Mit unserem Streichen der Seienden wird natürlich auch deren Abbilden hinfällig. Aber auch wenn wir dieses Ergebnis nicht schon vorweg-, sondern das traditionelle Denken ganz ernstnehmen, gibt es kein Abbilden.
Auf der einen Seite haben wir die Seienden der objektiven Wirklichkeit, und auf der anderen die Abbilder (in) der Psyche. Ein Übergang von jenen zu diesen ist offensichtlich erforderlich; er besteht im Abbilden und muß konsistenterweise wirklich sein – aber wohin gehört er dann?
Wirklich sind allein die Seienden, aber das Abbilden kann ihnen unmöglich zugehören.
Die Abbilder scheiden ebenfalls aus, da sie erst durch das Abbilden entstehen; zudem sind sie unwirklich; tertiun non datur.
AD. „Auf der einen Seite kann ich Ihnen schwerlich widersprechen; es gibt tatsächlich kein Abbilden.
Aber auf der anderen Seite sind wir uns ebenso einig, Sonne, Mond und Sterne wahrnehmen zu können.
Läßt sich dieser Widerspruch beseitigen?“
Sogar ganz einfach:
Das Wahrnehmen ist unbestreitbar, kann aber – und muß auch – nicht als Abbilden verstanden werden. Es
– ist wirklich und
– kommt „vor“ den Wahrnehmungen, um diese hervorzubringen.
Die Tradition kann nicht beiden Forderungen zugleich erfüllen, denn dazu müßte das Abbilden selbst ein Seiendes darstellen.
AD: „Ich hättee noch eine andere Idee:
Wir können vielleicht auf das Abbilden verzichten und damit den traditionellen Ansatz retten.
Sind unsere Augen auf die Venus gerichtet, erfolgt kein Abbilden, sondern wir nehmen sie selbst wahr. Dann entfällt freilich auch die Psyche, denn vor uns befindet sich die wirkliche Venus und alles gehört mit uns selbst dem einen wirklichen Raum an.“
In diese Richtung geht tatsächlich unsere Lösung, auf die wir später zurückkommen. Jetzt, bei unserer Kritik des traditionellen Denkens genügt jedoch der Hinweis, daß die Venus in Ihrem Vorschlag nicht als Seiendes verstanden werden kann.
AD: „Wieso?“
Wenn zwischen Ur- und Abbild unterschieden wird, verdankt sich jenes einer langen Geschichte mit Schöpfung, Evolution oder ähnlichem. Das Hinschauen oder Öffnen der Augen kann dann wie das Klicken einer Kamera verstanden werden; zum Abbilden genügt ein Sekundenbruchteil.
Diese Differenz von Ur- und Abbild wollten Sie nicht mehr; es soll nur noch die eine wirkliche Venus geben. Wir sehen sie beim Hinschauen; sind unsere Augen geschlossen, ist sie weg. Aber nun fehlt nicht nur das Abbild – das haben wir ja gestrichen –, sondern die ganze Venus ist weg.
Das würde freilich umgekehrt bedeuten, daß sie durch unser Hinschauen bei geöffneten Augen erst entsteht; ein solche Venus ist kein Seiendes!
So läßt sich der traditionelle Ansatz also nicht retten; mit dem Abbilden ist auch er hinfällig.
AD: „Intuitiv überkommt mich immer wieder ein ganz einfaches und überzeugendes traditionelles Bild:
Ich lebe als seiender Körper in einer objektiven Wirklichkeit, schaue – mittels meiner Psyche – aus dem Körper heraus und erkenne die Seienden; mich selbst und die anderen.
Sie haben viele Argumente vorgebracht, um uns anzuregen, dieses Modell wenigstens zu überdenken. Nicht zuletzt geht es von einem Wahrnehmen als Abbilden aus, das es Ihrer Meinung nach nicht geben kann. Alles, was Sie aufführen, ist einigermaßen stringent; im wesentlichen konnte ich Ihnen auch folgen, aber es sind so viele Einzelgedanken, daß ich fürchte, Ihre Argumentation wieder aus den Augen zu verlieren.
Könnten Sie uns in einem Satz sagen, weshalb meine traditonelles Bild falsch sein muß?“
Ja; wenn er etwas länger sein darf . . .
Daß Sie mittels Ihrer Psyche aus dem eigenen Körper in die Wirklichkeit hinaussehen, der Sie selbst angehören, erkennen Sie nicht,
– denn dazu müßten Sie der Nous sein oder ihn zumindest kontaktieren, denn
– daß Sie mittels Ihrer Psyche aus dem eigenen Körper in die Wirklichkeit hinaussehen,
– zeigt sich bei diesem Sehen nicht, sondern
– kann nur von außen geschaut werden.
In der Systemtheorie oder dem Konstruktivismus wird diese Differenz ale eine zwischen den Beobachtern erster bzw. zweiter Ordnung thematisiert.
Der Naive Realismus geht davon aus, unsere Wahrnehmungen mittels der entsprechenden Urbilder vernünftig erklären zu können. Wir bestreiten das wegen des logischen Zirkels, der in dieser „Erklärung“ notwendigerweise enthalten ist.
Um einen Schritt weiterzukommen und unsere eigene Position besser zu verstehen, lassen wir uns aber nochmals auf das angebliche Abbilden ein. Dann bestehen hinsichtlich unserer Wahrnehmungen theoretisch zwei Möglichkeiten; sie könnten sowohl den Urbildern als auch deren Abbildern entsprechen.
Wären uns die Urbilder selbst in Form der Wahrnehmungen gegeben, benötigten wir weder ein Abbilden noch Abbilder.
Beständen die Wahrnehmungen dagegen in den Abbildern, so läge das Abbilden bereits hinter ihnen. Weder wissen wir etwas davon, noch haben wir abgebildet, denn die Wahrnehmungen sind diesbezüglich das Erste, das uns begegnet.
Bei beiden Denkmöglichkeiten – Wahrnehmungen sind Ur- bzw. Abbilder – gibt es also kein Abbilden. Das eine Mal entfällt es gemeinsam mit den Ab- und das andere Mal gemeinsam mit den Urbildern. Das paßt genau; eine Bild-Sorte fehlt immer, denn wir sehen nie doppelt.
Üblicherweise wird argumentiert:
Schließen wir die Augen, ist die Venus offensichtlich nicht einfach weg; also kann sich in unserer Psyche nur ein Abbild von ihr befinden. Damit ist das Abbilden für den Naiven Realismus unbedingt erforderlich – folglich muß es auch irgendwie vonstatten gehen.
Wir kehren die Logik um:
Weil das Abbilden niemals vorkommt, muß der Naive Realismus, der es unbedingt benötigt, falsch sein.
Bei uns existiert demzufolge . . .
. . . kein Regenbogen, ohne daß wir ihn sehen.
. . . keine Festigkeit, ohne daß wir sie fühlen.
. . . keine Anzahl, ohne daß wir sie zählen oder berechnen.
. . . keine Materie, ohne daß wir sie messen.
. . . keine Seele, ohne daß wir sie fühlen.
. . . kein Geist, ohne daß wir ihn erfahren.
. . . keine Offenbarung, ohne daß wir sie glauben.