3. Der Ausgangspunkt unseres Nachdenkens

Den meisten Menschen gilt Philosophie heute als ein bloßes Glasperlenspiel.

„Das bringt uns nicht weiter; die Philosophie kann kein einziges der Probleme lösen, vor denen wir wirklich stehen. Dazu werden die exakten Wissenschaften benötigt sowie eine sich daraus ergebende ausgefeilte Technik. Ob ‚das Nichts nichtet‘, wie Martin Heidegger meinte, oder vielleicht doch nicht, kann uns dabei ziemlich gleichgültig sein.“

 

Wer so redet, sitzt vielleicht am Stammtisch und meint, ganz genau zu wissen, sowohl daß letzterer und er selbst existieren als auch was ein Stammtisch bzw. ein Subjekt ist. Nur ein Philosoph könnte auf die Idee kommen, solcherlei Wissen infrage zu stellen.

Hinter derartigen Selbstsicherheiten stecken jedoch unausgesprochene Voraussetzungen, die wir fast alle teilen:

Natürlich entwickelten sich unsere Überzeugungen im Verlaufe des Lebens. Als Kind und noch als Jugendlicher hatten wir vieles geglaubt zu wissen, was sich später als unhaltbar herausstellte. Aber jetzt – vielleicht seit dem Abitur oder Studium – sind wir erwachsen und haben damit diese Phase der Irrtümer hinter uns gelassen.

Zumindest zwei Punkte halte ich an einer solchen Vorstellung jedoch für höchst bedenklich:

 

Erstens besaßen wir bereits als Kinder oder Jugendliche Wissen und haben fest daran geglaubt. Es bedeutet also offensichtlich keinen Widerspruch, vom eigenen Wissen überzeugt zu sein – auch wenn ihm keine gewußte Wirklichkeit entspricht.

Wir haben uns jeweils später irgendwie eines Besseren belehren lassen; nachträglich oder rückwirkend. Aber zu der Zeit, in der wir wußten, waren wir uns ganz sicher. Ein gegenwärtiger Irrtum innerhalb der eigenen Überzeugungen ist widersprüchlich und damit ausgechlossen, denn wir können nicht fest an etwas glauben und es zugleich für falsch halten:

Zu der Zeit, in der wir wissen, sind wir uns immer ganz sicher, weil klar ist, daß es stimmt.

 

Zweitens befinden wir uns heute als Erwachsene ebenfalls in exakt dieser Situation.

Warum rechnen wir nicht mehr damit, vielleicht in Bälde eines Besseren belehrt werden zu können? Wieso wurde aus dem kindlich- oder jugendlich-revidierbaren „Ich bin mir ganz sicher“ ein erwachsen-verabsolutiertes „So ist es“?

Das ist nicht nur eine andere Sprechweise, sondern  die beiden Formulierungen sind sogar völlig unabhängig voneinander:

Die erste benötigt gar keinen Außenbezug; was hat meine Überzeugung mit einer Welt zu tun?

In dem „So ist es“ soll dagegen die Adäquation mit letzterer zum Ausdruck kommen  – die urplötzlich besteht, obwohl keiner weiß, woher sie kommt.

 

Möglicherweise erkennen wir den Zenit unseres Wissens; aber was hat er mit einer solchen Übereinstimmung zu tun? Bei einem bestimmten Level der eigenen Sichtweise hört sie angeblich auf, nur meine Sichtweise zu sein und wird zur adäquaten Erkenntnis der angeblich objektiven Seienden; das Bild wird zum Weltbild im Sinne eines adäquaten Bildes von der objektiven Welt.

Meines Erachtens entspricht die Anmaßung eines solchen Perspektivenwechsels dem biblischen Sein-wollen-wie-Gott. Wir beanspruchen damit den Besitz eines Wissens von der Welt, der in sich widersprüchlich ist, weil dieser Besitz in dem Maße, in dem das Wissen stimmt, unmöglich wird:  

Wie sollten wir aus unserem kitzekleinen Hier und Jetzt heraus, in dem wir leben, ein in Raum und Zeit praktisch unendliches Universum erkennen können?

 

Ich bin daher überzeugt, daß das Erwachsen-Werden gar nicht das geistige Ankommen bei der Wirklichkeit und damit den Besitz der Wahrheit Richtigkeit bedeutet, sondern lediglich das Ende unseres Sich-etwas-Sagen- oder –eines-Besseren-Belehren-Lassens.

Verzichten wir darauf und bleiben bescheiden wie die Kinder, so bedeutet das, auch als Erwachsener von einer Entwicklung oder Genese unseres Weltbbilds auszugehen, die möglichst ein Leben lang positiv verlaufen sollte, praktisch aber zumeist einen Höhepunkt erreicht und rückläufig wird.

Die Meinung, die sich am Ziel glaubt, blockiert das Verstehen, hatte ich oben bereits einmal zitiert.

 

Wir übertragen dieses individuell-biographische „Schlau-Werden“ auch auf das kulturell-geschichtliche, so daß die übliche Überzeugung etwa lautet:

In „primitiven Kulturen“ steht hinter deren Wissungen natürlich keine Wirklichkeit – wie bei unseren Kindern. Deshalb sprechen wir von Aberglaube, wenn wir die Hinterwelt dieser Kulturen mit ihren Göttern, Geistern und ähnlichen Phantastereien beschreiben. 

Das haben wir alles nicht mehr (nötig); hinter unserem wissenschaftlichen Wissen steht die Wirklichkeit in Form der objektiven oder physikalischen Realität.

 

Woher wollen wir das wissen, wenn ein gegenwärtiger Irrtum unmöglich ist?

Daraus ergibt sich doch eher die gegenteilige Konsquenz, daß alle anderen Menschen und Kulturen ebenso wie wir an die Richtigkeit ihrer Überzeugungen glauben müssen. Somit haben sie auch exakt den gleichen Grund, eine „objektive Welt“ anzunehmen bzw. ihre subjektive Welt als objektive mißzuverstehen.. 

 

AD: „Ich muß, wohl im Namen vieler Leser, Einspruch erheben:

Gegenwärtige Irrtümer sind nicht widersprüchlich; wir können uns sehr wohl irren; widersprüchlich würde das erst, wenn wir gleichzeitig wüßten, daß es sich um einen Irrtum handelt.

Viele unserer Vorfahren glaubten zum Beispiel, die Erde sei eine Scheibe. Damit haben sie sich geirrt; aber das war kein Widerspruch, denn sie wußten nicht, daß die Erde in Wirklichkeit eine Kugel ist.“

Es tut mir leid, aber Sie bestätigen mit Ihrem Einwand meine oben geäußerte Vermutung, im traditionellen Denken komme das Sein-Wollen-wie-Gott zum Ausdruck:

Sie wissen zum Beispiel, daß „die Erde in Wirklichkeit eine Kugel ist“, und maßen sich damit die allgegenwärtige Schau Gottes oder den Blick von nirgendwo und nirgendwann an. Verzichten wir darauf – das ist die postmoderne Bescheidenheit, von der oben die Rede war –, bleibt nur die subjektive Perspektive aus unserem Hier und Jetzt.

 

Begründet läßt sich also nur sagen, daß beispielsweise die Voodoo-Gläubige von der Existenz ihrer Geister und Zombies ebenso überzeugt sind wie wir Abendländer der Moderne von der Existenz unserer objektiven Realität. Ordnen wir erstere einer Hinterwelt zu, wird nicht ersichtlich, weshalb dies bei unserer objektiven Realität anders sein sollte.

Es handelt sich nicht – wie zumeist behauptet wird – um die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Mythos, sondern um den jeweils festen Glauben entweder an diesen oder an jenen Mythos.

Zur Postmoderne gehört es also insbesondere, die abendländische Kultur der Neuzeit nicht mehr als etwas Besonderes, als Fortschritts- oder gar Endziel zu sehen, sondern ebenso wie die anderen Kulturen auch:

Alle Weltbilder oder Mythen sind Versuche, einen Weg zum wahren Leben oder dessen Fülle zu finden.

 

Aber damit stehen wir natürlich vor einem Riesenproblem:

Wenn ein Haitianer verspricht, uns systematisch und stringent, das heißt, möglichst ohne Glaubensbekenntnisse jeglicher Couleur in die Philosophie einzuführen, und dann sein Buch mit der höchst speziellen Voodoo-Realität beginnt, sind wir wahrscheinlich kaum motiviert weiterzulesen.

Sie gehört so zur Haitianischen Hinterwelt wie die objektive Realität zu der unsrigen. Natürlich habe ich ein extremes Beispiel gewählt; aber es ist nicht absurd, sondern lediglich deutlich:

Welchen Bestandteil unseres Weltbilds auch immer wir wählen – Materie, Naturgesetze, Evolution, Urknall . . . –, all das entstammt der traditionellen Hinterwelt der Moderne und entspricht damit den Geistern und Zombies der Voodoo-Kultur

Wenn ein moderner Abendländer verspricht, uns systematisch und stringent, das heißt, möglichst ohne Glaubensbekenntnisse jeglicher Couleur in die Philosophie einzuführen, und dann sein Buch mit Materie, Naturgesetzen, Evolution oder Urknall beginnt, sollten uns demzufolge ähnliche Zweifel befallen.

 

Wir benötigen als verläßliches Fundament für unsere Überlegungen einen „neutralen“ Ausgangspunkt, und müssen dazu die „wissenschaftlichen Weltbilder“ ebenso hinter uns lassen wie die „abergläubischen Mythen“.