1.7. Philosophischer Hintergrund

Mir liegt sehr daran, daß dieses Buch allen Lesern zugänglich ist, die meine Intention annähernd teilen und bereit sind, gegen jeden Strich zu denken. Deshalb setze ich keinerlei explizites Wissen der Philosophie voraus und mache einen möglichst großen Bogen um ihre Geschichte.

Gilles Deleuze schreibt ganz in meinem Sinne: „Ich gehöre zu einer Generation, einer der letzten Generationen, die man mehr oder weniger mit der Philosophiegeschichte umgebracht hat. Die Philosophiegeschichte übt in der Philosophie eine ganz offenkundig repressive Funktion aus.“

Das entspricht zudem meiner festen Überzeugung, daß es Philosophie als Lehrfach (wie Mathematik oder Ökonomie beispielsweise) ohnehin nicht gibt, sondern nur ein (eigenständiges) Philosophieren im Sinne von Selbst-Denken.

 

Meine gelegentlichen Angaben von Namen setzen also kein anderweitig erworbenes Wissen voraus, sondern sollen auf eventuell bekannte hilfreiche Zusammenhänge oder Möglichkeiten zu einer gründlicheren Auseinandersetzung hinweisen bzw. auch einfach nur andeuten, daß wir beide nicht allein sind, wenn Sie inhaltlich mitgehen.

Bemerkungen der Form „wie man weiß . . .“, „es ist allgemein bekannt, daß . . .“ oder „. . . im Sinne von X. Y.“ sind nach meinen Erfahrungen ebenso leserunfreundlich wie mathematische Zusammenhänge. Derartige „Hinweise“ deuten einen Unterschied zwischen uns an, auf den ich gerne verzichten möchte.

 

„Jede philosophische Abhandlung muß in gewissem Sinne eine ‚Einführung in die Philosophie‘ sein, denn dadurch bewahrt sie sich vor der Gefahr, bloße Lehrmeinungen, die doch zumeist nur Leermeinungen sind, zu reproduzieren“ (Leo Dümpelmann und Rafael Hüntelmann). (Ich will Sie nicht auf den Arm nehmen; die beiden Autoren heißen wirklich so.)

Das versuche ich zu beherzigen und schreibe das Buch für Nachdenkliche oder Suchende; weder für Ignoranten noch für Halbgebildete oder Alles- und Besserwisser. Als sein Motto wäre auch dasjenige Michel Foucaults möglich: „Ich denke gern!“ Wer das von sich ebenfalls sagt, ist herzlich zum Dialog eingeladen.

Meine wichtigsten Gewährsleute bei den Philosophen sind Georg Bertram, Ernst Cassirer, Isolde Charim, Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Paul Feyerabend, Michel Foucault, Hans-Georg Gadamer, Gotthard Günther, Michael Hampe, Martin Heidegger, Michel Henry, Hans Joas, François Jullien, Carl Gustav Jung, Matthias Jung, Immanuel Kant, Julia Kristeva, Jacques Lacan, Bruno Latour, Emmanuel Levinas, Dieter Mersch, Josef Mitterer, A. M. Klaus Müller, Friedrich Nietzsche, Corine Pelluchon, Charles Sanders Peirce, Georg Picht, Paul Ricœur, Heinrich Rombach, Richard Rorty, Hartmut Rosa, Franz Rosenzweig, Josef Simon, George Spencer-Brown, Gianni Vattimo, Carl Friedrich sowie Viktor von Weizsäcker und Ludwig Wittgenstein.

Hätte ich mich wieder zu beschränken, müßte ich wohl eine Erschießung inkauf nehmen; Jacques Lacan, Emmanuel Levinas, George Spencer-Brown und nach wie vor Michel Henry sind mir sehr wichtig.

 

Ich entschuldige mich nicht, daß sich unter all meinen „Kronzeugen“ mit Isolde Charim, Julia Kristeva sowie Corine Pelluchon nur drei Frauen befinden; es hat sich ganz einfach so ergeben. Hanna Arendt, Judith Butler oder Natalie Depraz beispielsweise sind für mich phantastische Denker, die ich auch sehr gerne lese, es aber eben nicht in meine Top-50 geschafft haben.

Ich gendere nie und tangiere dieses Thema auch nicht nochmals – weil wir heute meines Erachtens vor wirklich großen Problemen stehen und keine kleinen erfinden müssen –, sondern versichere hiermit allen Frauen, keinerlei Schwierigkeiten mit ihrem Geschlecht zu haben; im Zweifelsfalle fragen Sie bitte meine Gattin.

 

Vor 15 Jahren habe ich mit dem Buch „Ursprüngliche Wirklichkeit“ die Hinführung zu einem etwas avantgardistischen, das traditionelle Denken sprengenden Ansatz vorgelegt, die insbesondere wissenschaftsgläubigen Lesern helfen sollte, Michel Henrys „Philosophie des Johannesevangeliums“ ernstnehmen zu können.

Die ersten 100 Seiten davon würde ich Ihnen heute noch guten Gewissens empfehlen, den Rest nicht mehr; an seine Stelle tritt das vorliegende Buch.

 

Das Philosophieren oder Theologisieren darf bei keinerlei unhinterfragbaren Zitaten beginnen, hatte ich oben geschrieben.

Das ist aber nur die eine Seite, von der ich auch nichts zurücknehme.

Auf der anderen Seite können wir jedoch nur hoffen, daß die Ergebnisse, die wir durch unser eigenes Nachdenken erzielen, einer möglichst großen Tradition entsprechen. Sie sollen diese freilich nicht einfach wiederholen – für bloßes Nachplappern ist kein Denken erforderlich –, sich jedoch als ihre zeitgemäße Interpretation verstehen lassen.

Denn wäre dies nicht der Fall und wir würden ohne alle Berührungspunkte etwas völlig Neues finden, blieben dafür wohl nur zwei Erklärungsvarianten:  

Theoretisch könnten wir Genies sein; praktisch liegt aber die Vermutung wesentlich näher, daß unsere in der Geschichte erstmaligen „Denkergebnisse“ nur Unsinn darstellen, der so absurd ist, daß kein Mensch vor uns jemals auf dergleichen kommen konnte

Ich nenne bereitwillig Namen, um mich nicht mit fremden Federn zu schmücken, „erhebe aber überhaupt nicht den Anspruch auf Neuheit; und darum gebe ich auch keine Quellen an, weil es mir gleichgültig ist, ob das, was ich gedacht habe, vor mir schon ein anderer gedacht hat“ (Wittgenstein). 

 

Damit läßt sich ein wichtiger Bogen zum Beginn des vorigen Kapitels schlagen:

Erst im Nachhinein ist feststellbar, in welcher Tradition wir philosophisch oder theologisch wirklich stehen, das heißt, welche wir – weiter – interpretieren. Und so kann ich auch als offizieller Katholik erkennen, daß mein Denken beispielsweise (zen-)buddhistischen, jüdischen oder atheistischen Ansätzen teilweise sehr nahesteht.

Bei letzteren denke ich freilich an einen „anderen, das heißt, durchdachten Atheismus“ (Gregor Maria Hoff), wie wir ihn etwa von Albert Camus, Gilles Deleuze, Martin Heidegger, François Jullien, Bruno Latour, Richard Rorty, Jean-Paul Sartre, Peter Sloterdijk, Martin Walser oder Slavoj Zizek kennen.

Aber unsere subjektive Wirklichkeit wird natürlich erst deutlich, indem wir selbst denken, und steht nicht auf unserer Taufurkunde, die zumeist vor allem eigenen Denken ausgestellt wird, dieses aber zum Glück nicht festlegt.

 

Daß wir inmitten eines fundamentalen Bewußtseinswandels leben, dürften die Wenigsten von uns bestreiten wollen; weder seine Protagonisten noch die Skeptiker. Möglich ist ein solcher wohl nur in Zeiten einer Krise, und zu letzterer gehört auch immer, daß nicht klar ist, 

– ob sie bestanden wird und schon gar nicht,

– wohin die Krise im positiven Falle führt. 

Die Chancen auf ein gutes Ende vergrößern sich vielleicht mit der Anzahl der Menschen, die sich um ein solches bemühen. Ich glaube das jedenfalls, und mein diesbezüglicher Beitrag liegt vor Ihnen; als Namen für diesen „Versuch zu einer Philosophie der Freiheit“ schwebt mir „transzendentaler Explikationismus“ vor.

 

„Transzendental“ hat nichts mit Transzendenz zu tun, sondern meint (seit Kant) die Frage nach den notwendigen Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit empirische Erkenntnisse – unsere Wahrnehmungen also – möglich werden.

Deren notwendige Voraussetzungen können einerseits nicht wieder in Wahrnehmungen bestehen; andernfalls entstünde eine unendliche Kette. 

Andererseits müssen sie aber trotzdem mit der Empirie verbunden bleiben; deswegen nicht „transzendent“, sondern „transzendental“.

Der transzendentale Explikationismus will zeigen,

– wie all unser Wissen aus den subjektiven Wahrnehmungen expliziert wird, so

– daß keine objektive Wirklichkeit erforderlich ist und

– auch ohne sie ein konsistentes Gedankengbäude aufgebaut werden kann.