten es sogar, wenn sie meine Kritik der objektiven Wirklichkeit – und damit speziell auch des Theismus – nicht entkräften können, aber intellektuell redlich glauben möchten.