2.4.3. Materie ist nur ein Begriff

Nur der Vollständigkeit halber und des besseren Verständnisses wegen erwähnen wir mitunter auch die ideellen Seienden, benötigen für unsere eigenen Überlegungen jedoch hauptsächlich die materiellen; aus zwei Gründen:

 

Zum einen können die allermeisten unserer Zeitgenossen mit Platonischen und ähnlichen Ideen kaum (noch) etwas anfangen. Aber um so sicherer sind sich nahezu alle von uns, daß der physikalische Kosmos objektiv, das heißt, vollkommen unabhängig von uns existiert. Wir müssen nur die Augen öffnen, um ihn zu sehen, und verstehen dieses Repräsentieren (scheinbar) problemlos als ein Abbilden der materiellen Seienden in unserer Psyche.

Ihnen als Lesern ist inzwischen deutlich geworden, daß ich das alles – vorsichtig formuliert – sehr stark bezweifle; aber mir bleibt trotzdem nichts anderes übrig, als zu versuchen, Sie bei diesem traditionell-modernen Denken abzuholen, weil gar nicht so leicht davon loszukommen ist. 

 

Zum anderen müssen wir beachten, was aus den materiellen Seienden wird.

Die ideellen sind schon mit der Moderne verschwunden und durch bloße Begriffe – wie das Gute, die Wahrheit oder Gerechtigkeit beispielsweise – ersetzt worden. Dieser Wechsel setzt sich postmodern bei den materiellen Seienden fort; an ihre Stelle treten in erster Linie die Begriffe der Physik und ihrer Folgedisziplinen. 

Es gibt also insbesondere weiterhin die Wissung oder den Begriff namens „Materie“; aber eben auch nur diese beiden.  

(Die Differenz zwischen Begriff und Wissung überspiele ich jetzt absichtlich, weil sie noch nicht relevant dafür ist, daß Sie mich verstehen können.)

 

Das paßt aber gut zusammen:

Viele Wissenschafts-Gläubige halten die Aussage „Materie existiert“ vielleicht für eine Basis ihres Wirklichkeitsbilds. Postmodern verliert sie jedoch in zweifacher Hinsicht diese traditionell-moderne Funktion:

Zum einen verstehen wir das Wort „existiert“ nicht, und

zum anderen ist Materie nur noch ein Begriff bzw. eine Wissung.

 

In der Postmoderne wird die „physikalische Grund-Frage“, was Materie „wirklich“ sei, wahrscheinlich unverständlich:

„Ich weiß gar nicht, was Sie meinen; ein Begriff natürlich; was sonst?“

AD: „Nein; das ist ausgeschlossen, denn Begriffe können wir nicht angreifen.“ 

Das stimmt; bei Masse, Geschwindigkeit oder Entfernung hatten wir das auch niemals erwartet, aber die Materie spielt – obwohl sie ebenso in die Physik gehört – irgendwie eine Sonderrolle. Worin besteht sie? Was unterscheidet die Materie von (allen) anderen physikalischen Grundbegriffen?

 

Im vorhergehenden Abschnitt hatten wir gesagt, die materiellen Seienden beständen traditonell aus der Einheit von Existenz und Essenz als ihrem harten, weil identischen Kern sowie den veränderlichen oder unveränderlichen Eigenschaften dieser Einheit.

Wir vergessen jetzt einmal kurz unseren naiven Realismus der Moderne und nehmen die ihm zugrundeliegende Philosophie ernst. Nur so läßt sich verstehen, was diesbezüglich bei uns schiefgelaufen sein muß, denn sauber gedacht lassen sich auch die materellen Seienden nicht abbilden:

Existenz und Essenz sind stets und damit auch bei ihnen identisch, können somit nur rein geistig sein und müssen folglich mittels (des Nous resp.) der Vernunft erschlossen werden.

Die Eigenschaften der Seienden liegen natürlich ebenso immer vor wie der harte Kern; sie sind bloß nicht identisch, sondern können sich verändern. Unsere Wahrnehmungen bestehen folglich – nicht in Abbildungen, sondern – in den mehr oder weniger zufälligen aktualen Registrierungen der Eigenschaften bzw. Akzidenzien.

Die Wahrnehmungen bilden, mit anderen Worten, keine verdoppelnden Momentaufnahmen der Eigenschaften, sondern sind zeitliche Bruchstücke der Eigenschaften selbst.

 

Diese Erinnerung an die traditionelle Theorie dürfte uns bei der Materie einen Schritt weiterbringen:

Masse, Geschwindigkeit und Entfernung zum Beispiel sind materielle Seiende bzw. Begriffe, bei denen wir – auch traditionell gedacht – immer schon richtig vorgegangen sind.

Sie

– existieren natürlich für die Tradition,

– aber die Existenz ist ursprünglich keine Eigenschaft der Seienden und

– kann folglich auch niemals wahrgenommen werden.

Wer nach der Existenz von Masse, Geschwindigkeit oder Entfernung sucht, hat demzufolge die traditionelle Philosophie nicht verstanden. 

Bei diesen drei Beispielen hätten wir die Materie als viertes hinzufügen können – und sollen, denn sie unterscheidet sich von den anderen hinsichtlich unserer Überlegungen in keiner Weise

 

Die unbestreitbare Differenz besteht vielmehr in Folgendem:

Auch die Materie

– ist zwar ein materielles Seiendes oder ein postmoderner Begriff,

– aber bei ihr wird der obige Fehler begangen, die Existenz als Eigenschaft mißzuverstehen.

Dadurch besitzt (nur) die Materie mit der Existenz eine Eigenschaft, die

zu Sehungen, Greifungen, Berührungen, Fühlungen, Stoßungen und ähnlichem führen kann. 

Der Fehler des Naiven Realismus besteht also mit anderen Worten darin,

– die Existenz der Materie als eine Eigenschaft von letzterer zu verstehen,

– welche die Materie wahrnehmbar macht,

– so daß unser Sehen, Greifen, Berühren, Fühlen, Stoßen usw.,

– wenn wir es als Abbilden verstehen,

– das Existieren der Materie – im Sinne eines Vorhandenseins – beweisen.  

 

Dadurch wird die Existenz der Materie, die – wie bei jedem anderen Seienden auch – empirisch prinzipiell unerreichbar ist, zu einem bloßen und scheinbar selbstverständlichen „es gibt“.

Insbesondere Emmanuel Levinas polemisiert sehr massiv gegen dieses „il y a“ oder die „unerträgliche Seichtigkeit des Seins“ und weist leidenschaftlich auf die sich daraus zwangsläufig ergebende Verflachung unseres Denken hin.