Die objektive Wirklichkeit der Tradition besteht aus Seienden, die unabhängig voneinander sind und dadurch wie die Elemente einer mathematischen Menge eine Summe bilden. Von jedem Kandidaten kann – theoretisch – eindeutig gesagt werden, ob er der Wirklichkeit angehört oder nicht und damit ob er ein Seiendes bzw. ein Nicht-Seiendes darstellt.
Das setzt freilich voraus, daß die Seienden
– sowohl mit sich identisch
– als auch voneinander verschieden sind.
Joseph Maria Bochénski, ein polnischer Logiker, formulierte letzteres folgendermaßen:
„Die Welt ist voller Nicht-Elefanten.“
Als Subjekte gehören wir selbst diesen Seienden an, was Probleme mit sich bringt, die jedoch – für mich unverständlicherweise – weitestgehend übersehen werden.
Um dies zu verstehen, führen wir den Begriff der Relation oder Beziehung ein und unterscheiden zwischen realen sowie konstruierten Relationen.
Ein Beispiel für erstere wäre die wechselseitige Anziehung von Erde und Mond, während ihr Größenverhältnis nicht den beiden Himmelskörpern selbst zukommt, sondern lediglich von außen an sie herangetragen und damit konstruiert wird.
Zwischen Seienden können beliebig viele solcher Relationen bestehen, aber keine realen.
Ich bestreite damit keineswegs die Massenanziehung, die den Mond um die Erde rotieren läßt; aber sie gehört in die Physik und nicht in die traditionelle Philosophie, für die es keine realen Relationen geben kann, denn
– das sind keine Seienden – weil sie anderes verbinden und folglich nicht mit sich selbst identisch sein können – und
– wenn die realen Relationen zwischen „Seienden“ bestehen, sind das keine Seienden mehr.
Mit der „Wechselwirkung“, die „Erde“ und „Mond“ verbindet, haben wir nicht drei Seiende vorliegen, sonern deren Einheit – { Erde + Wechselwirkung + Mond }.
Was hat das mit uns als den traditionellen Subjekten zu tun?
Sinneswahrnehmungen setzen Wechselwirkungen voraus; ohne sie wären wir zwar Seiende, aber nur blinde, taube, gehör- sowie gefühllose und könnten somit nichts von der objektiven Wirklichkeit wahrnehmen
Insbesondere wäre es völlig belanglos für mich, ob außer mir noch andere Subjekte existieren würden oder nicht – was auch immer das nun bedeuten mag –, denn zwischen
– ihrer Inexistenz und
– meiner Isolation von ihnen
besteht kein Unterschied, der einen Unterschied macht.
Als traditionelle Seiende wären wir Subjekte also
– Solipsisten im Nichts und
– keine „normalen“ Menschen in der objektiven Wirklichkeit.
(„Solipsismus“ kommt von „solus“, „allein“ und bezeichnet eine philosophische Richtung, in der ich mich als einziges Subjekt überhaupt verstehe; wäre ich Solipsist, würde ich also auch Ihre Existenz bestreiten.
Das erscheint Ihnen gewiß als absurd; soweit mir bekannt, gibt es bisher jedoch kein überzeugendes Argument gegen den Solipsismus – aber vielleicht trotzdem keine ernstzunehmenden Solipsisten.)
Unsere Wahrnehmungen beweisen also meines Erachtens recht deutlich, daß wir keine – der objektiven Wirklichkeit angehörenden – Seienden oder Subjekte sind.
Die großen traditionellen Denker in Antike und Mittelalter haben das natürlich ebenfalls erkannt. Sie wollten das Problem lösen, ohne ihr Wirklichkeitsbild zu korrigieren. Dazu erfanden sie mit dem Nous einen Gott oder „Weltgeist“ (Hegel), der der objektiven Wirklichkeit nicht als Seiendes angehört – und folglich wie wir auch mit Blindheit geschlagen ist –, sondern die Wirklichkeit von außen schauen kann.
Bei Pascal wurde aus dem Nous der „Gott der Philosophen“ und bei Thomas Nagel der „Blick von nirgendwo“; „sowie nirgendwann“ würde ich gerne ergänzen. Der Name tut aber nichts zur Sache; entscheidend ist allein, daß sich der traditionelle Ansatz nicht mit unseren Wahrnehmungen vereinbaren läßt.
In der Moderne müssen wir – meines Erachtens richtigerweise – leben, „als ob es Gott nicht gäbe“ (Dietrich Bonhoeffer). Dafür genügt es aber keineswegs, „Gott“ rein formal in eine „objektive Vernunft der Menschheit“ umzutaufen, somit alles beim alten zu lassen und trotz der Ungereimtheiten locker „weiterzudenken“.