1.2. Bewußtseinswandel

Ich verstehe die geistigen Turbulenzen der Gegenwart zum Teil als Symptome eines epochalen Bewußtseinswandels, der uns – sofern wir ihn bewältigen – vom traditionellen Denken zum postmodernen führen könnte.

Ersteres geht, wie soeben dargestellt, davon aus, daß eine uns vorgegebene objektive Wirklichkeit existiert, während die Postmoderne – wie wir sie im vorliegenden Buch verstehen – dieses philosophische Glaubensbekenntnis ablehnt. Ich bin aus den verschiedensten Gründen – die alle noch zu besprechen sind – fest davon überzeugt, daß sich die Tradition hier im Unrecht befindet. In Verlaufe der Moderne sind die Ideen bereits weitestgehend verschwunden, und mit der Postmoderne folgen ihnen meines Erachtens die Seienden nach. 

Vielen Menschen graut vor einem solchen Bewußtseinswandel; ich sehne ihn jedoch herbei und hoffe auf sein Gelingen. Zwei weitere Argumente für meine positive Sicht dürften jetzt schon deutlich sein:

 

Zunächst wird unsere Zukunft – sofern wir sie denn erleben – zutiefst pluralistisch ausfallen und damit ein hohes Maß an Toleranz erfordern, was sich jedoch kaum mit dem Glauben an eine objektive Wirklichkeit vereinbaren läßt.

Wer diese zu wissen glaubt, wird sehr leicht jede Gemeinschaft spalten, weil er zu unterscheiden vermag zwischen Irrenden – Ungebildeten, Bösen, Häretikern, Feinden . . . – und seinesgleichen, den „Rechtgläubigen“.

 

Spalten kann sogar ausschließlich derjenige, der die Wahrheit zu besitzen meint. 

Wer sich „nur“ um sie bemüht, versteht nicht

– sich selbst als Ritter der Wahrheit und

– die anderen als Irrende.

Vielmehr sind auch sie Suchende wie er; natürlich auf einem anderen Weg – durch ihre Einzigkeit –, aber zum gleichen Ziel.

Wer sich um die Wahrheit bemüht, unterteilt nicht in richtig bzw. falsch oder wahr resp. unwahr, sondern weiß, daß er von jedem anderen lernen kann, weil alle Leben unterschiedlich und sämtliche Erfahrungen einmalig sind.   

 

Viele traditionell denkende Konservative würden dies als „Relativismus der Wahrheit“ oder „Diktatur des Relativismus“ abschmettern. Das beeindruckt mich aber gar nicht, weil ihr eigener „rechtgläubiger“ Standpunkt – mit dem Anspruch, die Wahrheit zu besitzen – in meinen Augen größenwahnsinnig oder zumindest ausgesprochen überheblich ist.

Was hat die Hochachtung vor der Wahrheit – die ich 100%-ig teile – mit der Anmaßung zu tun, sie zu besitzen

Muß man auch die Liebe gefunden haben, um sie schätzen zu können?

Muß ich das, was ich begehre, bereits haben, oder darf ich es nicht haben, um es begehren zu können?

 

Des weiteren – mein zweites Argument für die Hoffnung auf einen Bewußtseinswandel hin zur Postmoderne – ist alles Entscheidende im Leben oder das, was uns letztlich zu Menschen macht – Liebe, Wahrheit, Verantwortung, Freundschaft, Dankbarkeit, Empathie, Verständnis, Glaube, Vertrauen . . . –, an Freiheit gebunden. Sie würde durch die Existenz einer objektiven Wirklichkeit jedoch willkürlich und völlig unnötig begrenzt.

 

Dann könnte der Glaube beispielsweise keine Berge versetzen.

Wer behauptet, der Glaube könne es, obwohl er eine objektive Realität annimmt oder gar für selbstverständlich hält, legt kein beeindruckendes Zeugnis ab, sondern redet einfach Unsinn. Bei einem objektiv-realen Berg hilft kein Glauben, sondern nur Baggern.

Unser Ansatz ließe sich somit recht treffend als ein Versuch zur Philosophie der Freiheit verstehen. Ich möchte ernstnehmen, daß der Glaube Berge versetzen kann, und sehe in der postmodernen Philosophie eine Möglichkeit, dies sauber denken zu können und keine leeren Phrasen dreschen zu müssen.  

 

Für die Seienden können wir nicht verantwortlich sein, denn sie sind unverfügbar vorgegeben; bestenfalls liegt der Umgang mit ihnen in unserer Hand.

Mit den Seienden entfällt diese Grenze; wir können uns weder dahinter verstecken noch damit entschuldigen. „Du hast nicht getötet; aber in diesem Fall wäre dies deine Aufgabe gewesen, um größeres Unheil zu verhindern!“

Wir sind für unser gesamtes Leben verantwortlich; es gibt postmodern keine Entschuldigungen mehr. Das macht das Leben nicht unbedingt leichter, verhindert aber ein selbstgenügsames Einrichten im „gottgefälligen Trott“.  

 

AD: „Kommen wir bitte noch einmal zurück; ich vermag nicht einzusehen, wieso die Toleranz kaum mit dem Glauben an eine objektive Wirklichkeit vereinbar sein soll.“

Wer ihn teilt, muß wahre oder richtige Aussagen prinzipiell für möglich halten, nämlich diejenigen, welche die objektive Wirklichkeit der Seienden adäquat wiedergeben. 

Wird der Glaube an deren Existenz weitgehend geteilt, kann somit jeder – Philosoph, Verschwörungstheoretiker, Naturwissenschaftler, Theologe, Stammtischler, Politiker, Esoteriker . . . – behaupten, über wahre oder richtige Beschreibungen zu verfügen. Begründungen sind völlig unnötig, denn mit dem Totschlag-„Argument“ „So ist es – basta“ wird jedes konstruktive Gespräch jäh abgebrochen.

Irgendwie muß es einem solchen Denken zufolge ja sein, und der Sprecher beansprucht, diesbezüglich genauere Kenntnisse als wir zu besitzen – woher auch immer. Hut ab!

 

Es gibt kein zwingendes Argument gegen die Richtigkeit der Behauptung „So ist es – basta“, denn

– die vorausgesetzte objektive Wirklichkeit schließt nicht aus, daß es tatsächlich gerade so ist, und

– da der Sprecher bei seinen Aussagen über die Hinterwelt der Seienden notwendigerweise auf sämtliche vernünftigen Begründungen verzichten muß, existiert auch nichts, was man widerlegen könnte.

Natürlich sind dann tausend verschiedene und sogar gegensätzliche „So ist es“ möglich; der Redner behauptet einfach nur eines von ihnen. 

Ist er stur, sind wir mit unserem Latein am Ende; wir glauben ihm zwar nicht – können aber trotzdem nach Hause gehen. Das wird daran am deutlichsten, daß sein „Argument“ bei jedem „so“ „erfolgreich“ vorgebracht werden kann.

In der Postmoderne kann es dagegen nicht speziell „so“ sein, weil es gar nicht irgendwie ist.

 

Aus dem traditionellen „So ist es – basta“ wird postmodern ein „Ich bin der Überzeugung, daß es sich folgendermaßen verhält“. Dafür kann man geradestehen und insbesondere nach einer Begründung gefragt werden.

Bei jener Behauptung dagegen ist man nur der Schlaumeier, der nichts zu verantworten hat und vielleicht ob seines Wissens bestaunt werden will. 

 

AD: „Dagegen kann ich nicht viel vorbringen . . .

Angenommen Sie hätten Recht, und es gäbe keine Seienden. Wie erklären wir dann die felsenfeste Überzeugung, überall welche zu sehen?“

Uns ist (höchstwahrscheinlich) nur eine einzige Theorie des Sehens bekannt. Ihr zufolge existieren Seiende; eines von ihnen bin ich, und ein anderes sehe ich gerade. Gemäß der geläufigen Wahrnehmungs-Theorie treffen einige der von diesem Seienden ausgehenden Lichtstrahlen auf meine Pupille, und so wird das Sehen möglich.

Das heißt,

– wir verfügen unbestreitbar über Sehungen, und

da sich diese für uns nur mittels der Seienden erklären lassen,

sind wir überzeugt, – zumindest indirekt – Seiende zu erleben.

Wie sollte meine Sehung denn ohne sie zustande gekommen sein? 

Wären dafür Musen oder Halbgötter erforderlich, wären wir eben von deren Existenz überzeugt.

 

Das „zwingende Argument“ lautet zusammengefaßt somit immer:

„Weißt du vielleicht noch eine andere Erklärung . . .? Na bitte!“

Es ist also gar kein Argument, sondern pure Alternativlosigkeit – und damit mangelnde Phantasie, Denkfaulheit, Desinteresse oder ähnliches.

Bei einem wirklichen Argument verfügen wir über

– mehrere Denkmöglichkeiten und

– möglichst starke Gründe, denen zufolge wir uns für eine von ihnen entscheiden „müssen“.

– Ob die richtige Denkmöglichkeit dabei ist, bzw.

– ob es sie überhaupt gibt und

– was „richtig“ in diesem Zusammenhang eventuell bedeuten könnte,

sind freilich Fragen, die unser Wirklichkeitsbild möglicherweise transzendieren.