1.5. Igel und Fuchs

Von Archilolos ist das Fragment „Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel kennt eine große Sache“ überliefert.

Ich behaupte keineswegs, ein Igel zu sein, aber es ist letztlich eine einzige Idee, die mich seit fast 50 Jahren umtreibt. Provoziert wurde sie nicht zuletzt durch meine berufliche Arbeit an Grundfragen der Quantentheorie, und das vor Ihnen liegende Buch stellt im Kern den Status quo dar, den die (nicht-physikalische) Entfaltung dieser Idee bisher angenommen hat.

 

Wer sich intensiv mit der Quantentheorie beschäftigt, wird meines Erachtens vor die Alternative gestellt, ob er weiterhin an die Existenz einer objektiven Realität glaubt oder die millionenfachen phantastischen experimentellen Bestätigungen der Quantentheorie ernstnimmt. Beides zusammen scheint nicht möglich zu sein; entweder objektive Realität oder Quantentheorie.

(Wenn Sie sich selbst ein Bild davon machen wollen, ob ich das richtig sehe, wären vielleicht die Bücher von Anton Zeilinger sehr empfehlenswert. Insbesondere „Einsteins Spuk“ und „Einsteins Schleier“ hat er für Laien geschrieben. Zeilinger bekam 2022 immerhin den Physik-Nobelpreis; ich empfehle Ihnen also keinen Autor, den Sie leicht als „Bruder im Geiste“ abtun könnten, der mit mir gemeinsam spinnt.)

 

Albert Einstein hatte sich bekanntlich dafür entschieden, den traditionellen Glauben an die objektive Realität beizubehalten, und leider bis zu seinem Lebensende versucht, Fehler oder widersprüchliche bzw. absurde Konsequenzen der Quantentheorie aufzuspüren.

Ich habe mich als Student auf die Gegenseite geschlagen und gedacht:

Unsere Physik ist die grundlegende Naturwissenschaft, die in der Moderne mit dem Ziel antrat, die objektive Realität zu erkennen. Wenn selbst sie zu dem Ergebnis kommt, daß keinerlei Objektivität existiert, dann gibt es in den anderen wissenschaftlichen Disziplinen oder sonstigen Sphären unseres Lebens wohl erst recht keine.

 

Aber wieso sind sich die meisten Menschen – mit Einstein – der objektiven Wirklichkeit außerhalb ihres Innen so sicher?

Ich glaube, weil sie

– gar nicht reflektieren, daß sie dem traditionellen Denken zufolge nur abbilden, sondern

– glauben inmitten der objektiven Wirklichkeit zu leben und

– diese selbst unmittelbar zu erfahren.

 

Damit sind wir bereits bei meiner Igel-Idee; sie ist nicht sonderlich schlau, pfiffig, spitzfindig oder ausgefallen, sondern ich empfinde sie eher als selbstverständlich:

„Außerhalb meines Innen“ bedeutet, daß mir dieser Bereich nicht zugänglich oder gegeben ist.

Dann kann ich mich jedoch nicht darauf beziehen und auch absolut nicht(s) davon wissen, so daß kein einziger sinnvoller Gedanke oder Satz darüber möglich sind. Sämtliche diesbezüglichen Annahmen sind willkürlich oder beliebig – weil nicht kontrollierbar –, könnten ebenso völlig widerspruchsfrei durch ihr Gegenteil ersetzt werden und entsprechen somit einem bloßen, sinnleeren Blablabla.

 

In Kapitel 1.1. hatten wir von dem absolut Ungewußten oder der Sphäre, von der wir gar nichts wissen, gesprochen. Wir können darin nicht A von B trennen, weil dies das Wissen von zumindest einem dieser beiden voraussetzen würde.

Das Außen – als Außen meines Innen – ist das Paradebeispiel für eine solche Sphäre. Es läßt sich nicht einmal sagen, daß sich in ihr beisielsweise die Materie befinde, weil wir dabei die Sphäre von ihrem Inhalt trennen würden. Einen nichtssagenden Namen können wir dieser Sphäre natürlich geben, und mit „Außen“ ist dies ja bereits geschehen.

 

Positiv formuliert lautet meine Grundidee folglich:

Alles sinnvoll Gedachte, Vorgestellte, Erlebte, Geglaubte oder Gesagte gehört notwendigerweise der eigenen Psyche an. Wer vom Außen zu handeln meint, gibt lediglich seine Vorstellungen von ihm wieder, und die müssen sich natürlich innerhalb der Psyche befinden.

 

„Außen befindet sich die Materie“ stellt also lediglich die – innerhalb seiner Psyche befindliche – Vorstellung oder gar Überzeugung eines naiven Physik-Gläubigen dar; wissen kann das natürlich niemand – selbst wenn es so wäre.

Moritz behauptet dagegen, außen lebe der grasgrüne Steinbeißer. Natürlich ist das Quatsch; deswegen hat Moritz auch weniger Fans als unser Physik-Gläubiger. Aber dessen Überzeugung ist keinen Deut intelligenter, aufgeklärter oder vernünftiger, denn wenn wir Moritz‘ grasgrünen Steinbeißer gegen die Materie der Physiker austauschen, ändert sich absolut nichts – außer den Glaubensbekenntnissen innerhalb der Psychen.

 

Natürlich kann sich der Inhalt unserer Psyche vergrößern; aber die Annahme, daß sich dieser Zuwachs zuvor im Außen befunden haben muß,

– gehört selbst zum prinzipiell Unwißbaren und

– ist auch keineswegs logisch zwingend.

AD: „Doch; diese Annahme ist zwingend!

Wenn ich jetzt etwas weiß, was mir gestern noch unbekannt war, muß es notwendigerweise in den letzten 24 Stunden vom Außen in meine Psyche hineingekommen sein.

Genau so funktioniert doch der wissenschaftliche Fortschritt ganz allgemein. Unsere Psyche und das Außen befinden sich anschaulich gesprochen nebeneinander, und wir verschieben die zwischen beiden bestehende Trennfläche immer weiter nach außen.“ 

 

Nein; das glaube ich nicht.

Beethoven hatte irgendwann die großartige Intuition, die zu seiner „Ode an die Freude“ führte. Ist sie in den Tagen zuvor von außen in seine Psyche eingedrungen? Wenn „ja“ – was bedeutet dann „außen“? Wo befand sich die Ode zuvor? Im Musik-Himmel?

Newton griff eines Tages den Gedanken auf, Massen würden sich gegenseitig anziehen. Das war und bleibt eine geniale Idee, auch wenn sich heute praktisch alle Physiker einig sind, daß es keine derartige Gravitationskraft gibt, so daß Newton seinen Gedanken unmöglich der Natur abgelauscht haben kann – wie er wohl selbst glaubte. Die Massenanziehung existierte also nicht bereits außen, so daß Newton sie erkennen, das heißt, irgendwie von außen nach innen abbilden konnte. Er hat diese Idee vielmehr in seinem Lebenskern erzeugt, geerstmaligt, generiert oder konstruiert.

Wie anders hätten auch die Imaginationen der Märchenfiguren, Romanhelden, Götter oder Unterwelten entstehen sollen? Wir halten sie für unwirklich; aber das bedeutet doch, daß sie sich niemals im Außen befanden – und trotzdem waren sie irgendwann in der Psyche.

Sie wurden alle in geeigneten Lebenskernen geboren. Letztere sind kreativ; sie haben es nicht nötig, ihre Produkte einem angeblichen Außen abzuschauen, und die führenden Wissenschaftler entsprechen den großen Künstlern; beide schaffen Neues.

 

Der Unterschied wird erst in der zweiten Reihe deutlich; Wissenschaft kann man nachmachen; in ihr läßt sich alles Geerstmaligte wiederholen, so daß nach Einstein Millionen von Physikern die Relativitätstheorie erlernen können und vielleicht besser beherrschen als ihr Erfinder.

Das ist bei der Ode an die Freude offensichtlich wesentlich schwieriger.

 

Das wäre meine erste Entgegnung auf Ihren Einwand, neues Wissen könne nur durch den Übergang bzw. das Abbilden vom Außen in die Psyche entstehen; eine zweite dürfte jedoch ebenso wichtig sein: 

Damit wird freilich auch Ihr anschauliches Bild hinfällig:

Eine Psyche und das Außen können sich nicht nebeneinander befinden, so daß auch die trennende Grenzfläche entfällt, denn das sind alles räumliche und damit ungeeignete Vorstellungen zu einer eo ipso unräumlichen Psyche.

 

Obwohl mir das alles als sehr zwingend erscheint, sehen es viele Menschen offensichtlich ganz anders. Sie

– haben sehr bestimmte Vorstellungen vom Außen,

– sind von deren Richtigkeit felsenfest überzeugt und

– möglicherweise sogar bereit, Andersdenkende für deren widersprechende Annahmen zu töten; Inquisition, real existierender Sozialismus, Islamischer Staat . . . 

Die abstrusesten Bekenntnisse können also, wenn sie fanatisch als wahr geglaubt werden, sowohl bei den „Gläubigen“ als auch bei den „Ungläubigen“ (über) das Leben entscheiden.

Viele Menschen sind leider überzeugt, das eine richtige Blablaba von jedem anderen und damit falschen unterscheiden zu können. Hierbei ist es natürlich völlig belanglos, ob es sich dabei um religiöse, wissenschaftliche, politische, esoterische, verschwörungstheoretische oder sonstige Willkürlichkeiten handelt.

 

Das muß man sich einmal ernsthaft durch den Kopf gehen lassen – 300 Jahre nach der „Aufklärung“:

Eine willkürlich-leere Annahme, die bzw. deren Richtigkeit durch absolut nichts zu rechtfertigen ist und völlig widerspruchsfrei durch ihr glattes Gegenteil ersetzt werden könnte, kann weitreichende bis verheerende Folgen nach sich ziehen, wenn sie fanatisch geglaubt wird!

Was wir vom Außen denken, kann zwar keinen nachweisbaren Anspruch auf seine Richtigkeit erheben, sich aber nichtsdestotrotz ganz massiv auf das Innen, das heißt, auf unser Leben auswirken.

Wer annimmt, außen befinde sich ein Schwarzes Loch, daß uns am 29. Februar 2028 alle verschlingen wird, lebt höchstwahrscheinlich anders als „Ungläubige“.

 

AD: „Ja; aber ein Problem habe ich trotzdem noch:

Solange wir ernstlich miteinander diskutieren, treffen Argumente – Prämissen, Konsequenzen, Begründungen oder Widerlegungen – aufeinander. Hierfür kann es keine Rolle spielen, ob im Außerhalb angeblich eine Wirklichkeit existiert oder nicht, denn argumentativ erreichen wir sie ja ohnehin niemals.

Tangiert diese angebliche Wirklichkeit unsere Gespräche dann überhaupt? Wie soll die willkürliche Antwort auf eine prinzipiell unentscheidbare Frage jemals in einem vernünftigen Diskurs virulent werden können?“

Das kann sie natürlich nicht; da haben Sie völlig Recht.

Aber jeder Diskurs kann in dem Sinne, wie wir es oben mit dem „So ist es basta!“ erklärt hatten, ohne jede Vernunft beendet werden.

 

Daß meine an Holzschnitt- oder eher noch Kettensägekunst erinnernde Darstellungsweise sinnvoll sein kann, versucht Heinzpeter Hempelmann – in einem anderen Zusammenhang, aber ganz in meinem Sinne – zu verdeutlichen:

„Ich rechne damit, daß dieser Text auf ebenso energischen, teilweise empörten Widerspruch stoßen wird wie auf dankbare Zustimmung. Möglicher Hauptangriffspunkt ist die notwendige flächige, weit ausgreifende und nicht um tausend Differenzierungen bemühte Darstellung, die auch als gewalttätig, unfair und ungerecht empfunden werden kann.

Der moderne Diskurs ist gekennzeichnet durch das Bemühen um Differenzierungen. So notwendig diese an ihrem Ort sind, so sehr kann der Diskurs eine im Endeffekt lähmende Wirkung entfalten. Schlicht formuliert: Man sieht vor lauter Bäumen, Ästen und Zweigen den Wald nicht mehr.

Es fehlt zumeist das Gesamtbild, das letztlich handlungsleitend und zielgebend sein muß.

Mein Resultat ist ein Wucht-, aber kein Wut-Text; apodiktisch im Ton, ohne Ausreden und Schminke, sicherlich korrektur- und ergänzungsbedürftig, mindestens aber ein Versuch, verschiedene Gründe zu benennen, warum . . .“

. . . wir uns vom traditionellen Denken mit seiner objektiven Wirklichkeit verabschieden sollten.

 

Das tun auch die verschiedenen Spielarten des Radikalen Konstruktivismus. Mit ihnen hat unser Ansatz aber kaum etwas gemein, und es hilft vielleicht manchem Leser, von vornherein deutlich zu sehen, weshalb wir einen anderen – wenn auch noch schwer erkennbaren – Weg einschlagen werden.

Die einzige Übereinstimmung zwischen unserem Ansatz und dem Radikalen Konstruktivismus besteht im Verzicht auf die objektive Wirklichkeit. Aber daraus resultieren bei letzterem zwei Probleme, die der Radikale Konstruktivismus meines Erachtens nicht lösen kann, so daß wir uns von ihm deutlich distanzieren.

 

Das betrifft zum einen die Stellung oder Rolle des Gehirns.

Wenn die gesamte Wirklichkeit nur eine Konstruktion darstellen würde, hätten wir keinen Konstrukteur, denn dieser kann nicht seiner eigenen Konstruktion angehören; das wäre widersprüchlich. 

Der Radikale Konstruktivismus „löst“ dieses Problem mit sehr viel unsauberem Gerede, indem er das Gehirn zum Konstrukteur erklärt. Als Rechtfertigung dient ihm hierbei zumeist die angebliche „neurophilosophische Erkenntnis“, unser Ich sei das Gehirn.

Das ist natürlich ganz großer Humbug; die unbestreitbare Aktivität bestimmter Gehirnareale beim Sehen beispielsweise lehrt uns – so gut wie gar nichts über das Sehen, sondern lediglich –, daß es höchstwahrscheinlich nicht funktioniert, wenn die entsprechenden Regionen ausfallen.

„Viele Neurophilosophen“ kennen unsere Geistesgeschichte kaum, argumentieren treuherzig-naiv und legen zumeist nur Glaubensbekenntnisse ab, so daß ihre „schlechte Wissenschaft zu einer schlechten Religion“ (Guido Rappe) verkommt.

 

Abgesehen von der grundlegenden Frage, woher die Vertreter des Radikalen Konstruktivismus von dem prinzipiellen Unterschied zwischen dem Gehirn als Konstrukteur und der gesamten „restlichen“ Wirklichkeit als dessen Konstruktion wissen (wollen), entstehen natürlich zahllose weitere Probleme.

Eines davon resultiert ganz simpel daraus, daß es zwar sehr viele Gehirne gibt, aber jeder von uns nur sein eigenes als Konstrukteur – für alles andere – benötigt. Das bedeutet beispielsweise, daß Ihr Konstrukteur den Konstruktionen meines Konstrukteurs angehören müßte und umgekehrt; ich bezweifle sehr stark, daß sich dies sauber denken läßt.

Der Radikale Konstruktivismus ist, mit anderen Worten, nicht radikal genug, weil er das jeweils eigene Gehirn der Subjekte ganz traditionell als objektive Realität denkt und wohl auch denken muß, um einen Konstrukteur für alles andere zu gewinnen.

 

Wir denken zum einen radikaler; bei uns spielt das eigene Gehirn keine Sonderrolle, sondern gehört ganz normal zum Körper.

Zum anderen distanzieren wir uns ganz massiv von der „Neurophilosophie“:

Ich bin nicht mein Gehirn, sondern

– eine lebende und freie Subjektivität,

– ohne die es gar nichts gäbe; insbesondere auch kein Gehirn.

 

Meine zweite Schwierigkeit mit dem Radikalen Konstruktivismus besteht darin, daß er den gewaltigen Unterschied zwischen Wahrnehmungen und Vorstellungen nicht erklären kann, da beide konstruiert sind. Vor der Wahrnehmung „Krokodil im Swimmingpool“ erschrecken wir jedoch – mit Recht –, während die entsprechende Vorstellung bestenfalls ein wohliges Gruseln hervorruft.

Im Radikalen Konstruktivismus habe ich – sehr interessiert, aber – leider vergeblich  nach einer befriedigenden Begründung dieses Unterschieds gesucht.

Bei uns besteht sie darin, daß die Wahrnehmungen die Grundlage allen Explizierens bilden und somit nur die Vorstellungen konstruiert sind.

 

AD: „Sie hatten soeben sinngemäß gesagt ‚ohne Leben kein Gehirn‘. Das war wohl ein Versprecher und sollte ‚ohne Gehirn kein Leben‘ heißen?“

Nein; meine Umkehrung ist beabsichtigt und fundamental für unseren Ansatz.

Traditionell existiert eine objektive Wirklichkeit, und zu ihr zählt insbesondere unser Gehirn. Es gehört zu den notwendigen Voraussetzungen des Lebens, und bei einem solchen Verständnis hätten Sie natürlich Recht.

Aber postmodern denke ich von meinem Leben her, und ohne dieses gibt es gar nichts; auch kein Gehirn.

 

AD: „Komisch; mein subjektives Wirklichkeitsbild kann noch so exotisch sein; das stört Sie gar nicht. Aber wehe mir, wenn ich annehme, es gelte objektiv oder für alle Subjekte gemeinsam – dann werden Sie munter . . .“

Nein; das stimmt nicht; Sie unterliegen einem Denkfehler; er besteht darin, nicht zwischen „objektiv“ und „für alle Subjekte gemeinsam“ zu unterscheiden.

Die Physiker vereint die Intersubjektivität ihrer fachlichen Überzeugungen. Wählen wir letztere weniger speziell, wird die Anzahl der Menschen, die sich intersubjektiv einig sind, größer, und letztlich ist sogar die vollständige Intersubjektivität aller Menschen als ein asymptotischer Grenzfall denkbar.  

Zu einer Objektivität gelangen wir auf diesem Wege jedoch nie, denn sie entspricht dem subjekt-unabhängigem An-sich der Seienden und nicht dem 100%-igen Für-alle-Subjekte.

 

Sie könnten also völlig problemlos von der gleichen subjektiven Wirklichkeit überzeugt sein, wie alle anderen Subjekte auch. 

Aber selbst dann kämen keine Seienden vor; nur bei ihnen werde ich „munter“, weil sie widersprüchlich sind, denn die Seienden

– existieren angeblich wirklich,

– befinden sich außerhalb der Psyche und

werden trotzdem erkannt.

Das ist kein Wunder, sondern Humbug!