Dieses Kapitel enthält einen (leicht geänderten) Artikel, den ich spontan-verärgert für die „Neue Züricher Zeitung“ geschrieben hatte, um damit einer meines Erachtens grotesken Fehleinschätzung von Bruno Latours Denken durch Markus Gabriel entgegenzutreten. Sollte ich mich darin möglicherweise beleidigend ausdrücken, bitte ich um Entschuldigung; auch Gabriels Mißgriff würde dies nicht rechtfertigen.
Ich drucke die Rezension hier ab; zum einen in der Hoffnung, daß sie Ihrem Verständnis dient, und zum anderen um diesen zweiten Teil mit einem gegenwärtig vielzitierten Naiven Realisten abzurunden.
Gabriel schrieb in der NZZ vom 26. 3. 2020 unter anderem:
„. . . Doch auch progressive Intellektuelle, die sich Wissenschaftlichkeit auf die Fahnen schreiben, haben sich in den letzten Jahren einem heillosen Relativismus verschrieben. Zu ihren prominentesten Vertretern zählt der französische Soziologe Bruno Latour. Er hat sich sogar zu der absurden These verstiegen, Ramses II. könne nicht an der Tuberkulose verstorben sein, weil der Erreger erst im 19. Jahrhundert entdeckt worden sei. Das ist metaphysische Absurdität, wie der analoge Fall der Corona-Krise zeigt:
Hätten wir keine Virologen eingeschaltet, um Covid-19 zu studieren, hätte die Krankheit sich gemäß Latour nicht verbreitet, weil sie nicht einmal existiert hätte. . .“
An dieser Argumentation stimmt absolut nichts; Latour hat 100%-ig Recht, und die „metaphysische Absurdität“ liegt allein bei Gabriel, der den fundamentalen Unterschied zwschen zwei Arten von Wirklichkeit nicht sehen kann – oder will.
Ich werde versuchen, meine Argumentation und Verteidigung Latours – obwohl sie nur rein philosophisch ausfallen kann – ohne Fach-Chinesisch hinzubekommen.
Wir haben alle irgendein spezielles subjektives Welt-Bild. Rein assoziativ beziehen wir das zumeist allein auf die Immanenz; um diese unnötige Vernachlässigung der Transzendenz zu vermeiden, sprechen wir im weiteren besser von unserem Wirklichkeitsbild. Die meisten Menschen sind überzeugt, daß das ihrige wahr oder zumindest richtig ist. Das postmoderne Denken geht hingegen davon aus, daß diese Annahme
– nicht nur nicht überprüfbar, sondern
– völlig sinnleer ist, wei es keine objektive Wirklichkeit und damit auch
– weder ein wahres bzw. unwahres noch ein richtiges resp. falsches Bild von ihr geben kann.
Aber selbst diese Aussage, die Sie gewiß als eine ziemliche Zumutung erfahren, können wir vollkommen auf sich beruhen lassen. Uns genügt als Prämisse,
– daß wir subjektiv über ein bestimmtes Wirklichkeits-Bild verfügen,
– uns an ihm orientieren und
– orientieren müssen, weil die Alternative dazu nur in einem anderen Wirklichkeitsbild bestände.
Wir glauben nicht, was richtig ist, sondern was zu glauben wir für richtig halten.
Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen, die meines Erachtens ebenso weitreichend wie zwingend sind:
Zum einen (I) können wir alles wollen – tun, wissen, sehen, verstehen oder erleben wollen beispielsweise –, was uns im Rahmen des eigenen Wirklichkeitsbilds möglich ist. Hexen oder Schamanen beispielsweise, die ihrem Wirklichkeitsbild zufolge fliegen können, werden das wahrscheinlich auch versuchen.
Die Wirklichkeit selbst bestimmt dann darüber, ob das Wollen zum Erfolg führt – aber das muß uns, wie bereits gesagt, schon nicht mehr interessieren.
Zum anderen (II) können wir nichts wollen – tun, wissen, sehen, verstehen oder erleben wollen beispielsweise –, was in unserem Wirklichkeitsbild gar nicht enthalten ist. Wir können nicht Tolen. „Ich weiß doch gar nicht, was das sein soll“, möchten Sie vielleicht einwenden. Aber genau das meine ich ja: Das Wort „Tolen“ besitzt keine Bedeutung, und deswegen wissen wir alle nicht, „was das sein soll“ – weil es in unserem Wirklichkeitsbild nicht vorkommt.
Bei dieser zweiten Konsequenz spielt die Wirklichkeit gar keine Rolle. Was wir nicht wissen, können wir nicht wollen, denn dazu müßten wir wollen, ohne zu wissen, was.
Nach dieser Theorie zurück zum Thema.
Wir betrachten einen Patienten aus dem Jahre 2018, der sich miserabel fühlt, zum Arzt geht, von diesem untersucht wird und möglichst geholfen bekommen möchte. Das bestreitet Latour nicht; aber (II):
Noch kommt in keinem Wirklichkeitsbild Covid vor, so daß eine entsprechende Diagnose unmöglich ist.
„Der Patient könnte jedoch trotzdem Covid haben„, denken Sie möglicherweise. Das bezweifle ich gemeinsam mit Latour:
Um dies nachvollziehen zu können, unterscheiden wir zwei prinzipiell verschiedene Arten von Wirklichkeit,
– die natürlich nicht unabhängig voneinander sind,
– sich aber dennoch nicht überlappen oder durchdringen, so daß alles Wirkliche sauber entweder der einen oder der anderen Art angehören muß.
Die eine hängt mit unserem Leben zusammen, kann also möglicherweise auch bei Babys oder Tieren vorkommen und hat nichts mit irgendwelchen Theorien zu tun; nennen wir sie deswegen „Lebens-Wirklichkeit“. Damit meine ich, daß es unserem Patienten schlecht geht, Freude und Leid unser Leben prägen, Geburt und Tod fundamental sind, Menschen einander lieben oder hassen und an Götter glauben können – aber all das nicht so, wie es unsere Theorien repräsentieren, sondern so, wie wir es erfahren und insbesondere die Kunst darstellt oder beschreibt.
Alles, was uns hierzu einfällt, gab es natürlich schon zu Zeiten von Ramses II.
Die zweite oder Welt-Wirklichkeit wird von – wissenschaftlichen oder unwisenschaftlichen – Theorien konstruiert, existiert somit erst nach ihrer Erfindung, und wir projizieren sie aus unserem Geist heraus in die – oder besser: als – Welt. Hierzu gehören Latour zufolge das Mycobacterium und Covid 19 mit der gesamten exakten Wissenschaft.
Wir
– unterscheiden also mit Latour zwischen der Leibhaftigkeit unseres Lebens sowie dem bloß – unter anderem auch darüber – Reflektierten und
– setzen nicht wie selbstverständlich voraus, daß sich dieses auf jene bezieht.
Natürlich hängen die beiden Wirklichkeits-Arten voneinander ab; aber auf eine ganz andere Weise:
Ohne unser Leben gäbe es nichts Reflektiertes, und nur an letzterem können wir unser Leben orientieren. Natürlich wäre das Reflektierte, wie alle fremden Kulturen beweisen, auch ganz anders möglich.
Schmerzen und Orgasmen existieren seit Menschengedenken, denn sie gehören zur Leibhaftigkeit unseres Lebens; zehndimensionale Spinor-Räume müssen dagegen erst von Menschen erdacht werden, um vorhanden sein zu können.
Die beiden Wirklichkeits-Sphären gehen zwar kontinuierlich ineinander über, aber es stellt sich niemals die Frage, wohin das Wort „X“ tatsächlich gehört. Vielmehr entscheiden wir darüber, wie „X“ verstanden werden soll: Die Gallenkolik könnte zur Welt gehören, während die Schmerzen einen Teil unseres Lebens bilden, und damit deutlich von jener zu unterscheiden sind; es gibt also gewissermaßen „zwei Arten von Gallenkolik“.
Die weibliche Eizelle wurde erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts entdeckt; zuvor ging der Embryo vollständig aus dem Vater hervor, und die Mutter stellte lediglich den geschützten Raum für seine Entwicklung zur Verfügung. Deswegen stand auch Jesus‘ natürliche Geburt seiner Gottessohnschaft absolut nicht im Wege.
Im Mittelalter hätte ein Priester angesichts unseres sich miserabel fühlenden Patienten – im Rahmen seines Wirklichkeitsbilds – vielleicht von dämonischer Besessenheit gesprochen (I). Die meisten von uns sind sich mit Recht völlig sicher, daß diese Diagnose natürlich nichts mit einer objektiven Wirklichkeit zu tun hat.
Das war im Mittelalter eben noch ganz anders. Damals erwies sich die Erklärung des Priesters wahrscheinlich für die meisten Menschen als hinreichend einleuchtend, stimmig und widerspruchsfrei; deswegen glaubten fast alle die dämonische Besessenheit.
Daraus wurden in der Zwischenzeit zumeist psychische Erkrankungen; was es wirklich ist – die Gabriel-Frage nach der objektiven Wirklichkeit –, stellt ein Scheinproblem dar. Im Mittelalter befriedigten jene Antworten, und in der Moderne finden wir diese; es geht immer nur um das Wirklichkeitsbild, denn mehr können wir gar nicht haben.
Zu Beginn der Moderne wurde das Erd-Scheiben- mit dem Erd-Kugel-Bild verglichen und letzteres favorisert. Mit Recht, weil es praktikabler ist; aber niemand kann Bilder mit der Wirklichkeit vergleichen. Gegenwärtig wechseln wir von sich anziehenden zu anziehungsfreien Massen-Bildern, die unser Raum-Zeit-Bild krümmen.
Bei Hans-Georg Gadamer liest sich diese wichtige Einsicht folgendermaßen:
„Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.“
Ich würde gerne übersetzen:
„Lebens-Wirklichkeit“, die verstanden werden kann, ist keine „ewige“ Lebens-, sondern zeitgebundene Welt-Wirklichkeit.
Das Argument, es gäbe doch offensichtlich einen Fortschritt vom Mittelalter zu uns, denn wir können die Viren unter dem Mikroskop sehen, sticht aus mindestens zwei Gründen nicht:
Zum einen hat man die dämonische Besessenheit im Mittelalter bei geschultem Blick ebenfalls gesehen. Das gelingt uns heute nicht mehr – so wie im MIttelalter auch keiner Corona sah.
Zum anderen (II) waren wir uns oben doch (hoffentlich) bereits einig, daß man nichts sehen oder als existent annehmen kann, was dem eigenen Wirklichkeits-Bild nicht angehört.
„Es gibt etwas, aber ich weiß nicht, was es ist . . .“