2.5. Die objektive Wirklichkeit als Hinterwelt

Die objektive Wirklichkeit bildet eine Hinterwelt, weil traditionell Denkende mit ihr etwas zu wissen behaupten, was – da außerhalb der Psyche befindlich – prinzipiell niemand wissen kann und sich damit in einen Widerspruch verwickeln.

AD: „Also kann es auch kein Unbewußtes geben?“ 

Doch; ganz im Gegenteil; das muß sogar existieren.

Es besteht im Wirken unseres Wirklichkeitsbildes, und das zu negieren, würde bedeuten, daß selbst erschreckende oder beflügelnde Wissungen uns nur dann beeinflussen könnten, wenn wir gerade an sie denken; eine solche Annahme wäre offensichtlich geradezu absurd.   

Der Fehler der Tradition besteht also nicht darin, ein Außerhalb der Psyche anzunehmen, sondern erst in der widersprüchlichen Annahme, von ihm wissen zu können.

 

AD: „Die Vertreter der Postmoderne setzen sich überall für Toleranz, Vielfalt, Harmonie, Pluralismus, Gesprächsbereitschaft und dergleichen ein. Das geht soweit, daß ihnen von traditionell-konservativer Seite ein ‚Abschied von der Wahrheit‘ oder eine ‚Diktatur des Relativismus‘ vorgeworfen werden.

Da überrascht mich Ihre Überschrift trotz der Klärung soeben doch ein bißchen: Wenn Sie die objektive Wirklichkeit als Hinterwelt betrachten, bedeutet dies doch, daß der postmoderne Spaß spätestens hier endet. Wer daran glaubt, darf nicht länger mitspielen.“  

 

Nein; das wäre ein völliges Mißverständnis:

Die Toleranz der Postmoderne allen – (natürlich) menschlichen, freiheitlichen, demokratischen, friedlichen . . . – Wirklichkeitsbildern gegenüber, ist nur möglich, wenn wir auf sämtliche – Behauptungen von – Hinterwelten verzichten. Was Sie als leidige Grenze der postmodernen Offenheit geschildert haben, bildet also in Wirklichkeit ihre notwendige Voraussetzung und ermöglicht erst die Freiheit als Verantwortung, die nach meinem Dafürhalten im Zentrum der Postmoderne steht.

Meine Begründung erweist sich als denkbar einfach:

Wenn es eine objektive Wirklichkeit gäbe, sollten sich unsere Wirklichkeitsbilder auf diese beziehen, so daß letztere mehr oder weniger richtig und sogar völlig falsch sein könnten. Wer sich im Besitz eines adäquaten Abbilds wähnt, wird kaum sonderlich tolerant sein und die ihm vielleicht unverständliche Selbstbestimmung seiner anders – und somit eo ipso falsch – abbildenden Mitmenschen achten (können). Die Andersgläubigen müssen ja entweder naiv bzw. dumm oder böse sein.

Toleranz bedeutet dann nicht, sie mit ihren Überzeugungen als gleichwertige Subjekte anzuerkennen, sondern ihnen auf Teufel komm raus zur richtgen Einsicht zu verhelfen.

 

Das Fehlen einer objektiven Wirklichkeit beendet also nicht den postmodernen Spaß, um Ihre Formulierung aufzugreifen, sondern ermöglicht ihn erst.

Er endet dort, wo irgendwelche Menschen der postmodernen Offenheit widersprechen und hinterwäldlerisch beanspruchen, über richtiges Wissen von einer angeblichen objektiven Wirklichkeit zu verfügen, dem sich alle anderen unterzuordnen haben.

Beweist die Geschichte nicht hinreichend deutlich, daß ein solcher angemaßter Besitz der „Wahrheit“ immer wieder die schlimmsten Verbrechen – in der Politik, Wirtschaft, Religion, im Alltag oder wo auch immer – zu rechtfertigen scheint?

 

Die objektive Wirklichkeit bildet eine Hinterwelt, und das völlig unabhängig von ihrer konkreten Gestaltung.

In Antike und Mittelalter bestand sie in der Einheit von Immanenz und Transzendenz.

Während der Moderne setzte sich immer stärker der Gedanke durch, daß letztere eine bloße Hinterwelt sei und wir uns auf die naturwissenschaftliche Seite der Immanenz konzentrieren sollten, die (dadurch) immer mehr zum physikalischen Kosmos degenerierte.

Das nannte sich wohl „Aufklärung“, brachte aber sehr viel Polemik ins Spiel. Der antik-mittelalterliche Absolutheitsanspruch der Religion wurde – zu Recht – beseitigt, aber – zu Unrecht – durch den der exakten Wissenschaften ersetzt.

 

In der Postmoderne entsteht möglicherweise wieder eine fruchtbare Balance, weil nun die gesamte objektive Wirklichkeit als Hinterwelt durchschaut wird; die diesseitige ebenso wie die jenseitige.

Ich erhoffe mir hiervon eine wirkliche Aufklärung, das heißt, eine Aufklärung über die „Aufklärung“, die durch die Einsicht, daß wir uns keinerlei – weder religiöser noch wissenschaftlicher – Fremdbestimmung zu unterwerfen haben, zur eigenen Selbstbestimmung befreit.

 

Hinterwäldlerisch sind also niemals die jeweiligen konkreten Vorstellungen oder Überzeugungen, sondern hinterwäldlerisch ist allein die Annahme, von einer objektiven Wirklichkeit zu wissen; von welcher auch immer. Wer deren Materie im Auge hat, ist folglich keinen Deut aufgeklärter als derjenige, der vom objektiv-wirklichen Teufel spricht.

AD: „Ich darf also an nichts mit Sicherheit glauben oder von keiner Entität fest überzeugt sein, denn ich würde auf diese Weise hinterwäldlerisch und mich damit von jedem vernünftigen Diskurs verabschieden?“

Nein; das wäre ja furchtbar, würde ich dergleichen – Absurditäten – behaupten!

Ob wir etwas und gegebenenfalls was wir subjektiv mit 100%-iger Sicherheit glauben, spielt überhaupt keine Rolle. Wir könnten uns beispielsweise todsicher sein, daß es sowohl Materie als auch eine Evolution gibt oder Gott mit seinem Hofstaat von Engeln und der Teufel nebst Unterteufeln existieren. Es wird kaum etwas Widerspruchsfreies geben, das wir nicht für selbstverständlich halten dürften.

 

Die Begründung für unseren möglicherweise tiefen Glauben müßte dabei jedoch sinngemäß stets etwa folgendermaßen lauten:

„Aufgrund meines bisherigen Lebens ergibt sich für mich zwingend, daß es sich so verhalten muß; ich kann gar nicht anders denken, will ich mir nicht selbst widersprechen, unvernünftig sein, mich absichtlich dumm stellen oder selbst belügen.

Aber hier geht es nur um meine subjektiven Überzeugungen. Ich will wahrhaftig sein – und sage deswegen ganz ehrlich, wie ich es sehe; mehr ist gar nicht möglich und vermag niemand. Wir können uns gegenseitig um Wahrhaftigkeit bitten, aber von niemandem die Wahrheit erwarten.

Ich beanspruche für meine Überzeugung also weder Richtigkeit noch Wahrheit und erwarte somit auch nicht, daß Ihr Euch mir anschließt.

Das Lutherische ‚Hier stehe ich und kann nicht anders‘ trifft meine Situation recht gut.“

 

Ohne den Glauben an eine objektive Wirklichkeit können wir völlig problemlos die offensichtliche Tatsache anerkennen, daß Kinder und Erwachsene, Soziahilfeempfänger und Manager, Christen und Muslime sowie um Regen tanzende Hopiindianer oder atheistische Abendländer, psychisch „Kranke“ sowie Nobelpreisträger mit ihren jeweiligen subjektiven Wirklichkeiten leben, zwischen denen wohl häufig keinerlei Berührungspunkte bestehen.

Nietzsche wußte das schon lange vor uns und schrieb am Ausgang der Moderne, daß „die wahre Welt zur Fabel geworden ist“; damit natürlich auch jede unwahre. Das führt zu dem postmodernen Pluralismus der subjektiven Welten, den wir heute alle bereits erleben, der aber erst am Anfang seiner Entfaltung stehen und sämtliche „Bastionen einer objektiven Wirklichkeit oder Wahrheit“ hinwegfegen dürfte.

Ob wir die Heraufkunft dieses Pluralismus begrüßen oder bedauern und die damit verbundenen neuen Freiheiten feiern oder den verlorenen Gewißheiten nachtrauern, spielt dabei keine Rolle, weil die Geschichte irreversibel ist, so daß ohne Katastrophen wie Kriege, Umweltzerstörung, Genmanipulation, Gehirnwäsche, Diktaturen usw. die eindimensionale – Naivität der – Tradition (zum Glück) nicht wiederkehren wird.

Ein Hinter-die-„Aufklärung“-zurück kann sich ohnehin niemand wünschen, dem die (subjektive) Vernunft und Freiheit als die Grundlagen der Menschenwürde sowie ein erfülltes Leben wichtig sind.

 

Behaupten wir in einem Disput, die eigene Überzeugung sei wahr, dann ist das kein – weiteres – Argument für unsere Position, sondern lediglich die unseren Gesprächspartner beleidigende Behauptung, daß seine Überzeugung falsch sein muß, insoweit sie der unsrigen widerspricht.

Krass ausgedrückt bedeutet „Ich sage die Wahrheit“ im Sreitgespräch das Gleiche wie „Sie irren – und irgendwann ist meine Geduld mit Ihnen am Ende“.

Wer so redet, sehnt sich nicht nach Wahrheit, sondern will Recht haben. Denn wer die Wahrheit sucht, kann nicht behaupten, sie (bereits) zu haben; entweder . . ., oder . . .

 

Wir können bestenfalls – und sollten natürlich auch – wahrhaftig sein; das heißt, im Sinne unserer eigenen Überzeugungen leben und damit ohne alle diesbezüglichen Wahrheitsansprüche das sagen, was wir wirklich glauben oder denken und auch dementsprechend handeln.

Christen, die sich im Besitz der Wahrheit wähnen, erwarten vom Reich Gottes lediglich die – lobhudelnde – Bestätigung, daß Sie Recht hatten; das wäre meines Erachtens entsetzlich wenig und grauselig langweilig.

Ich bin dagegen überzeugt, daß wir in unserem ganzen irdischen Leben keine Wahrheit finden können, aber nichtsdestotrotz Suchende bleiben sollen und hoffe, daß das Reich Gottes uns mit seiner Wahrheit trotz aller Suche noch umwerfen wird.

Es würde mich furchtbar enttäuschen, wäre Gott nicht unendlich viel mehr und absolut Besseres eingefallen als mir.

 

Daß wußte schon Lessing vor bald 300 Jahren, und weil er mir aus der Seele spricht, zitiere ich ihn ausnahmsweise einmal recht ausführlich:

„Wenn mir in der einen Hand die Wahrheit, in der anderen das Streben nach ihr geboten würde und ich wählen müßte, ich würde das letztere wählen, und des Apostels Aufforderung lautet: Prüfet alles! Ohne Prüfung kann man nicht erfahren, ob der Geist, der in uns spricht, und die Geister, die zu uns reden, aus Gott sind oder nicht. Nur durch redliche von reiner Liebe zur Wahrheit ausgehende Prüfung wird sie allmählich unser Eigentum.

Darum fühlen wir uns zu dem hingezogen, der uns zur Prüfung seiner angeblichen Wahrheit auffordert, und wenden uns von dem ab, der uns seine Wahrheit aufdrängen will. Ein solcher erweckt mit Recht in uns das Vorurteil, daß er selbst nicht an die Wahrheit seiner Lehren glaube.

Denn die Wahrheit kann durch Prüfung nur gewinnen; die Wahrheit besteht in der bestandenen Prüfung, die Lüge und der Wahn aber verschwinden durch sie. Wer daher die Prüfung vorgeblicher Wahrheiten scheut und verhindern will, ist kein Freund der Wahrheit, sondern ihr Feind.

Kein Mensch auf Erden hat daher Ansprüche auf sogenannte Untrüglichkeit. Wer als unbedingte Autorität gelten will, wird daher verworfen.“

 

Sie sagten zu Beginn dieses Kapitels: „Wer an eine objektive Wirklichkeit glaubt, darf nicht länger mitspielen.“ Selbst diese Formulierung ist also noch zu einschneidend; Sie dürfen sogar an eine objektive irklichkeit glauben.

Nehmen wir als Beispiel das heute herrschende evolutive Weltbild mit Urknall und reinem Physikalismus. Es könnte Ihnen so überzeugend erscheinen, daß Sie sagen: „Das ist es! Ich glaube ganz fest, daß dieses Weltbild die objektive Realität adäquat wiedergibt, und danke den Physikern für ihre großartige Umsicht. Daß J. S. die Existenz dieser objektiven Realität bestreitet, ist mir doch gleichgültig; dann täuscht er sich eben.“ 

Denken Sie so, kann ich 100%-ig mitgehen: Sie stellen sich eine bestimmte Art von objektiver Wirklichkeit vor und glauben daran. Das ist völlig unproblematisch, denn wir können uns (nahezu) alles Widerspruchsfreie vorstellen und natürlich auch die eigenen Vorstellungen glauben. 

Das gilt selbstverständlich auch für die objektive Wirklichkeit; bei ihr kommt sogar noch hinzu, daß wir den Zusammenhang in diesem Fall auch umkehren können:

Sie ist das, was sich nur vorstellen und glauben läßt.

 

Und damit sind wir wieder bei dem einzigen „Verbot“, dessen Übertretung uns in die Hinterwelt führt:

Sie dürfen nicht behaupten, die objektive Wirklichkeit erkannt bzw. abgebildet zu haben und dadurch von ihr zu wissen; erst durch diese widersprüchliche Zusatzannahme würde sie zu einer Hinterwelt.

Nun also endgültig:

Der postmoderne Spaß endet nicht, wenn Sie (an) eine objektive Wirklichkeit glauben, sondern erst, falls Sie

– diese als adäquat abgebildet,

– somit als erkennbar und

– folglich auch intersubjektiv verbindlich

behaupten.

 

Damit muß ich auch meine bisherige Ausdrucksweise nachträglich ein wenig relativieren, behalte sie aber der Deutlichkeit halber bei:

Wenn wir keinerlei Zugang zum Außerhalb unserer Psyche besitzen, kann ich natürlich auch nicht erkennen, daß keine objektive Wirklichkeit existiert

AD: „Also steht es zwischen Ihnen und den modernen Traditionalisten 1 : 1; letztere glauben (an) die objektive Wirklichkeit und Sie nicht.“

Möglicherweise „ja“; das ging aber jetzt etwas zu schnell, denn wir müssen zwei Fälle unterscheiden.

 

Wenn die modernen Traditionalisten nur sagen, es gäbe eine objektive Wirklichkeit ohne deren Form zu konkretisieren, haben Sie mit Ihrem 1 : 1 theoretisch Recht.

Praktisch erhebt sich in diesem Fall jedoch die Frage, worin eigentlich der Unterschied zwischen der Existenz bzw. Nicht-Existenz einer vollkommen unbekannten objektiven Wirklichkeit bestehen soll. Ist das tatsächlich ein Unterschied, der einen Unterschied macht?

 

Legen sich die traditionell Denkenden jedoch auf eine spezielle Realität fest, stimmt das 1 : 1 nicht mehr, weil ihr Glaube möglicherweise zu spezifischen Konsequenzen für unser Leben führt. Beispielsweise könnten Kühe heilig, der Koran wörtlich inspiriert und unser Leben durch die Naturgesetze oder den Willen Gottes determiniert sein. 

Wer etwas Spezielles oder Konkretes behauptet, steht in der Beweispflicht; nicht der staunende Gesprächspartner.

Daß gerade Kühe heilig sein sollen, müßte von den Gläubigen begründet und braucht nicht von uns Ungläubigen widerlegt zu werden. Es beweist (meines Erachtens) auch niemand, weshalb Flöhe – angeblich – nicht heilig sind.

 

Unsere Vorfahren haben Wege gefunden, Oliven genießbar zu machen; das ist bei dieser Frucht nicht selbstverständlich, sondern eher ein kleines Wunder. Und das, sagen die Mythen, verdanken wir der Göttin Athene, die uns Menschen gelehrt hat, die Oliven entsprechend aufzubereiten.

Wer diese dem traditionellen Denken entsprechende Erklärung für richtig hält, dem kommt eine Begründungspflicht zu.

Mit dem bloßen Ablehnen dieses Mythos vertreten wir jedoch keine ebenso konkrete gegenteilige Meinung, sondern distanzieren uns lediglich von dem Mythos. Weder bedarf das einer Rechtfertigung, noch bedeutet es, sich um eine andere Erklärung bemühen zu müssen; die Athene-Geschichte interessiert uns doch vielleicht gar nicht.

 

Solange es, anders formuliert, um unsere subjektive Wahrhaftigkeit und nicht um eine angebliche objektive Richtigkeit geht, sind wir absolut nicht hinterwäldlerisch, wie „hinterwäldlerisch“ auch immer unsere Überzeugungen sein mögen.

Dann sagen wir jedoch auch nicht „so ist es“; diese traditionelle Anmaßung entspricht dem Hinterwäldlerischen.

 

AD:  „Und sie entspricht dem Sein-Wollen-wie-Gott?“

Ich glaube „ja“. Ohne das traditionelle Denken ist ein objektiver Wahrheits- oder Richtigkeitsanspruch gar nicht möglich; es bildet eine notwendige Voraussetzung dafür, muß aber nicht zu ihm führen. Menschen können traditionell denken und sich dennoch ganz bescheiden weit entfernt von jeder Richtigkeit wähnen.

Wer jedoch den Anspruch erhebt, die objektive Wirklichkeit zu kennen,

– will sein wie Gott,

– ist aber hinterwäldlerisch.