1.1. Das traditionelle Denken

Die zweieinhalb tausend Jahre seit Platon geht das abendländische Denken im wesentlichen davon aus, daß es eine uns vorgegebene und damit objektive Welt gibt, deren Bestandteile per definitionem die Seienden bilden. Vor diesem neuen, hochtrabend klingenden Wort muß man nicht erschrecken; es ist völlig harmlos:

Was – beim Bäcker –  gebacken wird, bildet Gebäck; was – von Archäologen – gefunden wird, gilt als Fundstück; und was – für traditionelle Philosophen – ist, stellt ein Seiendes dar. Sie könnten also problemlos Tausende von Seienden nennen und müßten dazu lediglich die Dinge aufzählen, von deren Existenz, (Vorhanden-)Sein, Wirklich- oder Beständigkeit Sie überzeugt sind; Gebäck, Fundstücke, Evolution oder Schöpfung, der eigene Körper, Sonne, Mond und Sterne . . .

 

Aber wir müssen noch einen Schritt weitergehen:

Die Seienden können nicht das Fundament oder den Ursprung der Welt bilden, die aus ihnen besteht; dazu müßten sie sich selbst ermöglichen oder hervorbringen; „Selbstverursachung“ ist ein Unbegriff.

Wir benötigen also noch eine fundamentalere Ebene; das ist diejenige der Ideen. Wir kennen sie am ehesten von Platon her; seine Ideen der Gerechtigkeit sowie des Einen, Wahren und Guten – die sogenannten Transzendentalien – sind uns dem Namen nach wohl allen bekannt.  

Sie haben natürlich nichts mit dem heutigen Begriff der Ideen zu tun haben; geht es bei ihnen doch – nicht um unsere (Schnaps-)Ideen, sondern – um die Ermöglichung der Welt.  

 

Ideen befinden sich nicht in Raum und Zeit; sie können folglich nicht wahrgenommen, sondern nur gedacht werden oder sind rein geistig bzw. transzendent und bilden Singulariatantum wie Durst, Haft oder Nähe.

Das sollten wir festhalten:

 

 

(objektive) Wirklichkeit  
       
Transzendenz Immanenz  
Ermöglichung der Welt (objektive) Welt
 
Ideen Seiende  
       
  Objekte, die den Kosmos objektive Realität  
  bzw. die Begrifflichkeit der Kosmos  
  Physik transzendieren Körper  
       
denkbar wahrnehmbar  
einzig beliebig  
geistig   materiell  
       

Abbildung 1.1.

 

„Körper“ verstehen wir im weitesten, das heißt, physikalischen Sinne, so daß alle materiellen Dinge, die natürlichen – leblosen, pflanzlichen, tierischen und menschlichen – ebenso wie die künstlichen Körper unabhängig vom Aggregatzustand dazugehören.

Sie bilden die objektive Realität oder den (physikalischen) Kosmos.

Die Immanenz oder (objektive) Welt der Seienden geht weit darüber hinaus, denn Farben, Töne oder Zwecke beispielsweise sind gewiß weltliche, aber keinesfalls physikalische Kategorien. Die Physik kennt lediglich Wellenlängen bzw. Frequenzen, versteht aber Reißzwecken bereits nicht mehr, da sie einen Zweck erfüllen.

Erweitern wir auch die Welt noch – um die Transzendenz der Ideen, die jene erst ermöglichen –, so entsteht die (gesamte oder vollständige) objektive Wirklichkeit der Tradition.  

 

„Gestatten Sie bitte, daß ich mich kurz vorstelle, wenn ich Ihnen schon ins Wort falle:

Mein Name ist ‚Advocatus Diaboli‘, kurz ‚AD‘ genannt; ich vertrete Ihre Leser und versuche, ihnen ein wenig zu helfen, wenn Sie etwas – nennen wir es einmal vorsichtig – ‚Befremdliches‘ zum Ausdruck bringen; wie soeben.“

„Adé“ ist gut . . .; aber trotzdem: Herzlich willkommen!

AD: „Danke!

Sie hatten uns oben versprochen, möglichst weitestgehend auf jeden unbegründeten Gedanken zu verzichten – und nun kommt aus heiterem Himmel plötzlich eine Transzendenz ins Spiel, mit der die meisten Leser wahrscheinlich nicht viel anfangen können.“

 

Ich kann es auch nicht; aber die Schlußfolgerungen, die sich daraus ergeben, zielen eher in eine Gegenrichtung:

Nahezu alle uns bekannten Kulturen gehen davon aus, daß es mehr gibt als die uns bekannte, verständliche Welt; einen Gott bzw. Himmel, ein Reich der Ahnen, Paradies oder Jenseits; die Namen tun nichts zur Sache.

Wir können diese sogenannte Transzendenz vorerst weder postulieren noch erklären oder beschreiben; aber gerade weil ich „möglichst weitestgehend auf jeden unbegründeten Gedanken verzichten“ möchte, darf ich sie auch nicht bestreiten. Das Unverstandene muß als solches offenbleiben und kann erst bejaht oder verneint werden, nachdem wir es verstanden haben.     

Der Satz „Was ich nicht verstehe, kann unmöglich existieren“ zeugt ebensowenig von Bescheidenheit wie von Intelligenz.  

 

Und ein zweiter Punkt kommt noch hinzu:

Sehen wir in der Ihnen etwas unheimlich erscheinenden Transzendenz vorerst lediglich die Ermöglichung der Welt, kann ich mir partout schwerlich vorstellen, wie Sie darauf verzichten wollen. Das käme doch der Annahme gleich, die Welt sei durch einen zufälligen Sprung aus dem Nichts hervorgegangen. Finden Sie diese „Erklärung“ tatsächlich besser als unsere beharrliche Suche nach einer bedenkenswerten Entstehungs-Variante?    

 

AD: „So verstanden, würde ich mit Ihnen d’accord gehen.

Aber die Griechen konnten es ja gar nicht so verstehen, weil sie einen ewig-konstanten Kosmos vorausgesetzt haben.“

Stimmt! Darin besteht ein kleines Problem für mich:

Ich will Ihnen das traditionelle Denken verständlich machen, halte es aber für grundlegend falsch und versuche daher, dieses Denken so offen darzustellen, daß seine von mir beabsichtigte Korrektur auf eine möglichst vernünftige und naheliegende Weise daraus hervorgehen kann.

Platon hätte Ihre Frage nach dem Sinn seiner Ideen wohl etwa folgendermaßen beantwortet: 

 

Um Sokrates als gerecht und Protagoras als ungerecht beurteilen zu können, müssen wir wissen, worin die Gerechtigkeit besteht, oder eine Idee von ihr haben. Fehlt uns dieser objektive Maßstab, ist auch keine Wertung möglich; urteilen wir dennoch, so geschieht dies rein subjektiv nach unserer eigenen Façon.

Ohne die Ideen gibt es in unserem Leben nach traditionellem Verständnis somit keine Wahrheit.

Sokrates stellte für Platon die personifizierte (Idee der) Gerechtigkeit dar, weil sie in ihm Gestalt annahm oder sich verleiblichte. Platon hat das erkannt, indem er die Gerechtigkeit, die Sokrates lebte, mit der entsprechenden Idee verglich – wie auch immer ihm dies gelungen sein mag – und die Übereinstimmung der beiden Seiten ihm zeigte, daß seine diesbezügliche Einschätzung des Sokrates wahr ist. 

 

Die Ideen sind der antiken und mittelalterlichen Tradition zufolge jedoch sogar für die materiellen Körper des physikalischen Kosmos erforderlich. Ohne die Idee der Planeten beispielsweise könnte es auch letztere nicht geben; sie nimmt in den Planeten Gestalt an oder verkörpert sich darin – ganz ähnlich zur Gerechtigkeit bei Sokrates.

Platon war diesbezüglich so konsequent, daß er auch eine Idee des Bettgestells, Schmutzes oder Kots annahm. Andernfalls könnten diese Dinge ja seines Erachtens gar nicht existieren; aber durch die entsprechenden Ideen gibt es nun – analog zur Grechtigkeit – sogar wahre Bettgestelle und wahren Schmutz bzw. Kot.

Das glauben wir heute wohl alle nicht mehr, aber in der „wahren Liebe“, dem „wahren Freund“ oder „Helden“ hallt dieses antik-mittelalterliche Denken nach.

 

Von besonderem Interesse für unsere weiteren Überlegungen ist das zeitliche Verhalten der Wirklichkeit.

Bei den Ideen der Transzendenz können wir uns diesbezüglich kurzfassen: Sie sind gar nicht in der Zeit und können somit nur konstant sein.

Die antiken Griechen gingen von einer ewigen Immanenz ohne Schöpfung, Entwicklung und Vollendung aus. Besteht sie aus Seienden, müßten letztere also scheinbar unveränderlich sein. 

Das sind sie jedoch offensichtlich nicht; selbst die Himmelskörper variieren beispielsweise ihren Ort, die Geschwindigkeit und Leuchtkraft.

Dieser Widerspruch läßt sich aber leicht beseitigen, indem wir alle Änderungen periodisch denken; nach einem „Platonischen Jahr“ befinden sich sämtliche Seienden wieder im „Ausgangszustand“. Eine langfristige Unveränderlichkeit ist also problemlos mit den Änderungen der Seienden vereinbar. In ca. 26 000 Jahren wird der gesamte Kosmos einmal wieder exakt so beschaffen sein wie heute; zwischenzeitlich kommt es natürlich zu vorübergehenden Änderungen, die sich selbst wieder aufheben.

 

Konstanz und Unveränderlichkeit müssen wir deutlich voneinander unterscheiden:

Erstere kommt den Ideen zu; das Zeitlose befindet sich jenseits von Änderungen oder Nicht-Änderungen und damit in der Sphäre der Konstanz.

Die Seienden gehören dagegen der Zeit an und können somit nicht konstant, sondern nur (langfristig) unveränderlich sein. Das ist lediglich der asymptotische Grenzfall einer Änderung mit dem Wert 0.  

 

Mit ihren konstanten Ideen sowie den sich daraus ergebenden unveränderlichen Seienden leugnet die Tradition die – Wirklichkeit der – Zeit.

Dies wäre meine Kritik; sie tritt an die Stelle derjenigen von Heidegger, welcher der Tradition vorwarf, das Sein vergessen zu haben. Aber vielleicht besteht auch gar kein großer Unterschied zwischen den beiden Vorhaltungen; darauf deuten jedenfalls die letzten zwei Sätze von „Sein und Zeit“ hin, in denen Heidegger fragt:

„Führt ein Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des Seins? Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?“ 

 

AD: „Diese beiden Fragen zu bejahen, würde bedeuten, den großen Zyklus, das heißt, die periodische Wiederkehr des Unveränderten nach jeweils einem Platonischen Jahr aufzugeben. Es bleiben dann nur die kontinuierlichen Änderungen, die sämtliche Wiederholungen verunmöglichen, so daß wir auch nicht länger von Seienden sprechen können.“

Das ist richtig; wenn wir – entgegen der Tradition – die Zeit ernstnehmen oder mit Heidegger als Horizont des Seins verstehen,

wird die Welt – nicht nur oberflächlich, sondern – auch in der Tiefe zeitabhängig, so daß

die Seienden entfallen und

– wir folglich auch keine Ideen mehr brauchen, um jene zu ermöglichen.

 

Aber dazu kommt es freilich erst in der Postmoderne. Die Tradition hält an ihren Seienden fest und versteht diese sogar zumeist als Einheit zweier „ewiger“ Komponenten, nämlich von

Essenz, Wesen oder Was auf der einen und

Existenz, Sein bzw. Daß auf der anderen Seite. 

 

Letztere ergibt sich von selbst aus der Definition eines Seienden als das, was ist; dann muß die Existenz natürlich dazugehören. 

Fehlt sie, handelt es sich nicht um Seiende, sondern um Nicht-Seiende, das heißt, um reine Essenzen, Wesen oder Wasse. 

 

AD: „Mir leuchtet das nicht ein; wie sollen wir von den Nicht-Seienden wissen können, wenn es sie gar nicht gibt? 

‚Ich weiß, was nicht existiert‘ ist meines Erachtens widersprüchlich, und Nicht-Seiende damit ein Unbegriff. 

‚Natürlich‘ gibt es keine Einhörner; aber was ist mit den Zwei-, Drei- oder Vierhörnern? ‚Jeder weiß‘, daß Osterhasen nicht existieren; haben Sie jedoch schon einmal über Weihnachts-, Pfingst- oder Geburtstagshasen nachgedacht? Marsmenschen sind ‚offensichtlich‘ Quatsch, aber Venus-, Merkur- bzw. Saturnmenschen . . .“

Sie haben 100%-ig Recht:

Die Seienden haben wir als (prinzipiell) wahrnehmbar eingeführt; die Nicht-Seienden können lediglich vorgestellt, aber nicht wie angeblich die Platonischen Ideen gedacht werden. Das macht sie freilich – nicht zu philosophischen, sondern – höchstens zu Schnaps-Ideen.

 

Vielleicht wäre es auch (widerspruchsfrei) denkbar,

– daß wir die Essenz, das Wesen oder Was des Nashorns sauber erkannt haben,

– obwohl die Essenz, das Wesen oder Was des Einhorns bloße Erfindungen darstellen.

Ich neige jedoch eher zu der Überzeugung, daß sämtliche Essenzen, Wesen oder Wasse – auch die der Seienden also – unsere Erfindungen sind.

Weil „Erfindung“ sehr abwertend klingt, wird das Wort häufig duch „Konstruktion“ ersetzt; das hört sich gelehrter an, meint aber inhaltlich exakt das Gleiche: Wir empfangen es nicht als das unverfügbar Vorgegebene, sondern gestalten die Erfindungen oder Konstruktionen nach unserem gusto selbst.    

 

AD: „Aber sie werden doch nicht ernstlich behaupten wollen, daß die Liebe und das Leben bloße Erfindungen bzw. Konstruktionen sind!“

Mit dieser Beanstandung haben Sie wahrscheinlich den springenden Punkt all unserer Überlegungen getroffen. Die Ahnung, daß er dies sein könnte, verdanke ich Ludwig Wittgenstein. Ihm zufolge ist es wichtig, zwei völlig verschiedene Arten von Entitäten zu unterscheiden. In seiner Sprache steht

– dem, was gesagt werden kann,

– das gegenüber, was sich zeigt.

Das Zusammenspiel oder Miteinander dieser beiden Größen bildet für Wittgenstein das philosophische Grundproblem überhaupt, und ich kann ihm darin nach meinen eigenen Erfahrungen nur beipflichten.

 

Die erste Entität dürfte unproblematisch sein; sagen können wir nur unsere eigenen Wissungen; alles, was darüber hinaus geht, entspricht einem bloßen Blablabla. 

Mit dem, was sich zeigt, fällt Wittgenstein hinter sein sonstiges Denk-Niveau zurück. Da war schon die Phänomenologie weiter; das ist eine philosophische Schule, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelte und weitestgehend Edmund Husserl als ihren Stammvater betrachtet.

Die Phänomenologen korrigieren Wittgensteins „was sich zeigt“ in ihr „Sich-Zeigen“. Das klingt belanglos, ist aber fundamenal:

Das, was sich zeigt, ist kein Sich-Zeigen, sondern steht „hinter“ dem Zeigen und entspricht den traditionellen Seienden, die sich angeblich zeigen.

Uns ist jedoch nur die „vor“ dem Zeigen befindliche Zeigung – eben das Sich-Zeigen in der Sprache der Phänomenologie – gegeben.

 

Mit anderen Worten:

Die Tradition widerspricht Wittgenstein, indem sie nicht zwischen dem, was gesagt werden kann, und dem Sich-Zeigen unterscheidet, sondern beide in dem, was sich zeigt, – den Seienden – vereint.

Damit ist das philosophische Grundproblem jedoch keineswegs gelöst, sondern ganz einfach übersehen worden:

Das, was gesagt werden kann, und das Sich-Zeigen sind disjunkt, das heißt, sie haben nichts gemeinsam. Was gesagt werden kann, zeigt sich nicht, und das Sich-Zeigen bleibt unsagbar.  

 

Nach diesem langen Vorspann sollte meine Antwort verständlich sein: 

Wir benötigen für unser Wirklichkeitsbild nicht nur Liebe und Leben, sondern auch Gott und den Teufel sowie unzählbar viele andere wichtige oder unwichtige Entitäten doppelt; sowohl als Sagbares wie auch als Sich-Zeigen.

Letzteres wird uns gegeben und kann somit nur als Gabe verstanden werden. Wir wissen nicht, was das ist, und können es folglich auch nicht sagen – weil wir es nicht erfunden bzw. konstruiert haben

Letzteres wäre jedoch notwendig, um darüber sprechen zu können; nur unsere eigenen Erfindungen resp. Konstruktionen sind sagbar, können als solche aber natürlich keine unverfügbare Gabe sein.   

 

AD: „Ich will es noch nicht glauben! 

Wenn Sie Recht hätten, würde das doch einerseits bedeuten, daß wir nichts bezeichnen könnten. Das Sich-Zeigen nicht, weil es dann sagbar wäre; und bei dem, was sich sagen läßt, brauchen wir die Sprache – nicht zum Bezeichnen, sondern – um es erst einmal herzustellen.

Aber andererseits kann ich auch nicht ehrlichen Herzens anzweifeln, daß ich mit dem Wort „Firmament“ das Firmament bezeichne.“

Das wäre tatsächlich so, wenn es das Firmament – ohne den traditionellen Fehler zu begehen, das heißt, als ein Seiendes – gäbe. Aber da dieses nicht existiert, ist Ihre Überzeugung, das Firmament bezeichnen zu können, völlig unverständlich. Was wollen sie mit dem Wort „Firmament“ bezeichnen?