Realität und Bewusstsein

Fast alle Abendländer, die nicht länger darüber nachgedacht haben, sind sich heute – ebenso wie in den letzten zweieinhalb Tausend Jahren – in einer weltanschaulichen Hinsicht ebenso sicher wie einig: Die Wirklichkeit wird von einem prinzipiellen Dualismus beherrscht:
Auf der einen Seite existiert die Realität, die greifbare, substanzielle oder „wirkliche“ Wirklichkeit. In der griechischen Antike war das inbesondere der Kosmos, für das Christentum wurde die Realität zur Schöpfung und in der Neuzeit zur Materie oder Natur; jetzt erst nennt man sie „objektive Realität“.
Ihr steht auf der anderen Seite (zumindest) das menschliche Bewustsein gegenüber. „Darin befinden sich“ oder dazu gehören keine greifbaren, substanziellen oder „wirklichen“ Dinge, sondern nur Wahrnehmungen oder Vorstellungen von ihnen (und vielem anderen, was es gar nicht gibt).

Für diesen Dualismus scheint es mir kein einziges überzeugendes Argument zu geben, weil uns immer nur eine seiner beiden Seiten gegeben ist – nämlich die zweite. Dass uns etwas gegeben ist, bedeutet doch, dass wir es wahrnehmen oder uns vorstellen, das heißt, dass es zu unserem Bewusstsein gehört.
Realität als solche – als außerhalb unseres Bewusstseins befindliche – ist uns nicht gegeben und kann uns prinzipiell nicht gegeben sein. Jeder sinnvolle Satz „darüber“ muss unsere Vorstellungen (oder Wahrnehmungen) wiedergeben – und ist somit kein Satz über die Realität.

Damit zerbricht das 2500 Jahre alte abendländische Wahrheitsverständnis, das Wahrheit als Übereinstimmung zwischen der urbildlichen Realität und ihrer (vorgestellten oder wahrgenommenen) Abbildung „im“ Bewusstsein verstehen wollte. Eine solche Übereinstimmung wäre nur (dem griechischen) Gott möglich, der sowohl Ur- als auch Abbild erkennen und dadurch das eine mit dem anderen vergleichen kann. Der Anspruch, ebenfalls „doppelt sehen“ zu können, das heißt zu wissen, worin die (angebliche) Realität besteht, wäre somit ein „Sein-Wollen wie Gott“.


„Was man weiß, sieht man erst!“
Johann Wolfgang von Goethe

„Sehe ich die Welt anders, wenn ich anders sehe,
oder sehe ich eine andere Welt?
Haben die Philosophen die Welt nur immer anders interpretiert,
statt sie zu verändern,
oder haben sie die Welt verändert,
indem sie diese jeweils anders interpretierten?
Oder interpretierten sie bereits in einer anderen Welt,
weil sie die Welt anders sahen
vor dem Hintergrund einer neuen Interpretation?“
Dagmar Fenner