2.4.6. Das Sehen ist irreführend II

Dort steht ein Herd; er befindet sich inmitten des Raumes, ist aus Eisen und heiß, so daß er sich unmöglich in unserer Psyche befinden kann. Natürlich nicht; das Problem haben wir ja schon lange gelöst:

Das soeben Angedeutete ist traditionell der wirkliche Herd als Urbild oder Seiendes. Nur ein Abbild(P)  davon gehört unserer Psyche an und repräsentiert den Herd.

 

Wir laufen unachtsam durch die Küche und stoßen oder verbrennen uns an ihm. Woran genau; am Ur- oder Abbild(P) des Herdes? 

Letzteres scheidet sofort aus, weil wir uns an – dem „Inhalt“ – der Psyche weder stoßen noch verbrennen können.

Bleibt nur das Urbild des Herdes, an dem sich – nicht unsere Psyche, sondern – unser Körper stößt und verbrennt.

 

Aber auch das ist wieder zweideutig; stößt sich das Ur- oder das Abbild(P) unseres Körpers am Urbild des Herdes? 

Da sich auch das Abbild(P) des eigenen Körpers nur in unserer Psyche befinden kann, ergibt sich zwingend:

Das Urbild unseres Körpers stößt und verbrennt sich am Urbild des Herdes.

 

Die beiden zugehörigen Abbilder werden also gar nicht benötigt.

Wir trinken auch kein Abbild des Bieres, riechen kein Abbild des Parfüms, fahren kein Abbild des Autos und bauen kein Abbild des Hauses. Das ist auf der einen Seite alles so selbstverständlich, daß ich mir fast nicht getraue, es hier aufzuzählen.

Und trotzdem beschleicht mich auf der anderen Seite das Gefühl, es tun zu müssen, weil wir (fast) alle überzeugt sind, Abbilder der Seienden in unserer Psyche zu haben. 

 

Wir kommen dem Grund dieses Widerspruchs näher, wenn wir die Bezeichnungen „Ur-“ bzw. „Abbilder“ wörtlich nehmen: Es sind Bilder, und die gibt es nur beim Sehen.

Damit ist unser Problem noch nicht gelöst, aber es wird zunächst einmal nachvollziehbar, daß auf der einen Seite das Sehen ganz allein dem Stoßen, Verbrennen, Trinken, Riechen, Fahren, Bauen usw. auf der anderen gegenübersteht. Nun müßten wir lediglich noch klären, weshalb es sich so verhält.

 

Kommen wir dazu auf unseren Herd zurück; er steht wirklich dort, und es liegt mir fern, dies zu bestreiten. Ich verstehe ihn lediglich anders als die Tradition.

Sie

– macht den Herd zu einem Seienden,

– das im Sehen abgebildet wird,

– wozu die Psyche erforderlich ist.

Wir

– betrachten den Herd als eine Herd-Sehung,

– die sich im Raum befindet,

– weil das Sehen den Raum erzeugt.

 

Ich wäre überrascht, würde die letzte Zeile Sie nicht arg verwundern; sie ist jedoch ganz ernst gemeint. Deutlich wurde mir diese Erkenntnis erstmals durch einen Artikel von Heinrich Rombach; er schrieb dort unter anderem:

Wir sehen nicht den Baum dort, sondern

wir sehen dort – alles; zum Beispiel auch diesen Baum.

Das Dort-Sein ist

– nicht die Eigenschaft des Baumes, sich im Raum zu befinden, sondern

– die Eigenschaft des Sehens, den Raum hervorzubringen.

Alles, was wir sehen, gehört dem Raum an, weil oder dadurch, daß wir es sehen.

Insoweit wir ein Subjekt sehen, muß es sich also im Raum befinden; dieses Teilstück des Subjekts ist sein Körper. Aber ob, wie und wie weit ein Subjekt über seinen Körper hinausgeht, bleibt natürlich unsichtbar.

 

Es ist meines Erachtens kein Zufall, daß Kant den Raum als Anschauungs– und nicht als Wahrnehmungsform verstanden hat. Dem Sehen kommt unter all unseren Tätigkeiten sowohl traditionell als auch postmodern eine Sonderrolle zu:

Traditionell leben die Subjekte als Körper im Raum und benötigen für das Sehen den Nicht-Raum der Psyche, um ihre Abbilder(P) unterzubringen.

Postmodern leben wir Subjekte im Nicht-Raum und erzeugen durch das Sehen den Raum.

 

Traditionell stellt man sich den Raum als ein leeres Seiendes vor, in dem sich die gefüllten immanenten oder physikalischen Seienden befinden.

Entsteht der Raum jedoch erst durch das Sehen, müssen wir diese Sichtweise korrigieren; dann sind die Sehungen primär, und der Raum ist lediglich der Zwischen-Raum zwischen ihnen.

AD: „Dann gibt es ohne uns auch keinen Raum; das ist schon wieder ein Punkt, der für Ihren Ansatz spricht, alles von unserem Leben her zu verstehen . . .

Demzufolge muß die traditionelle Identifizierung der Subjekte mit ihren Körpern falsch sein:

Letztere gehören dem Raum an, der jedoch erst durch das Sehen entsteht.

Sind die Subjekte dessen Träger, müssen sie also notwendigerweise nicht nur vor ihren Körpern existieren, sondern auch bereits ohne diese sehen können.“ 

 

Sehr schön; und ich habe noch ein zweites, in meinen Augen ebenfalls sehr starkes Argument gegen die traditionelle Überzeugung, wir seien unser Körper:

Sie ist schon rein logisch falsch, weil widersprüchlich. 

Ich kann nur von meinem Körper sprechen und mich damit zu seinem Besitzer erklären, wenn ich nicht mit ihm zusammenfalle, sondern ihn nur habe; A besitzt niemals A.

Natürlich habe ich meinen Körper anders als ein Auto; dieser Unterschied läßt sich vielleicht recht gut durch die Verfügbarkeit erklären. Der eigene Körper ist weitgehend unverfügbar, während alles andere, was wir sonst noch haben, im allgemeinen sogar ausgetauscht werden kann.

Innerhalb von allem, was wir haben, ist unser eigener Körper eindeutig ausgezeichnet; wir verwechseln ihn niemals mit einem anderen. Das ergibt sich nicht zuletzt daraus, daß ohne ihn auch alles andere entfällt, was wir sonst noch haben.  

 

AD: „Beide Argumente scheinen mir sehr stark zu sein – obwohl sie sich widersprechen:

Mein Körper ist – der ersten Überlegung zufolge – nicht der Wahrnehmende, und dennoch verschwinden – gemäß der zweiten – mit ihm alle Wahrnehmungen, die ich als Subjekt habe.“

Dieser Widerspruch ist nicht zwingend. Ich hatte oben geschrieben:

„Insoweit wir ein Subjekt sehen, muß es sich also im Raum befinden; dieses Teilstück des Subjekts ist sein Körper. Aber ob, wie und wie weit ein Subjekt über seinen Körper hinausgeht, bleibt natürlich unsichtbar.“

Der Widerspruch, den Sie mit Recht feststellen, löst sich auf, wenn

– das Subjekt eine Komponente außerhalb des Raumes besitzt, die

– für sämtliche Wahrnehmungen zuständig ist bzw. deren Träger bildet, und

– der Körper dabei (nur) als notwendige – aber eben nicht hinreichende – Voraussetzung dient.

Das muß in dieser Kurzfassung wohl unverständlich bleiben, und wir werden ausführlich darauf zurückkommen. Ich wollte Sie jedoch nicht im Regen stehen lassen, denn man kann unmöglich Widersprüchliches mit Interesse lesen.   

 

AD: „Danke; Ihr Hinweis genügt mir auch vorerst; aber ich habe immer noch Schwierigkeiten mit Ihrem Gedanken, daß es ohne das Sehen keinen Raum geben soll. Das kann meines Erachtens nicht stimmen, denn auch das Tasten, Hören oder Schnuppern erfolgen räumlich; Schmerzen können ziehen, pochen, stechen, ausstrahlen, in die Tiefe gehen usw.“

Sie haben nicht nur Recht, sondern intuitiv meine Antwort schon vorweggenommen:

Ich bleibe dabei: nur das Sehen erzeugt den Raum.

Nichtsdestotrotz können sehr viele andere Formen des Wahrnehmens räumlich sein.

Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn wir uns klarmachen, daß für das Räumliche kein Raum benötigt wird.

 

Die einfachste Begründung besteht vielleicht in der Einsicht, daß der Raum, aber nicht das Räumliche Dimensionen besitzt und die beiden folglich unabhängig voneinander sind.

Haben wir gestern zu viel getrunken, umhüllt heute möglicherweise eine räumliche, jedoch nicht dreidimensionale bleierne Schwere unseren Kopf. Lehnen wir uns an einen Baum, stößt sie nicht an, sondern geht problemlos hindurch; diese Schwere ist zwar nur endlich, kennt folglich aber dennoch keine Grenzen – ganz anders, als das im Raum wäre.

Analoges gilt auch für Phantomschmerzen. Schieben wir einen Amputierten mit seinem Rollstuhl so an die Wand, daß das räumlich gefühlte, im Raum aber fehlende Bein sie durchdringen müßte, merkt der Kranke die Wand gar nicht.

Beide Effekte wären nicht möglich, würde sich das Räumliche in den Dimensionen des Raumes befinden.