1.1. Das traditionelle Denken I

Die zweieinhalb tausend Jahre seit Platon geht das abendländische Denken weitestgehend davon aus, daß eine uns vorgegebene und damit objektive Welt existiert, deren Bestandteile per definitionem die Seienden bilden. Vor diesem hochtrabend klingenden Wort muß man nicht erschrecken; es ist völlig harmlos:

Was – beim Bäcker –  gebacken wird, bildet Gebäck; was – Archäologen – finden, gilt als Fundstück; und was – für traditionelle Philosophen – ist, stellt ein Seiendes dar. Sie könnten also problemlos Tausende von Seienden nennen und müßten dazu lediglich die Dinge aufzählen, von deren Existenz, (Vorhanden-)Sein oder Wirklichkeit Sie überzeugt sind; Gebäck, Fundstücke, Materie, Blitze, Evolution oder Schöpfung, der eigene Körper, Sonne, Mond und Sterne . . .

Für das Alltagsdenken und damit auch weite Teile unseres Buches genügt diese Ebene der Seienden. Philosophisch müssen wir aber noch einen Schritt weitergehen, denn sie können nicht das Fundament oder den Ursprung der aus ihnen bestehenden Welt bilden. Dazu müßten die Seienden sich selbst ermöglichen oder hervorbringen; Selbstverursachung gibt es jedoch ebensowenig wie ein Perpetuum mobile. Wie sollte ein A, das es noch gar nicht gibt, sich erzeugen können? Wie sollte ein A, das es noch gar nicht gibt, überhaupt irgendetwas erzeugen können? 

 

Unsere Moderne „löst“ dieses Problem mittels der Evolution. Aber das ist natürlich keine (befriedigende) Lösung, weil sämtliche Evolutionstheorien nur erklären können, wie diese Seienden kausal aus jenen hervorgehen, so daß wir weiterhin vor der Frage nach dem Ursprung der „ersten“ Seienden stehen. „Im Anfang war der Wasserstoff“, meinte Hoimar von Ditfurth und provozierte damit die Frage nach dessen Herkunft: Was kam in der traditionellen Zeit vor dem Wasserstoff?

Das evolutive Denken führt notwendigerweise auf eine endlose Iteration und damit niemals zum Ziel; Hegel nannte das deswegen eine „schlechte Unendlichkeit“.

 

Antik-mittelalterlich ging dem modernen Gedanken einer Evolution die Idee der Schöpfung voraus.

In ihrer traditionellen Form ist sie aus heutiger Sicht ebenso unhaltbar wie die Evolutionstheorie, weil wir unsere Frage nach dem Woher – mit der soeben angedeuteten Logik – natürlich auch auf den Schöpfer anwenden könnten bzw. müßten und damit über den Schöpfer des Schöpfers des Schöpfers . . . wiederum auf eine unendliche Iteration stoßen würden.

Die Annahme, Gott existiere ewig, hilft uns ebenfalls kaum weiter, denn sollte ein solcher Gedanke nicht ohnehin unverständlich sein – „Was bedeutet Ewigkeit überhaupt?“ –, ließe er sich auch gleich auf die Welt selbst beziehen, so daß jegliche Schöpfung unnötig würde. Die Überzeugung, daß zwar Gott, aber nicht die Welt ewig sein könne, entbehrt jeglicher Grundlage; wir haben die entsprechenden Worte höchstens im Ohr, weil sie schon sehr lange gedankenlos formuliert werden.   

 

Die vorchristliche Antike fand ebenfalls keine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Welt, die uns heute noch befriedigen würde. Aber damals leuchtete es scheinbar (hinreichend) vielen Menschen ein, daß die Seienden weder sich gegenseitig hervorgebracht haben noch vom Himmel gefallen sein können.

Sie bilden die uns zugängliche immanente Welt, in der wir leben, und bedürfen eines Grundes, der sie ermöglicht, trägt, hervorbingt oder einfach sein läßt; aus Nichts wird auch nichts. Diese fundamentalere Ebene können wir prinzipiell nicht wahrnehmen; wäre dies möglich, würde es sich immer noch um Seiende handeln, wir hätten nichts gewonnen und müßten von vorn beginnen. Der Urgrund läßt sich also nur denken; er muß folglich rein geistig sein oder sich „hinter“ unserer Welt befinden. Skeptiker sprechen deshalb von einer Hinterwelt; neutraler formuliert handelt es sich um die Transzendenz. 

Für das Christentum besteht diese natürlich in Gott; bei Platon und anderen antiken Denkern  waren es die ewig identischen Ideen. Möglicherweise sind Ihnen die Transzendentalien – die Ideen des Einen, Wahren und Guten – bekannt; von besonderer Bedeutung sind weiterhin die Ideen der Gerechtigkeit oder Schönheit.  

Sie haben natürlich alle nichts damit zu tun, wie wir heute den Begriff der Ideen nutzen. Aus den objektiv-realen transzendenten Fundamenten der Welt sind in der Zwischenzeit die subjektiv-willkürlichen menschlichen (Schnaps-)Ideen geworden.  

 

Der Unterschied zwischen Seienden und Ideen läßt sich gut an (dem Mythos von) dem Erbauen der Welt durch den Demiurgen erlären:  

Ihm waren die Ideen wie ein Bauplan vorgegeben; jede von ihnen bildet ein Singularetantum wie Durst, Haft oder Nähe. Auf Grundlage der einen Idee des Planeten konnte der Demiurg nun beliebig viele Planeten als Seiende hervorbringen, deren sekundäre Eigenschaften nahezu beliebig waren, die aber in ihrem Planet-Sein übereinstimmten.   

Die Ideen und nur sie ermöglichen die Seienden; keine Schönheitskönigin ohne die Idee der Schönheit.

Das halten wir fest:

 

 

objektive Wirklichkeit  
       
Transzendenz Immanenz  
Ermöglichung der Welt objektive Welt
 
  Seiende  
– Gott      
– Ideen  =                                        { Essenz, Wesen oder Was +  
  + Existenz, Sein oder Daß }  
– . . . . . .       
  objektive Welt, die über (objektive) Realität  
  den (physikalischen) Kosmos (physikalischer) Kosmos  
  hinausgeht Körper  
  zum Beispiel:    
  Mathematik und Musik    
       
nur denkbar denk- (und wahrnehmbar) denk- und wahrnehmbar  
rein geistig geistig oder sinnlich materiell  
nicht in Raum und Zeit
in Raum und Zeit  

Abbildung 1.1.

(Geschwungene Klammern bedeuten stets die Einheit der beiden „Komponenten“, die zwischen ihnen stehen.)

 

„Körper“ verstehen wir im weitest möglichen Sinne, so daß alle festen materiellen Dinge, die natürlichen – leblosen, pflanzlichen, tierischen und menschlichen – ebenso wie die künstlichen Körper dazugehören. (Daß es rein physikalisch zum Beispiel auch Felder, Flüssigkeiten und Gase gibt, spielt für unsere Überlegungen keine Rolle; wir streben keine Vollständigkeit an.)

Die Körper bilden die (objektive) Realität oder den (physikalischen) Kosmos.

Die Immanenz oder (objektive) Welt der Seienden geht jedoch weit darüber hinaus, denn Farben, Töne oder Zwecke beispielsweise sind gewiß weltlich-immanente, aber keinesfalls physikalische Kategorien. Die Physik kennt diesbezüglich lediglich Wellenlängen bzw. Frequenzen, versteht aber Reißzwecken bereits nicht mehr, da sie einen Zweck erfüllen, der keine physikalische Kategorie darstellt. Der Kosmos ist als solcher notwendigerweise zwecklos.

Erweitern wir auch die (objektive) Welt noch um die Transzendenz, die jene erst ermöglicht, so entsteht die (gesamte oder vollständige) objektive Wirklichkeit der Tradition, die uns als Ausgangspunkt für alles Weitere dient.  

 

„Gestatten Sie bitte, daß ich mich kurz vorstelle, wenn ich Ihnen schon ins Wort falle:

Mein Name ist ‚Advocatus Diaboli‘, kurz ‚AD‘ genannt; ich vertrete Ihre Leser und versuche, ihnen ein wenig zu helfen, wenn Sie etwas – nennen wir es einmal vorsichtig – ‚Befremdliches‘ zum Ausdruck bringen; wie soeben.“

„Adé“ ist gut . . .; aber trotzdem: Herzlich willkommen!

AD: „Danke!

Sie hatten uns oben versprochen, möglichst weitestgehend auf jeden unbegründeten Gedanken zu verzichten – und nun kommt aus heiterem Himmel plötzlich eine Transzendenz ins Spiel, mit der die meisten Leser wahrscheinlich nicht viel anfangen können. Das klingt hinterwäldlerisch und ist es wohl auch . . .“

 

Sofern Sie damit sagen wollen, wir wüßten nicht, worin die Transzendenz bestehen könnte und ob man das überhaupt wissen kann, gebe ich Ihnen vollkommen Recht. Aber die Schlußfolgerungen, die sich daraus für mich ergeben, zielen scheinbar eher in die entgegengesetzte Richtung als bei Ihnen:

Ich halte die Frage, woher die Welt stammt, weder für dumm oder naiv noch für uninteressant. Oben sollte kurz angedeutet werden, daß sie bis heute nicht befriedigend beantwortet werden konnte. Nahezu alle uns bekannten Kulturen haben sich an ihr abgearbeitet und nicht zuletzt deshalb häufig einen Gott bzw. Himmel, ein Reich der Ahnen, Paradies oder Jenseits postuliert; die Namen tun nichts zur Sache.

Wir können eine solche Transzendenz vorerst weder erklären noch beschreiben. Aber gerade wenn ich, wie Sie formulierten, „möglichst weitestgehend auf jeden unbegründeten Gedanken verzichten“ möchte, darf ich die Existenz einer solchen Transzendenz ebensowenig leugnen wie behaupten; beides wäre völlig unbegründet, willkürlich oder aus der Luft gegriffen Das Unbekannte muß als solches offenbleiben und darf erst bejaht oder verneint werden, nachdem wir es hinreichend erkannt haben; nur so ist ein seriöses Entscheiden möglich.     

Der Satz „Was ich nicht verstehe, kann unmöglich existieren“ zeugt kaum von Bescheidenheit oder Intelligenz. 

Vielleicht wird noch deutlich, daß die Frage nach dem Woher der objektiven Welt tatsächlich dumm, weil falsch gestellt ist. Aber auch das müßte sich erst im Gefolge unserer Überlegungen ergeben und kann von einem philosophischen, das heißt, offenen Denken unmöglich vorausgesetzt werden. 

 

AD: „So verstanden, würde ich mit Ihnen d’accord gehen.

Aber die Griechen konnten es ja gar nicht so verstehen, weil sie einen ewig-konstanten Kosmos vorausgesetzt haben, womit sich die Frage nach seiner Entstehung erübrigte.“

Das ist richtig; ich habe meine letzten Gedanken der Einfachheit halber etwas unsauber formuliert und korrigiere mich nun:

Unabhängig von der sekundären Frage, ob die Welt einen Anfang (und ein Ende) besitzt oder nicht, muß es einen Grund für ihre Existenz geben, und er ist es letztlich, wonach wir suchen. Der Grund hat aber auch gar nichts mit der Ursache – für den zeitlichen Anfang – der Welt zu tun. Er ist das Primäre, und ohne den transzendenten Grund gibt es keine immanente Welt – weder mit noch ohne Anfang oder Ende. 

 

Die Bedeutung und völlige Andersartigkeit des Grundes zeigt sich vielleicht besonders deutlich an der Einsicht, daß dem traditionellen Denken zufolge ohne ihn auch keine Wahrheit existieren kann.

Um Sokrates als gerecht und Protagoras als ungerecht beurteilen zu können, mußte Platon wissen, worin die Gerechtigkeit besteht oder ihre Idee kennen. Fehlt dieser objektive Maßstab des Bauplans, ist keine begründete Wertung möglich. Urteilen wir dennoch, so geschieht dies rein subjektiv nach unserer eigenen Façon: jeder sieht es eben, wie er es sieht.

Nach traditionellem Verständnis gibt es ohne die Ideen keine Wahrheit in unserem Leben

Sokrates stellte für Platon die personifizierte (Idee der) Gerechtigkeit dar, weil sie in ihm Gestalt angenommen oder sich verleiblicht hatte. Platon erkannte das, indem er das Leben des Sokrates mit der Idee der Gerechtigkeit verglich – wie auch immer er diese Gegenüberstellung bewerkstelligt haben mag –, und die Ähnlichkeit der beiden Seiten bestätigte ihm seine diesbezügliche Einschätzung des Sokrates. 

 

In der Moderne verschwinden die Ideen mit der gesamten Transzendenz. Aber wir müssen uns deutlich machen, welch gewaltigen Umbruch im Denken dies bedeutet:

Die Ideen

– sind uns unverfügbar vorgegeben,

– entsprechen Idealen und

– ermöglichen dadurch begründbare Urteile.

Die Idee des Menschen beispielsweise drückt aus, wie letztere sein sollten oder wie sie ursprünglich – von wem auch immer – einmal gedacht waren.

Ohne Ideen bleibt aus Sicht der Traditionalisten nur eine „Diktatur des Relativismus“.

 

Die Ideen sind der antiken und mittelalterlichen Tradition zufolge natürlich auch für die materiellen Körper des physikalischen Kosmos erforderlich. Ohne die Idee der Planeten beispielsweise könnte es auch letztere nicht geben; sie nimmt in den Planeten Gestalt an oder verkörpert sich darin – ganz ähnlich wie die Gerechtigkeit in Sokrates.

Platon war diesbezüglich so konsequent, daß er auch eine Idee des Bettgestells, Schmutzes oder Kots annahm. Andernfalls könnten diese Dinge ja seines Erachtens gar nicht existieren; aber durch die entsprechenden Ideen gibt es nun – analog zur Gerechtigkeit – sogar wahre Bettgestelle und wahren Schmutz bzw. Kot. 

Das glauben wir heute wohl alle nicht mehr, aber in der „wahren Liebe“, dem „wahren Freund“ oder „Helden“ hallt dieses antik-mittelalterliche Denken heute noch nach.

 

Von besonderem Interesse für unsere weiteren Überlegungen ist das zeitliche Verhalten der Wirklichkeit.

Bei den Ideen der Transzendenz können wir uns diesbezüglich kurzfassen: Sie sind – wie Gott – gar nicht in der Zeit und müssen somit identisch sein. Die Gerechtigkeit beispielsweise ist eine ewige Idee; sie bildet für Sokrates und Mutter Theresa exakt das gleiche Ideal. 

AD: „Aber den Kosmos setzten die antiken Griechen doch ebenfalls als ewig identisch voraus. Er dürfte sich folglich auch nicht verändern, obwohl wahrscheinlich kaum jemand übersehen haben dürfte, daß kontinuierlich ‚alles‘ anders wird; Moritz wächst, das Wasser fließt, oder die Sonne geht auf und unter.“

Diesen Schein eines Widerspruchs haben die Griechen elegant beseitigt, indem sie alle Änderungen periodisch dachten. Jeweils nach einer Periode – dem „Platonischen Jahr“, das etwa 26 000 „normalen“ Jahren entspricht – befinden sich sämtliche Seienden wieder in ihrem alten Ausgangszustand. Eine langfristige Identität ist also problemlos mit den kurzfristigen unbestreitbaren Änderungen der Seienden vereinbar. 

Ein Gelehrter soll damals seinen Schülern doziert haben: „In 26 000 Jahren werde ich wieder so wie heute vor euch stehen und sagen . . .“

 

Hier wird bereits recht deutlich daß wir Identität und Unveränderlichkeit sauber voneinander unterscheiden müssen:

Erstere kommt den Ideen zu; das Zeitlose befindet sich jenseits von Änderungen oder Nicht-Änderungen und damit in der Sphäre der Transzendenz; Gott könnte – wenn es ihn denn gibt – nur identisch sein.

Die Seienden gehören dagegen der immanenten Zeit an. Das bedeutet, daß sie sich ändern können – aber natürlich keineswegs müssen. Tun sie es nicht, werden die Seienden dadurch jedoch nicht identisch, sondern sie sind einfach nur unveränderlich. Das ist partout nichts Besonderes, sondern lediglich der asymptotische Grenzfall einer Änderung mit dem Wert 0

Die Immanenz kann nicht identisch, und die Transzendenz nicht unveränderlich sein. Wer letzteres von Gott annimmt, denkt ihn nach dem Modell „Granitfelsen“.