1.1.2. Zwei moderne Korrekturen an der Tradition

Die Moderne überwindet bereits wichtige Aspekte des antik-mittelalterlichen Denkens, verbleibt dabei aber weitestgehend innerhalb des Wirklichkeitsbilds der Tradition, indem es deren Glauben an die (Existenz der) Seienden beibehält:

Nichtsdestotrotz wurden die transzendenten Ideen weitestgehend abgeschafft, so daß die Seienden nun in der Luft hängen, vom Himmel gefallen oder geschaffen worden sein müssen. Durch eine Evolution können die Ideen nicht ersetzt werden, denn sie läuft notwendigerweise darauf hinaus, daß lediglich diese Seienden evolutiv in jene übergehen und damit deren Fundament gar nicht tangiert wird:

Wir wollten wissen, wie die Seienden möglich sind oder woher sie kommen, aber nicht, wie die Seienden B aus den – lediglich anderen – Seienden A entstehen, was zur „schlechten Unendlichkeit“ (Hegel) einer endlosen Rekursion führt. 

 

Die antik-mittelalterlichen Ideen

– sind uns unverfügbar vorgegeben,

– können dadurch erkannt werden und

– entsprechen Idealen.

Die Idee des Menschen beispielsweise drückt aus, wie letztere sein sollten oder wie sie ursprünglich – von wem auch immer – gedacht waren.

Indem wir – meines Erachtens zu Recht – die (Wirklichkeit der) Ideen bestreiten, fehlt also unter anderem der Maßstab, den die Tradition benötigt, um ihre Wahrheit erkennen zu können. Er muß uns – woher auch immer – als unverfügbar vorgegeben sein, denn erfinden oder konstruieren können wir „alles“. 

 

Wir waren noch beim ersten Punkt; die unverfügbaren Ideen aus Antike und Mittellter werden in der Moderne gecancelt.

Eine zweite Veränderung des modernen Denkens dürfte sich jedoch als ebenso einschneidend erweisen:

Wir hatten im letzten Kapitel gesagt, daß die Seienden in der Einheit von

– Essenz, Wesen oder Was und

– Existenz, Sein bzw. Daß

bestehen. Das bleibt richtig, kann aber auf (mindestens) zwei Arten verstanden werden, und die wechseln in der Moderne.

 

Mohrle ist der Name eines Seienden; seine Essenz, sein Wesen oder Was sind katzenartig, und seine Existenz, sein Sein bzw. Daß – wahrscheinlich zu unserer großen Überraschung – ebenfalls

So war das jedenfalls in Antike und Mittelalter; natürlich haben alle Katzen eine bestimmte Katzen-Essenz, die sich erheblich von derjenigen der Hunde unterscheidet; klar; deswegen sind sie ja Katzen und keine Hunde.

Aber die gleiche Logik gilt auch für dieses „sind“; Katzen sind oder existieren anders – „sind(K) bzw. existieren(K)“ müßte ich schreiben – als Hunde mit ihrem „sind(H) bzw. existieren(H)“.

Letztlich bestand jedoch gar kein Grund für uns, überrascht zu sein:

Ist es nicht selbstverständlich, daß Worte auf eine andere Art sein müssen als Zahlen, Schraubstöcke, Liebesbeziehungen, Gedichte oder Kriege? Worte sind(W), Zahlen sind(Z), . . .   

 

Die Moderne sagt „nein“; alles ist auf die gleiche Weise  – vorhanden; Witze wie Konzerte, Todesurteile wie Nobelpreise; es gibt nur eine Existenz, ein Sein oder Daß.

Dann bestehen zwar weiterhin Seiende, aber wir müssen sie anders denken als in Antike und Mittelalter.

 

Damals erfolgte der denkerische Zugang zu den Seienden über diese selbst: 

Mohrle hat

– das Wesen(K) und

– das Sein(K)

einer Katze; andernfalls wäre sie keine. 

 

Nach dem Wechsel kennen wir nur noch ein einziges Sein. Die Transzendenz der Ideen haben wir bereits gestrichen, so daß nur die Immanenz oder Welt verbleiben und diese – auf eine einheitliche Weise – sind oder das Vorhandene bilden.

An der Essenz, dem Wesen oder Was hat sich jedoch nichts geändert. Wir können diese Komponente der Seienden also nutzen, um das einheitlich Vorhandene aller Seienden in Katzen, Hunde, Worte, Zahlen . . . zu unterteilen und gelangen damit zu den Begriffen:

 

Dem soeben angedeuteten Procedere zufolge 

– ist jeder Begriff in der Moderne eine Intension und

– hat eine Extension.

Erstere entspricht der unveränderten Essenz, dem Wesen oder Was der Seienden; sie werden in der Moderne zur Intension, die ihren Begriff erst zum Begriff macht.

Die Extension, die der Begriff nur hat oder besitzt, besteht in der Menge der Seienden,

– die wir seiner Essenz zuordnen oder

– die unter diesen Begriff fallen.

Dieses „hat“ bzw. „besitzt“ ist sehr wichtig; Begriffe bestehen somit nicht in der Einheit von In- sowie Extension. Hierdurch wird es möglich, daß die rein geistigen Begriffe auch materielle Seiende integrieren können.

 

Das ist keine gute oder saubere Definition des Begriffs, denn was bedeuten „der Essenz zuordnen“ oder „unter einen Begriff fallen“? Aber vielleicht ist eine solche ausgehend von Seienden, die sich lediglich einem Denkfehler verdanken, auch gar nicht möglich.