1.1.4. Der traditionelle Wahrheitsbegriff

Die Moderne denkt noch ganz traditionell; der entscheidende Bruch, der im Canceln der Seienden besteht, erfolgt erst mit der Postmoderne. Aber den traditionellen Wahrheitsbegriff hat bereits die Moderne aufgegeben, denn er ist ohne die Ideen nicht haltbar.

Wir verfügen nur noch über Begriffe; sie haben eine Extension, so daß die Seienden „untergebracht“ werden können, obwohl die Begriffe rein geistig sind.

Letztere dienen lediglich als Denkwerkzeuge; sie sollten also nützlich, geeignet, hilfreich, fruchtbar, denkökonomisch oder ähnliches, können aber nicht einmal richtig sein, und wahre Menschen, Freunde oder Eltern sind schon gar nicht mehr möglich.

Wenn also kritisiert wird, die Moderne kenne keine Wahrheit mehr und damit könne es ihr nur noch um irgendeinen Fortschritt oder ähnliches gehen, läßt sich dem schwerlich widersprechen, solange wir den traditionellen Wahrheitsbegriff beibehalten.

 

Das tun die Kritiker der Moderne und widersprechen sich dabei selbst, denn sie verwechseln

– die Wahrheit

– mit einem bestimmten und sehr speziellen Wahrheits-Verständnis.

Es ist schon skurril, die Wahrheit

als ewig gültig zu behaupten und

ihr Verständnis zugleich an den speziellen Zeitgeist von Antike und Mittelalter zu binden.

Das ist ganz simpel ein Denkfehler, aber nicht das Ende der Wahrheit.

 

Ich verstehe letztere völlig anders; mein Einspruch resultiert aber nicht aus der Verlegenheit, mir etwas einfallen lassen zu müssen, um gegen die Kritiker opponieren und trotzdem an der Wahrheit festhalten zu können. Vielmehr ist ihr traditionelles Verständnis meines Erachtens „unmenschlich“:

Die Anführungsstriche sind wichtig, denn ohne die Idee des Menschen entfällt das Unmenschliche der Tradition ebenso wie ihr Menschliches. 

 

AD: „Und eine solche Geisteshaltung zielen Sie an?“

Wir müssen zwei Interpretationen von „menschlich“ bzw. „unmenschlich“ unterscheiden; deswegen enthält meine Antwort sowohl ein „ja“ als auch ein „nein“:

„Ja“; ich möchte, daß niemand mehr glaubhaft behaupten kann, die objektiv-wirkliche Idee oder das Wesen des Menschen erkannt zu haben und mir damit vorschreiben darf oder gar soll, wie ich angeblich als wahrer Mensch zu leben habe.

„Nein“; an die Stelle der vorgegebenen objektiv-wirklichen Ideen oder Wesenheiten treten unsere subjektiv-unwirklichen Begriffe; das sind Erfindungen bzw. Konstruktionen. Wir müssen aus eigener Kraft intersubjektive Standards finden, auf deren Grundlage wir vernünftig zusammenleben und unter anderem auch „menschlich“ von „unmenschlich“ unterscheiden können.   

Was sonst wäre die Aufgabe der Politik oder Juristerei?

 

AD: „Das schaffen wir nicht; Gesetze, Werte oder Ge- und Verbote müssen uns objektiv-wirklich vorgegeben sein, denn es geht nicht darum, wie wir sie gerne hätten!“

Auch das angeblich objektiv-wirklich Vorgegebene

– muß uns von den Mitmenschen gesagt werden, und

– wir selbst verfügen nicht über das Vermögen, unsere Verstehungen des Gehörten gegebenenfalls als objektiv-wirklich Vorgegebenes erkennen zu können.

Da wir diese Fähigkeit – anders als in Antike und Mittelalter – all unseren Mitmenschen jedoch ebenfalls absprechen, hat sich der Punkt „objektiv-wirklich Vorgegebenes“ definitiv erledigt, so daß sich die Alternative „vorgegeben – nicht-vorgegeben“ erübrigt.

Wir stehen vielmehr vor der verständlichen, aber  nicht unbedingt einfachen Entscheidung, inwieweit wir bereit sind, uns freiwillig in eine Gemeinschaft einzuordnen.

 

AD: „An soetwas wie ein Gewissen glauben Sie also nicht . . .?“

Doch; ganz im Gegenteil:

Ohne objektive Wirklichkeit wird das subjektive Gewissen sogar zum einzigen Fixpunkt.

Aber mein Gewissen sagt mir nicht, was Frau Schulze tun soll, sondern bestenfalls erkenne ich, worin meine Aufgabe besteht. Dazu muß ich freilich in der Lage sein, das Gewissen von allen anderen inneren Stimmen zu unterscheiden, was nicht immer einfach ist.

Anders formuliert:

Ich habe keinerlei Probleme mit dem Gewissen, kann mir aber nie sicher sein, ob mein „Gewissen“ tatsächlich mein Gewissen ist. 

Verstehen wir es ganz „fromm“ als eine Stimme, die letztlich irgendwie von Gott kommt, so kann ich dies höchstens dann erkennen, wenn er mir seine Erwartungen persönlich mitteilt und nicht durch Herrn Müller mit freundlichen Grüßen überbringen läßt. Andernfalls könnte sich jeder damit aufspielen, mir den Willen Gottes mitteilen zu dürfen, können oder sollen.

 

AD: „Worin das ‚Menschliche‘ bzw. ‚Unmenschliche‘ bestehen, stimmt also möglicherweise in den beiden Modellen sogar überein; mit Sicherheit differieren sie lediglich in ihren Begründungen.“ 

Das ist richtig; wir sollten die eigene Verantwortung für unser – auch gesellschaftliches – Leben anerkennen und endlich aufhören, 

– uns hinter einer angeblichen Idee des Menschen zu verstecken oder 

– einer solchen Schablone anzupassen und damit

– falschen Idealen nachzujagen, 

– nur um unsere Verantwortung auf das – anhand der Idee bzw. Schablone – „Kontrollier-„,  „Überschau-“ und „Machbare“ begrenzen zu können. 

 

Sie sind Sie, und ich bin ich; uns verbindet keine gemeinsame Idee, sondern wir stellen zwei – nicht nur Einzelne, sondern sogar – Einzige dar. Der Eiffelturm ist ein Einzelner; Sie und ich sind Einzige.

Jedes Subjekt hat die Aufgabe, ganz es selbst zu werden, seine Talente zu entfalten, damit die eigene Einzigkeit auszudrücken und so seinen Sinn zu finden. In dem Maße, in dem das gelingt, wird unser Leben wahr – und eine andere Wahrheit gibt es meines Erachtens nicht.

Jean Paul Sartre faßte dies in die Worte, daß „die Existenz vor der Essenz kommt“.

In unserem Sprachspiel wäre freilich „Idee“ besser als „Essenz“:

Ich lebe und bestimme mich damit zu einem einzig(artig)en Selbst – als der „Idee“ für mich. So sollte ich nicht – von wem aus auch immer – sein, sondern damit bin ich identisch, weil ich allein mit meiner Freiheit dahinterstehe.

Für den Körper, den ich habe, bin ich zu einem erheblichen Teil nicht verantwortlich; aber für mein Selbst bin ich es ganz allein.

 

(Es ist klar, daß jeder von uns diese Gedanken für sich selbst formulieren muß. 

Ich werde des öfteren zur ersten Person Singular wechseln, ohne nochmals darauf hinzuweisen. Das resultiert nicht aus einer übersteigerten Egomanie, sondern aus dem Willen, mich möglichst exakt und verständlich auszudrücken; in der Ich-Form ist das häufig leichter möglich.)

 

Das ist gemeint mit meiner ideen-freien Menschlichkeit; sie nimmt jede Subjektivität als eine einzige ernst.

Dafür ist weder in der modernen noch in der vormodernen Tradition Platz.

Unter der Überschrift „Person“ fand dieser Gedanke durch das Christentum Einlaß in die Geschichte: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen“ und sage nicht „Hallo Menschen“, ließe sich passend ergänzen.

Aber das Konzept der Personen konnte sich bisher nicht gegen die starke Tradition der Seienden durchsetzen. Wenn letztere in der Postmoderne wegfallen, erhält die ideen-freie Menschlichkeit hoffentlich eine neue Chance.

 

Emmanuel Levinas sieht unsere disbezüglichen Schwierigkeiten vor allem darin begründet, daß das traditionelle Denken totalitär ist. Eines seiner beiden Hauptwerke trägt dementsprechenden den Titel „Totalität und Unendlichkeit“.

Erstere steht für den Horizont des traditionellen Denkens; es ist grenzenlos oder vereinnahmt alles, so daß der „Andere“ kein Anderer – keine eigene Unendlichkeit – sein kann, sondern zu einem verfügbaren Bruchstück in der Totalität meines Denkens wird.

Der Versuch, den Anderen zu denken,

– beraubt ihn seiner Unendlichkeit,

– objektiviert ihn, das heißt, reduziert ihn auf ein bloßes Objekt,

– das vielleicht marktschreierisch „Subjekt“ genannt wird, aber

– in Wirklichkeit die Subjektivität tötet. 

 

Der „Tod des Subjekts“ ist Levinas zufolge also das Resultat des traditionellen Denkens. Damit steht er zumindest diesbezüglich in der Nachfolge von Martin Heidegger, für den die abendländische Metaphysik mit den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts möglicherweise ihren „Höhepunkt“ und damit ihr Ende erreicht hat.

 Aber wenn Levinas das richtig sieht, ist das geflügelte Wort vom „Tod des Subjekts“ irreführend:

Was niemals gelebt hat, kann auch nicht sterben; die Tradition kennt weder Subjektivitäten noch das Leben, sondern benutzt nur pathetisch oder hochtönend große Worte, wenn sie behauptet, ihre Subjekte besäßen ein „Innen“. 

Ich hoffe, daß die Postmoderne es mit dem Tod der Seienden ermöglicht, das Leben von Subjektivitäten denken zu können.