AD: „Auf der einen Seite kann ich Ihre Position, daß die objektive Wirklichkeit wegen ihrer prinzipiellen Unerreichbarkeit lediglich eine willkürlich behauptete Hinterwelt bildet, sehr gut verstehen und finde sie nahezu zwingend.
Auf der anderen Seite will ich aber nicht glauben, daß die überwiegende Mehrzahl der Menschen in Antike, Mittelalter und Moderne das nicht gesehen haben soll und wir letztlich auf die Postmoderne warten mußten, um es zu erkennen. Dann wären die Postmodernen die Krone der Menschheit, und das würde – so wie ich Sie verstehe – Ihren eigenen Intentionen diametral zuwiderlaufen.“
Da gehen wir völlig d’accord, und mir ist es wichtig, jeglichen Verdacht, ich könnte unsere Vorfahren als nicht sonderlich intelligent einschätzen, weit von mir zu weisen. Hiermit gewinnt Ihr Einwand jedoch nochmals an Gewicht:
Wie ist es möglich, daß kritische Geister durch viele Jahrhunderte hindurch eine offensichtliche Hinterwelt nicht als eine solche durchschauen und ablehnen, sondern als objektive Wirklichkeit glauben?
Ich denke, das ist gar nicht so schwer zu verstehen.
Antike und Mittelalter waren zutiefst christlich geprägt und verstanden von daher den Menschen als Ebenbild Gottes. Diese Beziehung führte bei vielen der damaligen Philosophen und Theologen zu der Annahme, daß wir Menschen am unendlichen Geist Gottes teilhaben (können).
Einzelne Denker warnten vor problematischen Vereinfachungen; Blaise Pascal zum Beispiel legte Wert auf die Feststellung, daß es den Nous wohl geben mag, er aber nicht automatisch mit dem Gott des christlichen Glaubens gleichgesetzt werden dürfe.
Ob nun gerechtfertigt oder nicht; es ist nachvollziehbar, daß für unsere Vorfahren, wenn sie sich wie selbstverständlich in einer solchen Unmittelbarkeit zu Gott verstanden, die objektive Wirklichkeit für sie keine Hinterwelt bildete. Sie wußten nicht nur von ihr, sondern wußten zugleich auch, daß sie diese Erkenntnis ihrem Gott verdanken, aber niemals aus eigener Kraft würden erlangen können.
In Antike und Mittelalter
– konnte eine objektive Wirklichkeit also guten Gewissens geglaubt werden,
– denn ihre Erkenntnis bedeutete keinen Widerspruch,
– so daß es sich bei ihr auch nicht um eine Hinterwelt handelte.
In der Moderne verblaßt der christliche Glaube; aber das ist nicht die Ursache unserer Schwierigkeiten, so daß sein Wiedererstarken sie auch nicht lösen würde. Um das deutlich sehen zu können, unterscheiden wir drei Fälle:
1. Es gibt eine objektive Wirklichkeit.
a) Durch den Nous kann sie erkannt werden.
b) Der Nous wird nicht geglaubt, so daß keine Möglichkeit besteht, von der objektiven Wirklichkeit zu wissen.
2. Es gibt keine objektive Wirklichkeit.
Dann stellt sich die Frage nach dem Nous gar nicht.
1. a) steht natürlich für Antike und Mittelalter, aber auch für die traditionell denkenden Gläubigen der Moderne.
1. b) macht die objektive Wirklichkeit zur Hinterwelt; es wird über etwas geredet, wovon man nichts wissen kann. Das Sinnbild für diese widersprüchliche Position stellt der wissenschaftsgläubige Atheist (in) der Moderne dar.
2. entspricht natürlich unserer Position; es gibt keine objektive Wirklichkeit, und jeder glaubt mehr oder weniger subjektiv, was seinem eigenen Wirklichkeitsbild entspricht.