Die Denkrichtung unserer Überlegungen können wir in einfachen Worten anhand von vier für die betreffenden Philosophen charakteristischen Fragen andeuten:
George Berkeley: „Verursacht ein fallender Baum Lärm, wenn es niemand hört?“
Martin Heidegger: „Waren die Gesetze Newtons schon vor Newton wahr?“
Thomas S. Kuhn: „Lebten Aristoteles und Galilei in derselben Welt?“
Max Black: „Existierte die Rückseite des Mondes, bevor wir sie gesehen haben?“
Wohl viele von uns dürften sich ob solch naiver Fragen fast beleidigt fühlen und sie natürlich alle mit einem glatten „ja“ beantworten.
Ich will Ihnen dagegen zeigen, daß manches für das ebenso eindeutige „nein“ der genannten Denker spricht, dem wir uns 100%-ig anschließen.
Mir ist bewußt, daß diese „Kopernikanische Wende“ (Kant) natürlich „keineswegs eine Empfehlung für mein Buch darstellt, sondern eher das Gegenteil. Denn Neues will weder der Fachmann noch der Laie. Jener ist froh, wenn er so weitermachen kann, wie er es gelernt hat, . . . und dieser will auch nicht eine neue und revolutionäre Philosophie vorgesetzt bekommen, sondern – wenn überhaupt Philosophie, dann schon – die richtige oder die Philosophie der Gegenwart.“ (Franz Rosenzweig)
Bei beiden Wünschen des Laien muß ich Sie allerdings enttäuschen:
Die richtige Philosophie kann es nicht geben, weil philosophische Fragen keine endgültigen Antworten kennen – genau das macht sie zu philosophischen Fragen: Was einmal definitiv beantwortet sein wird, war schon zuvor keine philosophische Frage.
„Die Meinung, die sich am Ziel glaubt, blockiert das Verstehen“ (Josef Simon) und damit die Wahrheit, würde ich gerne ergänzen.
Ob mein Denken gegenwärtig en vogue ist – der zweite Wunsch –, interessiert mich nicht. Ich möchte, soweit dies überhaupt möglich ist, jeglichen Zeitgeist hinter mir lassen; freilich denjenigen, der zur Zeit des Sokrates, Jesus, Thomas oder Newton herrschte, ebenso wie den heutigen.
Das Buch basiert auf der Annahme, daß ein Bewußtseinswandel hin zu den negativen Antworten auf die obigen Fragen bei hinreichend vielen Menschen gegenwärtig wichtiger wäre als alle pragmatischen Fortschritte, auf die wir in den letzten vier Jahrhunderten ebenso einseitig wie stolz gesetzt haben und in denen noch immer viele die Lösung unserer ständig zunehmenden Probleme sehen – anstatt ihrer Ursache.
Dieser moderne Irrglaube ist freilich nicht nur nachvollziehbar, sondern sogar nahezu zwingend, solange wir glauben, in den exakten Wissenschaften den Königsweg – vielleicht nicht nur zur Richtigkeit, sondern sogar – zur Wahrheit gefunden zu haben.
Die exakten Wissenschaften – für mich persönlich insbesondere die Theoretische Physik und Mathematik – sind großartig und eine unglaubliche Kulturleistung sowie ein Segen für uns alle. Aber zum einen haben sie nichts mit der Wahrheit zu tun, und zum anderen gibt es sehr viele weitere, ebenso bewundernswerte kulturelle Errungenschaften.
Die heute weit verbreitete Annahme, deren Krönung bestände in den exakten Wissenschaften, teile ich nicht. Das bezieht sich insbesondere auf den Reduktionismus, der davon ausgeht, daß sich nahezu alles – Leben, Bewußtsein, Kunst, Sprache, Religion usw. – auf Physik als die fundamentale Naturwissenschaft zurückführen lasse.
Bevor Sie mein Buch jetzt endgültig als „unwissenschaftlich“ beiseite legen, sollten Sie vielleicht einmal in „Geist und Kosmos“ von Thomas Nagel schauen. Obwohl dieses Buch den Untertitel trägt „Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist“, dürfte es kaum Fachleute geben, die Nagel vorwerfen, er sei unwissenschaftlich.
AD: „Das verstehe ich nicht; wenn die exakte Wissenschaft richtig ist, muß die Nicht-Wissenschaft als deren Negation falsch sein.“
Nein; zum einen wissen wir noch gar nicht, worin die angebliche Richtigkeit der exakten Wissenschaft genau bestehen könnte, und zum anderen ist Ihre Argumentation zu simpel gestrickt. Wir werden ausführlich darauf zurückkommen, so daß ich Sie bitte vorerst mit einem Beispiel, das auf Ernst von Glasersfeld zurückgeht, abspeisen darf:
Um den vor ihm liegenden Wald zu durchqueren, tastet sich ein Blinder Schritt für Schritt mühsam vorwärts. Auf der Gegenseite angekommen hat er einen Weg gefunden, um sein Ziel zu erreichen. So, wie der Blinde gelaufen ist, geht es also – auch. Es paßte; aber nicht wie der Schlüssel zum Schloß, sondern wie einer von 1000 Dietrichen. Dieser Weg war möglich – 999 andere Wege wären es freilich auch gewesen.
Ihr Fehlschluß besteht also in Folgendem:
Natürlich gilt „Wenn A richtig ist, muß Nicht-A als seine Negation falsch sein“; aber um eine solche Logik geht es an dieser Stelle gar nicht:
Bei uns ist A – der Weg des Blinden – keineswegs richtig, sondern lediglich geeignet, um ein davon unabhängiges Ziel B, die andere Seite des Waldes, zu erreichen. Daraus folgt dann nicht, daß andere Wege ungeeignet sein müßten. Was hat ein von A unabhängiges B mit dem Negieren von A zu tun?
Verstehen Sie mein Relativieren der exakten Wissenschaften bitte nicht falsch; das ist keine Ungerechtigkeit; ich bin dankbar und froh, heute hier in Mitteleuropa leben zu dürfen, und genieße die abendländischen Errungenschaften der Moderne. Den meisten von uns geht es zum Glück besser als vielen mittelalterlichen Fürsten. Das betrifft nahezu alle Bereiche unseres Lebens; selbst die relative Anzahl der Menschen, die gewaltsam umkommen, nimmt – allem Augenschein zum Trotz – wohl stetig ab (Thomas Piketty, „Eine kurze Geschichte der Gleichheit“).
Das entspricht dem Wie unseres Lebens.
Ich habe in diesem letzten Satz ganz bewußt kein einschränkendes „aber“ bzw. “ jedoch nur“ eingefügt, weil derartige Ermahnungen meiner Überzeugung zutiefst widersprechen würden. Wir wollen und – dürfen nicht nur, sondern – sollen das Leben genießen. Der Sinn des Lebens besteht in seiner eigenen Fülle oder Tiefe; das Leben ist letzte Wirklichkeit, Selbstzweck und kein bloßes Mittel – wofür auch immer.
Es geht „nur“ – im Sinne von „allein“ – um unser Leben, weil letzteres unüberbietbar ist!
Das bezieht sich keineswegs bloß auf ein „Jenseits“, sondern beginnt – wenn wir diesen unseligen Dualismus vorerst einmal beibehalten – im „Diesseits“.
Wir sollten Theodor Adornos Bonmot „Es gibt kein wahres Leben im falschen“ durch den Hinweis ergänzen, daß es aber sehr wichtig wäre, sich trotzdem darum zu bemühen.
Das „Diesseits“ ist weder Prüfungs- noch Bewährungsort und dürfte auch kein Jammertal sein, denn die Lust am Leben bildet nach meinem Dafürhalten das ent- sowie unterscheidend Christliche. Jesus wurde bekanntlich unter anderem auch vorgeworfen, er sei ein „Säufer und Fresser“.
Der katholische Dominikaner-Theologe Marie-Dominique Chenu sagte zu Maria Caterina Jacobelli, der Autorin von „Ostergelächter. Sexualität und Lust im Raum des Heiligen“:
„Sprechen Sie niemals von der Freude, Madame, sprechen Sie immer von der Lust, sonst wird man Sie spiritualistisch mißverstehen“ (wollen).
Trotz dieser positiven Wertung von Lust und Genuß ist das freilich – jetzt kommt das bereits befürchtete „aber nur“ also doch noch – lediglich die halbe Wahrheit, denn es gibt neben dem Wie des Lebens auch sein Wozu, seinen Inhalt oder Sinn.
Viktor E. Frankl – der „dritte Wiener Psychotherapeut“ – faßte seine Lebenserfahrungen in dem Leitsatz der Logotherapie zusammen, daß „wer ein Wozu zum Leben besitzt, nahezu jedes Wie erträgt“. Aus seinem Munde hat eine solche Überzeugung für mich Gewicht, denn Frankl überlebte Dachau sowie Auschwitz, wo sein Bruder, seine Frau und Eltern ermordet wurden.
Selbstverständlich können wir das Wozu unseres Lebens – seine mögliche Fülle also – völlig ignorieren und mit ungezügeltem Prassen, seichter Unterhaltung bzw. langweiligem Zeitvertreib oder Nicht-Denken in seinem Wie aufgehen.
Aber dieses Wie ist doch nichts anderes als der Status quo unseres Lebens auf dem Weg zu seiner möglichen Erfüllung oder Fülle, seinem Wozu oder Telos; das Wie ist also weder sekundär noch vermeidbar, sondern notwendig. Ein Wozu des Lebens ohne Wie würde erfordern, daß ersteres fertig vom Himmel fiele.
Ich bleibe also – mit der Tradition – dabei, zwischen dem Wie und Wozu des Lebens zu unterscheiden, weigere mich aber – entgegen der Tradition –, die beiden voneinander zu trennen oder gar gegeneinander auszuspielen:
Das Wie des Lebens ist – als der Status quo des letzteren – die notwendige Voraussetzung seines eigenen Wozu, der Fülle des Lebens; ohne Wie kein Wozu; ohne Status quo kein Telos.
In unserem Buch geht es also um beides; deswegen mein obiges Plädoyer für Lust und Genuß. Wer das Leben will oder wem es gar – Schiller zum Trotz – als „der Güter höchstes“ gilt, kann das Wie nur als ein Durchgangsstadium des Lebens auf dem Weg zu seinem Wozu verstehen.
AD: „‚Letzteres würde ohne ein Wie erfordern‘, sagten Sie, ‚daß es einfach so vom Himmel fiele‘. Na und? Dann fällt es eben.“
Sie haben Recht; wir sehen bisher nichts, was dagegen sprechen sollte. Die Erfüllung des Lebens könnte theoretisch bereits von Anfang an bestehen, so daß wir direkt in sie hineingeboren und der unglückliche Status quo, das unbefriedigende Wie oder das falsche Leben im falschen entfallen würden.
Wir haben, mit anderen Worten, vorerst keine befriedigende Antwort auf die Frage, warum wir Menschen nicht von Anfang an in der Vollendung, dem Paradies oder Reich Gottes leben.
Auf der einen Seite liegt hier offensichtlich ein brennendes Problem vor: Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, daß die Moderne wesentlich durch den Glauben mitbestimmt wurde, die Fülle des Lebens für alle zukünftigen Menschen innergeschichtlich verwirklichen zu wollen und zu können; entweder als Kapitalismus oder als Sozialismus.
Auf der anderen Seite kommen selbst von den Christen, denen diese Frage doch auf den Nägeln brennen müßte, diesbezüglich kaum konstruktive Antworten. Die allermeisten von ihnen sehen sogar in ihrem Nicht-Wissen nicht nur keinen Mangel, sondern geradezu einen Gradmesser demütig-ergebener Rechtgläubigkeit:
„Gottes Gedanken sind nicht unsere Gedanken; . . .“
Mit einer solchen „Logik“ kann ich absolut nichts anfangen; sie ist mir furchtbar zuwider.
Da das Denken im Suchen nach Wahrheit oder Richtigkeit besteht, über die Gott immer schon verfügt, kann er nicht denken und somit auch keinerlei Gedanken besitzen. Denn andernfalls müßte er doch nach etwas suchen, was er selbst ist oder zumindest hat; er wäre ein Alzheimer-Gott, so daß der „rechtgläubige“ Gedanke von soeben meines Erachtens hinfällig wird.
Mir geht es nicht um fromme Floskeln, sondern um begründbare Aussagen; Christen sollten offen Rechenschaft über ihren Glauben ablegen können und keine Angst vor kritischen Rückfragen haben müssen.
Aber abgesehen von solchen Nebenkriegsschauplätzen schlage ich vor, dieses Problem ganz anders anzugehen:
Bei wichtigen alltäglichen oder wissenschaftlichen Fragen kommt kaum jemand auf den Gedanken, sich mit der Antwort „prinzipiell unlösbar“ abzufinden und sie vielleicht sogar noch durch ein „genau so sollte es aber doch auch sein“ zu adeln. Läßt sich beispielsweise die Periheldrehung des Merkur mit Newton nicht erklären, liegt das keineswegs daran, daß Gottes (Schöpfungs-)“Gedanken“ nicht unsere Gedanken sind.
Wir bleiben dann nicht bei solchem frommen Geschwafel stehen, sondern suchen nach vernünftigen Antworten; in unserem Beispiel gelang Einstein mit seiner Allgemeinen Relativitätstheorie bekanntlich der Durchbruch.
Weshalb sollten wir in Philosophie oder Theologie anders vorgehen als in der Physik – und in jedem kritischen Weiterdenken empört einen Häresieverdacht vermuten oder eine Gotteslästerung wittern?
Mir schwebt eine dogmenfreie Theologie vor, die die Dogmen nicht ignoriert oder gar leugnet, sondern in der sie keine – als willkürlich erscheinenden – Dogmen mehr sind, über die Nicht-Christen nur verwundert den Kopf schütteln können. Vielmehr müßten die Dogmen als verständliche und möglichst sogar selbstverständliche Resultate aus einem eo ipso begründeten und damit nachvollziehbaren Denken hervorgehen.
Wir werden auf einige Fälle zu sprechen kommen, an denen zumindest deutlich wird,
– wie ich das genau meine und
– daß dieses Ziel nicht illusorisch sein muß.
Ein Beispiel, das in diese Richtung weist, ergab sich bereits:
Daß der Glaube Berge versetzen kann, ist einfach Nonsens, solange wir an einer objektiven Realität festhalten. Sie muß gecancelt werden, wenn wir die Macht des Glaubens als wirklich erachten möchten.
AD: „Ihre dogmenfreie Theologie scheint mir unmöglich zu sein:
Nach christlichem Verständnis kann die Offenbarung der Vernunft zwar nicht widersprechen, jedoch auch nicht mit ihrer Hilfe abgeleitet werden; sonst wäre die Offenbarung ja gar nicht nötig. Damit wird aber jede Theologie ohne Dogmen hinfällig, denn letztere müßten darin vernünftig begründet werden.“
Ich stimme der Erläuterung zu, wie Sie das Verhältnis zwischen Offenbarung und Vernunft sehen, teile aber Ihre Schlußfolgerung nicht:
Die Offenbarung besteht nach christlichem Verständnis in der Selbstmitteilung Gottes durch seine Menschwerdung und nicht in Dogmen. Letztere sind reines Menschenwerk, können also bestenfalls vernünftig sein, sollten es aber möglichst auch – und schon hätten wir meine dogmenfreie Theologie.
Das Geheimnis besteht in der Offenbarung oder dem Sich-Zeigen und versteckt sich nicht hinter möglichst verschwurbelten Dogmen.