2.4.1. Sein ist kein Prädikat

Die Philosophen versuchen seit zweieinhalb tausend Jahren zu klären, was „existieren“ bedeutet. Andere Worte – wie „sein“, „es gibt“, „bestehen“, „vorhanden-“ oder „wirklich-sein“ – liefern keine Antworten, sondern benennen das Fragliche nur um. Spätestens Kant zeigte recht deutlich, daß eine Antwort auch gar nicht möglich ist, weil „die Existenz kein Prädikat (keine Eigenschaft) darstellt“, heißt es bei ihm explizit.

Wir benutzen diese Worte nahezu ununterbrochen – und niemand versteht sie. Natürlich nicht; wie soll man denn eine objektive Wirklichkeit verstehen, die vollkommen unabhängig von uns existiert und dies somit auch ohne uns tun würde?

Unsere diesbezüglichen Erläuterungsversuche erklären nichts, sondern laufen nur auf bloße Steigerungen oder Beteuerungen hinaus; „wirklich existent“, „vorhanden-seiend“ oder „ganz wirklich“.

 

Kants Argumentation ist sehr abstrakt; aber ein wenig können wir auch ohne seine Hilfe einsehen, daß die Wirklichkeit prinzipiell nicht verstanden werden kann. Ich möchte jedoch nochmals betonen, daß es uns hierbei nicht um die Frage geht, ob dieses oder jenes wirklich ist, sondern um die viel grundsätzlichere, was das Wirkliche vom Unwirklichen – und damit vom Nichts – unterscheidet.

Unsere normale Logik ist zweiwertig, weil sie sich allein auf Aussagen bezieht, die stets negiert werden können und somit entweder richtig oder falsch sind; tertium non datur.

Dadurch entsteht die duale Struktur unseres Wirklichkeits-Bilds, die zu jedem A ein non-A kennt, von denen jeweils genau eines richtig sein muß. Entweder ist die Erde eine Kugel, oder sie ist keine.

„A gehört zu B“ ist für sämtliche A bzw. B ebenfalls eine Aussage und muß folglich richtig oder falsch sein. Im ersteren Fall ordnen wir das A dem B unter, im letzteren nicht, und so entsteht eine Hierarchie, die oben im Allgemeinsten oder Umfassendsten ausläuft, dem alles zugehört.

Die zweiwertige Logik führt also ganz automatisch zu einer hierarchischen Struktur.

 

In der Vormoderne glaubten die Philosophen und Theologen, mit ihrem Denken das Sein oder die Wirklichkeit selbst zu erreichen, so daß die hierarchische Struktur zur Seins-Pyramide wurde, an deren Spitze natürlich Gott stand.

In der Moderne wuchs dann immer stärker die Überzeugung, daß die hierarchische Struktur nichts mit dem Sein oder der Wirklichkeit zu tun hat, sondern lediglich das Resultat unserer zweiwertigen Logik bildet. A, B, C . . . sind dann keine Seienden mehr, sondern werden zu Begriffen.

Würden wir eine mehrwertige Logik benutzen, wüßten wir also etwas ganz anderes – möglicherweise vollkommen unabhängig von dem Sein bzw. der Wirklichkeit.

 

Mit einer mehrwertigen Logik können und brauchen wir uns nicht zu beschäftigen; die einwertige ist jedoch wichtig.

Orientalische Schwerter standen lange Zeit hoch im Kurs, weil sie sehr hart und dadurch scharf waren. Der gute Schmied bearbeitete sie perfekt im Feuer und stieß sie dann glühend heiß einem Sklaven in den Körper.

So geht es; mit dieser einwertigen Praxis erzeugt man die besten Schwerter. Daß es funktioniert, läßt sich sogar sehr leicht erklären: Die Lebenskraft des toten Sklaven geht auf das Schwert über.

Später wurde klar, daß zum Härten kein Blut benötigt wird, sondern Öl oder Wasser genügen, weil es allein um das Abschrecken geht. Das ist aber nicht der Übergang zur zweiwertigen Logik, sondern zu einer anderen Praxis – und die ist als solche immer einwertig.

 

Die Einwertigkeit bedeutet, daß keine Alternative besteht.

Dasjenige, zu dem keine Alternative besteht, können wir nicht wissen, denn Wissen heißt Unterscheiden (sofern es einen Unterschied macht).

Zur Wirklichkeit besteht keine Alternative, denn das Nichts ist keine, sondern nichts; deswegen stellen das Sein oder die Wirklichkeit kein Prädikat dar.

 

Das paßt natürlich haarscharf zu meiner Grundidee:

Von all dem, was angeblich außerhalb meiner Psyche existiert, vorhanden oder wirklich ist, kann ich prinzipiell nicht(s) wissen.

Natürlich nicht; wir verstehen doch nicht einmal, daß es – welches Ding auch immer – existieren, sich dort befinden, vorhanden oder wirklich sein soll.

Wer also behauptet, außerhalb seiner Psyche gäbe es ein A – Zeus zum Beispiel –, kann sich also nicht täuschen, weil es „in Wirklichkeit“ B ist – Wotan vielleicht –, sondern hat gar nichts gesagt, denn wir verstehen weder das eine noch das andere, weil das Wort „Existenz“ sinnleer ist. Selbst wer ganz genau weiß, worin Zeus und Wotan bestehen, hat keine Ahnung davon, was es bedeuten soll, daß sie sich außerhalb unserer Psyche befinden sollen.

Meine ich also, daß A dort existieren würde, dürfte das keinen Widerstreit auslösen, indem einige es ablehnen oder A durch B ersetzen möchten; ich habe doch nur geplappert, weil sich unter meinen Worten  indestens ein leeres befand.

 

Da die Philosophen sowie Theologen in Antike und Mittelalter überzeugt waren, unser Denken würde irgendwie eine Einheit mit dem Sein bilden – „Denken ist Sein“ war ein geflügeltes Wort –, konnten sie die Wirklichkeit oder Existenz noch als eine Eigenschaft verstehen.  

Krokodile gibt es; sie haben 1000 Eigenschaften, und eine von ihnen besteht in ihrer Existenz.

Drachen besitzen ebenfalls 1000 Eigenschaften, aber die Existenz ist nicht darunter; deswegen gibt es sie nicht.

Ein solches Denken ist uns nicht mehr möglich; es handelt sich um exakt das gleiche Geld – unabhängig davon, ob wir es besitzen oder nicht; das wollte Kant mit seinen „100 Talern“ plausibilisieren.

 

Damit entfällt auch eine – etwas simple, aber wohl dadurch – weit verbreitete Interpretation des „ontologischen Gottesbeweises“ (Anselm von Canterbury):

Ein vollkommener Gott, der existiert, hat mit seiner Existenz eine positive Eigenschaft mehr, als exakt dieser gleiche „fast vollkommene“ Gott, der nicht existiert.

Anselm definiert Gott „als das vollkommenste aller Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann„.

Angenommen wir denken uns ein großartiges und absolut vollkommenes Wesen nahezu ohne jeden Makel – bis auf einen einzigen: Es existiert leider nicht.

Dann ist es jedoch nicht das vollkommenste Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann, denn das gleiche Wesen wäre auch existent denkbar.

Gott – als das vollkommenste Wesen, über das hinaus tatsächlich nichts Vollkommeneres mehr gedacht werden kann – muß also notwendigerweise existieren, denn ansonsten wäre er nicht das vollkommenste Wesen.

 

Natürlich ist das für uns kein Beweis.

Zum einen würde ich Anselms Definition korrigieren. Gott ist nicht „das vollkommenste aller Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann“, sondern er ist vollkommener als alles, was gedacht werden kann.

Aber zum anderen sind diese Definitionen auch völlig sekundär, denn sie setzen einen seinenden Gott voraus; „einen Gott, den es gibt„, in der Sprache Dietrich Bonhoeffers, und „den gibt es nicht“.