In diesem dritten Teil beginnen wir endlich mit unseren konstruktiven Überlegungen; die bisherigen bestanden weitestgehend in der Kritik des traditionellen Denkens.
AD: „War die nicht ein wenig unverfroren, wenn nahezu alle unserer Vorfahren zweieinhalb Jahrtausende (an) den traditionellen Ansatz geglaubt haben?“
Gewagt vielleicht, aber nicht überheblich, denn es liegt mir fern, uns auch nur im gerigsten für intelligenter zu halten. Wenn das stimmen und kein bloßes Lippenbekenntnis darstellen soll,
– müßten jedoch auch unsere Vorfahren schon fast wie wir gedacht haben, so daß
– sich unsere beiden Wirklichkeitsbilder nur in Nuancen voneinander unterscheiden dürften und
– möglichst deutlich werden sollte, weshalb diese Differenzen erst heute zu Tage treten.
AD: „Und wir beginnen beim letzten Punkt, denn nur von ihm her werden die Nuancen sichtbar, die es zu korrigieren gilt.“
Sie haben prinzipiell Recht; aber die dazu erforderliche Gegenwartsanalyse würde ein weiteres Buch umfassen, so daß wir uns als Kompromiß auf zwei Punkte beschränken, die mir besonders wichtig zu sein scheinen.
Der erste besteht in der Bedeutung der Person als eines Einzigen oder Selbst. Sie spielt im traditionellen Denken bestenfalls eine untergeordnete Rolle, denn das orientiert sich an Was-ist-Fragen. Deren Antworten bestehen in Begriffen und zielen somit immer nur auf das Allgemeine – auf Essenz, Wesen oder Was.
Das führt niemals zu einer Person, sondern nur zu dem, was der – und damit – jeder Mensch ist oder was sämtliche Subjekte charakterisiert. Die Person namens Moritz ist als Mensch ein Seiendes und besitzt damit eine menschliche Existenz sowie Essenz; allein sie sind traditionell entscheidend.
Natürlich hat Moritz auch einmalige Eigenschaften, aber die werden von der Tradition als zufällig oder kontingent abegtan. Vielleicht ist er kräftig, blond, schlau, lebenslustig, und allein in solchen Nebensächlichkeiten unterscheidet sich Moritz von sämtlichen anderen Subjekten.
Das Wesentliche ist ihnen gemein; sie besitzen alle die gleiche Existenz und Essenz; keine moritzsche, sondern die menschliche.
Die Tradition begeht also meines Erachtens den Fehler, dasjenige, was mich zu mir als einem einzigen Selbst macht, gering zu achten und dafür Allgemeinheiten in den Vordergrud zu stellen, die keinen Bezug speziell zu mir haben.
Der menschlichen Seele etwa kommt in traditionell-konservativen Kreisen eine gewaltige Bedeutung zu; man streitet sich beispielsweise – nicht zuletzt wegen der Möglichkeit einer Abtreibung – vehement darüber, wann die Seele nach der Zeugung zum Körper hinzutritt.
Was hat das mit mir zu tun? Worin unterscheidet sich meine Seele von der Ihrigen? Ich möchte nicht über den Menschen, sondern über mich sprechen. Nach christlichem Verständnis liebt Gott mich – nicht die Menschheit.
Pardon; natürlich auch Sie – aber nicht uns als die „zwei Menschen“.
Um unsere diesbezügliche „Kehre“ zu verdeutlichen, ersetzen wir Subjekte durch Subjektivitäten.
Letzere lassen sich nicht auf den Begriff bringen; das entspricht dem „individuum est ineffabile“ der Tradition; sie kennt die – Problematik der – Einzigkeit also auch, nimmt sie jedoch kaum ernst.
Eine Subjektivität ist „je-der Selbe“; Heinrich Rombach wollte mit dieser Schreibweise andeuten, daß Je-der Selbe stets der Einzige ist; nicht Mensch, Subjekt, Christ, Europäer, Geschöpf, Frau oder Mann.
Moritz kann er natürlich sein; aber das ist kein Begriff, sondern ein Name, und der sagt uns nichts über Moritz. Je-der Selbe läßt sich nicht auf einen Begriff bringen; ist es uns doch „gelungen“, haben wir je-den Selben getötet und durch ein Seiendes ersetzt, dessen Wesen in der Intension des benutzten Begriffs besteht.
Der zweite Punkt besteht in der Annahme, daß wir meines Erachtens in einer viel dynamischeren Zeit als unsere Ahnen leben. Gewiß mußten sie schlimme Kriege und Verluste erleiden, aber nichtsdestotrotz spielte ihr Leben auf einer identisch verbleibenden Bühne. ERDE, NATUR, RELIGION und GOTT bildeten einen ewig-beständigen und damit Sicherheit gewährenden Rahmen, in dem auch die schlimmsten Veränderungen ruhten und in ihre Grenzen verwiesen wurden.
Deswegen spielt das Sein traditionell so eine große Rolle; alles Wirkliche IST; es gilt als unvergänglich und kann folglich ebenso wenig entstehen wie vergehen.
Einen ewig-identischen Rahmen haben wir heute bereits nicht mehr, und sehr viele Menschen vermissen die Gewißheiten, die er einst bot, schmerzlich; das führt zu einer gefärlichen Spaltung der modernen Gesellschaft.
Die konservativ Eingestellten wünschen sich den Erhalt des traditionellen Ansatzes und damit eine Wiederkehr der „goldenen alten Zeiten“, deren Tatsächlichkeit zu ihrem Wirklichkeitsbild gehört.
Ich kann diese Sehnsucht nachvollziehen, glaube aber nicht, daß sie sich auf dem Weg stillen läßt, weil die Zeit irreversibel und damit ein – nicht durch Katastrophen verursachter – Rückfall in die Naivität der Vergangenheit ausgeschlosen sein dürfte. Meine wertenden Begriffe sind mit Bedacht gewählt, weil ich die Zeit als das Werden zu einem Ziel verstehe, das wir hoffentlich alle erreichen.
Nicht zu einem gemeinsamen Telos wie der Vollendung der Menschheit, der Evolution zum Punkt Omega (von Pierre Teilhard de Chardin) oder ähnlichem, sondern bei je-der Subjektivität zur Fülle ihres einzigen Lebens.
Dieser identische Rahmen von ERDE, NATUR, RELIGION und GOTT bildet den Horizont des Seins, das sich in den Seienden individuiert.
Wir ersetzen ihn durch die ZEIT und verstehen diese als Horizont des Werdens. Das wiederum besteht im Explizieren der transzendenten Wirklichkeit zur immanenten.
AD: „Das hat mir jetzt gefallen, und dami verstehe ich endlich auch den Titel Ihres Buches . . .
Aber womit beginnen wir unsere konstruktiven Überlegungen, um hinreichend sicher zu fahren, möglichst nicht gleich in die erste Falle zu tappen und weitere Fettnäpfchen mitnehmen zu müssen? Gibt es etwas Gewisses? Naturgesetze, Materie, Mathematik oder Logik vielleicht?“
Der Gedanke, nach einem festen Fundament zu suchen, drängt sich bestimmt den meisten Lesern massiv auf. Muß nicht etwas Todsicheres die notwendige Basis unseres Vorhabens bilden?
Ich bin überzeugt, daß eine solche Suche niemals zum Ziel führen würde, weil für uns endliche Menschen ausnahmslos alles kontingent, begrenzt oder (zeitlich bzw. kulturell) bedingt ist, so daß wir prinzipiell nicht über absolute Gewißheiten verfügen (können).
AD: „Also beenden wir das ganze Geistes-Experiment kurzerhand; Versuch durchaus anerkennenswert – aber leider gescheitert!
Es ist sinnlos und macht vor allem auch keinen Spaß, angestrengt über etwas nachdenken zu sollen, wenn die Ausgangsprämissen schwammig sind, so daß man weiß, es kann nichts Gescheites herauskommen.“
Insoweit gehen wir vollkommen d’accord!
Aber ich glaube, wir haben die Suche nach einem verläßlichen Fundament soeben noch falsch verstanden:
Es kann doch nicht darum gehen, irgendwelche grund-legenden Seienden zu finden – wenn wir sämtliche Seienden ablehnen. Die Frage nach einem sicheren Ausgangspunkt unseres postmodernen Ansatzes
– muß doch selbst schon in dessen Sinne und
– darf nicht traditionell verstanden werden.
Wir formulieren also um:
Welche – natürlich subjektiven – Entitäten konstituieren das Bewußtsein je-der Subjektivität?
Und diese Frage wollten wr bereits beantwortet haben:
Zum Bewußtsein je-der Subjektivität gehören
– das Sich-Zeigen und
– das Wissen.
Die Tradition meint, mit den Seienden zu starten. Aber das ist natürlich ein Unding, da sie nicht – in der Psyche – gegeben sind, sondern erst dort erkannt werden müßten. Der angebliche Beginn bei den Seienden erfolgt also in Wirklichkeit bei den Wahrnehmungen.
Bildlich gesprochen entspricht ein solches Vorgehen dem Kriminalkommissar, der einen Mord aufklären soll und seine Ermittlungen – hellseherisch – beim Täter beginnt. In Wirklichkeit muß jedoch auch er bei seinen eigenen Wahrnehmungen anfangen und den sich daraus ergebenden Spuren folgen – wohin auch immer sie führen mögen.
Vielleicht zum Täter, denn der befindet sich in unserer Welt; gewiß aber nicht zu Seienden, weil diese eine Hinterwelt bewohnen.