1.1.5. Die Existenz der Seienden ist ein reines Glaubensbekenntnis

Wir haben mit den beiden Wittgensteinschen Komponenten, dem Sich-Zeigen sowie dem, was man sagen kann, einen Ausgangspunkt für unsere konstruktiven Überlegungen im dritten Teil gefunden.

AD: „Das ist ein fundamentaler Punkt, denn Denken bedeutet, die Konsequenzen aus den vorliegenden Prämissen zu ziehen. Wir verbleiben also stets innerhalb des Ausgangshorizonts, den unsere Voraussetzungen bestimmen und explizieren letztlich nur das, was diese – implizit – bereits enthalten. Denken ist nicht kreativ, sondern macht nur ersichtlich, was ein Super-Geist auch ohne alle Logik sofort überschaut hätte.“

Das stimmt, und darin besteht gewiß auch eine Grenze des Denkens.

Aber gerade deswegen ist es besonders wichtig, daß unser Ausgangspunkt

– nicht nur „richtig“ im Sinne von sinnvoll oder fruchtbar, sondern

– auch möglichst allgemein gewählt wird.

 

AD: „Ja; aber mit dem Übergang zur Postmoderne hat das meines Erachtens nicht viel zu tun; nach einem möglichst sicheren Ansatz fragt auch das traditionelle Denken.“

Das stmmt, aber zwischen den Lösungen der beiden Modelle liegen Welten. 

 

Die Tradition kann doch gar nicht anders, als Was-ist-Fragen zu stellen und nach vernünftigen Antworten zu suchen. Wenn sie also wissen möchte,

– ob etwas Grundlegendes existiert, das notwendigerweise allem anderen vorausgeht, oder

– ob es eine Entität gibt, die alle anderen hervorbringt, trägt und vollendet,

muß die Antwort doch

– die Form der Seienden besitzen und

– kann somit nur in Ur- oder Über-Seienden bestehen.

Die wurden in der Antike „Ideen“ geannt und später „Gott“ oder etwas neutraler „Ursprung“ bzw. „Urgrund“, aber diese Namen sind völlig belanglos; es geht allein um die stets gleiche Form des Denkens.

 

Das wird sehr schön an den Überlegungen von Peter Knauer deutlich; einem Thelogen, der 2024 starb und dem ich sehr verbunden war. Er stand beruflich vor dem Problem,

– einerseits angeben zu müssen, wer Gott sein soll, um sinnvoll von ihm sprechen zu können,

– obwohl andererseits Knauers eigener Überzeugung sowie dem christlichen Glauben zufolge jedes Wissen von Gott ausgeschlossen ist.

Wie läßt sich sagen, was wir nicht wissen können?

Er bewältigte diese Schwierigkeit, indem er Gott als denjenigen verstand, „ohne den nichts existiert“. Das ist eine Definition Gottes, in der alles mögliche Wissen von der Schöpfung vorkommen kann, aber keines von ihm erforderlich ist.

 

Ich fand das ziemlich clever, und deswegen gefiel mir Knauers Ansatz, solange ich glaubte, meine Fragen im Rahmen des traditionellen Denkmodells beantworten zu können. Diese Hoffnung auf das richtige Seiende mußte ich im Laufe der Jahre jedoch aufgegeben, und darum habe ich mich der Postmoderne zugewandt.

AD: „Und die bietet Ihnen mit der Wittgensteinschen Zweiheit eine Alternative zu ‚es gibt nur Seiende‘ . . .“

Richtig.

 

Die Tradition sucht auf ihre Weise nach den Fundamenten der Wirklichkeit.

Unsere Vorstellungen sind dabei nicht sonderlich hilfreich, weil wir uns fast „alles“ vorstellen können. Die Wahrnehmungen scheinen der Wirklichkeit jedoch nahezukommen, denn sie sind uns fest vorgegeben.

Natürlich können wir die Augen schließen, aber wenn sie offen sind, ergeben sich ganz bestimmte Sehungen und unsere diesbezüglichen Freiheitsgrade liegen bei Null. Der traditionelle Gedanke, nach den Ursachen der Wahrnehmungen suchen zu müssen, um der Wirklichkeit auf den Grund zu kommen, ist also durchaus nachvollziehbar.

 

Die Ursachen der Wahrnehmungen können logischerweise nicht wieder in letzteren bestehen denn dann wären es Wahrnehmungen und nicht deren Ursachen.

Sind die Wahrnehmungs-Ursachen WU jedoch keine Wahrnehmungen, müssen sie mittels einer Wahrnehmungs-Ursachen-Theorie WUT erschlossen werden; konkret wäre das im Falle der Tradition die Abbildtheorie

 

 

    geistig-unwirklich   geistig-unwirklich  

 

Wahrnehmungen

WUT

 

WU

 
 
        wirklich  

Abbildung 1.1.5.-1

 

Die Wahrnehmungs-Ursachen WU müssen natürlich wirklich sein, um tatsächlich Wahrnehmungen bewirken zu können. Die logische Konsequenz der Abbildtheorie WUT ist jedoch stets geistig-unwirklich, denn aus dem Nachdenken oder einer logischen Operation der Form „wenn . . ., dann . . .“ kann niemals Wirklichkeit entstehen.

Wir müssen also die Wahrnehmungs-Ursachen WU deutlich von dem unterscheiden, was aus der Wahrnehmungs-Ursachen-Theorie WUT resultiert; jene sind Seiende und dies ist deren Begriff.   

 

 

    geistig-unwirklich   geistig-unwirklich  
 

Wahrnehmungen

Abbildtheorie Begriff der Seienden  
Seiende  
        wirklich  

Abbildung 1.1.5.-2

 

Der Begriff der Seienden ist zwingend mittels der Abbildtheorie hergeleitet;

– also sind die Seienden erforderlich,

– aber daraus folgt doch absolut nicht, daß sie auch existieren müssen.

Die Abbildtheorie, auf der das alles fußt, könnte doch auch eine unserer vielen Schnapsideen sein. Muß es alles geben, was sie verlangen? Wenn „ja“, überlege ich mir eine Theorie, derzufolge aus unserem Wasserhahn Bier fließt – und wehe es kommt keines. 

Prinzipiell kann keine Theorie die Frage nach der Existenz beantworten.

 

AD: „Natürlich nicht; etwas Unverstandenes ist niemals das Resultat einer Überlegung, die ja immer nur zu Verstandenem führen kann.“

(Ich spreche locker weiterhin von „Existenz“, „es gibt“ usw.; wir wissen beide, daß das zumindest inkonsequent ist, können jedoch nicht alle Probleme zugleich klären. Und zudem würde mein Text noch unlesbarer, wenn ich versuchte, mich exakter auszudrücken.) 

 

Wir können das auch verallgemeinern: 

Alle Theorien (zum Beispiel die Abbildtheorie)

– sind von uns hergestellt, konstruiert oder erfunden und

– damit unwirklich.

Nichtsdestotrotz können sich aus ihnen

– bestimmte Forderungen an die Wirklichkeit ergeben (Sie muß in Seienden bestehen.), aber

– ob jene von dieser erfüllt werden,

bestimmen nicht die Theorien, sondern allein die Wirklichkeit. Sie 

– kommt nicht nur vor allen Theorien, sondern

– ist auch vollkommen unabhängig von ihnen, weil sie

 sämtliche Theorien erst ermöglicht.

 

AD: „Damit bringen Sie einen neuen Gedanken ins Spiel.

Wir waren uns bereits einig, daß es die Liebe und das Leben, Gott und den Teufel doppelt gibt; zum einen als sagbares Wissen sowie zum anderen im Sich-Zeigen. Nun kommt noch hinzu, daß dieses wirklich und jenes unwirklich ist. Ich versuche, die beiden Aspekte am Beispiel der Erde anzudeuten:

Als sagbare Wissung bildet sie einen Planeten unseres Sonnensystems. Planeten wiederum sind Massen, die zu gering sind, um eine eigene Kernfusion in Gang zu bringen, wobei Massen . . . und Kernfusion . . .

Aber die Erde gehört auch zum Sich-Zeigen; dieser zweite Aspekt ist unsagbar, und deswegen versuchen die Dichter ihn zu beschreiben. Praktischer erfahren wir ihn, beim Pflanzen eines Apfelbäumchens oder wenn unsere Enkelkinder Laufen lernen. Weder ist die Erde in diesen beiden Fällen ein Planet noch besitzt sie eine (zu geringe) Masse.

 

Bezogen auf diesen zweiten Aspekt können wir beispielsweise sagen:

Erde und Sonne

– sind nicht wirklich Kugeln,

– ziehen sich nicht wirklich an,

– liegen nicht wirklich außerhalb voneinander,

– kreisen nicht wirklich umeinander usw. 

 

AD: „Darf ich Ihre Beispiele verallgemeinern:

Die Physik kennt nur unwirkliche Modelle von der Wirklichkeit?“

Das ist richtig; aber um nicht falsch verstanden zu werden, sollten Sie noch ergänzen:

Und die Aufgabe eines Modells besteht darin,

– verfügen zu können, 

– nicht aber, sich der Wirklichkeit – des Sich-Zeigens – anzunähern.

Die Modelle sind immer anders, werden jedoch nicht immer besser im Sinne von adäquater. 

 

AD: „Das hatte ich nicht erwartet und haut mich um:

Alles, was ich weiß, muß also falsch sein!“

Nein; natürlich nicht; es wäre ja furchtbar, würde ich dergleichen behaupten!

Alle Wissungen sind unwirklich, aber richtig oder falsch.

Das Sich-Zeigen ist wirklich, und kann dadurch wahr bzw. unwahr sein.

 

Es gibt demnach keine wahren Aussagen; weder Gesetze – des Rechts, der Mathematik, Logik oder Natur zum Beispiel – noch Dogmen der Theologie bzw. Ethik oder sonstiges. Sie alle mögen sich als richtig oder falsch erweisen, und was diese Prädikate bedeuten, hängt vielleicht sogar vom Einzelfall, mit Sicherheit aber vom Anwendungsbereich ab. Es versteht sich von selbst, daß der Strafgesetzgebung ein anderer Begriff des Richtigen zugrundeliegen muß als der Mathematik oder dem Sport.

Damit darf ich Sie korrigieren:

Alles, was Sie wissen,

kann weder wahr noch unwahr sein – weil es nicht wirklich ist –, und

– als Unwirkliches erweist es sich als richtig oder falsch

 

AD: „Wenn Aussagen bestenfalls richtig sein können, haben sie also mit der Wahrheit gar nichts zu tun?“

Zumindes nicht direkt, aber indirekt schon.

Mein Leben sollte wahr sein, und ist zugleich (für mich) das Einzige, was überhaupt wahr sein kann.

Gelingt mir ersteres, so spielt es zum einen überhaupt keine Rolle, was ich – an bloß Richtigem bzw. Falschem – gedacht, geglaubt, gewußt oder gesagt habe. Mehr als ein gelungenes, weil wahres Leben ist gar nicht möglich und kann insbesondere nicht durch ein paar vielleicht sogar richtige Aussagen noch überboten werden.

Zum anderen bleibt aber auch unbestreitbar, daß sich mein Denken, Glauben, Wissen oder Sagen fundamental auf mein Leben auswirken. Ihre Bedeutung

kann also einerseits gar nicht überschätzt werden, obwohl

– wir andererseits leicht einsehen können, daß es um sie gar nicht geht.

 

AD: „Das würde freilich bedeuten, daß ich niemals über die Wahrheit bzw. Unwahrheit bezüglich des Lebens einer anderen Subjektivität urteilen kann. Ich weiß doch höchstens, was sie sagt oder tut, und das können bestenfalls richtige Wissungen sein.“

Ja; aber dieses „anderen“ müßten wir noch streichen; ich kann es auch bei mir selbst nicht.

Damit bestreite ich keineswegs, über ein unfehlbares Gewissen oder etwas anderes Unbedingtes zu verfügen, sehr wohl aber die Selbstsicherheit, mit der (zu) viele Zeitgenossen glauben, diese Stimme sauber von allen sonstigen „Einflüsterungen“ unterscheiden zu können

 

AD: „Sie akzeptieren also die allgemeinenen Relativismus-Vorwürfe, den Postmodernen seien sämtliche Aussagen gleich-gültig?“ 

In keiner Weise! 

Es is absolut nicht beliebig, wie ich lebe oder was ich sage; aber „Richter ist allein Gott“

Der Fehler der Traditionell-Konservativen, die den Vorwurf von soeben häufig erheben, besteht nicht darin, die Bedeutung von Wahrheit oder Richtigkeit ernstzunehmen. Das ist mehr als berechtigt, müßte eine Selbstverständlichkeit darstellen, und nur Chaoten, Verführer oder Diktatoren werden dem widersprechen (wollen).

Falsch ist es jedoch,

die Wirklichkeit oder gar Notwendigkeit der Wahrheit

– mit dem Anspruch auf ihren Besitz zu verwechseln.

Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Ich bestreite

– zum einen, daß überhaupt irgendein Mensch die Wahrheit haben kann, und 

– zum anderen, daß dies nötig wäre, um sie wertschätzen und als fundamental erachten zu können.

Auch Romeo und Julia glauben an die Liebe sowie die Opfer von Diktaturen an die Freiheit.