1.1.3. Existenz, Sein oder Daß sind unverständlich

AD: „Wenn die Essenz, das Wesen oder Was der Seienden mit der Intention unserer Begriffe übereinstimmt, komme ich damit ganz gut klar. Zur Existenz, dem Sein bzw. Daß hatten Sie jedoch nur gesagt, sie würden logischerweise zu den Seienden gehören und den Nicht-Seienden fehlen. Das ist zwar nahezu tautologisch, aber damit weiß ich trotzdem noch nicht, worum es sich hierbei handelt.“

Da stehen Sie nicht allein; niemand versteht, was Existenz, Sein oder Daß bedeuten sollen.

 

Im Alltag fällt das natürlich nicht auf; jeder sieht ein, daß wir zum Bäcker gehen müssen, wenn kein Brot mehr im Schrank – vorhanden – ist. Aber die Wirklichkeit der Welt oder die Existenz Gottes sind von einem ganz anderen Kaliber, und da läßt uns der Alltagsverstand im Stich, denn auch einen existierenden Gott würde sich wohl keiner von uns als im Himmel – vorhanden – seiend vorstellen. 

Das ist verrückt: Menschen streiten wegen der Existenz bzw. Nicht-Existenz Gottes – und niemand versteht auch nur das, was er selbst sagt

Seit zweieinhalb tausend Jahren bemühen sich die abendländischen Denker vergeblich darum zu klären, was wir mit „Wirklichkeit“ meinen. Andere Namen – wie „Sein“, „Existenz“, „Bestehen“, „Bestehen aus . . .“ oder „. . . in . . .“, „Gegeben-“ bzw. „Vorhandenheit“ usw. – liefern keine Antworten, sondern benennen das Fragliche lediglich um.

 

Viele sehen in Leibniz‘ Frage „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“ das Grundproblem des traditionellen Denkens.

Ich glaube jedoch, wir müßten dabei mindestens eine Ebene tiefer ansetzen: 

Was soll es überhaupt bedeuten, daß „etwas ist und nicht vielmehr nichts“?

Nur wer diese Frage beantwortet hat, kann sich sinnvoll der Leibnizschen zuwenden.

Ersteres steht aber noch aus, so daß die Tradition ihre eigene Grundvoraussetzung, daß „die Seienden sind“ (Parmenides), nicht versteht. Sie streitet darüber, welche Seienden „sind“, ohne zu wissen, was Seiende charakterisiert oder zu Seienden macht.

 

Wir hatten gesagt, daß in Antike und Mittelalter nicht nur die Essenz des Seienden A, sondern auch seine Existenz anders war als beim Seienden B. Einfacher formuliert bedeutet dies, daß die Wirklichkeit eines bestimmten Seienden damals zu seinen Eigenschaften zählte.

Krokodile beispielsweise haben 1000 Attribute; eines von ihnen besteht in ihrer Existenz(K) und dadurch sind Krokodile (wirklich).

Drachen besitzen ebenfalls 1000 Eigenschaften, aber das (Vorhanden-)Sein(D) befindet sich nicht darunter; deswegen gibt es keine Drachen.

Ein solches Denken ist uns wohl kaum noch möglich. Wir kennen weder existierendes noch nicht-existierendes Geld; das wollte Kant mit seinem Beispiel der „100 Taler“ zeigen. Geld ist Geld – unabhängig davon, ob wir es besitzen oder vermissen; das ist unser Problem, und nicht das des Geldes.

 

Damit entfällt auch eine – vielleicht etwas simple, aber wohl gerade dadurch – weit verbreitete Interpretation des „ontologischen Gottesbeweises“ (Anselm von Canterbury):

Ein vollkommener Gott, der existiert, hat mit seiner Existenz eine positive Eigenschaft mehr, als exakt dieser gleiche „fast vollkommene“ Gott, der lediglich nicht existiert.

Anselm definierte Gott „als das vollkommenste aller Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann„.

Angenommen wir denken uns ein großartiges und absolut perfektes Wesen, das (nahezu) keinen Makel besitzt – bis auf einen einzigen: Es existiert leider nicht.

Dann ist es jedoch nicht das vollkommenste Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann, denn das gleiche Wesen wäre auch als existent denkbar.

Gott – als das vollkommenste Wesen, über das hinaus tatsächlich nichts Vollkommeneres gedacht werden kann – muß also notwendigerweise existieren, denn ansonsten wäre er nicht das vollkommenste Wesen.

 

Natürlich ist das für mich – und hoffentlich auch für Sie – kein Gottesbeweis:

AD: „Wieso nicht?“

Weil wir nicht an Seiende glauben, Anselm aber Gott als – großartigstes oder „seiendstes“ –  Seiendes voraussetzt.

Ohne Seiende

– entfallen Existenz, Sein oder Daß zwar nicht,

– können jedoch keine Eigenschaften der Seienden mehr darstellen, sondern

– werden zu einer homogenen Vorhandenheit, die noch niemand verstanden hat; und 

– Essenz, Wesen bzw. Was gehen in die Intension der modernen Begriffe über,

– die eine Extension besitzen, welche in den „entsprechenden“ Seienden besteht.

 

Das traditionelle Denken „von Jonien bis Jena“ (Franz Rosenzweig), das heißt, von Parmenides bis Hegel sah bzw. sieht das natürlich anders und geht davon aus, daß die Wirklichkeit – die Existenz, das Sein oder Daß – mit dem Denken zusammenfällt.

Parmenides formulierte „denn dasselbe ist Denken und Sein“, während Hegel  diese Identität in den Worten „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ zum Ausdruck brachte.

Höchstens wer dies glaubt, kann mit Anselm von der Logik auf die Wirklichkeit schließen.

 

Wir tun es nicht; dazu kommt außerdem noch, daß mir Anselms Definition ohnehin mißfällt:

Gott stellt nicht „das vollkommenste aller Wesen dar, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann“, sondern bestenfalls ein Wesen, das vollkommener ist als alles, was gedacht werden kann.

Der Anselmsche Beweis scheitert also, weil er – wie bereits erwähnt – voraussetzt, daß Gott – falls es ihn gibt – ein Seiendes darstellen müsse.

Ich meine dagegen: Vielleicht gibt es Gott – das weiß niemand mit Sicherheit –, Seiende aber gewiß nicht.

 

AD: „Gott ist Ihnen zufolge kein Seiendes; aber was könnte er dann überhaupt sein?“

„Philosophieren ist mein Versuch zu verstehen, was ich selbst sage“ (Georg Picht), und dies besteht bestenfalls in meinen eigenen Wissungen; dazu kann Gott unmöglich gehören, denn dann würde nicht ich von ihm, sondern er von mir abhängen.

Für Gott bleibt also nur die zweite unserer beiden oben eingeführten Wittgensteinschen Komponenten; er muß zum Sich-Zeigen gehören

AD: „Wenn ein tiefgläubiger Mensch – vollkommen unabhängig davon, welcher Religion er offiziell angehört – sagt, er glaube an den einen einzigen und wahren Gott; an wen glaubt er dann?“

Natürlich an den richtigen, den einen einzigen und wahren Gott. Aber dieser Rechtgläubige hat keine Ahnung davon, wer oder was dieser Gott ist; alle Vorstellungen oder Begriffe sind lediglich Bilder von Götzen.

AD: „Das würde bedeuten, daß jeder „Rechtgläubige“, der irgendetwas von Gott weiß, kein Rechtgläubiger sein kann?“

Richtig!

AD: „Aber widerspricht das nicht dem christlichem Verständnis, wonach sich Gott in Christus geoffenbart hat?“

Nein, denn das Sich-Offenbaren (Gottes) gehört zum allgemeinen Sich-Zeigen und ist damit sowohl unsag- als auch unwißbar.

 

Das soeben en passant eingeführte Wort „Wissung“ ist unüblich; wir brauchen es aber trotzdem, um eine möglichst einheitliche Darstellungsweise entwickeln zu können.

Wortpaare wie „Wahrnehmungen – Wahrgenommene“ oder „Vorstellungen – Vorgestellte“ usw. besitzen bei uns eine sehr exakte Bedeutung. Diese konsistente Systematik möchte ich unter anderem um „Wissungen – Gewußte“ erweitern. Meine Wortbildungen erinnern vielleicht ein wenig an Martin Heideggers „Schwarzwald-Deutsch“, erfolgen aber relativ zwingend und unabhängig von ihm.

Der zweite Grund ist ein grammatischer: Wissung gestattet nicht nur die Pluralbildung „Wissungen“, sondern verweist auch – anders als das Wissen – eindeutig auf seine substantivische oder nicht-verbale Bedeutung.

Am wichtigsten ist jedoch die inhaltliche Begründung:

Bei Wissen assoziieren wir nahezu zwangsläufig, es handle sich um Wissen von der Wirklichkeit. Das klingt wie selbstverständlich, ist aber alles andere als das, denn das Wissen von der Wirklichkeit bestände notwendigerweise in Seienden, so daß ohne diese auch jenes entfallen muß.

 

Unsere Wissungen besitzen kein Wovon oder keine Referenten.

Wir wissen beispielsweise, daß

– Schneewittchen bei den sieben Zwergen wohnt,

– der Klapperstorch die Babys bringt,

– in Loch Ness das Ungeheuer Nessie lebt,

– der Teufel als Chef der Hölle fungiert und

– arme Seelen dort leiden läßt. 

AD: „Daß unser Märchen-Wissen keine Referenten besitzt, war wohl schon immer klar . . .“

Meine letzten drei Beispiele beweisen zumindest schon einmal, daß die Grenzen zum „Märchen“ fließend sind und jeder selbst entscheiden muß, wo letzteres für ihn beginnt.