Gliederung

0.Zitate1.Einleitung1.1."Methode"1.2.Igel und Fuchs1.3.Religiöser Hintergrund1.4.Philosophischer Hintergrund2.Intention2.1.Wahrheit und Überzeugung2.2.Weltloser "Dualismus"2.3.Weltbild ohne Welt2.4.Wirklichkeit – unabhängiges Leben und abhängige Wissungen2.5.De-Koinzidenz2.6.Der Grundwiderspruch des traditionellen Ansatzes2.7.Subjekte und Zeiten2.7.1.Identität der Subjekte2.7.2.Die vergehende Zeit der Tradition2.7.3.Subjekte als Diachronie2.8.Begriffe – Vorstellungen – Aktanten2.8.1.Die subjektive Welt2.8.2.Postmoderner Determinismus2.8.3."Hohlwelttheorie"2.8.4.Was macht Wissungen zu Aktanten?2.8.5.Rein subjektiv – relativ intersubjektiv – absolut intersubjektiv – objektiv2.8.6.Sprachspiele2.9.Das subjektive Leben mit seinen räumlichen und diachronen Facetten2.10.Das Leben als Struktur und mein Bewußtsein als ihr Moment2.11.Ausblick3.Exkurs: Naiver Realismus3.1.Naiver Realismus3.2.Wissungen ohne Wovon oder Referenten3.3.Urbilder und Abbilder – im logischen Zirkel3.3.1.Es gibt kein Abbilden3.3.2."Unphilosophisch einfache" Hilfestellung3.3.3.Radikaler Konstruktivismus3.4.Die objektive Realität als Hinterwelt3.4.1.Wissenschaft und Hinterwelt3.4.2.Wahrheit und Überzeugung3.4.3.Das moderne Weltbild als Mythos3.5.Die Frage nach der Wirklichkeit3.6.Synchronie und Diachronie3.7.Markus Gabriel als Naiver Realist

0. Zitate

„Der Glaube an den Kausalnexus ist der Aberglaube.

Ich wollte damit keineswegs sagen, der Glaube an den Kausalnexus sei ein Aberglaube unter mehreren, sondern es ging mir darum, daß jeder Aberglaube eben nichts anderes ist als der Glaube an den Kausalnexus.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Es gibt viele Wege, auf denen das, was ich vergeblich zu sagen versuche, vergeblich zu sagen versucht werden kann.«

Samuel Beckett

 

„Sollten die Gesetze des (bisherigen) Denkens niederbrechen, dann wird es die tiefste Wandlung im intellektuellen Leben des Menschen geben, verglichen mit welcher die Kopernikanische und die Einstein’sche Revolution nur Scheinschlachten sind.“

Oliver Leslie Reiser

 

„Das Gegenteil von Liebe ist nicht Haß, sondern Gleichgültigkeit.“

Elie Wiesel

 

„Die Welt ist ein erstaunlicher Ort, und der Gedanke, daß wir über die wichtigsten Werkzeuge verfügen, die nötig sind, um sie zu verstehen, ist heute nicht glaubwürdiger als zu Aristoteles‘ Zeiten.“

Thomas Nagel

 

„Der vernünftige Glaube weiß, daß er ein Glaube ist.“

Rainer Forst

 

„Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dieses Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.“

Max Weber

 

„Das nicht erforschte Leben ist es nicht wert, gelebt zu werden.“

Sokrates

 

„Es ist eine furchteinflößende, eine ehrfürchtige Wahrheit, daß die Anerkennung der Andersheit der anderen, unserer unausweichlichen Trennung, die Bedingung menschlichen Glücks darstellt. Gleichgültigkeit ist die Verleugnung dieser Bedingung.“

Stanley Cavell

 

„Keiner kann sagen, was er meint, obwohl jeder nur das sagt, was er meint.“

Bruno Liebrucks

 

„Glaube nie, was in den Büchern steht. Selbst sei dir Weiser, selbst Prophet!

Glaubst du, was die Leute glauben, dann glaube nicht, daß du was weißt.

Das Wissen nur kann niemand rauben, das bei den Menschen Glauben heißt.“

Erich Mühsam

 

„Der Perspektivismus bildet keine Relativität des Wahren, sondern ganz im Gegenteil die Wahrheit des Relativen.“

Gilles Deleuze und Felix Guattari

 

„Das Böse in der Welt entspringt beinahe immer dem Unwissen, und der gute Wille kann genauso viele Schäden anrichten wie die Bosheit, wenn er nicht aufgeklärt ist. Die Menschen sind eher gut als schlecht, doch in Wahrheit ist das gar nicht die Frage.“

Albert Camus

 

„Wir müssen entweder lernen, als Brüder miteinander zu leben, oder wir gehen als Narren unter.“

Martin Luther King

 

„Ich suche nicht – ich finde.

Suchen, das ist das Ausgehen von alten Beständen und das Finden-Wollen von bereits Bekanntem.

Finden, das ist das völlig Neue. Alle Wege sind offen, und was gefunden wird, ist unbekannt. Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer. Die Ungewißheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen, die sich im Ungeborgenen geborgen wissen, die in der Ungewißheit geführt werden, die sich vom Ziel ziehen lassen und nicht selbst das Ziel bestimmen.“

Pablo Picasso

 

„Wir sind alle als Originale geboren – wie kommt es, daß so viele von uns als Kopien sterben?“

Edward Young

 

„Ich erkenne meine Verwandtschaft“ (mit allen Wesen), „ich bin nichts als ein Vermögen, ihnen Widerhall zu geben, sie zu verstehen und zu antworten.“

Maurice Merleau-Ponty

 

„. . . wieder versuchen, wieder scheitern, besser scheitern . . .“

Samuel Beckett

 

„Die Geschichte ist nämlich nicht, wie es die herrschende Ideologie gern sieht, die Hingabe des Menschen an die lineare, kontinuierliche Zeit, sondern die Befreiung des Menschen von ihr.“

Giorgio Agamben

 

„Theologie verliert ihr Thema, wenn sie nicht mit dem völlig Verändernden zu tun hat.“

Gerhard Ebeling

 

„Wir befinden uns in einer summenden Welt, inmitten einer Demokratie von Mitgeschöpfen; wohingegen die orthodoxe Philosophie, in welcher Gestalt auch immer, uns nur zwischen einsame Substanzen stellen kann, die alle scheinhafte Erfahrungen machen.“

Alfred North Whitehead

 

„Der Weg entsteht im Gehen.“

Antonio Machado

 

„Wir fühlen, daß, selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Probleme beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind. . . Die Lösung des Rätsels von Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Keine andere Wahrheit ist zeitlicher als die des Religiösen.“

Klaus Hemmerle

 

„Die Entgegensetzung der fest gewordenen Subjektivität und Objektivität ist aufzuheben und das Gewordensein der intellektuellen und reellen Welt als ein Werden, ihr Sein als Produkt, als ein Produzieren zu begreifen. . . Alle Unterscheidungen werden dabei ver-rückt; diese Tätigkeit ist die Kraft und Arbeit des Verstandes, das Fixe zu verflüssigen. . . Es ist aber weit schwerer, die festen Gedanken in Flüssigkeit zu bringen, als das sinnliche Dasein.“

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

 

„Als wir das Ziel aus den Augen verloren, verdoppelten wir die Anstrengung.“

Mark Twain

 

„Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Erlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun.“

Theodor W. Adorno und Max Horkheimer

 

„Bewahre dir in allen Dingen die Freiheit des Geistes und sieh zu, wohin er dich führt!“

Ignatius von Loyola

 

„Die wichtige Frage bezüglich der Tiere ist doch nicht, ob sie denken oder sprechen können; entscheidend ist vielmehr allein, ob sie leiden können.“

Jeremy Bentham

 

„Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen; ein Werdender wird immer dankbar sein.“

Johann Wolfgang von Goethe

 

„Die Wissenschaft versteht es bestens, metaphysische Annahmen zu zerstören; aber sie liefert keinen Ersatz dafür.“

Francisco Varela

 

„Ein Wort muß man nicht ‚verstehen‘. Man kennt es, oder man kennt es nicht.“

Philipp Wegener

 

„Sprechen wir sinnvoll von Realität, so sprechen wir von Realität; spricht niemand von Realität, so ist von Realität nicht die Rede.“

Carl Friedrich von Weizsäcker

 

„In dem Maße, wie wir uns bemühen zu verstehen, um weniger glauben zu müssen, vertieft sich der Glaube.“

Johannes Soukup

 

„Die Rätselhaftigkeit ist unsere fundamentale Wahrheit; alles Übrige ist Interpretation.“

Heinz Robert Schlette

 

„Ich möchte ein Buch schreiben, das die Menschen verwirrt, . . . und das sie dahin führt, wo hinzugehen sie niemals eingewilligt hätten.“

Antonin Artaud

 

„Ich beginne zu glauben, daß die einzige wirkliche Sünde der Selbstmord ist oder das Faktum, nicht wir selbst zu sein.“

George Tyrell

 

„Man sollte die Wahrheit dem anderen wie einen Mantel hinhalten, daß er hineinschlüpfen kann – und nicht wie ein nasses Tuch um den Kopf schlagen.“

Max Frisch

 

„Die Welt bietet nicht Wahrheiten, sondern Liebesmöglichkeiten.“

Albert Camus

 

„Glaube, der nicht Erkenntnis ist, aus Erkenntnis kommt und auf Erkenntnis beruht, ist ohne Kontakt zur Wirklichkeit. Glaube ohne Kontakt zur Wirklichkeit ändert an der Wirklichkeit des Glaubenden nichts. Er ist ohne soteriologische Kraft.“

Johannes Fischer

 

„Jeder tue das Seine, der Leser aber das Meiste.“

Søren Kierkegaard

 

„Welchen Sinn hätte unser ganzes Sein, wenn nicht den, daß in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst als Problem zum Bewußtsein gekommen wäre? An diesem Sich-bewußt-werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an – daran ist kein Zweifel – die Moral zugrunde: jenes große Schauspiel in hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten Europas aufgespart bleibt, das furchtbarste, fragwürdigste und vielleicht auch hoffnungsreichste aller Schauspiele.“

Friedrich Nietzsche

 

„Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Physikalische Objekte sind gelegen kommende Vermittler – nicht durch Definition aufgrund von Erfahrung, sondern einfach als nicht reduzierbare Setzungen, epistemologisch den Göttern Homers vergleichbar. . . . Der Mythos der physikalischen Objekte ist den meisten anderen Mythen darin überlegen, daß er sich als wirksamer erweist, dem Fluß der Erfahrungen eine handliche Struktur aufzuprägen.“ 

Willard Van Orman Quine

 

„Denken ist Schöpfung, nicht Wille zur Wahrheit.“

Gilles Deleuze

 

„Die Welt ist ein sehr labiles Gebilde, abhängig . . . von der satzförmigen Rede des Menschen.“

Hermann Schmitz

 

„‚Alles klar‘ oder ‚kein Problem‘ – beide Formeln sind zutiefst unwahr . . .

   Die Rätselhaftigkeit ist unsere fundamentale Wahrheit; alles übrige ist Interpretation . . .

   Zu wissen, was man nicht wissen kann, ist ein bedeutendes Stück Erkenntnis – denn es ermöglicht Toleranz, Kommunikation und Frieden.“

Heinz Robert Schlette

 

„Nichts fordert so viel Treue wie lebendiger Wandel.“

Johann Baptist Metz

 

„Die Sprache ‚vermittelt‘, wenn man so sagen will, zunächst nur in dem Sinne zwischen dem Menschen und seiner Welt, daß sie diese seine Welt überhaupt erst als eine solche für ihn entstehen läßt. In diesem Sinne ist die ‚Welt‘ immer schon sprachlich vermittelte Welt.“

Theodor Bodammer

 

Existieren heißt Differieren; die Differenz ist in gewissem Sinne das Wesen der Dinge.“

Gabriel Tarde

 

„Wer existiert, ist beständig im Werden und versetzt sein Denken ins Werden. . .  Wer ein objektives Christentum und nichts anderes hat, der ist eo ipso ein Heide, denn das Christentum ist gerade eine Sache des Geistes, der Subjektivität und Innerlichkeit.“

Søren Kierkegaard

 

„Definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat.“

Friedrich Nietzsche

 

„Die Lehre vom Gottsein Jesu würde nicht angetastet, wenn Jesus aus einer normalen menschlichen Ehe hervorgegangen wäre.“

Joseph Ratzinger

 

„Freiheit ist heute die Aufgabe und Chance der Kirche.“

Hermann Krings

 

„Christlicher Glaube richtet sich nicht auf Sätze und Lehren, sondern auf die Wirklichkeit, von der Sätze und Lehren handeln.“

Thomas von Aquin

 

„Je begreiflicher uns das Universum wird, um so sinnloser erscheint es auch.“

Steven Weinberg

 

„Ich glaube keiner Theorie, sondern ich benutze sie nur. Ich benutze von der Theorie jeweils das Teilstück, das mir hilft, . . . solange es mir hilft.“

Eckard Sperling

 

„Glauben heißt nicht Propaganda betreiben; es heißt auch nicht schockieren.

Es heißt so leben, wie es unerklärlich wäre, wenn es keinen Gott gäbe.“

Emmanuel Célestin Suhard

 

„Die gegenwärtige, weit verzweigte Realismus-Debatte wirft manche Rätsel auf, deren größtes sein könnte, warum sie überhaupt geführt wird.“

Peter Janich

 

„Um der Zukunft willen vernichten wir alles, was der Zukunft eine Chance ließe.“

Friedrich-Wilhelm Marquardt

 

„Nicht nur Gott kennen wir allein durch Jesus Christus, auch uns selbst kennen wir nur durch ihn. Ohne Jesus Christus wüßten wir weder, was unser Leben noch was unser Tod noch was Gott ist noch was wir selber sind.“

Blaise Pascal

 

„Die Kunst gibt nicht das Sichbare wieder, sondern macht sichtbar,“

Paul Klee

 

„Es ist immer etwas Lächerliches im philosophischen Diskurs, wenn er von außen den anderen vorschreiben und vorsagen will, wo ihre Wahrheit liegt und wie sie zu finden ist.“

Michel Foucault

 

„Das Wort ist ans Wort gebunden; niemals jedoch an Dinge.“

Edmond Jabès

 

„Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“

William Faulkner

 

„Das Bild des Menschen, das wir für wahr halten, wird selbst ein Faktor unseres Lebens. Er entscheidet über die Weisen unseres Umgangs mit uns selbst und den Mitmenschen, über Lebensstimmung und Wahl der Aufgaben.“

Karl Jaspers

 

„Der Auferstehungsglaube ist nicht die ‚Lösung‘ des Todesproblems.“

Dietrich Bonhoeffer

 

„Eines Tages wird man offiziell zugeben müssen, daß das, was wir Wirklichkeit getauft haben, eine noch größere Illusion ist als die Welt des Traumes“

Salvador Dali

 

„Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen.“

Friedrich Nietzsche

 

„Hoffnung ist nicht die Überzeugung, daß etwas gut ausgehen wird, sondern daß es Sinn hat – unabhängig davon, wie es ausgehen wird.“

Václav Havel

 

„Meine Philosophie lautet, daß alles viel komplizierter ist, als man gemeinhin glaubt.“

Kwame Anthony Appiah

 

„Ich bin kein Revolutionär, aber ich bin der Meinung, daß die Kirche im besten Sinne des Wortes unterwandert werden muß, und zwar durch eine größere Wahrheit, durch die ursprüngliche Wahrheit, und daß das Gebäude der Kirche, um dieser Wahrheit Rechnung zu tragen, irgendwann nachgeben muß, um so diese Wahrheit zur Geltung kommen zu lassen.

  Das kann keine andere als die Wahrheit Jesu Christi sein.“ 

Eugen Biser

 

„Ein Zyniker ist ein Mensch, der von allem den Preis und von nichts den Wert kennt.“

Oscar Wilde

 

„Ohne Mythus aber geht jede Kultur ihrer gesunden schöpferischen Kraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Kulturbewegung zur Einheit ab.“

Friedrich Nietzsche

 

„Wo man der Zweifel nicht fähig ist, ist man auch der Wahrheit nicht fähig.“

Fulbert Steffensky

 

„In der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr. Alle können nichts dafür und haben es nicht gewollt. . . Wir sind zu kollektiv schuldig, zu kollektiv gebettet in die Sünden unserer Väter und Vorväter. Wir sind nur noch Kindeskinder. Das ist unser Pech, nicht unsere Schuld.“

Friedrich Dürrenmatt

 

„Um die Menschen zu lieben, muß man sehr stark hassen, was sie unterdrückt.“

Jean-Paul Sartre

 

„Unsere Kultur ermutigt uns nicht, Philosophen zu sein, und dies ist vielleicht die verheerendste Verneinung von Freiheit in unserem Leben.“

William Warren Bartley

 

„Nein; gerade Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen.“

Friedrich Nietzsche

 

„Die großartigste Lehre in beiden Religionen, der jüdischen wie der christlichen, ist – ich berufe mich hier auf ein Wort Schopenhauers – die Lehre von der Erbsünde. Sie hat die bisherige Geschichte bestimmt und bestimmt heute für den Denkenden die Welt. Möglich ist sie nur unter der Voraussetzung, daß Gott den Menschen mit einem freien Willen geschaffen hat.“

Max Horkheimer

 

„Wir verstehen nicht einmal das Leben – wie können wir den Tod verstehen?“

Konfuzius

 

„Die meisten Menschen, die sich schämen, mit einem abgelegten Hut oder Mantel zu gehen, laufen freudig mit abgelegten Meinungen herum.“

Sören Kierkegaard

 

„Wie kann der Mensch sich verstehen, wenn er den Tod nicht versteht?“

Karl Rahner

 

„Glaube nicht alles, was Du denkst; aber bedenke alles, was Du glaubst.“

Johannes Soukup

 

„Der fundamentale Widerspruch unserer Existenz . . . ist die gleichzeitige Notwendigkeit der Hierarchie, die Athen lehrt, einerseits, und des abstrakten und in gewisser Weise anarchischen ethischen Individualismus, den Jerusalem zur Aufhebung der Gewalt lehrt, andererseits.“

Emmanuel Levinas

 

„Man muß die Erklärung geben, die akzeptiert wird. Darauf kommt es beim Erklären an.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Die Götter anderer Menschen zu verachten, bedeutet, diese Menschen selbst zu verachten, denn sie und ihre Götter gehören zusammen.“

Sarvepalli Radhakrishnan

 

„Entfremdung ist die freiwillige Unterwerfung unter eine angebliche Objektivität.“

Johannes Soukup

 

„Wenn ich mich nicht täusche, ist die Innenseite dieser äußeren Reserviertheit nicht nur Gleichgültigkeit, sondern, häufiger als wir es uns zum Bewußtsein bringen, eine leise Aversion, eine gegenseitige Fremdheit und Abstoßung, die in dem Augenblick einer irgendwie veranlaßten nahen Berührung sogleich in Haß und Kampf ausschlagen würde.“

Georg Simmel

 

„Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens“ . . . und . . . „Denken ist Danken“.

Martin Heidegger

 

„Die Macht des Menschen, aus sich zu machen, was ihm beliebt, bedeutet . . . die Macht einiger weniger, aus anderen zu machen, was ihnen beliebt.“

Clive Staples Lewis 

 

„Achtung ist Beachtung der Andersheit . . . Ohne diese Achtung versteht man nichts.“

Josef Simon

 

„Schließlich geht es in der Offenbarung Gottes gerade darum, daß er, der Lebendige und Wahre, in unsere Welt einbricht und so auch den Kerker unserer Theorien aufbricht, mit deren Gitterstäben wir uns selbst gegen dieses Kommen Gottes in unser Leben absichern wollen.

Jede – auch die frömmste – Theorie entspricht einem Kerker, weil sie die (Wirklichkeit der) Zeit leugnet und damit die Offenbarung oder eine neue Fülle des Lebens verunmöglicht.“

Joseph Ratzinger

 

„Exaktheit ist ein Schwindel.“

Alfred North Whitehead

 

„Ich möchte nicht mit meiner Schrift Anderen das Denken ersparen, sondern, wenn es möglich wäre, jemand zu eigenen Gedanken anregen.“

Ludwig Wittgenstein

 

„Freiheit ist das Wahrheitskriterium des Christentums.“

Eberhard Jüngel

 

„Es ist schwer, jemandem etwas auseinanderzusetzen, wenn er dafür bezahlt wird, es nicht zu verstehen.

Upton Sinclair

 

„Was ist das Allgemeine? Der einzelne Fall.

Was ist das Besondere? Millionen Fälle,“

Johann Wolfgang von Goethe

 

„Kurz: ‚Substanz‘ ist ein metaphysischer Irrtum, der dadurch entsteht, daß die Struktur von Subjekt-Prädikat-Sätzen auf die Struktur der Welt übertragen wird.“

Bertrand Russel

 

„Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind. Wir sehen die Dinge, wie wir sind.“

Talmud

 

„Viele Bewunderer der Wissenschaft meinen, sie unterscheide sich gerade darin von der Religion, daß sie Glauben durch Vernunft ersetzt. Eben diese Meinung ist nach meiner Ansicht eine Äußerung ihres Glaubens. Wir dürfen nur den Begriff des Glaubens nicht zu eng fassen.“

Carl Friedrich von Weizsäcker

 

„Nicht behaupten ’so ist es‘, sondern leben, als wäre es so.“

Johannes Soukup

 

„Die Religionen, . . . die diesen freiwilligen Abstand begriffen haben, dieses freiwillige Verschwinden Gottes, seine scheinbare Abwesenheit und seine verborgene Anwesenheit hienieden, – diese Religionen sind wahre Religionen, die Übersetzung der großen Offenbarung in unterschiedliche Sprachen.

Die Religionen, welche die Gottheit überall dort, wo sie die Macht dazu haben, als befehlend darstellen, sind falsch. Selbst wenn sie monotheistisch sind, sind sie Götzendienst.“  

Simone Weil

 

„Wir ertrinken in Informationen, aber uns dürstet nach Wissen.“

Paul Nurse

    

„Der Szientismus fügt zur Wissenschaft zwei Begleitsätze hinzu:

Erstens, daß die wissenschaftliche Methode, wenn nicht die einzige, so doch zumindest die am meisten verläßliche Methode ist, zur Wahrheit zu gelangen.

Und zweitens, daß die Dinge, mit denen sich die Wissenschaft beschäftigt – materielle Entitäten –, die grundlegendsten Dinge sind, die existieren.“

Huston Smith 

 

„Wir haben nicht zu viel Verstand und zu wenig Seele, sondern wir haben zu wenig Verstand in den Fragen der Seele.“

Robert Musil

 

„In einer werdenden Welt ist ‚Realität‘ immer nur eine Simplifikation zu praktischen Zwecken oder eine Täuschung aufgrund grober Organe oder eine Verschiedenheit im Tempo des Werdens.“

Friedrich Nietzsche

 

„Wir glauben – nicht, was richtig ist, sondern – was zu glauben wir für richtig halten.“

Johannes Soukup

 

„Philosophen sind Gewalttäter, die keine Armee zur Verfügung haben und sich deshalb die Welt in der Weise unterwerfen, daß sie sie in ein System sperren.“ 

Robert Musil

 

„Nur Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden.“

Heinz von Förster

 

„Der entscheidende Punkt ist, daß nur der Verzicht auf eine Erklärung des Lebens im üblichen Sinne uns die Möglichkeit schafft, den charakteristischen Merkmalen des Lebens Rechnung zu tragen.“

Niels Bohr

 

„Glaube ist das Denken eines religiösen Geistes.“

John Henry Newman

 

„Das schlechthin Unvernünftige – wir zerstören unsere Welt – tritt ein, weil alle vernünftig handeln.“

Thomas Ruster

 

„Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, aber bei Gruppen Parteien, Kirchen oder Völkern die Regel.“

Friedrich Nietzsche

 

„Unablässig versucht der moderne Mensch, die Welt in Reichweite zu bringen.

Dabei droht sie uns jedoch, stumm und fremd zu werden.

Lebendigkeit entsteht nur aus der Akzeptanz des Unverfügbaren.“

Hartmut Rosa

 

„Nichts ist stärker als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“

Victor Hugo

 

„Wir brauchen ein Ministerium für Ruhestörung, das kalkuliert Ärger erzeugt; die Routine zerstört und die Selbstzufriedenheit untergräbt.“

Cyril Dean Darlington

 

„Du und ich, wir sind nicht zwei.“

Emmanuel Levinas

 

„Wirklich ist das, wovon wir ausgehen, selbst wenn wir es im einzelnen bezweifeln.“

Bernhard Waldenfels

 

„Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind, – oder doch ähnliche Gedanken – schon selbst einmal gedacht hat.

Es ist also kein Lehrbuch.

Sein Zweck wäre erreicht, wenn es einem, der es mit Verständnis liest, Vergnügen bereitete. . .

Denn wenn ich auch nur selten ins Schwarze getroffen habe, wird der aufmerksame Leser doch erkennen, nach welchen Zielen ich unablässig geschossen habe.“

Ludwig Wittgenstein.

1. Einleitung

Das waren sehr viele Zitate; sie sollen die Richtung andeuten, in die wir uns bewegen werden, und Ihnen damit eine Entscheidung ermöglichen, ob es sich für Sie möglicherweise lohnen könnte, mein Buch zu lesen.  

Haben Sie keine Sorge, daß es in diesem Sinne – also auch ein wenig langweilig und ermüdend – weitergehen könnte. Ganz im Gegenteil; ich versuche, selbst zu denken, finde das unheimlich spannend – es ist mein Hobby – und lade Sie dazu ein.

Wenn Sie mitspielen und Fehler finden, hat sich das Thema für Sie höchstwahrscheinlich sehr schnell erledigt. Sympathisch und der Wahrheit dienlich wäre es freilich, mich kurz auf die entsprechenden Schwachstellen hinzuweisen. Ich danke Ihnen schon im Voraus und bitte um Entschuldigung für meine Versehen.

 Fehler sind natürlich insbesondere logische Widersprüche, fehlende Denkmöglichkeiten und ungerechtfertigte Annahmen jeglicher Couleur, also nicht nur weltanschaulich-religiöse, sondern auch wissenschaftliche oder alltägliche.

 

Kein Fehler ist es dagegen, vom Zeitgeist mit seinen Selbstverständlichkeiten und Plattitüden abzuweichen, von dem, was „man sagt“ oder „jeder weiß“. Dabei geht es freilich nicht um das Widersprechen als Selbstzweck, wie wir es heute tagtäglich auf unseren Straßen – mit nahezu beliebigen „Begründungen“ oder „Argumenten“ – erleben.

Entscheidend ist vielmehr, daß „natürlich insbesondere logische Widersprüche, fehlende Denkmöglichkeiten und ungerechtfertigte Annahmen jeglicher Couleur“ auch dann zu vermeiden sind, wenn sie von vielen Menschen geteilt werden und somit dem Zeit- oder einem beliebigen Gruppengeist entsprechen.

 

Die meisten von uns können es sich heute kaum erlauben, Zeit und Mühe in die Auseinandersetzung mit einem Buch zu investieren, die sie anschließend bereuen würden, weil sich sein Inhalt rückblickend als oberflächlich, uninteressant oder sinnleer herausstellt.

Mit dem letzten Prädikat meine ich nicht die übliche Frage „Was bringt mir das?“, weil sie selbst meines Erachtens oberflächlich, uninteressant und sinnleer ist. Wer dergleichen sucht, ist hier falsch und sollte besser Ratschläge zur Selbstverwirklichung, Anleitungen zur Erbauung oder Tips vom Baumarkt und Finanzberater wählen.

Das Buch kann Ihnen helfen,

selbst zu denken,

– einzusehen, daß Überzeugungen und Wahrheit nichts miteinander zu tun haben,

– zu verstehen, weshalb wir die Welt nur verbessern können, indem wir uns selbst ändern und

– im tiefsten Inneren ein wenig bescheidener, offener, gelassener sowie toleranter zu werden.

 

Toleranz ist ein schwieriger Begriff. Er bedeutet auf der einen Seite keineswegs, daß wir das Tolerierte achten und bewundern sollen; wir lehnen es ab – andernfalls wäre keine Toleranz erforderlich. Etwas weiter – aber natürlich auch, ohne grenzenlos zu werden – reicht unsere Toleranz den Menschen gegenüber, die das von uns nur Tolerierte vertreten.

„Das Ziel der Toleranz ist nicht Wahrheit, sondern die Wahrung des Friedens“ (John Gray).

 

Auf der anderen Seite müssen wir aber bei allen notwendigen Grenzen der Toleranz auch stets bedenken, daß unsere Gegenmeinung nur subjektiv, unsicher und fehlbar ist:

Warum denke ich so, wie ich denke?

Weshalb bin ich sogar überzeugt, so denken zu müssen?

Welche Scheuklappen versperren mir den Blick auf andere Möglichkeiten?

Glaube ich ernstlich, weiser zu sein als Karl Jaspers‘ „maßgebliche Menschen“ – Sokrates, Buddha, Nagarjuna, Jesus oder Konfuzius –, so daß ich deren Gedanken einfach ignorieren kann?

Muß ich nicht selbst über diese Einschätzung lachen? Wieso soll gerade ich über einen heißen Draht zu Gott oder dem „Weltgeist“ (Hegel) verfügen?

Woher resultiert überhaupt die Annahme, daß ich denken würde?

Könnte es nicht sein, daß es – vielleicht ein spezielles Gruppenwesen – in mir bzw. durch mich (hindurch) denkt – so wie es regnet – oder gar „die Sprache spricht“ (Martin Heidegger)?

 

Die Denkrichtung unserer Überlegungen können wir anhand von drei für die betreffenden Philosophen charakteristischen Fragen in einfachen Worten andeuten:

George Berkeley: „Verursacht ein fallender Baum Lärm, wenn es niemand hört?“

Martin Heidegger: „Waren die Gesetze Newtons schon vor Newton wahr?“

Thomas S. Kuhn: „Lebten Aristoteles und Galilei in derselben Welt?“

Max Black: „Hat die andere Seite des Mondes existiert, bevor man sie gesehen hat?“

Wohl viele von uns dürften sich fast beleidigt fühlen, solche naiven Fragen gestellt zu bekommen, und sie natürlich alle mit einem glatten „ja“ beantworten.

Ich will Ihnen dagegen zeigen, daß manches für das ebenso eindeutige „nein“ der genannten Denker spricht, dem wir uns 100%-ig anschließen.

 

Mir ist bewußt, daß diese „Kopernikanische Wende“ (Kant) natürlich „keineswegs eine Empfehlung für mein Buch darstellt, sondern eher das Gegenteil. Denn Neues will weder der Fachmann noch der Laie. Jener ist froh, wenn er so weitermachen kann, wie er es gelernt hat, . . . und dieser will auch nicht eine neue und revolutionäre Philosophie vorgesetzt bekommen, sondern – wenn überhaupt eine Philosophie, dann schon – die wahre oder die Philosophie der Gegenwart.“ (Franz Rosenzweig)

Bei beiden Wünschen muß ich Sie allerdings enttäuschen:

Die wahre Philosophie kann es nicht geben, weil philosophische Fragen keine endgültigen Antworten kennen – genau das macht sie zu philosophischen Fragen.

„Die Meinung, die sich am Ziel glaubt, blockiert das Verstehen“ (Josef Simon).

Und ob mein Denken en vogue ist, interessiert mich nicht. Ich möchte, soweit dies überhaupt möglich ist, jeglichen Zeitgeist hinter mir lassen; freilich denjenigen, der zur Zeit des Sokrates oder Jesus herrschte, ebenso wie den heutigen.

 

Das Buch basiert auf der Annahme, daß ein Bewußtseinswandel in dem angedeuteten Sinne bei hinreichend vielen Menschen gegenwärtig wichtiger wäre als alle pragmatischen Fortschritte, auf die wir in den letzten vier Jahrhunderten ebenso einseitig wie stolz gesetzt haben und in denen noch immer viele die Lösung unserer stetig zunehmenden Probleme sehen – anstatt ihrer Ursache.

Dieser moderne Irrglaube ist freilich nicht nur nachvollziehbar, sondern sogar nahezu zwingend, solange wir in den exakten Wissenschaften den Königsweg zur Wahrheit sehen. Sie sind großartig und ein wahrer Segen für uns, haben aber mit Wahrheit nichts zu tun.

 

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch; das ist keine Ungerechtigkeit; ich bin dankbar und froh, heute hier zu leben, und genieße die abendländischen Errungenschaften der Moderne. Den allermeisten von uns geht es zum Glück besser als vielen mittelalterlichen Fürsten.

Das betrifft das Wie unseres Lebens.

Ich habe in diesem letzten Satz ganz bewußt kein einschränkendes „aber“ oder „nur“ eingefügt, weil derartige Ermahnungen meiner Überzeugung zutiefst widersprechen würden. Wir wollen und – dürfen nicht nur, sondern – sollen das Leben genießen. Der Sinn des Lebens besteht in seiner eigenen Fülle; es ist letzte Wirklichkeit, Selbstzweck und kein bloßes Mittel – wofür auch immer.

 

Das bezieht sich nicht nur auf ein „Jenseits“, sondern sollte, soweit wie möglich, hier und jetzt beginnen. Das „Diesseits“ ist weder Prüfungs- noch Bewährungsort, denn die Lust am Leben bildet nach meinem Dafürhalten das ent- und unterscheidend Christliche. Jesus wurde bekanntlich vorgeworfen, er sei ein „Säufer und Fresser“.

Der katholische Dominikaner-Theologe Marie-Dominique Chenu sagte zu Maria Caterina Jacobelli, der Autorin von „Ostergelächter. Sexualität und Lust im Raum des Heiligen“:

„Sprechen Sie niemals von der Freude, Madame, sprechen Sie immer von der Lust, sonst wird man Sie spiritualistisch mißverstehen.“

 

Trotz dieser positiven Wertung von Lust und Genuß ist das freilich – jetzt kommt das bereits erwartete „aber nur“ also doch noch – lediglich die halbe Wahrheit, denn es gibt neben dem Wie des Lebens auch sein Warum, seinen Inhalt oder Sinn.

Auf der einen Seite faßte Viktor E. Frankl – der „dritte Wiener Psychotherapeut“ – seine Lebenserfahrungen in dem Leitsatz der Logotherapie zusammen, daß „wer ein Warum zum Leben besitzt, nahezu jedes Wie erträgt“. Aus seinem Munde hat eine solche Überzeugung Gewicht, denn Frankl überlebte Dachau sowie Auschwitz, wo sein Bruder, seine Frau und Eltern ermordet wurden.

Auf der anderen Seite können wir das Warum unseres Lebens tatsächlich völlig vergessen und mit ungezügeltem Prassen, seichter Unterhaltung oder langweiligem Zeitvertreib in seiem Wie aufgehen; unglückliche Millionäre sind nichts Besonderes.  

 

Ich bleibe also – mit der Tradition dabei –, zwischen dem Wie und Warum des Lebens zu unterscheiden, weigere mich aber – zumeist entgegen der Tradition –, das Wie im Verhältnis zum Warum abzuwerten

In unserem Buch geht es um beides, weil sich das Wie gar nicht vom Warum trennen läßt. Deswegen mein obiges Plädoyer für Lust und Genuß; wer das Leben will oder wem es gar – Schiller zum Trotz – als „der Güter höchstes“ gilt, kann folglich sein unabdingbar zugehöriges Wie nicht schlechtmachen, ohne sich selbst zu widersprechen.

 

Zahlreiche prominente Wissenschaftler sprechen vom gegenwärtigen Zeitalter als dem Anthropozän, weil erstmals auch wir Menschen über das Schicksal des Lebens auf der Erde (mit)bestimmen – nicht mehr Sonneneruptionen, tektonische Verschiebungen, Meteoriteneinschläge oder Vulkanausbrüche allein. Für Ernst Ulrich von Weizsäcker ist es „das Zeitalter, in dem der Mensch das gesamte Geschehen dominiert, bis hin zur bio-geochemischen Zusammensetzung der Erde“. Man muß weder Apokalyptiker oder Weltuntergangs-Prophet noch Verschwörungstheoretiker sein, um derartige Szenarien ernstnehmen zu können, sondern nur die täglichen Nachrichten verfolgen.

Gemessen an den Privilegien, die ich angesichts der bisherigen Menschheitsgeschichte genieße, indem ich hier und jetzt leben darf, tue ich nahezu nichts. Das Schreiben dieses Buches ist mein Versuch, mit oder trotz dieser schreienden Ungerechtigkeit leben zu können.

 

Obwohl ich seit bald 50 Jahren über seinen Inhalt nachdenke, ist er leider immer noch kompliziert und verlangt Ihnen gewiß einige Mühe ab. Dahinter steckt jedoch nicht die mitunter anzutreffende Wichtigtuerei, die eigenen Ausführungen unnötig verkomplizieren zu wollen.

Die Schwierigkeit besteht vielmehr darin, daß die Gedanken zum einen recht ungewohnt sind und es zum anderen absolut keinen Sinn hätte, wenn Sie mir glauben würden. Das sollen und „dürfen“ Sie nicht; vielmehr müßten Sie sich bemühen, entweder möglichst jeden Schritt als folgerichtig zu erkennen und – wenn es sein muß auch zähneknirschend – intellektuell redlich nachzuvollziehen oder ihn – mit guten Gründen – abzulehnen.

Ein „ja, aber . . .“ hilft wie zumeist im Leben auch an dieser Stelle nicht weiter.

 

Um Ihnen das Lesen zu erleichtern, versuche ich, alle Gedankengänge möglichst vollständig wiederzugeben. Bei einem Geflecht von Überlegungen ergeben sich daraus zwangsläufig Überschneidungen, das heißt, redundante Wiederholungen. Die nehme ich bewußt inkauf, um Ihnen laufendes Grübeln oder Blättern zu ersparen.

Hinter mit liegt ein Denkweg, für den ich, wie schon gesagt, Jahrzehnte benötigt habe. Wenn Sie immer noch ein Stückchen brauchen, um meine Überlegungen nachvollziehen zu können, ist das also nicht sonderlich schlimm, denn Sie haben trotzdem erheblich „abgekürzt“.

 

Ich antworte Ihnen auf jede Kritik, die sich sachlich auf den Ansatz einläßt und meine darin enthaltenen Fehler, Lücken bzw. Unsauberkeiten im Auge hat. Daß man auch anders denken oder es ganz unterlassen kann, weiß ich bereits, und bloße Meinungen interessieren mich nicht – völlig unabhängig davon, wer sie äußert.

„Herr Müller sagt aber . . .“

Na und? Frau Meier meint auch etwas.

 

Winston Churchill schrieb: „Eine gute Rede soll das Thema erschöpfen, nicht die Zuhörer.“

Bezüglich des Themas habe ich kein ganz schlechtes Gefühl, . . .

Ihnen wünsche ich die Erfahrung, daß nur eigene Anstrengungen vor Langeweile bewahren und zur Erfüllung führen oder glücklich machen können.

1.1. "Methode"

Unsere „Methode“ ist so denkbar einfach, daß ich den Titel mit Anführungszeichen versehen mußte; eine (wirkliche) Methode ist etwas anderes.

Wir versuchen einfach, Kants „sapere aude“ zu befolgen: „Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen“ und dabei auch gegen scheinbare Selbstverständlichkeiten der Zeit anzudenken, wenn Du sie vor Deiner Vernunft nicht rechtfertigen kannst. Plappere nicht einfach leere Begriffshülsen nach, nur weil man – in Deiner Kommunität – so redet, sondern „versuche zu verstehen, was Du selbst sagst“.

In diesem Bemühen sah Georg Picht den Sinn des Philosophierens.

 

Ich glaube nicht an die eine objektive (Welt-)Vernunft, die der Tradition zufolge für alle Menschen die gleiche – und womöglich noch „die bestverteilte Sache der Welt“ (René Descartes) – ist.

Es gibt jedoch unsere subjektive Vernunft, die auf den eigenen Lebenserfahrungen basiert. Ein objektiverer oder „höherer“ Maßstab ist uns nicht zugänglich, denn wir sind Menschen, die stets an ihr singuläres Hier und Jetzt gebunden bleiben.

Gesunde Erwachsene sind nicht nur für das verantwortlich, was sie tun und sagen, sondern auch für ihr Denken, Glauben und Wissen. Wer die Bestimmung hierüber anderen überläßt, entmündigt sich an dieser Stelle selbst und scheidet damit als ernstzunehmender Gesprächspartner aus.

Reinhard Kreissl fragt uns spitz: „Wo lassen Sie denken?“

Ich wollte es vor der Wende nicht in Ost-Berlin oder Moskau, will es aber auch heute weder in Rom bzw. Riad noch im Silicon Valley.

 

Besonders bei weltanschaulich-religiösen Fragen, die schwerlich durch Erfahrungen beantwortet werden können, ist das eigene Denken wichtig. Der Verzicht auf letzteres entspricht dem Freifahrtschein alles – und natürlich auch das glatte Gegenteil davon – behaupten zu können, weil dann jede Möglichkeit einer Überprüfung entfällt.

Wegen dieses Fehlens der Falsifizierbarkeit wurden beispielsweise viele Schulen der Tiefenpsychologie von ihren Gegnern nicht als seriös oder gar wissenschaftlich anerkannt. Das gilt natürlich auch für jede Theologie, die sich auf blinden Glauben oder unbegründete Äußerungen einer „Autorität“ beruft.   

Denken bedeutet, im Diskurs oder Streitgespräch auf die Willkür der eigenen Meinung zu verzichten, damit „der zwangslose Zwang des besseren Arguments“ (Jürgen Habermas) beide Seiten weiterbringt. Dieser Verzicht auf Beliebigkeit ist zugleich ein Gewinn an Freiheit, denn letztere besteht – nicht im Umfang der Wahlmöglichkeiten, sondern – darin, aus Gründen zu handeln; dazu können Desinteresse oder Kadavergehorsam niemals gehören.  

Friedrich Nietzsche konnte deswegen sagen: „Ich habe nie eine Wahl gehabt“; immer lagen für ihn „zwingende“ Gründe vor.

 

Ich wiederhole mich bewußt:

Über einen höheren Maßstab als unsere subjektive Vernunft verfügen wir tatsächlich nicht, so daß es mir auch nicht um eine angeblich aus uns selbst kommende Autonomie gehen kann. Wir stehen – nur optisch, aber – nicht wirklich auf eigenen Beinen; mit der gleichen Überzeugung wie oben setze ich Kants Zitat also fort:

Ignorare aude; habe ebenfalls den Mut, Deine Verwundbarkeit, Endlichkeit, Kontingenz, Grenzen usw. anzuerkennen. Du hast Dich nicht selbst hervorgebracht – und bist damit abhängig; Selbstbestimmung ist etwas anderes als Autonomie:

 

Wir bestimmen uns selbst in Freiheit zu dem, der wir dann sein werden; nur so ist ein – mit sich selbst – identisches Selbst möglich. Kein Gott kann das schaffen; das können wir nur selbst – aber nicht autonom, aus eigener Kraft oder uns selbst heraus, sondern allein, weil uns die Möglichkeit dazu geschenkt wird.

Wir können nur mit dem identisch sein, wozu wir uns selbst bestimmt haben; ein von Gott „geschaffenes Selbst“ wäre als fremd- und nicht selbstbestimmtes kein Selbst – sondern ein hinterwäldlerisches Urbild.

 

Beide Aussagen zusammengenommen bedeuten, daß uns als Subjekte eine Freiheit auszeichnet, die wir einem oder einer Anderen verdanken.

Viele „Atheisten“ lehnen dieses Andere mit Recht ab, weil sie eine Vorstellung davon haben, zu der ich ebenfalls nur „nein“ sagen könnte.

Manche „Rechtgläubige“ kennen das Andere angeblich sehr gut und können uns viel darüber erzählen; völlig unabhängig von den entsprechenden Inhalten glaube ich das ebenfalls nicht.

Wir bemühen uns dagegen um einen Mittelweg zwischen Skylla und Charybdis, der in dem Bemühen besteht, das Andere als Geheimnis deutlich werden oder aufleuchten zu lassen.

 

Natürlich kann uns die subjektive Vernunft nahelegen, bei speziellen Fragen bestimmte Autoritäten anzuerkennen, weil diese ihre Kompetenz auf dem betreffenden Gebiet – unseres Erachtens – deutlich nachgewiesen haben. Aber weder kann eine Autorität diesen Anspruch von sich aus erheben, noch delegieren wir damit unsere Verantwortung an sie; es war doch gegebenenfalls unsere Entscheidung, die jeweilige Autorität für uns denken, glauben oder wissen zu lassen.

Diese unübertragbare Verantwortung bildet gemeinsam mit der subjektiven Vernunft meines Erachtens den Kern der Menschenwürde; letztere entspricht einer Medaille mit jenen beiden als ihren zwei Seiten. Sprechen wir einem Menschen – durch Indoktrination – seine Verantwortung oder subjektive Vernunft ab, so berauben wir ihn seiner Würde und machen ihn zu einer Marionette an den Fäden unserer Macht.

„Niemand hat das Recht zu gehorchen“ (Hanna Arendt) und sich damit hinter anderen zu verstecken. Es gibt nach der Aufklärung – über die „Aufklärung“ – keine Ausrede mehr. Jean-Paul Sartre mag damit Unrecht haben, daß wir „zur Freiheit verdammt“ seien; aber richtig bleibt hieran, daß auch das „Nicht-Entscheiden-Wollen“ – und andere für uns denken, glauben oder wissen zu lassen – ein freies Entscheiden darstellt.

 

Und zum anderen nimmt meine „Methode“ die Selbstverständlichkeit ernst, daß wir über Dinge, die uns prinzipiell unzugänglich sind, auch weder sinnvoll nachdenken noch sprechen können. Natürlich läßt sich alles Mögliche vorstellen bzw. behaupten; aber Meinungen bezüglich eines Bereichs, der uns grundsätzlich verborgen bleiben muß, erweisen sich als unkontrolierbar und damit stets als willkürlich oder beliebig.

Das bedeutet freilich nicht, daß ein derartiges Gedöns belanglos sei oder keine Konsequenzen hätte. Wäre dem so, könnten wir es generös auf sich beruhen lassen; aber alle politischen, religiösen, wirtschaftlichen oder sonstigen Diktaturen zeigen, daß zwischen diesem und jenem Blablabla ein himmelweiter Unterschied bestehen kann

 

Mit dem für uns Unerreichbaren meine ich natürlich keine Tabus, Denkverbote oder von irgendwelchen „Experten“ zu Geheimnissen erklärte Bereiche. Soetwas gibt es für mündige Menschen meines Erachtens nicht; nur Scharlatane, Lügner, Karrieristen oder Despoten benötigen dergleichen.

Damit entzaubere ich die Wirklichkeit nicht; ganz im Gegenteil; sie ist ambig und voller Geheimnisse. Aber worin diese bestehen, vermag uns niemand zu sagen, sondern das können wir nur selbst erfahren, indem wir uns ernstlich um die Aufhellung der Geheimnisse bemühen.

Tun wir das nicht, liegen auch keine Geheimnisse vor, sondern an deren Stelle treten bloße Worte; „Gott“, „Transzendenz“, „Dreifaltigkeit“, „Subjekt“, „Leben“ und „Tod“ beispielsweise. Wer sagt, sie würden Geheimnisse bezeichnen, mag für sich persönlich Recht haben, kann dies aber nicht auf andere übertragen:

Ein objektives Geheimnis ist ein Widerspruch in sich, denn was uns gar nicht interessiert, ist kein Geheimnis, sondern Peanuts.

 

Geheimnisse unterscheiden sich gewaltig sowohl von Geheimlehren als auch von Rätseln.

Erstere bilden Märchen für Erwachsene; versuchen wir ihnen auf die Spur zu kommen, verflüchtigen sie sich zumeist sehr schnell.

Geheimnisse sind dagegen um so größer, phantastischer, umwerfender – eben geheimnisvoller –, je intensiver wir uns mit ihnen beschäftigen; sie werden niemals gelöst, und das unterscheidet sie von Rätseln.

Die exakten Wissenschaften lösen lediglich Rätsel, kennen aber keine Geheimnisse, denn sie – sowohl die Wissenschaften als auch die Rätsel – sind nur (von uns) konstruiert.

Geheimnisse gehören jedoch zur Wirklichkeit und sind keine bloßen Konstruktionen. Das Leben stellt für mich persönlich ein Geheimnis dar, und wir dürfen die – lediglich rätsellösende – Biologie nicht als Wissenschaft vom Leben betrachten.

Die Hüter wirklicher Geheimnisse müssen keine Angst um ihren Schatz haben; je offener sie ihn präsentieren, desto mehr werden sie ihrer Aufgabe gerecht, das Geheimnis als solches zu (be)wahren und weder zu einem leeren Wort noch zur Geheimniskrämerei verkommen zu lassen.

1.2. Igel und Fuchs

Von Archilolos ist das Fragment „Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel kennt eine große Sache“ überliefert.

Ich behaupte nicht, ein Igel zu sein, aber es ist letztlich eine einzige Idee, die mich seit fast 50 Jahren umtreibt. Provoziert wurde sie nicht zuletzt durch meine berufliche Arbeit an Grundfragen der Quantentheorie, und das Buch stellt den Status quo dar, den die Entfaltung dieser Idee bisher erreicht hat.

 

Wer sich intensiv mit der Quantentheorie beschäftigt, wird meines Erachtens vor die Alternative gestellt, ob er weiterhin an die objektive Realität der Physik glauben will oder die phantastischen experimentellen Bestätigungen der Quantentheorie ernstnimmt. Beides zusammen ist nicht möglich; entweder objektive Realität oder Quantentheorie.

Albert Einstein hatte sich für erstere entschieden und leider bis zu seinem Lebensende versucht, Fehler oder Absurditäten der Quantentheorie aufzuspüren.

Ich habe mich auf die Gegenseite geschlagen und gedacht:

Die Physik ist die grundlegende Naturwissenschaft, die in der Moderne mit dem Ziel entwickelt wurde, die objektive Realität zu erkennen. Wenn sie zu dem Ergebnis kommt, daß selbst in der Sphäre der Physik keine Objektivität existiert, dann gibt es keine objektive Welt.

(Ich wechsle – wie soeben – mitunter zur ersten Person Singular, ohne im weiteren nochmals darauf hinzuweisen. Darin kommt keine Egomanie zum Ausdruck, sondern mein Bemühen, mich möglichst verständlich und eindeutig auszudrücken.)

 

Wieso sind wir uns der objektiven Welt so sicher?

Weil wir überzeugt sind, problemlos über das Außerhalb unseres Bewußtseins – wo sich die objektive Welt ja befinden müßte – nachdenken und sprechen zu können.

 

Damit sind wir bereits bei meiner Grundidee; sie ist nicht sonderlich schlau, spitzfindig oder ausgefallen, sondern ich empfinde sie eher als selbstverständlich; sie lautet:

„Außerhalb meines Bewußtseins“ bedeutet, daß mir dieser Bereich nicht gegeben ist.

Ist er mir nicht gegeben, kann ich jedoch absolut nicht(s) davon wissen und folglich auch keinen einzigen sinnvollen Gedanken darüber denken oder Satz dazu sagen. Sämtliche Annahmen über das Außerhalb meines Bewußtseins sind sinnleer, willkürlich oder beliebig – weil nicht kontrollierbar –, könnten ebenso durch ihr Gegenteil ersetzt werden und entsprechen somit einem bloßen Blablabla.

Wir sprechen nicht über das Außerhalb des Bewußtseins, sondern glauben höchstens, es zu tun, und phantasieren in Wirklichkeit.

 

Moritz behauptet zum Beispiel, im Außerhalb unseres Bewußtseins lebe der grasgrüne Steinbeiser; das läßt sich nicht widerlegen, denn dazu benötigten wir einen Zugang, den es zum Außerhalb des Bewußtseins prinzipiell nicht gibt.

Natürlich kann unser Bewußtsein zunehmen oder umfangreicher werden; dann befinden wir uns eben innerhalb eines größeren Bewußtseins; wir sind immer darin. 

 

Obwohl mir das sehr zwingend zu sein scheint, sehen viele Menschen es offensichtlich ganz anders. Sie

– haben sehr bestimmte Vorstellungen vom Außerhalb ihres Bewußtseins,

– sind von deren Richtigkeit felsenfest überzeugt und

– möglicherweise sogar bereit, Andersdenkende für deren widersprechende Annahmen zu töten; Inquisition, real existierender Sozialismus, Islamischer Staat . . . 

Die abstrusesten Bekenntnisse können also, wenn sie fanatisch als „wahr“ geglaubt werden, sowohl bei den „Gläubigen“ als auch bei den „Ungläubigen“ (über) das Leben entscheiden – obwohl sie einfach nur einem Blablabla entsprechen.

Viele Menschen sind leider überzeugt, das eine richtige Blablaba von jedem falschen unterscheiden zu können; hierbei ist es natürlich völlig belanglos, ob es sich dabei um religiöse, wissenschaftliche, politische, esoterische oder sonstige Blablablas handelt.

 

Das muß man sich einmal ernsthaft durch den Kopf gehen lassen:

Eine willkürlich-leere Annahme, die bzw. deren „Wahrheit“ durch absolut nichts zu rechtfertigen ist und völlig unbemerkbar durch ihr glattes Gegenteil ersetzt werden könnte, kann weitreichende bis verheerende Folgen nach sich ziehen, wenn sie fanatisch geglaubt wird!

 

Was ich vom Außerhalb meines Bewußtseins denke, kann zwar keinen nachweisbaren Wahrheitsanspruch erheben, sich aber nichtsdestotrotz ganz massiv auf das Innerhalb des Bewußtseins – und damit mein Leben – auswirken.

Wer annimmt, außerhalb seines Bewußtseins befinde sich ein Schwarzes Loch, daß uns am 29. Februar 2024 alle verschlingen wird, lebt höchstwahrscheinlich anders als „Ungläubige“.

 

Solange wir miteinander diskutieren, treffen Argumente – Begründungen oder Widerlegungen – aufeinander, und für sie spielt es überhaupt keine Rolle, ob eine objektive Welt existiert oder nicht. An welcher Stelle oder wodurch wird diese Frage dann eigentlich virulent? 

Wir gehen bei unserer Antwort von zwei Gesprächsteilnehmern aus und unterscheiden drei Fälle.

1. Beide glauben die gleiche objektive Welt.

Das war wohl weitgehend die Situation im christlichen Mittelalter; aber unabhängig davon ist das natürlich die günstigste Möglichkeit für jeden Dialog, weil die beiden Seiten ihre Diskussion bei einem gemeinsamen Ausgangspunkt beginnen und zusammen nach etwaigen Denkfehlern suchen können. 

2. Die zwei angeblichen objektiven Welten stimmen nicht überein.

Dann wird es ganz schwierig, weil zunächst einmal eine gemeinsame Gesprächsbasis gefunden werden muß, um den Dialog starten zu können; und daß dies gelingt, ist keinesfalls selbstverständlich.

Aber jeder der beiden Protagonisten kann das Streitgespräch mit bestem Wissen und Gewissen abbrechen:

„Wenn er das nicht weiß oder zumindest glaubt, muß ich gar nicht erst mit ihm reden!“

Der Glaube an eine objektive Welt ermöglicht das Todschlag-Argument „So ist es!“ – ein kaum zu überschätzender Vorteil.

3. Keiner oder nur einer der zwei Kombattanten glaubt an eine objektive Welt.

Das Problem mit der fehlenden Gesprächsbasis steht natürlich auch hier.

Wer keine objektive Welt glaubt, kann das Gespräch auch nicht einfach beenden und seinem Gegenüber die Schukd für diesen Abbruch in die Schuhe schieben:

„Ich habe es nicht geschafft, meine Überzeugung rüberzubringen.“

 

Daß meine an Holzschnitt- oder eher noch Kettensägekunst erinnernde Darstellungsweise sinnvoll sein kann, versucht Heinzpeter Hempelmann – in einem anderen Zusammenhang, aber ganz in meinem Sinne – zu verdeutlichen:

„Ich rechne damit, daß dieser Text auf ebenso energischen, teilweise empörten Widerspruch stoßen wird wie auf dankbare Zustimmung. Möglicher Hauptangriffspunkt ist die notwendige flächige, weit ausgreifende und nicht um tausend Differenzierungen bemühte Darstellung, die auch als gewalttätig, unfair und ungerecht empfunden werden kann.

Der moderne Diskurs ist gekennzeichnet durch das Bemühen um Differenzierungen. So notwendig diese an ihrem Ort sind, so sehr kann der Diskurs eine im Endeffekt lähmende Wirkung entfalten. Schlicht formuliert: Man sieht  vor lauter Bäumen, Ästen und Zweigen den Wald nicht mehr.

Es fehlt zumeist das Gesamtbild, das letztlich handlungsleitend und zielgebend sein muß.

Mein Resultat ist ein Wucht-, aber kein Wut-Text; apodiktisch im Ton, ohne Ausreden und Schminke, sicherlich korrektur- und ergänzungsbedüftig, mindestens aber ein Versuch, verschiedene Gründe zu benennen, warum . . .“

. . . wir uns vom traditionellen Denken mit seiner objektiven Welt verabschieden sollten.

1.3. Religiöser Hintergrund

Ich bin zufällig katholisch, aber das ist völlig belanglos für dieses Buch. Letzteres scheint mir dagegen sehr wichtig zu sein: Wir müssen verstehen, wieso der religiöse Glaube für das Philosophieren irrelevant zu sein hat.

Es gibt ebensowenig ein christliches oder gar katholisches Philosophieren wie ein islamisches, kapitalistisches oder nationalistisches; wir haben nur die Alternative zwischen einem stets ergebnisoffenen Selbst-Denken – sprich: Streben nach Wahrheitoder dem Vertreten einer Ideologie – dem angeblichen Besitz der Wahrheit. Jeder, der – völlig unabhängig von der Farbe – zu Beginn schon sagen kann, wohin sein „Denken“ führt bzw. was „wahr“ ist, weiß nicht, was Denken bedeutet und ist Ideologe.

Mich interessiert absolut nicht, wer irgendwas sagt, sondern lediglich, was irgendwer vernünftig begründet. Würde die Relativitätstheorie von Adolf Hitler stammen, wäre sie keinen Deut weniger genial als die Einsteinsche.

Ich lese also keine Bücher katholischer Autoren, nur weil sie katholisch sind, sondern solche jeglicher couleur, sofern ich hoffen kann, daß sie mir helfen, selbst zu denken und damit meiner eigenen Wahrheit näher zu kommen. Die steht natürlich in keinem Buch; auch beim Schreiben versuche ich stets, mir dessen bewußt zu sein.

 

Hochkomplexe bzw. abstrakte Entitäten („Dinge“) – wie Liebe, Demokratie, Freiheit oder Recht – können wir als solche nicht erfahren; das ist nur möglich, wenn sie eine konkrete Gestalt annehmen, sich verleiblichen, ausdrücken oder darstellen.

Sage ich beispielsweise zu einem Menschen „Ich liebe Dich; das haben wir damit für ein und allemal geklärt“, und er erfährt dann diesbezüglich tatsächlich nichts mehr, war es gelogen. Eine „Liebe“, die sich nicht ausdrückt oder verleiblicht, ist keine Liebe; sie bedarf notwendigerweise irgendwelcher Darstellungsformen; Zärtlichkeit, Schutz, Einsatz, Verständnis, Verantwortungsgefühl, Hilfsbereitschaft, Sexualität, Geborgenheit usw.

Kein Ausdruck ist die Liebe, aber ohne Ausdruck ist auch keine Liebe.

 

Das können wir nahezu wörtlich auf den Glauben übertragen. Auch er kann nicht als solcher oder rein erfahren werden, sondern nur in seinen Ausdrucksformen bzw. durch diese. Sie können zum Beispiel in der Kunst oder Lebensführung bestehen, in Gebet, Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Verkündigung, gesellschaftlichem Engagement und Meditation, in Geschichten oder Theologie. Ein „Glaube“ ohne alle Verleiblichungen, ist kein Glaube; er ist nicht rein, sondern gar nichts.

Auf der einen Seite darf keine einzelne Darstellungsform mit dem Glauben identifiziert werden; Sex allein ist auch keine Liebe. Der Glaube kann also beispielsweise nicht mit dem Für-wahr-Halten irgendwelcher Geschichten gleichgesetzt werden – welcher auch immer –, obwohl er sich natürlich auch in ihnen ausdrücken kann; bei einem Kind beispielsweise in der Schöpfungs-, Weihnachts- oder Emmausgeschichte. 

Auf der anderen Seite ist natürlich niemand gezwungen, seinen Glauben auf eine ganz bestimmte Art zu leben.

 

Wer dies jedoch in Form der Theologie tun möchte, muß sich notwendigerweise den Maßstäben unterordnen, die auch sonst mit Recht an eine Wissenschaft gestellt werden. Das bedeutet insbesondere, daß er sich möglichst exakt ausdrücken sowie logisch sauber denken sollte und in seiner Argumentation nicht auf Zitate als Beweise, Prämissen oder gar Letztbegründungen zurückgreifen kann.

Stellen aus „Heiligen“ Schriften sind dabei nicht besser gestellt als solche aus profanen, weil ihre angebliche Heiligkeit – vielleicht nicht für den Glauben, aber – theologisch ebenfalls auf dem Prüfstand steht. So wenig sich ein guter Physiker auf Werner Heisenberg oder Nils Bohr berufen wird, darf dies ein passabler Theologe mit Jesus oder Paulus tun – völlig abgesehen von allen damit verbundenen exegetischen, hermeneutischen und sprachlichen Problemen.

Im Zen-Buddhismus „sind die Heiligen Schriften nichts anderes als schmutzige Papierabfälle“ (Shizuteru Ueda), in denen zum Beispiel steht: „Wenn Du den Buddha siehst, töte ihn.“

 

Theologisch sind die Aussagen des Lehramts für mich ebenfalls nur Meinungen, die man in einer Demokratie natürlich haben darf. Einen Mehrwert würden auch sie – wie sämtliche Meinungen – erst durch eine originelle Sichtweise, ihre integrierende Kraft oder Fruchtbarkeit, saubere Begründung, Zeitgemäßheit und ähnliches erhalten. Daß sich dies beim Lehramt anders verhalten soll, scheint mir nicht gerade aus dem Evangelium hervorzugehen; denken wir nur an den Streit zwischen Petrus und Paulus.

Wenn Johannes Paul II beispielsweise höchst offiziell die Meinung vertritt, Frauen könnten nicht zu Priestern geweiht werden – „Basta!“ –, dann bereitet er zwar manchem gutgläubigen Kirchenmitglied größere Probleme, aber nicht einer denkenden, das heißt, freien Theologie, denn der haben sämtliche bloßen Meinungen gleichgültig zu sein.

Sie müßten so begründet werden, daß ich es verstehe und guten Gewissens zustimmen kann. Eine „Begründung“, die mir nicht einleuchtet, ist für mich keine Begründung, denn im Verstanden-Werden und Nachvollziehen-Können besteht der Sinn aller Erklärungen oder Rechtfertigungen – nicht im bloßen Behaupten einer angeblichen Wahrheit. 

 

Die Ergebnisse, zu denen die Theologen gelangen, sollten ihnen helfen, ihren Glauben besser zu verstehen. Das Verstehen kommt – sofern wir uns für die Theologie als Ausdrucksweise entscheiden – natürlich stets vor dem Glauben bzw. Nicht-Glauben, denn diese bestehen darin, verstandene Inhalte anzunehmen und zu leben resp. abzulehnen und zu ignorieren. 

Was wir nicht verstanden haben, können wir theologisch weder glauben noch nicht-glauben; wir wissen doch gar nicht, worum es geht. Wer „glaubt“, ohne zu verstehen, glaubt nicht, sondern wiederholt lediglich leere Worte; entsprechend lehnt natürlich auch nur leere Worte ab, wer ohne zu verstehen „nicht-glaubt“.

Deswegen gibt es heute theologisch relativ selten nicht nur Gläubige, sondern auch Nicht-Gläubige; es wird wenig gedacht, aber viel geredet, ge(g)eifert und „gefühlt“.

Nur wer selbst denkt, kann irren; das ist also eine Auszeichnung. Das Irren macht den Denkenden auch niemals zum Häretiker oder Ketzer, denn dazu wird man nicht durch Denken, sondern allein durch das Häretiker- bzw. Ketzer-Sein-Wollen.

 

Mit den nachfolgenden drei Zitaten von Hans-Joachim Höhn kann ich mich voll identifizieren:

„Wer Theologie studiert, muß lernen, daß Frömmigkeit nicht vor Leichtgläubigkeit schützt. Wer nur etwas bezeugt, ohne davon auch überzeugen zu können, hat ein Glaubwürdigkeitsdefizit. Den Glauben zu festigen, vermag keine Theologie, der die Frömmigkeit ihres Anstrichs wichtiger ist als ihre wissenschaftliche Redlichkeit.“

„Wie man durch das Medizinstudium nicht gesünder wird, sondern am Ende weiß, was Gesundheit und Krankheit sind – wie man durch ein Jurastudium nicht  gerechter wird, sondern am Ende Recht und Unrecht zu unterscheiden weiß, so wird man durch ein Theologiestudium nicht gottesfürchtiger, sondern lernt zu unterscheiden, wer oder was es in Wahrheit verdient, nicht ‚Gott‘ genannt zu werden, und auf wen man sich stattdessen im Leben und Sterben verlassen solte.“

„Die Theologie ist nicht dazu da, ihre Adressaten gläubiger zu machen. Sie hat vielmehr jenes Wissen über und vom christlichen Glauben zu vermitteln, das zugleich nachdenklich und hoffnungsvoll macht. Sie hat zu zeigen, daß man nicht an Gott glauben kann, ohne dabei auf neue Weise ins Nachdenken zu kommen, und daß man beim Nachdenken über erste und letzte Fragen mit guten Gründen auf den Gedanken kommen kann, dabei an Gott zu denken.“ 

 

Was Höhn damit meint, „an Gott zu denken“, können wir uns am Beispiel der Dreifaltigkeit Gottes gut verdeutlichen.

Ich bestreite sie in keiner Weise, sondern ergänze nur, was an dieser Stelle zumeist vergessen wird; nämlich, daß ein solcher Glaube unter anderem die Behauptung impliziert, Gott sei weder zwei- noch vierfaltig.

Das sind drei verschiedene Möglichkeiten, von denen nur die „mittlere“ wahr sein soll.

Wem dies wichtig ist, der müßte also erklären können, was bei einem zwei- bzw. vierfaltigen Gott an unseren Erfahrungen anders wäre. Übergehen wir das nonchalant oder finden keine vernünftigen Antworten auf diese  Fragen, dann ist die Aussage, Gott sei dreifaltig, gegenstandslos, denn sie bezieht sich nur auf das Außerhalb unseres Bewußtseins – und da kann man alles sagen.

Gregory Bateson sprach diesbezüglich von „einem ‚Unterschied‘, der keinen Unterschied macht“. Können wir nicht angeben, zu welchen abweichenden Erfahrungen ein zwei- oder vierfaltiger Gott führen würde, macht der Glaube an den dreifaltigen keinen Unterschied. 

 

Die philosophisch denkenden Theologen, denen ich am meisten verdanke, sind vielleicht Eugen Biser, Eugen Drewermann, Klaus Hemmerle, Peter Knauer, Edward Schillebeeckx, Stefan Schütze und Magnus Striet.

 

Auf die Frage, ob Menschen, denen mein Verständnis des Glaubens, zu komplex ist, auf „die liebe alte Art weiterglauben“ dürften, antworte ich mit Stefan Schütze:

„Sehr gerne; ich habe doch nicht die Absicht, jemandem seinen Glauben wegzunehmen“, mit dem er glücklich und in Frieden leben kann. „Das wäre furchtbar überheblich und absolutistisch. Nur erwarte ich von diesen Gläubigen, daß sie ebenfalls andere Einstellungen akzeptieren und auch ihre Glaubensweise nicht fanatisch, unhinterfragbar oder gar gewalttätig vertreten.“     

Es gibt so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt, und wir können bestenfalls einander dabei helfen, daß möglichst jeder seinen eigenen Weg findet.

1.4. Philosophischer Hintergrund

Mir liegt sehr daran, daß dieses Buch allen Lesern zugänglich ist, die meine Intention annähernd teilen und bereit sind, gegen jeden Strich zu denken. Deshalb setze ich keinerlei explizites Wissen der Philosophie voraus und mache einen möglichst großen Bogen um ihre Geschichte. Das entspricht zudem meiner Überzeugung, daß es Philosophie als Lehrfach (wie Mathematik oder Ökonomie beispielsweise) ohnehin nicht gibt, sondern nur (eigenständiges) Philosophieren im Sinne des Selbst-Denkens.

Gelegentliche Angaben von Namen setzen also kein anderweitig erworbenes Wissen voraus, sondern sollen auf eventuell bekannte hilfreiche Zusammenhänge oder Möglichkeiten zu einer gründlicheren Auseinandersetzung hinweisen bzw. auch einfach andeuten, daß wir beiden nicht nur zweit sind, wenn Sie inhaltlich mitgehen.

Bemerkungen der Form „wie man weiß . . .“, „es ist allgemein bekannt, daß . . .“ oder „. . . im Sinne von X. Y.“ sind nach meinen Erfahrungen ebenso leserunfreundlich wie mathematische Zusammenhänge; diesbezügliche Angaben halbieren die Begeisterung.

 

„Jede philosophische Abhandlung muß in gewissem Sinne eine ‚Einführung in die Philosophie‘ sein, denn dadurch bewahrt sie sich vor der Gefahr, bloße Lehrmeinungen, die doch zumeist nur Leermeinungen sind, zu reproduzieren“ (Leo Dümpelmann und Rafael Hüntelmann). (Sorry; die beiden heißen wirklich so!)

Ich versuche, das zu beherzigen, und schreibe das Buch für Nachdenkliche oder Suchende, weder für Ignoranten noch für Alles- oder Besserwisser. Als sein Motto wäre auch dasjenige Michel Foucaults möglich: „Ich denke gern!“ Wer das von sich ebenfalls sagt, ist herzlich zum Dialog eingeladen.

Meine wichtigsten Gewährsleute bei den Philosophen sind Jacques Derrida, Michel Foucault, Michel Henry, François Jullien, Jacques Lacan, Emmanuel Levinas, Josef Mitterer, Friedrich Nietzsche, Georg Picht, Heinrich Rombach, Richard Rorty, Josef Simon, George Spencer-Brown, Gianni Vattimo und (der späte) Ludwig Wittgenstein.

 

Das Philosophieren oder Theologisieren darf bei keinerlei unhinterfragbaren Zitaten beginnen, hatte ich oben geschrieben.

Das ist aber nur die eine Seite, von der ich auch nichts zurücknehme.

Auf der anderen Seite können wir jedoch nur hoffen, daß die Ergebnisse, die wir durch unser eigenes Nachdenken erzielen, einer möglichst großen Tradition entsprechen. Sie sollen diese freilich nicht einfach wiederholen, sich jedoch als deren – weitere – Interpretation verstehen lassen.

Denn wäre dies nicht der Fall und wir würden ohne alle Berührungspunkte etwas völlig Neues finden, blieben dafür doch nur zwei Erklärungsvarianten:  

Theoretisch könnten wir Genies sein; praktisch liegt aber die Vermutung wesentlich näher, daß unsere in der Geschichte erstmaligen „Denkergebnisse“ nur Unsinn darstellen, der so absurd ist, daß kein Mensch vor uns jemals auf dergleichen kommen konnte

 

Damit läßt sich ein wichtiger Bogen zum Beginn des vorigen Kapitels schlagen:

Erst im Nachhinein ist feststellbar, in welcher Tradition wir philosophisch oder theologisch wirklich stehen, das heißt, welche wir – weiter – interpretieren. Und so kann ich auch als offizieller Katholik erkennen, daß mein Denken beispielsweise (zen-)buddhistischen, jüdischen oder atheistischen Ansätzen teilweise sehr nahesteht.

Bei letzteren habe ich freilich einen „anderen, das heißt, durchdachten Atheismus“ (Gregor Maria Hoff) vor mir, wie wir ihn möglicherweise von Albert Camus, Martin Heidegger, Bruno Latour, Jean-Paul Sartre, Peter Sloterdijk oder Martin Walser kennen.

Aber das wird natürlich erst deutlich, indem wir selbst denken, und steht nicht auf unserer Taufurkunde, die zumeist vor allem eigenen Denken ausgestellt wird, dieses aber zum Glück nicht festlegt.

2. Intention

Es geht im Folgenden weder um eine Heils- oder Geheimlehre noch um das wahre Weltbild; wir werden bald sehen, daß es letzteres gar nicht gibt.

Obwohl der Untertitel „Trinität in der Postmoderne“ lautet, handelt es sich auch keineswegs um ein frommes oder gar erbauliches Buch. Da man mit Gott bzw. der Transzendenz alles „erklären“ kann, läßt sich damit in Wirklichkeit gar nichts erklären. Ich versuche, mich auf das sinnvoll Sag- – weil Begründbare – zu beschränken, und bin selbst gespannt, wie weit und wohin ein – über sich selbst – aufgeklärtes Denken führen kann.

 

Unter anderem wird es uns zeigen, daß wir völlig fremde Weltbilder und Denkformen intellektuell redlich ernstnehmen können. Das ist meines Erachtens dringend erforderlich, wenn wir in dem – erst an seinem Anfang stehenden – Pluralismus der Postmoderne friedlich, menschlich und konstruktiv zusammenleben wollen.

Für „Postmoderne“ steht heute – besonders in der Soziologie – zumeist „Spätmoderne“. Natürlich geht es primär nicht um Worte, sondern um deren Bedeutung. Aber auch sie sind relevant, weil wir mit den Worten automatisch Assoziationen verbinden, die uns diesen Denkweg führen und jenen verstellen.

Allein deswegen bleibe ich bei „Postmoderne“, weil für uns der Bruch mit der Tradition nach der Moderne im Vordergrund steht.

 

An dieser Stelle kommt aus konservativen Kreisen nahezu reflexartig der Vorwurf des Relativismus oder gar einer Diktatur desselben.

Wir werden sehen, daß er völlig unbegründet ist, weil dieser Vorwurf – wie selbstverständlich – zwei Prämissen voraussetzt, die meines Erachtens beide nicht erfüllt sind, wie wir nach der Moderne allle wissen könnten:

 

1. Das einzelne Subjekt kann nicht aus sich heraus verstanden werden, sondern nur von seinem Wesem her, das heißt, von der wahren Antwort auf die Frage „Was ist der Mensch – als Gattungs-Wesen?“.   

Dem widerspricht, ganz in unserem Sinne, meine Lieblingszeile bei Emmanuel Levinas: „Du und ich, wir sind nicht zwei.“

 

2. Der Zeit steht als Alternative die Ewigkeit gegenüber; jene umfaßt das Veränderliche und diese das Unveränderliche. Da die Wahrheit sich nicht ändern kann – womit ich völlig einverstanden bin –, muß sie also ewig sein.

Der Schluß ist zwingend, aber ich bestreite sehr energisch seine erste Voraussetzung:

 

a) Was darin „Zeit“ genannt wird, ist eine „zeitlose Zeit“ (A. M. Klaus Müller), eine Synchronie oder Gleichzeitigkeit.

 

b) Zwischen ihr und der Ewigkeit besteht also kein prinzipieller Unterschied, denn Nicht-Änderungen bilden lediglich den asymptotischen Grenzfall der Änderungen vom Wert 0.  

 

c) Damit wir diese Ewigkeit hinfällig; sie bildet kein Pendant zur Synchronie, sondern gehört ihr selbst an.

 

d) Wir müssen damit keineswegs zurücknehmen, daß Gott ewig ist, aber einsehen, daß diese Aussage vorerst noch völlig unverständlich bleibt. Was bedeutet „Ewigkeit“?

 

e) Die Alternative zur Zeit Synchronie besteht – nicht in der Ewigkeit, sondern – in der wirklichen Zeit oder Diachronie.

Martin Heidegger wirft der Tradition vor, sie habe „das Sein vergessen“; ich würde ihn gerne korrigieren: sie hat die Zeit Diachronie vergessen – sowohl im Alltag als auch in der exakten Wissenschaft und Philosophie . In der abendländischen Geistesgeschichte spielt die Zeit Diachronie ein marginale Rolle, so daß, wenn von Zeit gesprochen wird, fast immer nur die Synchronie oder eine angeblich „vergehende Zeit“ gemeint ist.

Die ernstliche Kritik an einem solchen Denken beginnt erst um 1900 insbesondere mit Friedrich Nietzsche, Henri Bergson, Edmund Husserl und Martin Heidegger.

 

f) Da sich die Wahrheit tatsächlich nicht ändern kann, muß sie wirklich zeitlich oder diachron sein.  

Wir erfinden dafür ein Kunstwort und sagen, die Wahrheit andere sich oder sei veranderlich.

So wie sich in der Synchronie alles ändert, wird in der Diachronie alles anders.

2.1. Wahrheit und Überzeugung

Unter den obigeen Zitaten befand sich eines von Gilles Deleuze und Felix Guattari:

„Der Perspektivismus bildet keine Relativität des Wahren, sondern ganz im Gegenteil die Wahrheit des Relativen.“ 

Das paßt genau zum Ansatz des Buches, wie er nach und nach verständlich werden soll:

Wahrheit gibt es nur im Wirklichen, und das besteht unserem Denken zufolge im Leben, dem jegliche Relativität fremd ist.

 

Die Begründung ist recht einfach: Weil meine Wahrheit mir vom eigenen Gewissen – Emmanuel Levinas spricht stattdessen vom Antlitz des Anderen – verbindlich vorgegeben wird.

Das ist zwar „nur“ meine subjektive Wahrheit – aber mehr benötige ich für mein Leben nicht. Die Behauptung, es sei zugleich auch die Wahrheit anderer oder gar aller Subjekte, ist für mich ebenso belanglos wie unkontrollierbar. Da mir nur die eigene Freiheit zugänglich ist, benötige ich für mein Leben auch nur die eigene – unverfügbare – Wahrheit.

Was nützt es mir zu wissen, worin die Wahrheit von Moritz besteht? Das ist allein sein Problem.

Natürlich kann ich ihm raten und helfen, aber niemals sagen, was für ihn wahr ist.

Allein ob und wie ich ihm rate oder helfe, ist meine Entscheidung; sie beeinflußt nicht Moritz‘ Wahrheit, sondern nur die Sphäre seiner Freiheit. „Durch diesen Tip habe ich ja noch ganz andere Wahl- und Handlungsmöglichkeiten, auf die ich selbst vielleicht gar nicht gekommen wäre.“

 

Daß die Wahrheit für Moritz eine andere ist als für mich, hat nichts mit Relativismus zu tun. Er lebt sein Leben, und was hat das – von den in unserem Zusammenhang uninteressanten biologischen Grundlagen abgesehen – mit dem meinigen gemein?

„Du und ich, wir sind nicht zwei“ heißt es bei Levinas und „Ich habe Dich bei Deinem Namen gerufen“ in einer etwas frommeren Sprache; auf keinen Fall aber „Hallo Mensch!“ in der 08/15-Version.

Wie sollten dann so wesentlich-persönliche Charakteristika wie unsere Wahrheiten übereinstimmen können? Die Behauptung, sie müßten es, entspringt wohl in erster Linie dem Wunsch nach Kontrollier- sowie Verfügbarkeit und kaum der Liebe zur Wahrheit.

 

Unsere bloßene Wissungen – in Form der Begriffe, Vorstellungen, Aussagen, Gesetze, Theorien, Paradigmen, Weltbilder usw. – sind dagegen nicht wirklich und kennen somit gar keine Wahrheit. Ihre „Wahrheit“ besteht im Perspektivismus des nur Relativen.

 

Der Gedanke, die Wissungen anderer Menschen könnten gleichwertig neben den meinigen stehen, ist ernstlich nur möglich, wenn wir zum einen jeglichen Wahrheitsanspruch von unseren eigenen Überzeugungen ablösen:

„Ich kann das aufgrund meiner bisherigen Lebenserfahrungen beim besten Willen nur auf diese Weise sehen – aber meinem Gegenüber geht es wahrscheinlich ebenso. Helft mir bitte, neue Erfahrungen zu sammeln oder bisherige Denkfehler zu korrigieren. Ich bin dankbar, wenn Ihr mir zeigt, daß und weshalb ich möglicherweise falsch liege.

Ich will nicht Recht haben, denn es geht mir um die Wahrheit.“

Eine Überzeugung zu haben, bedeutet – keineswegs, nicht zu irren, sondern – ihr entsprechend denken und handeln zu müssen. Das kommt in Luthers Selbst-Charakterisierung „Hier stehe ich und kann nicht anders“ zum Ausdruck, mit der er keinerlei Wahrheitsansprüche erhob.

 

Wir – müssen nicht nur nicht, sondern – dürften auch nicht A denken bzw. glauben, weil Herr Müller A gesagt oder angeblich Gott A geoffenbart hat.

Ob Herr Müller sich für eine Autorität hält und von manchen als solche betrachtet wird, ist völlig sekundär; seine Argumente müssen gut sein – alles andere interessiert überhaupt nicht. Was wurde nicht alles schon für Blödsinn, Lüge oder Irrtum von „hochgestellten Persönlichkeiten“ verkündet!

Bei Gott stellt sich das Problem dagegen anders:

Wenn er A offenbart hat, ist A natürlich wahr; aber woran können wir eine wirkliche Offenbarung Gottes als solche erkennen und von bloßen Offenbarungs-Behauptungen irgendwelcher Einzelmenschen oder Gemeinschaften unterscheiden? Für Offenbarungen bin ich natürlich offen – jede andere Haltung wäre meines Erachtens auch ziemlich überheblich, um nicht zu sagen: größenwahnsinnig –, aber Offenbarungs-Aberglaube ist Naivität, Blauäugigkeit, Schwachsinn oder Schwindel.

 

Das war soeben mißverständlich:

Ich habe nicht sagen wollen, daß es Offenbarungen – objektiv oder an sich – gibt bzw. zumindest geben kann; beides scheint mir falsch zu sein.

Eine „Offenbarung“ wird nur in dem Maße zur Offenbarung, wie sie ankommt, verstanden und geglaubt wird, so daß sie subjektiv sein muß. In diesem Sinne läßt sich sagen: Die „objektive“ Offenbarung besteht allein im subjektiven Glauben.

 

Menschen ohne Überzeugungen sind keine ernstzunehmenden Gesprächspartner, sondern bloße Gräser im Wind.

Das gilt freilich auch für diejenigen, die ihre „Überzeugungen“

für wahr halten oder

– blind nachplappern, statt für sie zu argumentieren.

 

Weit entfernt von einem der Postmoderne – häufig zu unrecht – unterstellten Relativismus fragen wir also – mit der Tradition – entschieden nach der Wahrheit, die ich für ebenso fundamental halte wie die Freiheit.

Beide, Wahrheit und Freiheit, beziehen sich jedoch – entgegen der Tradition – auf unser Leben; das sollte möglichst wahr und frei sein.

 

Ihm stehen unsere Wissungen gegenüber, die keine Wahrheit kennen; weder im Alltag noch in der Wissenschaft oder Religion. Denn Wissungen sind lediglich Denkwerkzeuge, die wir uns selbst gebastelt haben. Sie sollten möglichst nützlich oder fruchtbar sein, originelle Sichtweisen eröffnen, Umwege sowie Sackgassen vermeiden, Denkwege abkürzen, kreative Zusammenhänge erschließen und Neues sehen lassen.

Stefan Schütze schreibt, daß es sich bei all unseren „Denkvorschlägen nur um Ideen, heuristische Konstruktionen und Diskussionsangebote handelt. Sie helfen uns zur Plausibilisierung, erheben aber nicht den Anspruch auf Gültigkeit; keiner muß so denken.“

Traditionell ist das freilich ganz anders; da gibt es eine Pyramide der Begriffe – mit Ober-, Neben- und Unterbegriffen –, die alle sauber definiert sind, weil sie ja den Seienden (sowie eventuell auch NIcht-Seienden) entsprechen. Gilles Deleuze und Félix Guattari beschreiben in „Rhizom“ sehr engagiert, daß ein solcher Baum postmodern unhaltbar ist und durch ein Rhizom ersetzt werden muß, das eine bricolage der Denkwerkzeuge ermöglicht.

 

Daß 3 x 2 = 6 gilt, ist nicht wahr, sondern in der Praxis häufig anwendbar und damit sehr nützlich; es bedeutet beispielsweise, daß wir sechs Betten benötigen, wenn drei Paare bei uns nächtigen wollen.

Das hat mit der Wahrheit unseres Lebens aber auch gar nichts zu tun.

Oder anders herum formuliert:

Wer mathematische oder Naturgesetze der Wahrheit zuschlägt, hat eine sehr bescheidene Meinung von ihr. Wir vertreten höhere Ansprüche und verbinden die Wahrheit mit Verantwortung sowie dem Sinn und der Fülle des Lebens.

2.2. Weltloser "Dualismus"

Damit deutet sich bereits zum zweiten Mal an, daß unsere Überlegungen auf einen ausgeprägten „Dualismus“ von Wirklichkeit und Wissungen hinauslaufen:

Was wirklich ist – das Leben –, wissen wir nicht, und was wir wissen – jegliche Wissung –, ist nicht wirklich.  

 

 

Bewußtsein
 
„Be- sowie Gewußtsein“
 
Bewußtes
Gewußtes
 
Leben
Wissungen  
– mit seinen Facetten und
 
– eventuell in seiner Wahrheit
Überzeugungen
 
   
wirklich unwirklich  
möglicherweise wahr
möglicherweise nützlich
 
weder nützlich noch nutzlos
weder wahr noch unwahr  
beschreibbar bezeichenbar  

Abbildung 2.2.-1

 

AD:  „Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle, bevor ich Ihnen ins Wort falle:

Mein Name ist ‚Advocatus Diaboli‘, kurz ‚AD‘ genannt; ich vertrete Ihre Leser und versuche, ihnen ein wenig zu helfen, wenn Sie etwas – nennen wir es einmal vorsichtig – ‚Befremdliches‘ zum Ausdruck bringen.“

Sie haben uns noch gefehlt . . .; aber trotzdem: Herzlich willkommen!

 

„Was Sie soeben gesagt haben, kann nicht stimmen; Sie verwickeln sich hier in Widersprüche:

Zu unseren Wissungen gehört gewiß das jeweils eigene Weltbild. Als Bild von der Welt muß es entweder wahr oder unwahr sein; je nachdem, ob es die Welt (hinreichend) adäquat wiedergibt oder nicht. Ihre Eigenschaften der  Wissungen sind also nicht allgemeingültig.“

 

Das ist zwingend; allerdings setzen Sie dabei unausgesprochen oder wie selbstverständlich eine Prämisse voraus, die wir in unserem Ansatz nicht (mehr) teilen:

Für das traditionelle Denken in all seinen Formen gibt es stets eine – wie auch immer geartete – objektive Welt, die vollkommen unabhängig von uns (vorhanden) ist und somit auch ganz ohne uns existieren würde.

Sie gibt es bei uns nicht (mehr).

Mit diesem Streichen der objektiven Welt und ihrer Bestandteile, der Seienden, bewegen wir uns inmitten der Postmoderne, die zwar zahllose Varianten kennt, im Ablehnen jeglicher Welt aber wohl ihr einheitliches Gravitationszentrum findet.

 

AD:  „Ohh; es gibt keine Welt . . .??? Und dann ist das dort auch nicht die Sonne?“

Jein; ich fürchte, Sie machen es sich zu einfach und sind sich Ihrer Sache zu sicher!

Zum einen ist es für uns beide natürlich die Sonne; aber mit der gleichen Selbstverständlichkeit wäre es bei den alten Ägyptern ihr Gott Re gewesen.

Und zum anderen sind weder die Sonne noch der Re Bestandteile der traditionellen objektiven Welt, sondern bloße Sehungen – verallgemeinert: Wahrnehmungen – von Subjekten; von uns beiden bzw. den Ägyptern. Ohne Subjekte gibt es also weder die Sonne noch den Re, so daß beide nicht zur Welt gehören können

Deswegen mein „Jein“:

Ja; das dort ist tatsächlich die Sonne – für uns.

Nein; denn die Sonne ist eine Sehung, und hat folglich mit der objektiven Welt, auf die Sie hinauswollten, nichts zu tun.

 

AD:  „Aber wie sollten wir dort die Sonne sehen können, wenn sie nicht dort wäre?“

Darauf kommen wir insbesondere im dritten Teil noch ausführlich zurück; lassen Sie sich bitte für ein paar Seiten mit dem folgenden Hinweis vertrösten:

1. Die – Existenz einer – Welt ist beileibe keine Selbstverständlichkeit, sondern lediglich der traditionelle Versuch, unsere Wahrnehmungen zu erklären; ganz in Ihrem Sinne: „Wie könnten wir dort die Sonne sehen, wenn sie nicht dort wäre . . .“

2. Dieser Versuch muß als gescheitert gelten,

– weil er einen prinzipiellen Widerspruch enthält und

– zu seiner Herleitung oder Begründung einen logischen Zirkel benötigt.

 

Nahezu die gesamte abendländische Philosophie ist zweieinhalb Tausend Jahre lang von der traditionellen Überzeugung geprägt, es gäbe eine Welt, die völlig unabhängig von uns ist und insbesondere auch ohne uns – also objektiv – bestehen würde.

Bei diesem Ansatz bildet die Welt als das Wißbare oder (bereits) Gewußte das Pendant zu unseren Wissungen. Jenes ist außerhalb und die zugehörigen Wissungen sind innerhalb unserer individuellen Psyche lokalisiert.

 

Mit der Welt entfällt bei uns auch dieses traditionelle Gewußte, so daß wir den Begriff des Gewußten noch frei haben und in einem ganz anderen Sinne nutzen können. 

Oben hatte ich geschrieben: „Was wirklich ist – das Leben –, wissen wir nicht, und was wir wissen – jegliche Wissung –, ist nicht wirklich.“ Das wird nun schon etwas verständlicher.

Das Wirkliche, das wir nicht wissen, besteht im Leben und ist bewußt.

Das Unwirkliche, das wir wissen, besteht in den Wissungen und ist gewußt.

Da letztere für uns kein Pendant – in Seienden – besitzen, können wir die Wissungen selbst als das Gewußte dem Leben als dem Bewußten gegenüberstellen.

Beide bilden gemeinsam unser subjektives Bewußtsein, und ein zugehöriges Außen benötigen wir ohne Welt vorerst noch nicht. 

 

Damit sollte unsere Begrifflichkeit in der obigen Tabelle einsichtig werden:

Das Bewußtsein umfaßt das Be- und Gewußte, so daß der Name „Bewußtsein“ nicht ganz glücklich ist und eigentlich „Be- sowie Gewußtsein“ lauten müßte. Der Einfachheit halber verzichten wir auf diese Korrektur und belassen alles beim Alten, behalten aber im Hinterkopf, daß zum Bewußtsein auch das Gewußte gehört und bisher überhaupt noch kein Außerhalb des Bewußtseins vorkommt.

 

AD:  „Ich glaube, Sie ganz gut zu verstehen . . .; mich würde aber noch der entscheidende Unterschied zwischen „be-“ und „gewußt“ interessieren.

Man sagt bisweilen, dies oder jenes sei nur bewußt; „gewußt“ ist also mehr. Worin besteht der Überschuß oder das Surplus des Gewußten im Verhältnis zum nur Bewußten?“

 

Da muß ich Sie enttäuschen, denn meines Erachtens gilt genau die Umkehrung:

Das Bewußte weiß ich nicht; das ist positiv gemeint; ich weiß es nicht bloß, sondern „bin mir seiner gewiß“ (Ludwig Wittgenstein) – und das bedeutet über-gewußt.

Statt „ich habe Schmerzen“ können wir auch von „dem (verbalen) Schmerzen“ sprechen; so wird deutlicher, daß es sich hierbei um eine Facette am Leben handelt, derer ich mir bewußt bin, und die ich nicht bloß weiß. Für den Arzt sind  meine Schmerzen nur Wissungen; deswegen spielt es keine Rolle, wenn er mir ausführlich erklärt, daß alles in Ordnung ist und ich überhaupt keine Schmerzen haben kann. Woher will er das über-wissen?

Alles Gewußte ist prinzipiell irrtumsfähig; „Gewußtes“, für das dies  nicht gilt, ist kein Gewußtes, sondern Bewußtes, Gewisses oder Über-Gewußtes.

 

Ihr Surplus besteht also darin – freilich auf der anderen Seite, als Sie es erwartet hatten –, daß zwischen uns Subjekten und dem Gewußten eine Distanz besteht. Wir sind es nicht, sondern haben das Gewußte nur.

Beim Bewußten fehlt diese Distanz; wir sind unser Leben – und daraus resultiert seine unerschütterliche Gewißheit.

„Ich denke, daß ich Schmerzen habe“ ist Nonsens.

„Ich denke, es sind die Nieren“ kann dagegen sehr gut möglich sein, weil hierbei lediglich von der Ursache des Schmerzens, das heißt, von einer Wissung in unserem Weltbild die Rede ist.  

2.3. Weltbild ohne Welt

Ich danke Ihnen AD, daß Sie uns unterbrochen haben, um den Lesern zu helfen!

Wir müssen aber trotzdem zum Roten Faden zurück, und der endete mit:

„Nahezu die gesamte abendländische Philosophie ist von der traditionellen Überzeugung geprägt, es gäbe eine Welt, die völlig unabhängig von uns ist und insbesondere auch ohne uns – also objektiv – bestehen würde.“

 

Als Komponenten dieser Welt haben wir einheitlich die Seienden eingeführt.

Aber bezüglich der speziellen Form sowohl der Welt als auch ihrer Seienden gehen die Überzeugungen freilich weit auseinander. Die bekanntesten Varianten bilden die Platonischen Ideen oder Aristotelischen Substanzen, die Schöpfungsgedanken bzw. der Wille Gottes und in der Moderne der physikalische Kosmos, das heißt, die Materie mit ihren Naturgesetzen.

Natürlich könnte ein traditionell Denkender auch überzeugt sein, die Welt bestehe darin, daß ein Elefant auf der Schildkröte die Erd-Scheibe trägt.

 

AD:  „Dieses letzte Bild mit dem Zoo hätten Sie sich ersparen können; das ist doch offensichtlicher Unsinn, den heute niemand mehr ernstnimmt!“

Sehr richtig; aber mir geht es doch gerade um die Einsicht, daß die anderen, zuvor angedeuteten – Ihnen offensichtlich vernünftiger erscheinenden – Denkmöglichkeiten keinen Deut besser sind.

„Seiende“ ist lediglich ein Wort; natürlich können wir auf die Frage nach den Bausteinen der Welt „die Seienden“ antworten, aber damit haben wir Frage nicht beantwortet. Was sind oder worin bestehen die Seienden?

Diese Frage stellt jedoch ein Scheinproblem dar, denn sämtliche Antworten bestehen in sinnleeren Behauptungen, weil wir sie prinzipiell nicht überprüfen – weder beweisen noch widerlegen – können.

Wer also den physikalischen Kosmos als die Welt betrachtet, ist nicht aufgeklärter, sondern nur moderner als der Schildkröten-Theoretiker.

 

AD;  „Sie sprechen problemlos von unserem Weltbild, bestreiten aber die Existenz der Welt. Was soll ein Weltbild sein, wenn es keine Welt gibt?“

Die wortwörtliche Bedeutung – Bild von der Welt – scheidet natürlich aus.

Und wir benötigen auch keine Welt, um das Zustandekommen unseres Weltbilds zu erklären; niemals in Ihrem Leben haben Sie letzteres mit der Welt verglichen.

 

Unser gegenwärtiges Weltbild ist vielmehr das Resultat des bisherigen Lebens. Als Baby hatten wir noch gar keines, und mit dem Sprechenlernen begann die Genese des Weltbilds, die zu seinem Status quo führte und weitergeht, solange wir leben. Durch neue Begrifflichkeiten, Vorstellungen und Erfahrungen wird das bisherige bzw. vergangene Weltbild in der Gegenwart kontinuierlch überformt oder aufgehoben und ein neues geerstmaligt; das geht zu Beginn des Lebens bergauf und an seinem Ende im allgemeinen bergab.

Das Weltbild geht also – nicht aus einer angeblichen Welt, sondern – aus der Lebenspraxis hervor – und dient ihr zugleich als unsere einzige Orientierungsmöglichkeit; Erwachsene benötigen es, um leben zu können 

Da jeder von uns ein anderes Leben hinter sich hat, ist klar, daß Weltbilder subjektiv sein müssen. „Nur subjektiv“ sollten wir nicht (mehr) sagen, denn eine solche Charakterisierung nimmt Maß an der Objektivität einer Welt, die für uns nicht existiert.

 

AD:  „Ich akzeptiere und kann gut nachvollziehen, daß das subjektive Weltbild durch unser Leben entsteht und somit keiner ihm vorgegebenen objektiven Welt bedarf.

Wenn aber jedes Subjekt sein Weltbild besitzt, können wir die Gesamtheit der davon geglaubten Denkwerkzeuge doch aus dem Bewußtsein heraus in sein Außerhalb projizieren und damit jedem von uns zumindest seine subjektive Welt retten.“

 

Ihr Vorschlag enthält einen Denkfehler.

Wir beginnen mit der Wissung Sonne und wollen sie in das Außerhalb unseres Bewußtseins projizieren, so daß dort nach und nach eine ganze subjektive Welt entsteht, die sich aus denjenigen Denkwerkzeugen zusammensetzt, (an) deren Existenz wir glauben; Erdmenschen „ja“, Marsmenschen „nein“.

Das ist jedoch nur dann möglich, wenn dieses Außen wirklich existiert und nicht selbst nur eine Wissung bildet. Wer eine Wissung in eine Wissung „projiziert“, projiziert nicht.

 

Und das ist unsere Situation beim Bewußtsein.

Es besteht in der Gesamtheit des uns Gegebenen und ist somit keine Sphäre, insbesondere nicht diejenige, in der sich das Gegebene befindet. Natürlich sagen wir manchmal locker „A befindet sich im Bewußtsein“. Richtig verstanden muß das gar nicht falsch sein und setzt auch kein Bewußtseins-Gefäß voraus, denn die 3 befindet sich auch in der Menge der natürlichen Zahlen – ganz ohne Raum.

Fehlt die Bewußtseins-Sphäre, kann jedoch kein Außerhalb von ihr existieren; letzteres bildet lediglich eine Wissung, so daß kein Projizieren möglich ist. Wir wissen kein X im Außen, sondern das ganze Außen – mit oder ohne X – ist nur eine Wissung.

 

AD:  „Ohne Welt verschwindet ein Problem, vor dem ich schon lange stehe:

Die gesamte Tradition geht von der Existenz einer Welt aus, deren Bestandteile häufig als ‚Seiende‘ bezeichnet werden; einfach weil sie sind. Und alles, was nicht – wirklich oder vorhanden – ist, zählt zu den Nicht-Seienden.

Lezteres erscheint mir aber aus mindestens zwei Gründen als unsinnig:

Zum einen gibt es unendlich viel, was nicht ist; Marsmenschen, Teufel und Einhörner fallen uns vielleicht spontan ein, aber die Reihe läßt sich beliebig fortsetzen: Menschen mit drei Beinen, schwarze Gänseblümchen, einen zweiten Erd-Mond, . . . 

Zum anderen kann die Tradition nur von Seienden sprechen, weil sie diese angeblich – wie auch immer – erkannt hat. Aber Nicht-Seiende lassen sich nicht erkennen; einfach weil sie nicht sind.

Wie kommt die Tradition dann aber auf die Nicht-Seienden? Die kann sie doch nur erfinden . . .?

Daß die Seienden erkannt und die Nicht-Seienden erfunden sind, ist jedoch kaum vorstellbar. Zumal ein Wechsel zwischen diesen beiden Seiten zum Leben gehört; bei den Higgs-Teilchen zum Beispiel schwanke ich heute noch.

 

Bei Ihnen verschwindet die Unterscheidung zwischen Seienden und Nicht-Seienden, weil – ohne Welt – beide nicht sind.

Aber damit kommen wir natürlich vom Regen in die Traufe:

Bisher bezeichnete das Wort ‚Sonne‘ die Sonne als ein spezieles Seiendes. Das gibt es nun nicht mehr; wovon sprechen wir dann eigentlich, wenn wir ‚Sonne‘ sagen?“

 

Lediglich von einer Wissung; das Wort „Sonne“ bezeichnet die Wissung Sonne.

Wissungen sind lediglich Denkwerkzeuge, wie wir oben bereits angedeutet hatten, die uns zum Leben dienen, aber das Leben oder seine Facetten nicht bezeichnen.

Deswegen habe ich in der Abbildung geschrieben, das Wissen könne bezeichnet, das Leben aber nur beschrieben werden; letzteres ist die Aufgabe der Kunst.

 

Unsere traditionelle Sprechweise, derzufolge es Feldhasen gibt, aber Osterhasen nicht und sie somit Seiende bzw. Nicht-Seinde sind, ist also völlig unverständlich, so daß wir sie möglichst vermeiden sollten. Beide Begriffe stellen Denkwerkzeuge dar, womit jegliche Aufteilung in zwei Gruppen hinfällig wird; die Nützlichkeit von Denkwerkzeugen bildet ein Kontinuum, das von „völlig nutzlos“ bis „brauche ich laufend“ reicht. 

Traditionell hätte ich zum Beispiel sagen müssen, daß es keinen Teufel gibt.

Eine solche Behauptung wäre aber sinnlos, denn ich verstehe sie gar nicht; was bedeuten „es gibt“ bzw. „es gibt nicht“?

Mit bestem Wissen und Gewissen kann ich jedoch eingestehen, daß der Begriff Teufel ein Denkwerkzeug darstellt, daß ich so gut wie gar nicht gebrauche, weil es mir als nahezu nutzlos erscheint; mitunter aber doch – wie in diesem Beispiel. 

2.4. Wirklichkeit – unabhängiges Leben und abhängige Wissungen

Babys und Tiere (über-)leben – bei hinreichender Fürsorge – auch ohne Weltbild; für uns ist es natürlich unbedingt erforderlich.

Das wäre jedoch nur rein pragmatisch gedacht; wir müssen die Funktion unseres Weltbilds aber auch noch wesentlich grundsätzlicher sehen:

Ein Baby lebt; es fühlt und erfährt vielleicht auch ein Sich-Fühlen. Es kann wunschlos glücklich sein, aber keine Wünsche haben; sich grundlos ängstigen, aber vor nichts fürchten; sich freuen – bei fehlendem Worüber.

Das Baby lebt, und dem entspricht die Wirklichkeitsseite unseres „Dualismus“. Durch das Fehlen sämtlicher Wissungen existieren jedoch keine Etwasse oder Objekte, die dem Baby als Gegen-Stände gegen-über-stehen, so daß es auch nichts intendieren – wollen oder ablehnen – kann; deswegen der direkt vorangehende Absatz. 

 

Das bedeutet, daß es ohne Wissungen auch keine Freiheit gibt. Letztere bildet keine Eigenschaft der Menschen – die vielleicht sogar mit deren Genen zusammenhängt und ihn vom Tier unterscheidet –, sondern die Freiheit setzt Wissungen voraus.

Letztere machen nicht unbedingt frei, aber ohne Wissungen gibt es keine Freiheit; sie sind notwendig, reichen jedoch nicht hin

 

Die Wahrheit – und, wie ich glaube, wohl auch alles andere, was den Menschen zum Menschen macht, – setzt Freiheit voraus. Wären wir nicht frei, gäbe es keine Unterscheidung zwischen einem wahren und einem unwahren Leben. Liebe, Freundschaft, Dankbarkeit, Vertrauen usw. gibt es nicht ohne Freiheit.

Beispielsweise bedingt jede wahre Rede die Möglichkeit der Lüge; denn was sollte der Satz „Ich habe die Wahrheit gesagt“ bedeuten, wenn das Lügen ausgeschlossen wäre? Auch wenn es vielleicht provozierend klingt:

Ohne die Möglichkeit zur Lüge keine Wahrheit; wer nicht lügen könnte, ist auch unfähig zur Wahrheit.

 

Zusammengefaßt ergibt sich damit als Zwischenergebnis:

Ohne Wissungen keine Freiheit, und ohne Freiheit keine Wahrheit.

Sowohl Freiheit als auch Wahrheit gehören jedoch zum wirklichen Leben.

Letzteres ist (bei Babys und Tieren) auch ohne Wissungen möglich – aber dann freilich auch ohne Freiheit und Wahrheit.

 

AD:  „Ist es nicht ein Widerspruch, daß Unwirkliches als notwendige Voraussetzung für die wirkliche Freiheit und Wahrheit dienen soll? Woher „wissen“ denn die beiden von den Wissungen, das heißt davon, ob die notwendigen Voraussetzungen für sie selbst erfüllt sind?“

Sie haben Recht; so wie wir unseren „Dualismus“ bisher dargestellt haben – hier das Wirkliche und dort das Unwirkliche –, enthält er in der Tat einen Widerspruch; seine beiden Seiten können unmöglich sauber getrennt sein.

 

Wir müssen unsere bisherige Sprechweise nicht vollständig aufgeben, aber besser verstehen und durch eine treffendere ergänzen.

Das Schmerzen bildet mitunter eine bewußte Facette an unserem Leben.

Die Schmerzen sind manchmal eine gewußte Wissung in unserem Leben. 

Was unterscheidet das Schmerzen von den Schmerzen?

Wir haben schon einige Differenzen aufgeführt und müssen diese hier nicht wiederholen; sie laufen aber alle darauf hinaus, unseren „Dualismus“ zu bestätigen; „hier so . . , dort so . . .“

Nun geht es jedoch darum, ihn zu überwinden. Wir suchen nach dem Bindeglied oder der Nahtstelle zwischen dem wirklichen Leben und den unwirklichen Wissungen; nach unserem Pendant zu Descartes‘ Zirbeldrüse gewissermaßen.

 

Das Leben ist auch ohne Wissungen möglich; die Umkehrung stimmt dagegen nicht; „Wissungen“ ohne Leben sind nicht nur keine Wissungen, sondern gar nichts, inexistent, null und nichtig.

Die Wissungen tauchen aus diesem Nichts auf, wenn wir sie tatsächlich wissen, aktual wiederholen oder (uns) vergegenwärtigen; Wissungen werden gewußt, Begriffe begriffen und Vorstellungen vorgestellt.

(„Nichts“ ist natürlich falsch; es geht um das Symbolische, was uns aber an dieser Stelle weder interessieren muß noch helfen kann.)

Wenn aber die Wissungen wirklich gewußt werden, dann sind sie auch wirklich.

 

Das wäre bereits ein erstes Zwischenergebnis.

Das Unwirkliche kann tatsächlich unwirklich sein; so versteht ja auch die Tradition die Wissungen. Und weil ich glaubte, Sie dort abholen zu müssen, haben wir die Wissungen anfangs als unwirklich betrachtet.

Aber spätestens an dieser Stelle müssen sich die Wege trennen:

Für uns bedeutet „unwirklich“, daß jede einzelne Wissung fast immer inexistent ist.

Traditionell jedoch sind dagegen alle Wissungen immateriell, stofflos oder rein geistig.

 

Das eine hat mit dem anderen aber auch gar nichts zu tun, und dieser Unterschied kann in seiner Bedeutung kaum überschätzt werden:

Die (wahren) Wissungen entsprechen traditionell den Platonischen Ideen, Schöpfungsgedanken Gottes oder irgendwelchen anderen Vorgaben, so daß sie gar nicht inexistent sein können wie bei uns; sie gehören „immer“ der Ewigkeit an.

Damit ist es völlig sekundär, ob die Wissungen aktual von uns gewußt werden oder nicht: Sie sind „immer“ unwirklich im Sinne von immateriell, stofflos oder rein geistig.    

 

AD:  „Sie bestreiten also, daß unsere Wissungen immateriell, stofflos oder rein geistig sind?“

Nein; ich bestreite das nicht, sondern sage lediglich ein Zweifaches:

Ich sehe nicht ein, daß Immaterielles, Stoffloses bzw. Geistiges unwirklich sein soll; Liebe, Freundschaft, Sinn, Verantwortung . . . Wer das glaubt, muß den immateriell-stofflichen Kosmos der Moderne als sein Nonplusultra betrachten. 

Dann ist es aber auch ausgeschlossen, die Unwirklichkeit der Wissungen damit zu erklären, daß sie immateriell, stofflos oder rein geistig seien, wie die Tradition dies tut.

 

Bei  uns sind die Wissungen unwirklich, weil sie fast immer fehlen.

Wissen wir sie tatsächlich – weil wir aktual begreifen, vorstellen, beabsichtigen oder was auch immer –, ist es also vorbei mit ihrer Unwirklichkeit, und die Wissungen werden wirklich

AD: „. . . so daß zwischen dem Schmerzen und den Schmerzen gar kein Unterschied mehr besteht?“

 

Doch; der besteht trotzdem:

Das Schmerzen bildet gegebenenfalls eine Facette am Leben, und wenn sich dies tatsächlich so verhält, hängt es absolut nicht von uns ab.   

Der Schmerz stellt dagegen eine Wissung dar, und die ist nur wirklich, wenn wir sie wissen, das heißt, wenn „hinter“ der Wissung namens „der Schmerz“ eine Facette des Lebens steht, die diese Wissung bewirkt.

 

Damit können wir zusammenfassen:

1. Die Wissungen sind sekundär, während das Leben primär ist.

2. Das bedeutet, daß letzteres auch ohne Wissungen erfolgen kann.

3. Die Umkehrung gilt nicht, weil „hinter“ jeder Wissung eine Facette des Lebens stehen muß, die diese Wissung bewirkt, oder, einfacher formuliert, das Leben die Wissungen hervorbringt.

4. Die Wissungen sind also ebenso wirklich wie das Leben, hängen aber von ihm ab.

 

Damit wird unser „Dualismus“ hinfällig; die Wissungen fehlen entweder vollständig oder gehören dem wirklichen Leben an.

Wir sollten sie, um die traditionellen Assoziationen zu überwinden, auch nicht mehr als „unwirklich“ bezeichnen und unterteilen die Wirklichkeit deshalb weiterhin in das unabhängige Leben und die abhängigen Wissungen.

2.5. De-Koinzidenz

Wir vertreten keinen Dualismus, streichen diesen Begriff deswegen im weiteren und übernehmen an seiner Stelle die De-Koinzidenz von François Jullien.

Das Leben ohne Freiheit und Wahrheit entspricht demjenigen im Paradies; jedes Subjekt koinzidiert mit sich selbst und dem Leben, denn die reine Wirklichkeit ist nichts anderes als diese Koinzidenz.

Wir assoziieren das Paradies also nicht mit einem vergangenen Garten, in dem Adam und Eva lebten, sondern mit dem gegenwärtigen Bewußtsein von Babys oder Tieren, die keine Wissungen besitzen. Sie haben nur Bewußtes und damit ein „Bewußtsein“ im eigentlichen Sinne des Wortes, das als Wirklichkeit nur mit sich selbst koinzidieren kann – weil es noch gar nichts anderes gibt.

Dieses „Bewußtsein“ de-koinzidiert durch die Genese der Wissungen in unser Bewußtsein, das sich aus Be- und Gewußtem zusammensetzt.

 

Wem Freiheit und Wahrheit wichtig sind, für den ist ein paradiesisch-reines „Bewußtsein“ nicht annehmbar. Wir würden damit zwar leben „wie im Paradies“, aber ohne es wissen und würdigen zu können, weil das Paradies keine Wissungen kennt – wie ein bestens versorgtes Baby oder Haustier.

Die De-Koinzidenz ereignet sich durch die Genese von Wissungen, die additiv zum Leben hinzukommen, und bedeutet somit keineswegs, aus dem Paradies oder Leben vertrieben worden zu sein. Auch haben wir es nicht freiwillig verlassen; wohin denn?

Nichtsdestotrotz sind wir uns ganz sicher, das Paradies verloren zu haben, denn wir koinzidieren nicht mehr mit uns selbst und dem Leben, sondern sind

von uns selbst und dem Leben ver-rückt, das heißt,

– überzeugt,

  — in der Welt zu leben, die von unserem Weltbild beschrieben wird,

  —  derjenige Mensch zu sein, der letzterem entspricht, und

  — uns folglich auch diesem Weltbild gemäß verhalten zu müssen.

 

Von unserem Weltbild geht also einerseits eine gewaltige Suggestionskraft aus, die uns problemlos überzeugt, daß das mit dem Paradies frommer Unsinn ist, weil doch jeder sieht und weiß, daß wir in der Welt leben.

Andererseits ist aber ein Weltbild unbedingt erforderlich, weil wir nur mit seiner Hilfe einen post-paradiesischen Freiraum gewinnen können, . . .

. . . wie auch immer er beschaffen sein mag: Das eine Weltbild dient dem Leben, und das andere schadet ihm.

Dann ist es auch richtig, den Verlust des Paradieses mit dem Entstehen von Gut und Böse oder der Moral zu verbinden; „gut“ bedeutet lebensdienlich, und „böse“ lebensfeindlich.

 

Unsere Freiheit wird zwar durch das eigene Weltbild ermöglicht, reicht aber trotzdem über dieses hinaus, weil wir auf der Grundlage unseres Weltbilds ahnen, daß noch ganz andere Weltbilder mit ihren spezifischen Freiräumen möglich wären, um die wir uns bemühen könnten – und vielleicht sogar sollten.

Jedes Weltbild kann somit – vielleicht auf langwierigen Umwegen – zumindest als möglicher Beginn des Guten betrachtet werden, das es im paradiesischen „Bewußtsein“ noch gar nicht gibt.

 

Die Tradition mißversteht diese Funktion des Weltbilds meines Erachtens total, indem sie

– das Weltbild als Bild einer objektiven Welt interpretiert,

– uns in letztere einmauert, damit

– den Ängsten der Welt – insbesondere der Todesfurcht – ausliefert,

– so die große – wenn auch natürlich endliche – Freiheit, die für das Hier und Jetzt angezielt war, verspielt und

– folglich einer Erlösung im Später bedarf.

Nur durch unseren Mißbrauch des Weltbilds hat Julia Enxing mit ihrem Buchtitel „Und Gott sah, daß es schlecht war“ recht.

 

William James sieht den Kern jedes religiösen Lebens „in der Überzeugung, daß es eine unsichtbare Ordnung gibt und unser höchstes Gut in einer harmonischen Anpassung an diese Ordnung besteht.“

Nicht nur als Babys sondern auch heute als Erwachsene lebten bzw. leben wir in dieser unsichtbaren Ordnung, denn da sie selbst die Wirklichkeit ist, gibt es Leben nur in ihr und durch sie.

Verlorengegangen ist uns lediglich die harmonische Anpassung an diese Ordnung. Bei Babys besteht sie automatisch, wir müßten sie uns jedoch – gegen die Suggestionskraft des Weltbilds – erarbeiten; deswegen heißt es „Vertreibung“ aus dem Paradies. Aber niemand hat uns vertrieben; wo sollten wir sonst leben? Wir glauben nur nicht, daß wir immer im Paradies leben; diese Einsicht wäre die Erlösung von der – schier unendlich großen Verführungskraft einer – vom Leben abhängigen Welt.

 

Nicht nur der christliche Glaube, sondern die allermeisten Religionen sagen, daß wir diese Einsicht nicht aus eigener Kraft erreichen können; die Erlösung ist absolut unverfügbar.

Sie kann uns nur geschenkt werden, heißt christlich „Reich Gottes“ und bedeutet, daß wir die harmonische Anpassung an die unsichtbare Ordnung des Lebens wiedergewinnen, diese aber nun wissen und somit auch in Freiheit bejahen können – sofern wir es wollen:

Reich Gottes   =   Paradies   +   Freiheit

„Gott von Angesicht zu Angesicht sehen“, heißt nicht, unmittelbar bei ihm zu sein; sondern post-paradiesisch zu erfahren, daß wir immer schon unmittelbar bei ihm waren und auch nur bei ihm sein können.

 

Das Reich Gottes beginnt, wenn wir – sowohl im Kopf begreifen als auch im Herzen erleben –, daß hinter unserem Weltbild keine Welt, sondern das Paradies steht. Dann müssen wir uns nicht mit der Welt herumschlagen und können das Weltbild für unsere Freiheit im Paradies nutzen.

Das bedeutet es meines Erachtens, „der Welt zu entsagen“:

Nicht Verzicht oder Askese „in diesem Jammertal“ um des ewigen Lebens willen, sondern das Weltbild für das Paradies nutzen, um uns des letzteren – hier und jetzt – bewußt zu werden.

 

Alfred North Whitehead faßt meine Grundintention sehr schön zusammen und bezeichnet dabei James‘ unsichtbare Ordnung bzw. die Wirklichkeit oder das Leben in unserer Sprache als „etwas“:

„Religion ist die Vision von etwas, das jenseits, hinter und inmitten des vergänglichen Flusses unmittelbarer Dinge liegt; etwas, das real ist und doch auf Realisierung harrt; etwas, das eine entfernte Möglichkeit bildet und doch die bedeutendste der gegenwärtigen Tatsachen ist; etwas, dessen Besitz das höchste Gut ist und doch jenseits allen Zugriffs liegt; etwas, das zugleich höchstes Ideal und hoffnungslose Suche ist.“

 

Durch die De-Koinzidenz gehören Wahrheit und Überzeugung völlig getrennten Schubladen an. Diese Einsicht scheint mir für eine menschliche und lebenswerte Zukunft auf unserer Erde von kaum zu überschätzender Bedeutung zu sein.

Das hieraus resultierende Denken macht auch verständlich, daß intelligente und gutwillige Menschen von den unterschiedlichsten, einander widersprechenden Glaubensbekenntnissen – im weitesten Sinne – überzeugt sein können. Für die einen gibt es dieses, und für die anderen jenes; Regentänze, Higgs-Teilchen, Determinismus, Gynoide, Verschwörungstheorien, Teufel, andere Welten, Unfehlbarkeit, zehn Dimensionen, Götter, Evolution, Seelenreisen, Dogmen, Wahrsager, ein drittes Geschlecht, Dharma, Aliens, Dreifaltigkeit, Freiheit, Voodoozauber, Urknall, Dialektik, ewige Wahrheiten, Zufall, Corona-Lüge, Vernunft usw.

Es bedeutet nicht den geringsten Widerspruch, wenn Pünktchen von A und Anton von non-A überzeugt ist – da weder A noch non-A wahr sein können oder gar sollen. Vielmehr bilden die beiden gegensätzlichen Ansichten lediglich die zwingenden Konsequenzen der verschiedenen subjektiven Weltbilder bzw. Lebenswege von Pünktchen resp. Anton.

2.6. Der Grundwiderspruch des traditionellen Ansatzes

AD:  „Ich war anfangs sehr skeptisch hinsichtlich der postmodernen Idee, es gäbe keine Welt. Ihre Ausführungen zur De-Koinzidenz waren jedoch immerhin so stringent, daß ich diese Annahme vielleicht doch in Erwägung ziehen sollte.

Ein starkes Gegenargument hindert mich aber immer noch daran:

Zu den Seienden der traditionellen Welt gehören sowohl Objekte – wie Ihr Lieblingsbeispiel, die Sonne – als auch Subjekte – wir beide etwa. Mit der Welt entfallen in der Postmoderne sämtliche Seienden.

Das ist bei den Objekten – vielleicht – widerspruchsfrei möglich; die Sonne wird vom Seienden zur Wahrnehmung.

Dafür benötigen wir jedoch wahrnehmende Subjekte – aber auch die haben Sie leichtfertig gecancelt . . .“

 

Auf der einen Seite haben Sie natürlich Recht: Wir benötigen Subjekte, um die traditionellen Seienden – sowohl die Objekte als auch die Subjekte – durch „ihre“ Wahrnehmungen ersetzen zu können.

Auf der anderen Seite war es aber dennoch richtig, auch die Subjekte der Tradition zu streichen; weshalb, schauen wir uns jetzt an.  

 

Die objektiven Seienden der Welt sind notwendigerweise alle unabhängig und damit getrennt voneinander. Es gibt zum Beispiel Sonne, Mond und Sterne – um einmal über mein „Lieblingsbeispiel“ hinauszugehen –, aber sie haben absolut nichts miteinander zu tun.

AD: „Doch; speziell diese Seienden ziehen einander an.“

 

Auch wenn Sie es kaum glauben werden: Dieser Satz ist falsch; die Annahme, Seiende würden sich anziehen, enthält einen Widerspruch.

Um ihn deutlich zu erkennen, betrachten wir die zwei Seienden Sonne und Erde. Sie haben zahllose Eigenschaften und es bestehen auch verschiedene Relationen oder Beziehungen zwischen ihnen.

Erstere sind in unserem gegenwärtigen Zusammenhang völlig unkritisch; die Sonne ist zum Beispiel groß und heiß, fusioniert Wasserstoff und bestrahlt mit ihrer daraus gewonnenen Energie den ganzen Kosmos.

Die Relationen erweisen sich dagegen als wesentlich problematischer; vor allem ist es wichtig, zwei Arten von ihnen zu unterscheiden.

 

Auf der einen Seite stehen die – von mir so bezeichneten – äußer(lich)en Relationen. Die Sonne besitzt zum Beispiel die größere Masse und ist heißer sowie voluminöser als die Erde. Eine Menge enthält Elemente, und Elemente bilden eine Menge. Die meisten Männer lieben Frauen, und die meisten Frauen Männer. Hänsel ist der Bruder von Gretel, und Gretel die Schwester von Hänsel . . .

Beispiele sind und ersetzen keine Definition, aber auch die dürfte jetzt verständlich werden:

Äußer(lich)e Relationen sind sind zwar wirkliche Beziehungen, die aber trotzdem keine Verbindung zwischen den beiden Seiten der Relation herstellen. Der Sonne oder Menge, dem Hänsel bzw. den Männern stehen die Erde oder Elemente, das Gretel resp. die Frauen gegenüber.

Ob mit oder ohne die äußer(lich)en Relationen; wir haben in beiden Fällen exakt die gleichen Seienden vorliegen.    

 

Ihnen stehen auf der anderen Seite die inner(lich)en Relationen gegenüber; sie sind  ebenso wirklich, greifen aber zudem in die Seienden ein.

Die Sonne erwärmt beispielsweise die Erde, beide – Ihr Einwand – ziehen sich gegenseitig an und Hänsel verhaut Gretel.

Ich behaupte keine scharfen Grenzen zwischen den beiden Arten von Relationen, sondern weise nur darauf hin, daß die eindeutig inner(lich)en zwischen Seienden absolut ausgeschlossen sind

Wenn „Erde“ und „Sonne“ sich wirklich anziehen, dann gibt es diese beiden Seienden nicht mehr, und an ihre Stelle tritt ein neues Seiendes, das wir vielleicht als „Sonne-Massenanziehung-Erde“ bezechnen könnten.

 

„Zwei wechselwirkende Seiende“ sind ein Seiendes, bei dem die ursprüngliche inner(lich)e Relation zu einer Eigenschaft geworden ist.

Wer zu diesem Schritt nicht bereit ist, müßte uns erklären können, aus  welchem Grund er die ursprüngliche inner(lich)e Relation – bei Sonne und Erde also die Massenanziehung – überhaupt als Relation und nicht auch wie Seiende versteht, so daß dann drei von ihnen vorliegen würden.

 

Wir fahren fort.

Die traditionellen Seienden sind absolut getrennt oder völlig unabhängig voneinander – selbst wenn sie durch äußer(lich)e Relationen untereinander verbunden sind. Und nur weil das so ist, lassen sich theoretisch alle Seienden der traditionellen Welt einzeln sauber bezeichnen und aufzählen: Sonne, Mond und Sterne, . . .

Würde noch ein dreizehnter Planet jenseits der Plutons entdeckt, gäbe es traditionell gedacht eben ein Seiendes mehr, als wir bisher angenommen hatten. Es käme additiv hinzu, ohne sich auch nur im geringsten auf die – Wissungen von den – anderen Seienden auszuwirken. 

 

Das (verbale) Wissen stellt eine äußer(lich)e Relation dar; weiß ich die Sonne, so verbindet uns das nicht miteinander – wie bei Verwandschaftsbeziehungen.

Das verhält sich jedoch beim Wahrnehmen ganz anders, denn das ist nicht ohne eine Wechselwirkung möglich und gehört somit zu den inner(lich)en Relationen, die die beiden beteiligten Seienden zu einem einzigen verbinden.

 

Die Tradition versteht uns als Seiende und geht davon aus, daß wir Subjekte alle Seienden wahrnehmen können; gemäß dem letzten Satz soeben muß das jedoch falsch sein:

– Was  wir wahrnehmen, sind keine Seienden, und

– die Seienden können wir nicht wahrnehmen.

Das bedeutet jedoch, daß sie für uns inexistent sein müssen.

 

Aus solchen Seienden setzt die Tradition ihre Welt zusammen – und nun geschieht ein Wunder, das jeden Religionsstifter schlecht aussehen läßt:

Die Subjekte wissen von den anderen Seienden, die für sie – den eigenen Voraussetzungen zufolge – überhaupt nicht existieren dürften.

 

Wenn meine Argumentation, wie ich hoffe, keinen Denkfehler enthält, brauchten wir über das traditionelle Denken eigentlich kein Wort mehr zu verlieren; sein innerer Widerspruch ist eklatant:

Sehe ich die Sonne, handelt es sich dabei nicht um ein Seiendes, denn was ich sehe, kann unmöglich getrennt von mir existieren und somit kein Seiendes darstellen. 

Ein angebliches Seiendes namens „Sonne“ muß dagegen absent für mich sein, so daß ich gar nicht wissen kann, wovon die Rede ist, wohin ich schauen oder wem ich diesen Namen geben soll und warum gerade diesen.

 

Nun endlich konkret zu Ihrer Frage:

Daß wir auch die traditionellen Subjekte streichen, war also kein Versehen; Seiende können andere Seiende nicht wahrnehmen. Große Namen – wie „Person“, „Geist-Seele“ oder was auch immer – ändern daran nichts. Selbst ein Gott, der als Seiendes verstanden wird, ist furchtbar allein und ganz einsam; ab-solut – losgelöst von allen anderen Seienden.

Aber natürlich haben Sie Recht; für unseren Ansatz benötigen wir – freilich ganz anders konzipierte – Subjekte,

– zum einen um uns selbst nicht verleugnen zu müssen, und

– zum anderen weil die traditionellen Seienden – sowohl die Objekte als auch die Subjekte – durch Wahrnehmungen – dieser anderen Subjekte – ersetzt werden sollen.

2.7. Subjekte und Zeiten

Erschrecken Sie bitte nicht: Jetzt kommt wahrscheinlich das schwierigste Kapitel des ganzen Buches. Das liegt aber vor allem daran, daß wir uns mitten in der Intention befinden, während die systematische Darstellung – in den Teilen 4. bis 6. – dann ausführlicher und wohl auch verständlicher ausfallen wird. 

Das Problem, das wir beide – Leser und Autor – notwendigerweise mit diesem Buch haben, besteht, wie Sie sicherlich schon bemerkt haben, darin, daß ich Begriffe benutzen muß, die Sie verstehen; andernfalls wäre mein Schreiben so sinnlos wie Ihr Lesen. Sehr viele wichtige Begriffe – wie Welt, Zeit, Leben, Subjekt, Wirklichkeit, Innen, Begriff – ändern aber im Verlaufe unserer oder durch unsere Überlegungen ihre Bedeutung. Das versteht sich bei einem geistigen Paradigmenwechsel von selbst, gilt aber für jegliches Lesen, das mehr als Informationsgewinn oder Unterhaltung sein will.  

 

Dieser zweite Teil soll nicht nur zeigen, daß durch unser eigenes Denken alles – das eigene „Fundament“, jede „Evidenz“ oder „Wahrheit“ – in Bewegung geraten kann, sondern Ihnen natürlich auch helfen, letztere zu bewältigen. Etwa indem Sie gelegentlich zurückschlagen, um bei der kleinteiligen Kärrnerarbeit nicht aus den Augen zu verlieren, warum wir diese eigentlich verrichten müssen.

„Ich weiß, was jetzt mit A gemeint sein muß, denn ein guter Autor wird versuchen, mich dort, wo er mich vermutet, abzuholen. Aber wenn es dabei bliebe, brauchte ich ihn nicht (zu lesen); es soll also etwas mit diesem A passieren; ich bin gespannt, was bis zum Ende des Buches daraus werden wird.“ 

Nachdem wir an A, B und C explizit gearbeitet und sie dadurch in A‘, B‘ bzw. C‘ umgeformt haben, müssen wir notwendigerweise auch D, das bisher vielleicht gar keine Rolle spielte, korrigieren, denn es paßt nicht mehr – pardon: noch nicht – zu A‘, B‘ und C‘.

So arbeiten wir kontinuierlich ein Leben lang an unserem Weltbild – oder sollten es zumindest tun –; wäre es anders, hätte das Weltbild gar nicht entstehen können.

 

Wir bauen an unserem Weltbild mit seinen Wissungen, können das aber nur mittels eben dieses Weltbilds und seiner Wissungen tun.

Bildlich ausgedrückt entspricht das dem Umbau eines Schiffes auf hoher See, das heißt, ohne Trockendock. Aus dem traditionellen soll am Ende ein postmodernes Schiff werden. In der Übergangszeit benötigen wir aber wenigstens noch ein Wrack, das zwar keines von beiden, aber doch seetauglich genug ist, um nicht vor lauter umbaubedingten Ungenauigkeiten, Fehlstellen, Zweideutigkeiten und Widersprüchen unterzugehen. 

Dieses Untergehen versuche ich zu vermeiden, indem wir häufig – ausgehend vom jeweils gegenwärtigen Wrack – das nicht mehr existierende traditionelle Schiff dem noch nicht existierenden postmodernen Schiff gegenüberstellen.

 

Wenn Sie nach dem Durcharbeiten dieses Buches so denken wie zuvor, war Ihre Mühe vergebens und Sie hätten die investierte Zeit wesentlich besser nutzen können.

Deswegen lese ich keine wissenschaftlichen Arbeiten, die mir weitestgehend Recht geben; eine in diesem Sinne angepaßte Literatur-Auswahl mag psychologisch verstanden angenehm sein und guttun, ist aber ebenso langweilig wie sinnlos, weil sie mich keinen Deut weiterbringt. Mir geht es um eine Horizonterweiterung und weder um Bestätigung noch darum, Recht zu haben.

Die ersten Wissungen ermöglichen uns einen Start; wir denken mit ihrer Hilfe und gelangen zu weiteren Wissungen, denken mit ihrer Hilfe und gelangen . . . Am Ende benutzen wir zwar möglicherweise immer noch die gleichen Worte, um unsere Wissungen zu bezeichnen, aber letztere sind kontinuierlich anders geworden.

 

Wolfgang Welsch formulierte diese Zusammenhänge besser, als ich es vermag:

„Das Eigentümliche philosophischer Reflexionen besteht darin, daß sie ihre Ausgangsbegriffe in Bewegung, oft gar in Taumel versetzen und zum Umschlag bringen. ‚Dialektik‘ war von Platon bis Adorno das Wort dafür. Wer . . . identisch durchzuhaltende Bestimmungen geben möchte, könnte sich die Überlegungen und sollte den anderen seinen Vortrag ersparen.“

 

Mir geht es um eine Horizonterweiterung“, hatte ich soeben geschrieben. Das ist kein Egoismus, sondern so gemeint, wie es Romano Guardini sehr schön ausdrückt:

„Im Grunde genommen, habe ich nicht gefragt, was meine Leserschaft zu wissen wünscht, sondern über das geschrieben, was mir jeweils selber wichtg war. Ich hatte immer die vielleicht vermessene, jedenfalls aber lebendige Gewißheit, die Dinge, die mich interessieren, seien Wert, gesagt zu werden, da sie alle angingen. . . Ich habe nie ein Buch geschrieben, weil ich meinte, die Zeit brauche es oder gar, weil dieser oder jener Zweck es verlange, sondern immer nur, weil ich von innen her dazu veranlaßt war.“

2.7.1. Identität der Subjekte

Der christliche Glaube geht davon aus, daß wir den uns nahestehenden Subjekten im Reich Gottes wiederbegegnen. Natürlich dürfen wir in einer philosophischen Arbeit nicht voraussetzen, daß dies stimmt; sehr wohl aber läßt sich sinnvoll fragen, welche Voraussetzungen notwendigerweise erfüllt sein müssen, damit es überhaupt stimmen könnte oder möglich ist.

Eine von ihnen besteht offensichtlich in der Selbst-Identität der Subjekte, das heißt, in ihrer Übereinstimmung mit sich selbst. Wenn sie fehlt, können wir „Moritz“ nicht als Moritz identifizieren und somit auch nicht „wiederfinden“.

Was bedeutet es, daß wir mit uns selbst übereinstimmen oder identisch sind?

 

Traditionell ist die Antwort wieder relativ einfach:

Alles Zeitliche – selbst ein Granitfelsen – ändert sich und kann somit unmöglich identisch sein. Mit welchem Recht sagen wir dann, dies sei Moritz – vom Embryo bis zum Greis?

Weil die Tradition den bis zur Unkenntlichkeit veränderlichen Körper mit einer Geist-Seele aussstattet, die als unveränderlich betrachtet wird und somit nicht der Zeit, sondern der Ewigkeit angehört.

 

Der Preis für diese Lösung ist freilich sehr hoch:

Als ewig-unveränderliche kann uns die Geist-Seele nicht zugänglich sein, denn alles, was wir erfahren – Wohlsein, Traurigkeit, Schmerz oder Freude – muß veränderllich sein und hat folglich mit der Geist-Seele nichts zu tun.

Sie stellt eine rein gedankliche Lösung für das Identitäts-Problem dar, die man

(1) glauben kann,

(2) durch eine Alternative zu ersetzen versucht oder

(3) für völlig unnötig hält – etwa weil mit dem Sterben ohnehin alles vorbei ist.     

 

Es dürfte Sie kaum noch überraschen, daß wir die zweite Möglichkeit wählen. Damit stellt sich die Frage, wie wir eine Übereinstimmung mit uns selbst in der Diachronie konsistent – das heißt, insbesondere ohne willkürliche und damit leere Behauptungen – denken können.

Was müßten wir sein, um in der Diachronie mit uns selbst übereinstimmen zu können?

Ich habe die Frage in dieser Form gestellt, um Ihnen die Antwort praktisch in den Mund zu legen:

Es ist tautologisch, daß die Diachronie in der Diachronie mit sich übereinstimmt.

Wir müßten also selbst die Diachronie sein, um darin mit uns übereinstimmen zu können.

Damit hätten wir eine erste Zwischenantwort:

Für uns sind die Subjekte – weder Körper im Raum noch Etwasse in der Synchronie, sondern – die Diachronie selbst; dadurch werden sie in der Diachronie identisch oder übereinstimmend mit sich selbst.

 

AD:  „Vielleicht darf ich in meinen Worten nochmals zusammenfassen, was Sie oben bereits zur Zeit gesagt und jetzt vorausgesetzt haben; das war wohl ein bißchen viel verlangt. . .

 

Traditionell haben wir die Kalender- oder physikalische Zeit, die häufig durch einen Strahl mit dem Parameter t veranschaulicht wird. Das ist die ‚unwirkliche‘ oder abhängige Zeit, die lediglich in bzw. aus Wissungen besteht. Wir erkennen das vielleicht am leichtesten daran, daß die Griechen sich diese Zeit ganz anders, nämlich – für ihren ewigen Kosmos – als Kreis mit einer ewigen Wiederkehr des Gleichen vorgestellt haben. Erst allmählich wurde durch das Christentum unser Strahl daraus, weil die Geschichte – mit Schöpfung, Menschwerdung, Erlösung und Vollendung – zur Sphäre des Erstmaligen oder Neuen wurde. Im Gegensatz zum griechischen Denken ist das christliche dynamisch; in ihm passiert etwas.

Diese Zeit entspricht Ihrer Synchronie; wieso sie zeitlos oder gleichzeitig sein soll, wissen wir allerdings noch nicht.

 

Die Tradition glaubt die Ewigkeit als Gegenstück zur Synchronie; Sie haben uns jedoch gezeigt, daß daran nichts stimmt: Diese angebliche Ewigkeit ist lediglich der Spezialfall der Synchronie, in dem sich nichts verändert, und gehört ihr folglich selbst an.

Absolute Unveränderlichkeit kommt in unseren Erfahrungen zwar nicht vor, ist aber auch kein Grund, diesen asymtotischen Grenzfall der Synchronie gleich zur Transzendenz zu erheben; der Erdmittelpunkt wird auch nicht erfahren. 

 

Die Tradition mißversteht somit die Ewigkeit als  Alternative zur Synchronie.

Für Sie besteht diese Altenative in der wirklichen, zeitlichen Zeit oder Diachronie, von der die Tradition gar nichts  weiß. In ihr leben wir nicht nur, sondern das sind wir sogar.

 

Jetzt weiß ich nicht weiter:

Daß Ihre Gleichsetzung von Subjekt und Diachronie tautologisch ist – wie unverheirateter Junggeselle –, kann ich ganz gut nachvollziehen, nutzt mir aber nichts. Wer weder ‚unverheiratet‘ noch ‚Junggeselle‘ versteht, dem hilft auch deren Tautologie nicht weiter.

So geht es mir jetzt bei Ihnen: Wenn Sie das fragliche Subjekt mit der unverstandenen Diachronie ‚erklären‘, erklären Sie natürlich gar nichts.“

 

Ich gebe Ihnen völlig Recht; aber mir war die Tautologie – als Zwischenschritt – erst einmal wichtig, weil ich vor dem Problem stand, Ihnen einen ziemlich absurden Gedanken – Subjekt ist Diachronie – plausibel machen zu wollen. Und ich gebe auch gerne zu: Hätte ich nicht bei Levinas eine Bestätigung dieses Gedankens gefunden, würde mir wohl auch der Mut fehlen, ihn hier zu präsentieren.

Aber natürlich müssen wir ihn erst noch (besser) verstehen.

2.7.2. Die vergehende Zeit der Tradition

Es war gut, was Sie zur Zeit gesagt haben, AD; nur ein ganz klein wenig würde ich gerne korrigieren:

Für uns existieren als Zeiten nur die Synchronie und die Diachronie; aber – und jetzt kommt meine Korrektur – die traditionelle Zeit stimmt nicht vollständig mit der Synchronie überein, sondern ist vielmehr die vergehende und damit eine dritte Zeit. Da wir sie nicht benötigen, stellt das für uns keine weitere Komplikation dar; aber wir sollten schon wissen, worin die vergehende Zeit der Tradition besteht, um nicht wie selbstverständlich ihren Fußspuren zu folgen.

 

Was macht eigentlich die Zeit, wenn sie vergeht? Oder ernsthafter gefragt: Was bedeutet es, daß sie angeblich vergeht?

Für die Tradition ist diese Frage natürlich sinnvoll – es geht ja um ihre (einzige) Zeit –; trotzdem wird sie kaum gestellt, obwohl fast alle meinen, die Zeit würde vergehen. Dieser Widerspruch entfällt bei uns: Es gibt keine vergehende Zeit, denn sie wäre notwendigerweise ein Seiendes.

Um das zu begründen, beantworte ich unsere Frage von soeben:

Daß die Zeit angeblich vergeht, bedeutet:

– Es kommt zu Veränderungen und

– diese erfolgen irreversibel.

 

Die Sphäre der (Nicht-)Veränderungen ist die Synchronie; nur Wissungen sind (un)veränderlich. Des weiteren lassen sie sich beliebig wiederholen; sie sind also mit Sicherheit reversibel und können somit unmöglich zu einer vergehenden Zeit führen.

AD: „Das verstehe ich nicht; was hat Wiederholbarkeit mit Reversibilität zu tun?“

 

Die Synchronie entspricht dem Raum; deswegen können die Physiker beide zu einer vierdimensionalen Raum-ZeitSynchronie zusammenfassen.

Jeder Punkt darin wird durch die drei Raum-Koordinaten x, y sowie z und den einen synchronen Parameter t chrakterisiert. Als Achsen dienen jeweils Strahlen, und deren Pfeile geben lediglich an, in welche Richtung diese Kennzahlen größer werden.

Mit einem Vergehen der Zeit hat das Größer-Werden von t gar nicht zu tun; bei völlig analoger Struktur vergeht der Raum doch auch nicht.

 

Hier geht es ausschließlich um eine systematische Anordnung von Wissungen – Ereignissen, Tatsachen, Begegnungen oder ähnlichem –, um sie möglichst effektiv einordnen und wiederfinden zu können. „Oben, hinten, rechts und früher befindet sich der Bauernkrieg, schräg darunter und noch etwas früher lebte Sokrates, hier drüben liegt das Ende des ersten Weltkriegs und etwas später beginnt dann der zweite.“

Die Raum-Synchronie entspricht einem wohlgeordneten Warenlager, und unser (verbales) Wissen dem Gabelstapler.

 

Nun müßten Sie meine Antwort verstehen:

  Wissungen können beliebig wiederholt werden; dieses Wiederholen besteht aber doch darin, daß wir uns in der Sphäre der Wissungen – und das ist die Raum-Synchronie – völlig beliebig bewegen können. Das geht ebenso problemlos in Richtung fallender Parameterwerte wie zu den größeren hin.

Wären die Wissungen – und damit eo ipso auch ihre Veränderungen – irreversibel, dürfte auf der t-Achse nur die Bewegung in Pfeilrichtung möglich sein.

 

AD:  „Ich verstehe; die vergehende Zeit müßte die Einheit von Veränderungen und Irreversibilität sein. Sie wollen uns plausibel machen, daß es jene nicht gibt, weil diese Einheit einen Widerspruch enthält. Er besteht darin, daß

– das Veränderliche die Wissungen sind, denen die Irreversibilität fehlt, und

– das Irreversible das Leben ist, das keine Veränderungen kennt.

 

Ich habe damit vorgegriffen, vermute letzteres nur – glaube es aber nicht:

Das Leben oder Bewußte kann doch sehr wohl veränderlich sein. Im Moment fühle ich mich ganz gut, kann aber partout keinen Grund sehen, warum sich das nicht ändern – noch besser bzw. auch wieder schlechter werden – sollte.“

 

Mit diesem Einwand helfen Sie gewiß einigen Lesern; ich stehe aber 100%-ig hinter Ihrem Vorgriff.

Die Raum-Synchronie können wir anschaulich als eine Koordinatensystem verstehen, das allen Wissungen eine bestimmte Stelle oder Positiion zuweist. Im Bewußten existiert nichts Vergleichbares, das heißt, für unser Leben mit seinen Facetten – des Fühlens, Spürens, Empfindens, Wissens usw. – gibt es keinen äußeren Maßstab, Gradmesser oder Vergleich.  

Ihrer Argumentation zufolge ist das auch gar nicht nötig, denn wir erleben unmittelbar, wie sich unser Wohlfühlen zum Besseren bzw. Schlechteren verändert.

 

Den letzten Satz halte ich jedoch für falsch.

Ludwig Wittgenstein hat meine Ablehnung unter der Überschrift „Privatsprache“ meines Erachtens sehr überzeugend begründet. Eine Begutachtung seiner Analyse würde an dieser Stelle zu weit führen; ich fasse deshalb als Resümee zusammen:

Die Irreversibilität des Lebens – die Sie zum Glück akzeptieren, denn sonst hätte ich ein Problem – bedeutet, daß wir nicht kontrollierbar zum „im Moment fühle ich mich ganz gut“ zurückkehren können. Damit verfügen wir jedoch weder über ein äußeres Koordinatensystem noch über einen inneren Fix- oder Vergleichspunkt, um feststellen zu können, ob und wie unser Wohlbefinden variiert.

Deshalb ist jede diesbezügliche Aussage willkürlich oder geraten und somit sinnleer.

 

„Das Leben ist, wie es ist“ klingt allzusehr nach Stammtisch-„Philosophie“, ich meine es aber sehr ernst und finde kaum eine bessere Formulierung für das Gemeinte.

„Das Leben ist“ – ganz allein und einsam, kennt weder einen Fixpunkt noch ein Ideal oder Koordinatensystem, an denen es sich – verbindlich oder absolut – orientieren könnte, denn alle Fixpunkte, Koordinatensysteme bzw. Ideale, die das Leben kennt und nach denen es sich notwendigerweise richten muß, gehören ihm selbst an.

Wir erstreben X – worin auch immer X bestehen mag – weil wir in unserem Leben X als erstrebenswert erfahren haben oder gelehrt bekamen. 

Wer widersprechen möchte, muß meines Erachtens davon ausgehen, daß X vom Himmel gefallen oder auf eine andere Weise entstanden ist, bei der es aber auch nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann.

 

Ich halte dieses Zwischenresultat für wichtig; aber es ist nur ein Nebenergebnis auf unserem Weg zur Begründung, warum es keine vergehende Zeit geben kann:

Die Tempi Früher, Jetzt und Später – bilden kein diachrones Nacheinander, sondern – liegen ebenso nebeneinander wie die verschiedenen x-, y- bzw. z-Werte; andernfalls könnte die Raum-Synchronie auch keinem Warenlager entsprechen.

Die Diachronie ist der Tradition (nahezu) unbekannt, so daß wir Subjekte notwendigerweise in der – reversiblen – Synchronie leben müssen. Da sich die Irreversibilität unseres Lebens jedoch schwerlich bestreiten läßt, entsteht ein massives Verständnisproblem.

Das zeigt sich auch in der neueren Physik: Alle ihre Grundgleichungen sind (von belanglosen Feinheiten abgesehen) symmetrisch bezüglich ihres Parameters t, so daß wir völlig gleichwertig in das Früher wie in das Später hineinrechnen können und sich die Frage nach unserer „Lebens“-Richtung somit prinzipiell nicht beantworten läßt. 

 

Die Tradition trickst und mauschelt, um auf undurchsichtig-unsauberen Wegen die Veränderungen mit der Irreversibilität zu einer vergehenden Zeit zu vereinen.

Wir können die Feinheiten dieser Techniken auf sich beruhen lassen, müssen aber sehr darauf achten, uns nicht in die Spuren dieses Denkens hineinziehen zu lassen.

2.7.3. Subjekte als Diachronie

Rufen wir uns das Ziel der gegenwärtigen Überlegungen nochmals in Erinnerung:

Es ergab sich im Sinne einer Tautologie, daß Subjekte, um trotz der Diachronie in ihr – mit sich selbst – identisch sein zu können, diese Diachronie sein müssen. Aber solange wir nicht wissen, worin letztere besteht, haben wir damit auch noch nicht geklärt, was ein Subjekt ist.

Im vorliegenden Abschnitt soll ein weiterer Schritt in diese Richtung erfolgen.

 

An die Stelle der Tempi treten bei der Diachronie die Modi Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wir dürfen sie aber nicht – wie jene – als ein Neben-, sondern müssen die Modi als ein Nacheinander verstehen.

Wie soll das gehen? Es reicht gewiß nicht, die Tempi durch Modi zu ersetzen; was müssen wir mit letzteren tun, damit sie ein Nacheinander bilden?

Diesbezüglich haben A. M. KLaus Müller, Georg Picht, Carl Friedrich von Weizsäcker sowie Jürgen Moltmann – teilweise stark voneinander beeinflußt – in den 70-er Jahren sehr ähnliche Versuche vorgelegt. Ihnen zufolge fällt (in unserer Sprache) die Gegenwart

mit dem Bewußtsein, das heißt, mit dem Be- sowie Gewußten zusammen und

– besteht in fünf der neun Verschränkungen zweiter Ordnung der drei Modi.

 

 

Diachronie
Subjekt oder Selbst
Wirklichkeit
         
Vergangenheit
Gegenwart
Zukunft
notw. Voraussetz. Bewußtsein notw. Konsequenz.
     →
=
Bewußtes Gewußtes
imm. Ermöglichung Leben Wissungen imm. Ermöglichung
  unabhängig
abhängig
 
         
    aktual(isiert) potentiell  
    – Begriffe – Symbolisches  
    – Vorstellungen – Weltbild  
    – Aktanten – Welt  

Abbildung 2.7.3.-1

 

Erschrecken Sie nicht; „fünf der neun Verschränkungen zweiter Ordnung der drei Modi“ klingt einfach nur furchtbar, ist es aber gar nicht:

Wir kennen (drei mal drei ist) neun Verschränkungem zweiter Ordnung; sie besitzen alle die Form XY, und eine von ihnen ist zum Beispiel GV – die Gegenwart der Vergangenheit –, eine andere VZ – die Vergangenheit der Zukunft.

Von ihnen sind diejenigen fünf Verschränkungen immanent, die mindestens ein G enthalten – VG ZG, GG, GV sowie GZ –, und die restlichen vier – VV, VZ, ZV und ZZ – bilden die Transzendenz, die uns vorerst noch nicht interessiert.

 

Die Gegenwart oder das Bewußtsein besteht im Ineinander der fünf immanenten Verschränkungen zweiter Ordnung.

Sie lassen sich gut verstehen, weil diese Verschränkungen recht intuitiv den notwendigen Voraussetzungen entsprechen, die wir für ein Verständnis der Freiheit als Selbstbestimmung benötigen:

1. GG – der Akt der Freiheit oder Selbstbestimmung

2. GV – die Sphäre, in der dieser Akt erfolgt und in der sein Subjekt somit lebt

3. GZ – ihre Ausrichtung im Sinne des uns vorgegebenen Guten – persönlichen Gewissens oder „Antlitzes“ (Emmanuel Levinas) –, für das wir uns im Freiheitsakt entscheiden sollten

4. VG – Träger des Aktes der Freiheit; das ist das „alte“ oder „bisherige“ Subjekt bzw Selbst

5. ZG – Resultat des Aktes der Freiheit; das ist das „neu bestimmte“ oder aufgehobene Subjekt bzw. Selbst

Die Gegenwart besitzt stets diese Form und vergeht auch nicht:

 

 

Gegenwart oder Bewußtsein
     
VZ GZ ZZ
  Ausrichtung der Sphäre d. A. d. F.  
  Antlitz oder Gewissen  
     
VG GG ZG
Subjekt oder Selbst Akt der Freiheit Subjekt oder Selbst
„vor“ dem Akt der Freiheit Selbstbestimmung „nach“ dem Akt der Freiheit
Träger des Aktes der Freiheit   Resultat des Aktes der Freiheit
     
VV GV ZV
  Sphäre des Aktes der Freiheit  
  Lebensraum des Subjekts
 

Abbildung 2.7.3.-2

 

AD:  „Soviel Systematik hatte ich nicht zu hoffen gewagt . . .; die mittlere Zeile XG entspricht dem Subjekt oder Selbst, und die mittlere Spalte GY seiner Genese.

Das gefällt mir; aber ich kann nicht sehen, wo wir innerhalb Ihrer Verschränkungen die Wissungen als das Gewußte – und auch noch in zwei Sorten aufgeteilt – unterbringen sollen. Alle fünf beziehen sich doch auf die Freiheit und müssen demnach zum Leben bzw. Bewußten gehören.“

 

Ich will die Wissungen nicht in zwei Sorten aufteilen; mein Intention ist eine andere:

Theoretisch, das heißt, synchron gedacht verfügen wir über extrem viele Wissungen, und wenn uns beliebig viel Zeit zur Vefügung stände könnten wir sie alle aufzählen.

Praktisch, im tatsächlichen Leben also, ist das natürlich Unsinn; je nach Dauer  der Gegenwart sind stets mehr oder weniger viele Wissungen aktual, weil wir sie – durch unser (verbales) Wissen – aktualisiert haben. Dadurch  werden diese Wissungen ebenso wirklich, wie  es das Leben stets ist, und wir hatten deswegen das „unwirklich“ der aktual(isiert)en Wissungen durch „abhängig“ ersetzt.

Aber vollkommen unabhängig von der Dauer der Gegenwart sowie der Anzahl der aktual(isiert)en Wissungen werden immer ganz viele nicht aktualisiert. Sie bilden die zweite Gruppe der potentiellen Wissungen, die natürlich stets kontinuierlich in die erste übergeht und nur durch ein laufendes Hin-und-Her begrenzt wird.

 

Auch die potentiellen Wissungen sind nicht unwirklich, sondern dienen als notwendiger Horizont oder Hintergrund für die aktual(isiert)en Wissungen, die ohne jene gar nicht möglich wären.

Also gehören vielleicht sogar sie, mit Sicherheit aber die aktual(isiert)en Wissungen selbst zum Leben.

Oben hatten wir gesehen, daß ohne Wissungen kein Freiheitsakt möglich ist; wir benötigen irgendwelche Etwasse um intendieren – wollen, ablehnen, hinterfragen, verachten oder vergöttern – zu können. 

Der Akt der Freiheit GG bildet damit das Einfallstor des Gewußten in das Bewußte, und von da aus wirken sich unsere Wissungen – mehr oder weniger – auf das gesamte Leben aus.

 

AD:  „Ich habe aber immer noch nicht verstanden, wieso das ein Nacheinander, das temporale Früher, Jetzt und Später aber bloß ein Nebeneinander sein soll . . .“

Meine Antwort kommt in der Richtung der zwei Pfeile zum Ausdruck.

 

Der Tradition zufolge ist die Vergangenheit das, was einmal Gegenwart war, und die Zukunft das, was einmal Gegenwart sein wird.

Ich habe die beiden nicht-gegebenen Modi unterstrichen, weil bei ihnen die Pfeile von rechts nach links zeigen müßten. Das wäre immer noch die traditionelle Zeit, die angeblich aus der Zukunft kommt – wie sie das machen soll, weiß (und fragt leider) niemand – und durch die Gegenwart hindurch in die Vergangenheit vergeht.

Auch wenn es sehr überraschend klingt:

Für uns ist die Vergangenheit nicht das, was einmal Gegenwart war, und die Zukunft nicht das, was einmal Gegenwart sein wird. Eine solche Annahme würde doch den Widerspruch beinhalten, daß etwas der Wirklichen angehören soll, was gar nicht existiert – nicht mehr bzw. noch nicht.

 

Kommen wir endlich zu einer positiven Antwort:

Alle fünf Bestandteile unseres Bewußtseins hängen so eng mit der Freiheit zusammen, daß sie zusammengefaßt praktisch in ihr bestehen. Aber die Freiheit fällt nicht vom Himmel, sondern hat sowohl Voraussetzungen als auch Konsequenzen.

Die  hinreichenden Voraussetzungen und Konsequenzen gehören den vier transzendenten Verschränkungen, die wir zunächst vertagen.

Die notwendigen Voraussetzungen ensprechen der Vergangenheit; wäre sie nicht, könnte auch keine Gegenwart existieren. Die wirkliche, aber uns völlig unzugängliche Vergangenheit bildet die immanente Ermöglichung der Gegenwart.

Unsere – Entscheidung in der – Gegenwart führt notwendigerweise zu Konsequenzen, die wir weder wissen noch beabsichtigt haben; das ist die Zukunft. Sie verhält sich so zur Gegenwart, wie diese zur Vergangenheit, denn die Gegenwart zeichnet sich in keiner Weise aus. 

 

„Sie verhält sich so zur Gegenwart, wie diese zur Vergangenheit“ war nicht ganz richtig:

Die Vergangenheit bildet die – eine – Ermöglichung unserer Gegenwart, zu der im Prinzip alle Subjekte mit ihrem Leben beitragen können.

Wie sämtliche Subjekte der Vergangenheit angehören, zählen sie auch alle zur Zukunft. Aber letztere wird nicht von meiner Gegenwart allein ermöglicht, sondern alle Subjekte tragen mit der ihrigen bzw. ihrem Leben dazu bei.

Deswegen: Die notwendigen Konsequenzen der Gegegenwart gehören – neben zahllosen anderen – zur immanenten Ermöglichung.

 

AD:  „Als Subjekt bin ich ‚meine‘ Synchronie und zähle damit zur Immanenz; das ist recht gut nachvollziehbar.

Aber wenn zur Vergangenheit und Zukunft sämtliche Subjekte beitragen können, bedeutet das doch, daß sie auch zu mir selbst gehören müßten . . .?“ 

 

Völlig richtig; Ihre – auf den ersten Blick vielleicht absurd erscheinende Schlußfolgerung – bildet für mich den entscheidenden Grundgedanken der Philosophie von Levinas. In einem seiner beiden Hauptwerke, „Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht“, schreibt er: „Subjektivität ist strukturiert als der-Andere-im-Selben.“

Das Entscheidende daran ist, daß

– wir zwar einerseits die Freiheit weiterhin als Selbstbestimmung verstehen können und sollen,

– andererseits aber niemals bei Null beginnen, sondern immer schon vom Anderen angesprochen oder für ihn verantwortlich sind und

– unsere Selbstbestimmung damit niemals zur Autonomie werden kann.

 

Jeder Akt der Freiheit ist bereits Antwort, bei der ich „immer schon“ oder „ursprünglich zu spät komme“ (Jacques Derrida).

Ich kann nur mit demjenigen Selbst identisch sein, zu dem ich mich selbst bestimme; kein Gott kann ein identisches Selbst schaffen, denn das Fremdbestimmte stimmt nicht mit sich selbst überein, sondern mit dem Fremden.

Ich bestimme selbst, wer ich bin, aber der/die/das Andere – Vergangenheit und Zukunft – bestimmt, wer ich sein sollte.

2.8. Begriffe – Vorstellungen – Aktanten

Wissungen waren immer Denkwerkzeuge; auch in Antike und Mittelalter schon, als sie weitestgehend ganz anders verstanden wurden. Und daß letzteres der Fall war, ist sehr gut nachvollziebar: 

Wenn wir mit dem Auto in Urlaub fahren, spricht nichts dagegen, daß Auto auch eine Wissung bzw. ein Denkwerkzeug darstellt; aber daß es nur das sein soll, glauben wir ebenfalls nicht; mit Hilfe von Denkwerkzeugen allein kommt man schwerlich an die Ostsee.

Um diese offensichtliche Schwierigkeit möglichst sauber zu beseitigen, unterscheiden wir drei Arten von (gewußten) Wissungen: (1) Begriffe, (2) Vorstellungen und (3) Aktanten.

 

ad (1):

Begriffe besitzen nur logische Eigenschaften, und wir könnten hierfür auch sagen, daß sie allein der Sphäre der Logik – und insbesondere nicht der Raum-Synchronie – angehören. Damit können sie auch weder veränderlich noch unveränderlich sein; sie benötigen keinerlei Zeit.

Die Subjekte sind identisch und den Begriff der Konstanz habe ich innerlich auch schon vergeben; in Ermangelung eines besseren Wortes bezechnen wir die Begriffe deshalb im weiteren als permanent.

Die Begriffe sind also Wissungen noch vor jedem Gebrauch; wir tun nichts mit ihnen oder sie erfüllen als Begriffe keinen Zweck; wir haben sie oder können darüber verfügen.

 

ad(2):

Tun wir letzteres, nutzen wir unsere Begriffe, so werden sie zu Vorstellungen. Dabei bleiben die Wissungen fest in unserer Hand, das heißt, restlos abhängig von uns, unserem Vorstellen oder Leben. „Hinter“ jeder Vorstellung, hatten wir oben gesagt, steht notwendigerweise das Vorstellen als eine Facette des Lebens, von dem bzw. der jene abhängt.

Vorstellungen sind Anschauungen und damit an die Anschauungsformen gebunden. Mit Kant gehen wir davon aus, daß ausnahmslos alle Vorstellungen in der Synchronie sein müssen und zudem viele von ihnen – diejenigen, die den physikalischen Kosmos bilden  – im Raum.

Sich in der Synchronie zu befinden, bedeutet, (un)veränderlich – veränder- oder unveränderlich – zu sein.

 

Es gibt Vorstellungen, die wir akzeptieren, annehmen oder bejahen; gegebenenfalls zum Beispiel die Evolutionstheorie. Andere lehnen wir ab; den Elefant auf der Schildkröte etwa. Die geglaubten Vorstellungen bilden in ihrer „Gesamtheit“ unser Weltbild.

Zum einen existiert diese Gesamtheit natürlich nicht, denn wir können uns immer nur Teile davon vorstellen; im Prinzip schon alle, aber nicht zugleich.  

Und zum anderen war meine Formulierung soeben auch unsauber: Daß es Elefant und Schildkröte nicht gibt, gehört natürlich auch zu unserem Weltbild, denn wer gar nichts von den beiden weiß, hat ein etwas anderes

Der Begriff des Wetbilds ist also schwieriger, als wir vielleicht erwartet hatten. Trotz seiner Unschärfe spielt er in unseren Überlegungen jedoch ein wichtige Rolle. 

 

ad (3):

Denkwerkzeuge sind und bleiben völlig abhängig von uns; wir müssen sie nicht nutzen. Tun wir es jedoch, so widerspricht es ihrer Abhängigkeit keineswegs, daß die Wissungen eine Eigendynamik entfalten können. Wir entscheiden uns für sie und erleben möglicherweise – gute oder böse – Überraschungen.

Im Sinne nachstehender Tabelle betrachten wir im weiteren die Vorstellungen als Objekte ohne und die Aktanten als Objekte mit Eigendynamik. Letztere meint nicht, daß sich die Aktanten bewegen oder verändern; das tun alle Objekte. Die Eigendynamik der Aktanten bedeutet vielmehr, daß sie wechselseitig aufeinander wirken. Das stellt überhaupt kein Problem dar, weil Aktanten als (spezielle) Wissungen zwar diskret, aber weder von uns noch voneinander getrennt sind.

Objekte fungiert somit lediglich als Oberbegriff für Vorstellungen sowie Aktanten, die natürlich kontinuierlich ineinander übergehen können und damit den beiden Grenzfällen der Objekte entsprechen.

 

 

Gewußtes – Wissungen oder Denkwerkzeuge
wirklich
           
Begriffe     Objekte    
———–     synchron
   
           
  Vorstellungen   Aktanten  
  Eigendynamik     Eigendynamik
 
      wechselseitiges aufeinander Wirken
      kontingent determiniert

Abbildung 2.8.-1

 

„Eigendynamik trotz radikaler Abhängigkeit“ könnte Sie aufstoßen; ich beginne meine Erläuterungen deshalb mit einem Beispiel.

Es gab und gibt vielleicht auch noch Kulturen, in denen die Angehörigen jeden Morgen bestimmte Riten praktizieren müssen, damit sich der Sonnen-Gott X wieder zeigt oder ihnen wohlgesonnen ist. Er ist dann doppelt abhängig von diesen Menschen:

Zum einen benutzen sie X als Denkwerkzeug; vielleicht ist das in ihrem Stamm alternativlos, aber mit diesem Gedanken verstellen wir uns den springenden Punkt: Der besteht wie immer darin, daß es X gar nicht gäbe, wenn er nicht als Denkwerkzeug genutzt würde.

Zum anderen ist der Sonnen-Gott X darauf angewiesen, daß die entsprechenden Riten ordentlich vollzogen werden, Da er ohne sie nicht erscheinen kann, lastet auf den Stammesangehörigen eine gewaltige Last und Verantwortung.

 

Wir haben den Sonnen-Gott hinter uns gelassen und nutzen als Denkwerkzeug stattdessen die Relativbewegung von Sonne und Erde – alles im heutigen Verständnis.

Die erste Abhängigkeit bleibt natürlich – wie immer – bestehen; auch diese Vorstellung gäbe es ohne uns nicht.

Aber wir müssen nicht mehr dafür sorgen, daß die Sonne jeden Morgen wieder erscheint, sondern sie geht vollautomatisch auf, weil dieses Denkwerkzeug eine Eigendynamik entwickelt und damit zu einem Aktanten geworden ist.

 

Dieser neue Begriff spielt eine dominante Rolle in Bruno Latours „Neuer Soziologie für eine neue Gesellschaft“, und wir benutzen ihn weitgehend in seinem Sinne.

Als Verallgemeinerung unseres Beispiels ließe sich etwa definieren:

Aktanten sind

– von uns abhängige – Wissungen oder Denkwerzeuge, die

   – eine Eigendynamik entwickeln,

   – dadurch unabhängig von uns zu sein scheinen und

   – uns als materiell, substanziell oder stofflich erscheinende Dinge begegnen.

2.8.1. Die subjektive Welt

Die Tradition geht von einer objektiven Welt aus; wir versuchen zu vermitteln und gestehen jedem Subjekt seine eigene subjektive Welt zu, die aus seinen Aktanten besteht.

Da sie erst im Verlaufe des jeweiligen Lebens generiert wird, kann diese Welt natürlich nicht „vorhanden sein“ oder „existieren“. Die Tradition behauptet das zwar von ihrer Welt, aber sogar schon lange vor Kant haben kritische Denker festgestellt, daß eine solche Seins-Annahme sinnleer, weil völlig unverständlich oder nichtssagend ist.

Wir lösen also ein traditionelles Problem, das weitestgehend gar nicht als solches erkannt wird, indem wir auf eine unnötige Behauptung verzichten.

 

Ohne Begriffe gibt es weder das Weltbild mit seinen Vorstellungen noch die Welt mit ihren Aktanten; jene ermöglichen diese beiden.

Das Weltbild hängt natürlich immer – sowohl traditionell als auch postmodern – von der Welt ab.

Aber wir ergänzen oder vervollständigen diese Einbahnstraße zu einem Kreis, indem die Welt auch vom Weltbild abhängt.

 

———→

Welt      Weltbild

←———

Begriffe

 

Da der zweite Halbkreis sehr unerwartet kommen dürfte, versuche ich, ihn duch eine „Verführungstheorie“ zu plausibilisieren:

Es ist unheimlich verführerisch, „hinter“ – vielen von – unseren Wissungen Wirkliches zu vermuten.

Wir geben diesem Drang – mit der Tradition – nach, behalten aber – entgegen der Tradition – im Hinterkopf, daß wir uns verführen lassen haben und somit das Ergebnis zwar ernst nehmen müssen, aber nicht zu einer Welt von Seienden aufbauschen dürfen

So werden die Seienden der objektiven Welt zu den Aktanten der eigenen subjektiven Welt, die wie Seinde wirken aber keine – und damit auch nicht „vorhanden“ – sind.  

 

Die Aktanten sind keine Referenten der Wissungen; sie bilden nicht das Wovon der letzteren, sondern sind selbst Wissungen – Objekte mit Eigendyamik.

Und schließlich lassen sich die Aktanten auch nicht als Projektionen verstehen, weil gar keine Sphäre, in die wir sie „projizieren“ könnten, existiert, sondern diese ebenfalls nur einer Wisssung – speziell Vorstellung – entspricht.

 

Mathematische sowie logische Wissungen dürften wissenschaftlich nur als Begriffe genutzt werden. Das gelingt uns ganz schlecht, und wir können kaum anders als zu entsprechenden Vorstellungen überzugehen, was uns das Denken enorm erleichtert – aber dann keine Mathematik bzw, Logik mehr darstellt.

Bei anderen abstrakten Wissungen sind Vorstellungen dagegen wünschenswert oder sogar notwendig. Was nutzen uns die Begriffe Demokratie, Magnetismus oder Vogelflug, wenn wir mit ihnen keine Vorstellungen verbinden können?     

Diejenigen Wissungen schließlich, die aus dem traditionell-modernen Kosmos der Physiker hervorgehen – Gestirne, Billardkugeln, Kieselsteine beispielsweise –, gibt es natürlich als Begriffe, Vorstellungen und Aktanten.

Ohne Begriffe existieren gar keine Wissungen, und ohne Vorstellungen keine Aktanten

 

Über die Vorstellung namens „Mauzi“ herrschen wir; aber Mauzi ist ein Aktant und macht, was sie will.

Vorstellungen besitzen und Aktanten sind keine Referenten, aber zu jedem Aktant A gibt es auch die Vorstellung A, so daß wir letztere jederzeit mit „ihrem“ Aktanten vergleichen können.

 

Daß auch die subjektive Welt – wie alle Objekte – der Synchronie angehört, hätte ich sicherlich nicht mehr erwähnen müssen. Die Begriffe sind die einzigen Wissungen, für die das wegen ihrer Permanenz nicht gilt.

2.8.2. Postmoderner Determinismus

Ohne objektive Welt entfällt auch der Determinismus der Seienden. Wenn letztere zu den Aktanten einer subjektiven Welt werden, müßte sich ihr Determinismus auf diese übertragen

Das tut er auch, erhält dabei aber eine ganz andere Bedeutung: 

Determinierte Aktanten sind keine, deren Verhalten in der Synchronie vorherbestimmt ist – unabhängig davon, ob wir es wissen oder nicht. Das wäre ein Widerspruch, denn Aktanten sind doch nur Wissungen – und nicht deren Wovon.

Es gibt mit anderen Worten nur entweder gewußtes Verhalten oder gar keines, denn auch das Verhalten der Aktanten muß in Wissungen bestehen.

 

AD: „Ich würde vorschlagen:

Determinierte Aktanten sind Wissungen oder Objekte, deren Eigendynamik uns 100%-ig bekannt ist, was jegliche Überraschung durch diese Aktanten ausschließt.“

Ich glaube, so geht es auch noch nicht:

Eine Eigendynamik, die uns x%-ig bekannt ist, besteht nicht in Wissungen, sondern bildet deren Wovon; wir wissen von ihr.

 

Wir greifen auf den vorhergehenden Abschnitt zurück:

Dort hatte sich gezeigt, daß es keine Aktanten gibt ohne ihre Vorstellungen.

Wir können die beiden also jederzeit miteinander vergleichen, und die determinierten Aktanten sind diejenigen, bei denen die zwei Objekte – Aktant und Vorstellung – stets übereinstimmen.

Bei indeterminierten oder kontingenten Aktanten können dagene beliebig große Differenzen und somit auch – gute sowie böse – Überraschungen auftreten.

Der Mond ist determiniert, Mauzi kontingent.

 

AD:  „Also vergleichen wir jetzt – gewissermaßen durch die Hintertüre – doch noch das Abbild mit dem Urbild?“

Nein; wir vergleichen zwei Bilder, denn Wissungen sind Bilder – ohne „Ur-“ und „Ab-„. Das ist aber keineswegs bloßes Wortgeklingel, denn Aktant und Vorstellung wirken wechselseitig aufeinander oder beeinflussen sich gegenseitig, so daß stets völlig offen bleibt, ob wir bei Differenzen den Aktanten, die Vorstellung oder beide korrigieren sollten.

Befindet sich beispielsweise der Mond nicht dort, wo wir ihn errechnet haben, muß traditionell die Physik geandert werden. Das ist  natürlich auch bei uns möglich; zusätzlich können wir aber auch den Mond durch einen anderen Aktanten ersetzen. 

 

Aber natürlich haben Sie den Finger in die Wunde gelegt!

Das traditionelle Grundproblem besteht, wie wir gesehen haben, darin, daß Seiende andere Seiende wahrnehmen müßten, die für sie gar nicht existieren (können); darin scheint mir ein absolutes Unding zu bestehen.

Ein solches Wahrnehmen benötigen wir nicht (mehr); aus ihm wird bei uns das soeben beschriebene Vergleichen zwischen unseren Vorstellungen und verschiedenen – Möglichkeiten von – Aktanten

 

Ein sehr schönes Beispiel zum Verdeutlichen bildet der neuzeitliche Übergang von der Erdscheibe zur Erdkugel; beides sind – Möglichkeiten von – Aktanten.

Die Tradition geht von einer objektiv-realen Erdkugel und naiven Vorfahren aus, die sich von den Ebenen der Savannen und Meere haben täuschen lassen.

Wir würden dagegenhalten, daß die Menschen ihre Vorstellungen mit dem bisherigen Aktanten Erdscheibe und dem erfundenen Aktanten Erdkugel verglichen haben. Als optimale Lösung im Sinne eines „Best Account“ (Charles Taylor) ergab sich dabei die Taktik

– eigene Vorstellungen zu andern und

– den alten Aktanten durch den vorgeschlagenen zu ersetzen.

 

AD:  „Mir kommt gerade ein irrer Gedanke in den Sinn:

Traditionell stehen Freiheit und Determinismus gegeneinander; das führt so weit, daß heute noch nicht wenige Autoren die Existenz der Freiheit bestreiten, weil sie (an) eine im wesentlichen materielle Welt glauben, die so stark determiniert ist, daß dies jegliche Freiheit verunmöglicht.

Bei Ihnen scheint das umgekehrt zu sein: Je mehr Determinismus – desto mehr Freiheit.“

Ja; das ist richtig.

Wir hatten schon wiederholt darauf hingewiesen, daß es ohne Wissungen gar keine Freiheit gibt, weil wir die Etwasse brauchen um etwas wollen, ablehnen, wählen, entscheiden usw. zu können. Das ist wohl richtig, aber nur die halbe Wahrheit.

Zudem und genau so dringend benötigen wir auch ein entsprechendes Know-how, um das intendierte Etwas erreichen zu können; das Rezept für den gewünschten Gänsebraten etwa.    

Je stärker unsere Aktanten determiniert sind, um so zuverlässiger ist das Know-how.

Schwankt die Temperatur der Bratröhre sehr massiv um den eingestellten Wert, mißlingt der Gänsebraten vielleicht.

 

Ein Auto stellt einen Aktanten dar, der kaum determiniert ist; es kann unter anderen fahren, rosten, verunglücken, geblitzt oder verkauft werden, seien Geist aufgeben, dem TÜV zum Opfer fallen und mich überfahren.

Hätte ich als Aktant nicht „Auto“ gewählt, sondern „Roboter-Sicherheits-Auto“, hätte es mich unmöglich überfahren können.

AD:  „Darf ich bitte korrigieren:

Das hätte es natürlich trotzdem können, aber Sie wären sich sehr sicher gewesen, daß dies höchstwahrscheinlich nicht geschehen wird.“

Ja; wir haben wohl beide Recht, weil es einen fließenden Übergang von Ihrem „höchstwahrscheinlich nicht“ zu meinem „unmöglich“ gibt.

 

Aber an dieser Stelle verstehen wir en passant, worin der Wunder-Aberglaube besteht:

„Aufgrund unserer determinierten Aktanten war vollkommen eindeutig, was geschehen muß – und es kommt dennoch ganz anders.“

Hier werden nicht die Gesetze einer traditionell-objektiven Welt durchbrochen, sondern wir haben uns in den eigenen Wissungen getäuscht und müssen entweder die Aktanten oder unsere Vorstellungen korrigieren:

Wenn es mich doch überfahren hat, war es entweder gar kein Roboter-Sicherheits-Auto, oder selbst diese arbeiten doch nicht absolut fehlerfrei

2.8.3. "Hohlwelttheorie"

AD:  „Darf ich bitte nochmas auf den letzten Abschnitt zurückkommen. Sie schrieben dort, ‚daß die Menschen ihre Vorstellungen mit dem bisherigen Aktanten Erdscheibe und dem erfundenen Aktanten Erdkugel verglichen haben‘.

Hier wurde meines Erachtens nichts erfunden; wir sehen doch von der Raumstation aus, daß die Erde tatsächlich eine Kugel ist!“

Nein; das nehmen sicherlich sehr viele Menschen an, stimmt aber trotzdem nicht. Zum Beispiel läßt sich prinzipiell durch kein Experiment entscheiden, ob die Erde ein Voll- oder eine Hohlkugel ist. Bei letzterer befindet sich der Untergrund mit den Bodenschätzen sowie der Lava außen, und den Hohlraum füllt die Atmosphäre mit dem Sternenhimmel darüber.

 

Es läßt sich relativ leicht zeigen, daß ausnahmslos alle Experimente bei beiden Erd-Modellen – der Voll- bzw. Hohlkugel – zu exakt den gleichen Ergebnissen führen und folglich prinzipiell nicht zwischen ihnen entschieden werden kann. Sämtliche Resultate des einen Modells stimmen exakt mit den entsprechenden Messungen im anderen überein

Das lieget daran, daß wir durch eine mathematische Spiegelung an der Kugel die beiden Modelle exakt ineinander überführen können. Das ist eine konforme Abbildung, die das Kugelinnere so in ihr Äußeres transformiert und umgekehrt, daß Winkel identisch bleiben, Geraden in Geraden übergehen usw.

 

Eben weil sich dies so verhält, ist auch eine eindeutige Entscheidung für dieses und gegen jenes Modell ausgeschlossen. Ergibt sich beispielsweise, daß ein bestimmter Winkel in dem einen Modell 37º betragen muß, dann verhält es sich in dem anderen exakt ebenso.

Wegen seiner Einfachheit und Gewöhnung sowie aus denkökonomischen oder weiteren rein pragmatischen Gründen sollten wir unbedingt die Dreckkugel-Variante beibehalten – aber wir dürfen sie weder als wahr noch als Erkenntnis ausgeben.   

(Für eine seriöse Auseinandersetzung mit dem Thema empfehle ich Ihnen Roman Sexl, einen leider sehr früh vestorbenen Theoretischen Physiker aus Österreich.)

 

Vor 100 Jahren behaupteten unseriöse „Hohlwelttheoretiker“ – die mit unseren Überlegungen aber auch gar nichts zu tun haben –, das Weltall befände sich wirklich im Hohlraum der Erde. Das ist natürlich Unsinn; sie betrachteten ihre Darstellungsweise – die als solche tatsächlich möglich ist – irrtümlich als Wissen von der objektiven Welt.

Aber wenn wir im Brustton der Überzeugung als „Vollkugeltheoretiker“ auftreten und wissen, daß das Weltall außen ist, begehen wir natürlich exakt den gleichen Fehler – nur auf der „Gegenseite“.

Das sind lediglich Beschreibungsweisen – analog zu denen unseres Sonensystems durch Ptolemäus bzw. Galilei –, die alle ihre Vor- und Nachteile, aber nichts mit einer angeblichen Wirklichkeit zu tun haben. 

 

Gäbe es tatsächlich eine objektiv-reale Erde, so würden Voll- oder Hohlkugel eine ausschließende Alternative bilden – keine vollständige wegen der ebenfalls möglichen Scheibenform beispielsweise. Dann könnten sich die jeweiligen Parteiungen sinnvoll streiten, weil höchstens eine von ihnen im Recht wäre. 

Ohne objektive Welt bleiben jedoch nur – mehr oder weniger geeignete – Wissungen.

2.8.4. Was macht Wissungen zu Aktanten?

AD:  „Das einseitige Wahrnehmen oder Abbilden von Seienden in der Tradition wird bei uns zu einem wechselseitigen Vergleichen von zwei Bildern; beide sind Wissungen, speziell Objekte.

Angenommen Sie möchten den Aktanten korrigieren; woran erkennen Sie bei dieser Symmetrie, welches der zwei Bilder der Aktant ist?“

Mit der Frage hatte ich nicht gerechnet; Chapeau!

 

Die Tradition geht davon aus, daß die Seienden des  physikalischen Kosmos alle aus etwas bestehen; aus Materie, einer Substanz oder einem Stoff.

Da Aktanten nicht – „vorhanden“ – sind, können sie auch nicht aus etwas bestehen. Ich meine damit keineswegs, sie beständen aus nichts, sondern will vielmehr ausdrücken, daß sich das Denkwerkzeug des Bestehens-aus auf sie – wie auf alle Wissungen – nicht anwenden läßt.

Unsere Aktanten sind zwar die „Nachfahren“ der Seienden, aber mit Materie, Substanz, Stoff oder ähnlichem können wir gar nichts anfangen; sie werden bei uns ersatzlos gestrichen.

 

AD:  „Wollen sie damit sagen, eine Billardkugel bestände nicht aus Holz?“

Das hängt davon ab, wie sie Ihre Aussage verstehen – lax oder wörtlich.

Holz, Gold, Wasser usw. sind weder Materie oder Substanzen im traditionellen Sinne noch Stoffe im alltäglichen, sondern Eigenschaften: Wir sagen nur, die hölzerne Kugel „sei aus Holz“ und die goldene Kette „aus Gold“; beides entspricht einem wässrigen Kaffe. 

Die „Substanz“ eines Apfels ist sein Fruchtfleisch; das ist die Eigenschaft, die ihn fruchtig schmecken läßt.

Der Eiffelturm ist hoch, braun und eisern; aber er besteht ebensowenig aus Eisen wie aus Höhe oder Bräune.

 

Zurück zu Ihrer Frage; meine Antwort benötigt zwei kleine „Vorworte“.

Zum einen sind Aktanten – im Unterschied zu den Vorstellungen – dadurch ausgezeichnet, daß sie eine Eigendynamik entwickeln, das heißt, aufeinander wirken.

Wir müßten uns also vorstellen, daß in unserem und durch unser Leben eine Genese der Wissungen erfolgt, von denen einige – eben die Aktanten – die sich selbst stabilisierende oder tragende Untergruppe der subjektiven Welt bilden. 

Zu ihr oder den Aktanten gehören auch die Körper von uns Subjekten; insbesondere also auch der eigene.

 

Zum anderen wirken sämtliche Wissungen – zumindest ein ganz klein wenig – auf uns; sie lassen uns frösteln oder wütend werden, erregen uns und machen uns traurig oder glücklich; selbst nach Träumen können wir schweißgebadet sein. Aktanten tun das auch, da sie ja zu den Wissungen gehören.

Aber all das spielt zwischen letzteren und uns als Subjekten; wir wissen die Wissungen, und diese wirken auf uns zurück; die Körper spielen dabei gar keine Rolle.

 

Bei Aktanten kommt noch ein ganz anderer Einfluß hinzu – und das wäre endlich meine Antwort auf Ihre Frage.

Aktanten sind nicht materiell, substanziell oder stofflich, sondern wechselwirken mit unseren Körpern, die ja selbst Aktanten darstellen.

Nochmals ganz deutlich:

Sämtliche Wissungen wechselwirken mit uns Subjekten; wir wissen sie, und sie beeinflussen uns, wobei beides dem eigenen Leben angehört oder Facetten an ihm entspricht

Lediglich die Aktanten wechselwirken zusätzlich noch mit unserem Körper, und das geschieht in der subjektiven Welt.

 

Was geschieht also bei unserem Übergang zu den Aktanten?

1. Die Urbilder entfallen, und mit ihnen natürlich auch die Abbilder.

2. Die beiden werden gemeinsam durch die Aktanten ersetzt, die sich bereits „innen“ befinden, so daß kein Abbilden mehr nötig ist.

3. Dort sind auch die Vorstellungen, so daß wir problemlos zwischen ihnen und den Aktanten vergleichen können.

4. Der Unterschied zwischen „adäquaten Abbildern“ und „sonstigen Vorstellungen“ entfällt natürlich – ohne Ur- und Abbilder.

5. Auch ist das „Innen“ kein Innen mehr, weil das zugehörige Außen fehlt.

 

 

Tradition
    unser Ansatz  
        Wissungen    
Urbilder außen
       
      – Aktanten  

 

Wahrnehmen

ist

Vergleichen

Abbilder innen
   

 

„innen“ ohne außen

       
Vorstellungen innen
  – Vorstellungen  

Abbildung 2.8.4.-1

 

Mein bzw. Latours Lieblingsbeispiel zum Veranschaulichen dieser Wirkung der Aktanten auf unseren Körper bildet der „Berliner Schlüssel“:

Zwischen den beiden Weltkriegen sollten in Berlin abends alle Haustüren nach dem Passieren wieder verschlossen werden; aber das tut nicht jeder. Um es zu erzwingen, dachte sich ein Knobler diesen genialen Aktanten aus.

Man steckt ihn in das Schloß, öffnet, kann den Schlüssel danach aber nicht mehr abziehen; das geht erst, nachdem wieder zugesperrt wurde. Wer die Türe durchqueren will, muß dies also vor dem Verschließen tun. Dann ist der Schlüssel aber auf der jeweils anderen und damit falschen, weil unerreichbaren Seite.

Man kann den Berliner Schlüssel jedoch durch das Schloß hindurch auf die Gegenseite schieben. Nachdem das getan ist, passiert man die Türe, erreicht den Schlüssel wieder und muß nur noch zusperren, um ihn endlich abziehen zu können.

 

Moderne Autos starten nicht, wenn wir nach Alkohol riechen oder den Sicherheitsgurt nicht angelegt haben.

Hotels beschweren Zimmerschlüssel oder nutzen Karten zum Öffnen, die zugleich für den elektrischen Strom benötigt werden, damit wir sie nicht vergessen.

Bremskissen zwingen uns, den Fuß vom Gaspedal, und elektrische Weidezäune, die Hand vom Draht zu lassen.

Alle Selbstbedienungsautomaten diktieren unserem Körper, was er zu tun hat; die Reihe der Beispiele ließe sich nahezu beliebig fortsetzen.

 

Oben hatte ich geschrieben, wir müßten die Aktanten ernstnehmen, zugleich aber auch im Hinterkopf behalten, daß es nur Aktanten und keine Seienden sindsie also auch nicht aus irgendetwas bestehen können.

Das verstehen wir jetzt bereits besser:

Das Brett wirkt auf meinen Körper, wenn ich mit dem Kopf dagegen renne; dazu muß es nicht „aus Holz sein“.

Brett und Körper stoßen in meiner subjektiven Welt zusammen; aber weh tut es mir als Subjekt im Leben.

2.8.5. Rein subjektiv – relativ intersubjektiv – absolut intersubjektiv – objektiv

Wenn Aktanten auf unsere Körper wirken (können) – auf Ihren und auf meinen –, müssen sie relativ intersubjektiv sein; Elefant oder Ameise merken das Brett von soeben vielleicht gar nicht.

Versuchen wir, diesen neuen Begriff in unseren größeren Zusammenhang einzuordnen.

 

Die Tradition kennt mit der Welt eine immanente und mit Gott – eventuell – eine transzendente Objektivität.

Wir verstehen beide nicht, weil niemand weiß, worin ihr Es-gibt oder (Vorhanden-)Sein bzw. ihre Existenz bestehen könnte. Das spielt aber auch keine Rolle, weil wir keinerlei Objektivität voraussetzen oder benötigen.   

Die Welt entfällt für uns vollständig, und ein objektiv seiender Gott-an-sich wäre ab-solut – los-gelöst bzw. getrennt von uns – und damit inexistent für uns; er könnte also gar nicht in Erwägung gezogen werden.

Das wäre anders bei einem Gott-für-uns; der ist aber nicht objektiv, sondern absolut intersubjektiv.

 

Der Gott-für-uns existiert für alle Subjekte, Aktanten dagegen nur für mehr oder weniger viele; deswegen betrachten wir sie als relativ intersubjektiv.

Sowohl unser Leben als auch seine zugehörigen Vorstellungen sind rein subjektiv.

Diese beiden Eigenschaften fassen wir im Subjektiven zusammen.

 

Mit Hilfe unseres Bewußtseins-Begriffs können wir das Ganze recht anschaulich erklären:

– Das Objektive benötigte – sofern es existierte – keinerlei Bewußtsein.

– Das absolut Intersubjektive befindet sich exakt übereinstimmend in jedem Bewußtsein.

– Das relativ Intersubjektive ist in einigen Bewußtseinen enthalten.

– Das rein Subjektive gehört nur meinem eigenen Bewußtsein an.

 

 

Bewußtsein
Transzendenz Immanenz
    Wissungen
    Objekte  
  Leben Vorstellungen Aktanten Begriffe
         
absolut intersubj. subjektiv
  rein subjektiv relativ intersubjektiv
bewußt gewußt
unverfügbar partiell verfügbar verfügt
verfügbar

Abbildung 2.8.5.-1

2.8.6. Sprachspiele

AD:  „Jetzt werden Sie einem Ihrer wichtigsten Grundsätze untreu!

Lassen wir das absolut Intersubjektive bitte einmal beiseite; die Transzendenz war noch gar nicht unser Thema. Sie unterscheiden innerhalb des Subjektiven zwischen ‚rein subjektiv‘ und ‚relativ intersubjektiv‘. Aber wie sollten wir feststellen können, ob sich etwas nur in meinem oder – zufällig – auch in einem anderen Bewußtsein befindet, wenn jedem von uns nur sein eigenes Bewußtsein zugänglich ist?“

 

Es ist schön, wie Sie mitdenken!

Das stellt in der Tat ein Riesenproblem dar, dessen sich die meisten Menschen überhaupt nicht bwußt sind, weil sie wie selbstverständlich traditionell denken, und sich die Frage nach einer relativen Intersubjektivität damit gar nicht stellt.

Für die Tradition gibt es nur

– das Objektive in seiner Wirklichkeit,

– seine adäquaten Abbilder in ihrer Wahrheit

– sowie das Innenleben und Abbild-Fehler mit ihrer (reinen) Subjektivität.

 

Der von Ihnen erkannten Schwierigkeit widmete sich als einer der ersten Ludwig Wittgenstein mit Verve; seine Lösung besteht in den „Sprachspielen“.

Warum Sprach-Spiele?

Sprach-Spiele, weil es ohne Sprache keine Wissungen und damit auch keine Aktanten gibt.

Sprach-Spiele, weil es ohne Spielen bzw. Handeln kein Wechselwirken der Aktanten gibt.

 

Wittgenstein einfachstes Beispiel sind die Bauarbeiter.

Der Meister sagt, welche Elemente – Würfel, Säule, Platte bzw. Balken – er als nächstes benötigt, und der Geselle bringt sie ihm daraufhin. Dieses Sprachspiel funktioniert, wenn die folgenden beiden Bedingungen erfüllt sind:

1. Zu den Welten der beiden Subjekte Meister und Geselle gehört eine relativ intersubjektive, das heißt, gemeinsame Partialwelt.

2. Zu ihr zählen acht Elemente; die vier Wort-Aktanten „Würfel“, „Säule“, „Platte“ und „Balken“ sowie die vier Baustein-Aktanten Würfel, Säule, Platte bzw. Balken.

 

Aber das genügt noch nicht, denn die relativ intersubjektive Partialwelt der beteiligten Subjekte bildet nur die notwendige Voraussetzung für das Gelingen ihres Sprachspiels.

Zusätzlich muß auch die hinreichende erfüllt sein; sie besteht darin, daß beide Subjekte – als Fecette – in ihrem Leben das Sprachspiel

– verstehen können und

– realisieren wollen.

 

AD:  „Wenn zu den Sprachspielen, die die relative Intersubjektivität von Bewußtseinsinhalten nachweisen, das Spiel genauso gehört wie die Sprache, verstehe ich nicht, wie die Begriffe relativ intersubjektiv sein können – ganz ohne Spiel.“

Das wäre in der Tat unverständlich, wenn Ihr „ganz ohne Spiel“ stimmen würde.

 

Die Begriffe sind Wissungen, hat sich bisher gezeigt, die uns zur Verfügung stehen, die wir nutzen können oder einfach haben. Als Begriffe wenden wir sie noch nicht an; geschieht das, werden aus ihnen Objekte – Vorstellungen oder Aktanten.

Wir hätten unsere Unterteilung der Wissungen also auch mit dem rein Subjektiven sowie partiell Intersubjektiven beginnen und letzteres nochmals in die verfügbaren Begriffe bzw. die (bereits) verfügten Aktanten zerlegen können. 

 

Auch die Begriffe gehen aus einem Sprachspiel hervor; dieses unterscheidet sich bei ihnen von demjenigen der Aktanten jedoch in zwei Hinsichten, und das ist endlich meine Antwort für Sie:

Bei den Begriffen

– hat das Spielen oder Handeln die spezielle Form des Sprechens und

– gehört das Sprachspiel nicht zum Anwenden, sondern zum Erlernen der Wissungen.

2.9. Das subjektive Leben mit seinen räumlichen und diachronen Facetten

Die Wissungen sind diskret, aber weder voneinander noch von uns getrennt, so daß die traditionelle Problematik der Inexistenz nicht auftritt. Aber dadurch können wir die Wissungen auch nicht als Elemente von Mengen betrachten. Ihre „Gesamtheiten“ – Symbolisches, Welt bzw. Weltbild – sind keine mathematisch sauber definierten Mengen. 

Bei den Facetten wird es noch schwieriger, denn sie stellen keine – diskreten – Bestandteile des Lebens dar, sondern gehen kontinuierlich ineinander über. Sie können nur herausgepickt werden, indem wir die Facette A am eigenen Leben vom „Rest“ unterscheiden. Tun wir das nicht, so existiert sie auch nicht, und der „Rest“ ist auch kein non-A, denn Negationen sind nur innerhalb der Wissungen möglich

Es wäre trotzdem falsch zu sagen, das Leben bestände aus nichts; richtig ist dagegen, daß sich das Denkwerkzeug des Bestehens-aus auf das Leben nicht anwenden läßt; das ist etwas anderes.

 

 

Symbolisches
Welt
Weltbild
   
   
Bewußtsein  
Gegenwart  
         
Gewußtes
Bewußtes  
Wissungen Leben  
       
Begriffe
Objekte    
 
   
Begriffe
Aktanten Vorstellungen Facetten  
         
————-
im Raum im Raum räumlich  
————- in der Synchronie in der Synchronie diachron  
permanent
(un)veränderlich
(un)veränderlich ————-  
         
  diskret
  kontinuierlich
 
  unterschieden   unterscheidbar  
  negierbar   nicht negierbar
 
  veranderlich
  ————-  
näherungsweise konstant innerhalb der Gegenwart
————-  
  reversibel   =   irreversibel
 
  verfügbar   =   partiell verfügbar  
  wiederholbar
  (ge)erstmalig(t)
 

Abbildung 2.9.-1

 

Wir gehen mit Kant davon aus, daß sich – in unsere Sprache übersetzt – sämtliche Aktanten der Welt in der Synchronie befinden und einige von ihnen – die „materiellen“ – zudem noch im Raum.

Beim Weltbild stimmt beides nur für die angenommenen, akzeptierten oder bejahten Vorstellungen. Einhörner sowie Teufel besitzen keine Stelle in der Raum-Synchronie, denn hierbei geht ja um ihre Existenz und nicht um die Frage, wo und wann Menschen (an) sie geglaubt haben.

 

Warum sind Raum und Synchronie so wichtig? Es gibt kaum tiefgründige philosophische Arbeiten, in denen diese beiden Themen überhaupt keine Rolle spielen.

 

Meine Antwort scheint mir fast zu einfach, um richtig sein zu können:

Unser Leben spielt nicht im Raum – ist aber räumlich.

Und es spielt auch nicht in der Zeit Synchronie – ist aber zeitlich diachron.

Zum Leben gehört – als eine Facette – beispielsweise das Laufen, und wir werden kaum bestreiten wollen, daß es ebenso räumlich wie zeitlich diachron erfolgt. Weitere deutliche Beispiele bestehen im Atmen, Schmerzen oder Entspannen.

Aber für das Räumliche ist kein Raum und für das Zeitliche die Diachronie keine Zeit Synchronie erforderlich; natürlich nicht, denn für das Leben benötigen wir – im Prinzip – keine Wissungen.

Raum und Synchronie sind Denkwerkzeuge, mit deren Hilfe wir versuchen, das Räumliche bzw. die Diachronie in den Griff zu bekommen.

 

AD:  „Ich dachte, es seien Anschauungsformen . . .“

Ja; aber das bedeutet keinen Widerspruch.

Einerseits geschieht alles nur noch in der Raum-Synchronie, sowie wir uns das räumlich-diachrone Leben vorstellen – wollen.

Andererseits lößt sich aber – wie das Beispiel zeigt – trotzdem mit diesen beiden Begriffen auch denken.

 

Menschen denen ein Bein amputiert wurde – mein Paradebeispiel –, spüren es möglicherweise immer noch – räumlich. Setzen wir sie unmittelbar an eine Zimmerwand, so daß das fehlende Bein – wenn es noch da wäre – die Wand durchstoßen müßte, ändert sich absolut nichts an ihrem räumlichen Befinden.

Im Raum – mit den Aktanten Bein und Wand – wäre das unmöglich; aber das Räumliche ist primär und existiert auch ohne seine mehr oder weniger unvollkommene Erklärung im Raum.

 

Noch ein Wort zu den letzten drei Zeilen unserer Abbildung:

Wissungen können wir jederzeit wiederholen; das macht sie reversibel.

Narürlich ist dieses „jederzeit“ übertrieben; es geht nicht um die Ewigkeit. Unsere Wissungen verdanken sich einer diachronen Genese, die sie entstehen und vergehen läßt, so daß sie für eine bestimmte „Dauer“ (Henri Bergson) näherungsweise konstant sind.

Diese Dauer ist es, die wir oben als (diachrone) Gegenwart eingeführt haben; damit läßt sich korrigieren:

Wissungen können wir in der Gegenwart wiederholen, weil sie die Dauer darstellt, während derer die Wissungen näherungsweise konstant sind; das macht sie reversibel.

 

Wiederholbarkeit bedeutet Verfügbarkeit, und deshalb sind die Wissungen – für die Dauer der Gegenwart – verfügbar.

Alle Wissungen stellen Wiederholungen dar, denn nur sie können wir wissen. Ein gewußtes Erstmaliges ist ein Widerspruch in sich.

Aber ohne Erstmaligungen kann es auch keine Wiederholungen, das heißt, keine Wissungen geben. Jene sind also

– notwendig für die Wiederholungen, aber

– als Erstmalig(ung)en prinzipiell unwißbar.

Demzufolge muß das Leben im Erstmaligen bestehen.

Das bedeutet, daß es irreversibel ist; muß es auch unverfügbar sein?

 

AD:  „Nein; das Leben ist nicht unverfügbar. Ich habe zum Beispiel Schmerzen im Unterleib, gehe zum Arzt, der diagnostiziert eine Blinddarmentzündung, operiert mich – und ich ‚verfüge darüber, weiterleben zu können‘.“

Ja; das Leben im Paradies ist wegen der fehlenden Freiheit absolut unverfügbar, so daß wir nicht ganz glücklich damit sind.

Durch unsere Wissungen werden wir ver-rückt und koinzidieren folglich nicht mehr mit uns selbst sowie dem eigenen Leben – mit James‘ „unsichtbarer Ordnung“ oder Whiteheads „etwas“. Aber zugleich gewinnen wir durch dieses Ver-rückt-Sein ein wenig Freiheit, und das bedeutet insbesondere eine partielle Verfügbarkeit über das Leben.

 

Dafür, daß uns die De-Koinzidenz eine endliche Freiheit ermöglicht und somit unser Leben partiell verfügbar macht, zahlen wir freilich einen hohen Preis. Er besteht in der – zwar falschen, aber dennoch – nahezu unausrottbaren Überzeugung, nicht mehr im Paradies zu leben, sondern aus ihm in die Welt vertrieben worden zu sein.

2.10. Das Leben als Struktur und mein Bewußtsein als ihr Moment

AD:  „Die Tradition geht von einer objektiven Welt aus, deren Bestandteile die Seienden bilden. Wir canceln das und ersetzen die Wirklichkeit der Welt durch eine solche des Lebens, das sich aus den Leben zahlloser Subjekte zusammensetzt. Damit

– wird aus der Welt das Gesamt-Leben und

die Seienden gehen in die Einzel-Leben über.

Nun reden wir von letzteren und kennen – angeblich – keine Seienden mehr.

Aber das sind doch lediglich Worte; was hat sich hierbei prinzipiell, das heißt, an unserem Denken geändert? Wieso sprechen Sie hier von einem Paradigmenwechsel oder gar von einer geistigen Revolution?

Können bzw. müßten wir die Einzel-Leben nicht als spezielle Seiende in einer Lebens-Welt verrstehen?“

 

Sie haben vollkommen Recht; ich fürchte, mit einem bloßen Austausch von Worten betrügen wir uns häufig selbst, weil wir ehrlich glauben, etwas anderes zu meinen, aber weiterhin exakt so denken, wie vor dem Wechsel unserer Worte.

In unserem Paradigmenwechsel wollen wir jedoch tatsächlich die Wirklichkeit selbst austauschen; die Welt soll durch das Leben ersetzt werden. Ich sage absolut nichts gegen die ökologisch-grüne Lebens-Welt, im Gegenteil; aber sie hat mit unserer Intention nichts zu tun, solange weiterhin traditionell gedacht wird, wie etwa bei Andreas Weber.

Daraus ergeben sich insbesondere drei Forderungen:

 

(1) Die objektive Welt besteht in der Summe oder Menge der Seienden.

Das Gesamt-Leben darf nicht als Summe bzw. Menge der Einzel-Leben verstanden werden.

 

(2) Theoretisch oder prinzipiell sind sämtliche Seienden der Welt erreichbar. 

Jeder von uns muß für sich selbst formulieren:

Mir ist lediglich mein eigenes Einzel-Leben zugänglich oder gegeben; die anderen Einzel-Leben kommen gar nicht vor.

 

(3) Die Tradition versteht mich Subjekt als Einheit von Körper und Psyche, wobei letztere

– das Innenleben – des Fühlens, Wollens, Erfahrens, Wissens, Entscheidens usw. – sowie

– meine Wissungen

umfaßt.

Außerhalb der Psyche befindet sich die ganze Welt, das heißt, eigentlich „alles“.

Mein Bewußtsein setzt sich aus

– dem eigenen Einzel-Leben sowie

– den Wissungen

zusammen.

Was sich außerhalb meines Bewußtseins befindet kann ich weder wissen noch beschreiben.

 

Abgesehen von der recht unterschiedlichen Interpretation der Wissungen in den beiden Modellen gehören sie jedoch einheitlich zur Psyche bzw. zum Bewußtsein.

Aber der zweite Bestandteil ist völlig different:

Für uns kann das „Innenleben“ kein Innenleben sein, weil (vorerst noch) gar kein Innen existiert. Das traditionelle Innenleben ist mein eigenes – vollständiges – Einzel-Leben.

 

Damit können wir unsere der Deutlichkeit halber zunächst etwas umständlich gewählte Ausdrucksweise wieder zurücknehmen und vereinfachen:

Gesamt-Leben   →   das (eine und einzige) Leben

Einzel-Leben   →   (nur) mein Leben

 

Das Leben ist oder verwirklicht sich allein in meinem Leben.

Das können wir sagen, aber – ich unterstelle jetzt einfach: – nicht denken.

Denken läßt sich lediglich, daß alle Einzel-Leben neben- sowie nacheinander angeordnet sind; vorstellbar wäre höchstens noch, daß sämtliche anderen oder fremden Leben für mich prinzipiell unerreichbar sind.

Aber das reicht nicht; wir müssen ernst und wörtlich nehmen, daß das Leben nur in meinem Leben ist oder sich verwirklicht.

 

Das geht tatsächlich.

Heinrich Rombach hat dieser Problematik sein Lebenswerk gewidmet und die geniale Lösung in den zwei Bänden „Substanz – System – Struktur“ erstmals in bereits recht geschlossener Form vorgelegt.

 

Die Annahme von Substanzen entspricht dem Denken der Seienden und ist prägend für Antike und Mittelalter.

Wir waren oben bereits einmal darauf gestoßen, daß Seiende lax ausgedrückt „dreiteilig“ sind, weil sie neben ihren Eigenschaften und äußer(lich)en Relationen zu anderen Seienden auch über einen harten Kern als Träger dieser beiden verfügen. Er wird – je nach Zusammenhang – als Substanz oder Wesen betrachtet; das ist das Wesen-tliche, was zum Beispiel einen Menschen zum Menschen macht.

 

Die Moderne kümmert sich kaum noch um Substanzen oder Wesenheiten; die alte Was-ist-Frage verblaßt, und an ihre Stelle tritt das „wie funktioniert?“ der Systeme. Es gibt kein Wesen der Erde (mehr), sondern sie spielt nun eine Rolle im Sonnensystem; darin besteht die „Revolution der modernen Wissenschaften“.

Ich habe Rombachs Substanz- und Systemmodell als traditionelles Denken zusammengefaßt, weil in beiden Fällen eine objektiv vorgegebene Welt vorausgesetzt wird – bestehend aus Seienden bzw. Systemen –, und ihr allein meine Kritik gilt.

 

Die Postmoderne dürfte im Sinne Rombachs zur Ära der Struktur werden. Gegenwärtig erleben wir den Übergang zu ihr; nicht zuletzt im Zerbrechen vieler ehemals funktionierender Systeme – Bildungs-, Renten-, Verkehrs-, Wirtschafts-, Staaten- oder Gesundheitssystem, Kirchen- bzw. Politikstruktur usw.

Das müßte uns nicht überraschen: Seiende gelten als „ewig identisch“; aber auch Systeme sind noch zu starr, um dem in der Moderne gewachsenen Bewußtsein unserer Freiheit gerecht werden zu können; das Strukturdenken ist eine Philosophie der Freiheit.

 

Übersetzt in unser Sprachspiel besteht

– die Struktur im Leben,

– das nur in seinem einzigen Moment – meinem Bewußtsein – ist oder sich verwirklicht.

 

AD:  „Thomas Nagel wirft dem traditionellen Denken vor, daß es einen ‚Blick von nirgendwo‘ und damit die Schau Gottes für sich beansprucht; einfacher formuliert bildet es sich ein, die Welt von außen sehen zu können – als würden wir ihr nicht notwendigerweise alle angehören.

Ihr bzw. Rombachs Strukturdenken verzichtet dagegen auf ein solches Sein-Wollen-wie-Gott, denn das Moment bzw. mein Bewußtsein läßt sich anschaulich als die Innenansicht der Struktur resp. des Lebens verstehen:

Ich erlebe nur, was ich erlebe.“

 

Ja; wir könnten das wieder zur scheinbaren Tautologie steigern:

Ich erlebe, was ich erlebe.

Etwas ausführlicher und verständlicher ließe sich vielleicht formulieren:

Mein Bewußtsein ist

das Leben an einer ganz bestimmten ‚Stelle‘ des Lebens,

das Leben an meiner ‚Stelle‘ des Lebens oder

– das Leben im Hier und Jetzt.

2.11. Ausblick

Nach dieser Intention können Sie ein bißchen verschnaufen; es geht weder mit diesem Schwierigkeitsgrad noch in einem solchen Tempo weiter.

 

Wir beginnen – langsam – mit einem „Motivations-Exkurs“ (3.), der sich vor allem an diejenigen Leser richtet, die die Schwierigkeiten, mit denen ich mich nun schon fast 50 Jahre lang herumschlage, noch gar nicht gesehen haben.

Sie möchte ich in diesem Exkurs mit der Nase darauf stupsen. Gelingt es mir, sowohl mein Problem als auch die Unsinnigkeit seiner traditionellen, sehr hausbackenen „Lösung“ zu verdeutlichen, könnte Sie das vielleicht motivieren, mit dem Hauptteil oder „richtigen“ Buch zu beginnen.

Im Exkurs geht es ausschließlich um den obigen Grundwiderspruch des traditionellen Denkens:

Subjekte wissen von Seienden, die diesem Ansatz zufolge gar nicht existieren dürften.

 

Den Kern des Buches bildet der Teil 5, in dem ich versuche, den konstruktiven Grundgedanken möglichst stringent zu entwickeln; hier steht meine persönliche Variante einer Philosophie der Postmoderne im Mittelpunkt.

Vielleicht nicht automatisch, aber ohne abstruse Geistesakrobatik und willkürliche Glaubensbekenntnisse oder dogmatischen Zwang ergibt sich als Konsequenz daraus im Teil 6 eine Interpretation der Trinität „nach einem für mich heute trag- und sagfähigen Glauben“ (Stefan Schütze).

Das ist die Erklärung für meinen durchaus eigenwilligen Untertitel „Trinität in der Postmoderne“. Hier treffen sich nach meinem Dafürhalten der theologische und der philosophische Paradigmenwechsel, was von sensiblen Zeitgenossen schon heute als geistiges Erdbeben erlebt wird – und ich hoffe, sie behalten Recht.

3. Exkurs: Naiver Realismus

Als Kleinstkind hatten wir weder eine Welt noch ein Weltbild. Durch unser  Leben – „seine Lebenformen und Sprachspiele“, würde Wittgenstein vielleicht konkretisieren – entstehen beide in einer Genese. Wir sammeln kontinuierlich Erfahrungen und arbeiten an unseren Wissungen, so daß Welt und Weltbild ständig überformt oder aufgehoben und zu neuen Formen geerstmaligt werden – bis zum gegenwärtigen Status quo dieser Genese.

Durch das Zirkelverhältnis, das zwischen der Welt und dem Weltbild besteht, müßte ich sehr häufig „Welt und Weltbild“ schreiben. Das liest sich nicht flüssig, und deshalb führen wir dafür das Kunstwort „Welt(bild)“ ein; es dient der Abkürzung und dem Wohklang; mehr steckt nicht dahinter.

 

Das Welt(bild) stellt zwar  einen Grundbegriff unseres Ansatzes dar, aber wir sprechen nicht über spezielle Welt(bilder); insbesondere gibt es weder ein wahres, noch will ich Ihnen das meinige schmackhaft machen.

Wäre letzteres meine Intention, würde ich mir selbst widersprechen:

Wenn sich das subjektive Welt(bild) – einer Genese in – unserem Leben verdankt, müssen wir es so hinnehmen, wie es gegenwärtig ist. Im Sinne von „Was wäre, wenn . . .“ zurückzuschauen, nützt nichts; wir können nur heute beginnen, uns zu andern. Und dann sind wir keine Überflieger, sondern beginnen zwangsläufig bei Status quo unseres Welt(bild)s – wie furchtbar auch immer er gegebenenfalls sein mag.

 

Ist es widerspruchsfrei, kann Ihr Welt(bild) gar nicht falsch sein; nach allem, was Sie erlebt, erfahren und erlitten haben, müssen Sie so denken. Hätte ich Ihr Leben gelebt, würden auch unsere Welt(bild)er übereinstmmen.

Als falsch betrachte ich dagegen – völlig unabhängig vom Weltbild – die Annahme einer objektiven Welt, mit den daraus folgenden leeren Behauptungen,

– das eigene Weltbild sei eine hinreichend adäquate Abbildung dieser objektiven Welt, so

– daß es zumindest näherungsweise wahr sei und folglich

– alle hinreichend intelligenten Menschen dieses Weltbild mit mir teilen müßten.  

 

AD:  „Darf ich bitte einmal in meinen Worten zusammenfassen:

Ich glaube, daß es eine Evolution gab, die zur Entstehung der objektiven Welt geführt hat. Mittels der von uns erkannten ewigen Naturgesetze verstehen wir letztere immer besser, können dadurch auch konstruktiv in den Naturablauf eingreifen und viele unserer Ziele realisieren.

Sie teilen meine Überzeugung vielleicht nicht, sehen aber auch keinen Grund, sie als falsch abzulehnen oder mir zu widersprechen.“

Vollkommen richtig!

Mein Urteil ändert sich jedoch schlagartig, wenn Sie nicht mehr von Ihrer subjektiven Überzeugung sprechen und vielmehr behaupten, Ihr Weltbild durch ein adäquates Abbilden der objektiven Welt erkannt zu haben. 

Mir geht es nicht um den Inhalt, sondern um den anmaßenden Wahrheitsanspruch eines beliebigen Weltbilds,

 

Traditionell sagt man:

„Unsere Vorfahren haben beispielsweise Götter, eine Himmelsglocke und Dämonen wahrgenommen – als wahr (an)genommen –, die natürlich alle nicht existieren. Wir sind dagegen aufgeklärt und bilden die objektive Welt so ab, wie sie wirklich ist.“

Den zweiten Satz müßten wir erheblich korrigieren: 

„Unsere Vorfahren haben beispielsweise Götter, eine Himmelsglocke und Dämonen wahrgenommen – als wahr (an)genommen –, die natürlich alle nicht existieren. Wir sind nicht aufgeklärt in dem Sinne, daß sich etwas Grundsätzliches geändert hat. Wir haben lediglich, wie dies immer geschieht, die Wissungen unserer Vorfahren aufgehoben oder überformt – vor allem mittels der exakten Wissenschaften – und sind so zu unserem modernen Welt(bild) gelangt.  

Aus  den Göttern wurden vielleicht „Zufall und Notwendigkeit“ (Jacques Monod), aus der Himmelsglocke ein potentiell unendlicher Kosmos und aus den Dämonen psychische Störungen. Wir haben unsere Wissungen geandert – die Aktanten und Vorstellungen –, so wie das alle Kulturen tun, um ein hinreichend gemeinsames Welt(bild) zu konstruieren, das uns zusammenleben läßt.

Mehr als dies erfolgreich zu tun, kann kein Welt(bild) leisten.

 

Traditionell Denkende halten unsere obige postmoderne Korrektur – vom Abbilden der Seienden zum Vergleichen der Objekte zwischen Vorstellungen und Aktanten – natürlich für unsinnig und glauben (an) eine objektive Welt.

Gäbe es uns nicht, wäre sie diesem Denken zufolge exakt die gleiche Welt; jede leicht abschwächende Formulierung – „natürlich ohne unsere Körper“ – würde zwar theoretisch stimmen, grenzte aber angesichts der praktischen Unendlichkeit der Welt an Größenwahn.

Anders herum bedeutet das freilich, daß wir im physikalischen Kosmos pure Nichtse sind; jede Ameise ist für ihren Haufen millionenfach wichtiger als wir für ihn. Jacques Monod schrieb in diesem Sinne: „Wir sind Zigeuner am Rande eines Universums, das taub ist für unsere Musik und unempfindlich für unsere Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen.“

 

Wenn Menschen sich als unglücklich erleben und unter Depressionen, an Minderwertigkeitskomplexen oder Sinnlosigkeitsgefühlen leiden, hängt das gewiß auch mit ihren persönlichen Lebensumständen zusammen. Aber da die Zahl der hiervon Betroffenen im Abendland heute immer größer wird, muß der Gedanke, unser Welt(bild) könnte ebenfalls etwas damit zu tun haben, zumindest nicht als völlig abwegig erscheinen.

Michel Henry geht noch einen Schritt weiter und spricht von uns als „verlorenen Menschen“, die sich durch „ihr einseitig objektivistisches Denken in eine Masse von geistig Behinderten verwandeln“ werden, denn jeder reine Objektivismus „ist eine Philosophie des Todes“.

„Masse von geistig Behinderten“ und „Philosophie des Todes“ klingen nicht sehr ermutigend. Aber wenn wir uns umschauen – bis in die Universitäten hinein –, wo heute noch konsequent gedacht, das Erbe der Aufklärung hochgehalten und das Subjekt ernstgenommen wird, werden wir vielleicht doch erschrecken und Henry stillschweigend-verzweifelt ein wenig zustimmen.

 

Auch Monod ist nicht zynisch oder verletzend, sondern einfach nur ehrlich.

Ich kann mir schwerlich vorstellen, wie sich die Sinnfrage in einem naiv-realistischen Kosmos befriedigend beantworten lassen soll. Wir Menschen werden diesem Weltbild zufolge einmal ausgestorben sein – und weder ist dann im Kosmos etwas Entscheidendes geschehen, noch wird uns jemand vermissen.

Robert Spaemann und Reinhard Löw hatten gewiß Recht damit, daß wir „Die Frage Wozu?“ subjektiv gar nicht ernst genug nehmen können. Aber müßte dies nicht auch für den Kosmos gelten? Wozu der Aufwand mit den unermeßlichen Dimensionen – wenn es dem christlichen Glauben zufolge doch  allein um uns als die Krone der Schöpfung geht?

Schon Blaise Pascal konstatierte:

„Ich sehe diese entsetzlichen Weiten des Weltalls, die mich einschließen, und ich finde mich an einen Winkel dieses gewaltigen Raums gefesselt, ohne daß ich weiß, warum ich an diesen Ort und nicht vielmehr an einen anderen gestellt bin und warum diese kurze Frist, die mir zu leben gegeben ist, mir gerade zu diesem Zeitpunkt und nicht vielmehr zu einem anderen der ganzen Ewigkeit, die mir vorausgegangen ist, und der ganzen Ewigkeit, die auf mich folgt, bestimmt ist . . . 

Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume und Zeiten erschreckt mich.“

 

Veranschaulichen wir uns die gewaltige Differenz zwischen dem traditionellen und dem von uns angezielten postmodernen Denken noch an einer zwar sehr einfachen, aber deutlichen Konsequenz:

Wenn ein Subjekt stirbt, gibt es traditionell einen lebenden Körper weniger im Kosmos, was darin freilich auch nicht die geringste Rolle spielt. Selbst wenn wir Menschen vollständig ausstürben, hätte dies für den Kosmos praktisch keine Konsequenzen, würde von ihm gar nicht bemerkt und noch weniger betrauert.

Ohne objektiven Kosmos – bei unserem Ansatz also – können darin auch keine Körper verschwinden; sie entziehen sich aber trotzdem; wo?

Natürlich dort, wo sie sich auch zuvor schon befunden haben, nämlich in den subjektiven Bewußtseinen derjenigen zurückbleibenden Subjekte, denen der Verstorbene nahestand.

Damit läßt sich möglicherweise auch eine positive Antwort auf die Frage nach dem Wozu, Warum oder Sinn unseres subjektiven Lebens finden; in einer objektiven Welt dürfte das ausgeschlossen, weil widersprüchlich sein.

 

AD: „Wäre es nicht denkbar, daß dieser ganze Aufwand mit seinen Wahnsinns-Ausdehnungen notwendig ist, damit wir überhaupt existieren können? Dann sind wir vielleicht doch sogar die ‚Krone der Schöpfung‘.“

Natürlich darf man das nicht ausschließen; diese Idee allein genügt jedoch ebensowenig wie der Glaube daran. Wer hiermit argumentieren möchte, müßte zumindest nachzuweisen versuchen, daß es sich wenigstens mit einer minimalen Wahrscheinlichkeit tatsächlich so verhalten könnte, daß eine entsprechende Denk-Möglichkeit überhaupt besteht.

Man nennt den Gedanken, daß alles so beschaffen sein müsse, wie es ist, damit – physikalisch formuliert – im Kosmos Beobachter auftreten können, für die es diesen Kosmos erst gibt, das (starke oder schwache) „anthropische Prinzip“. Auf einem enorm hohen Reflexionsniveau wurde es beispielsweise von John Archibald Wheeler, dem letzten großen Schüler Albert Einsteins, vertreten; aber selbst sein Versuch – nachzuweisen, daß der Kosmos für unsere Existenz erforderlich ist, – scheiterte.

Anton Friedrich Koch unternimmt gegenwärtig einen neuen Anlauf in dieser Richtung; sein Ergebnis ist wohl noch offen, aber leider auch nicht besonders leicht nachvollziehbar.

3.1. Naiver Realismus

Außerhalb der Philosophie werden die traditionellen Seienden in der Moderne weitestgehend zu den Bausteinen der Physik, so daß die objektive Welt in den Kosmos der Naturwissenschaften übergeht.

Das ist aber nur eine Veränderung, denn auch die Art und Weise, wie wir von der objektiven Welt wissen, wird grundlegend anders:

In Antike und Mittelalter war das ein kompliziertes theoretisches Problem, über das sich die Philosophen und Theologen den Kopf zerbrochen haben, das aber die meisten Menschen kaum interessierte. In der Moderne wird dieses Problem außerhalb der Philosophie kaum noch wahrgenommen oder gar verstanden, sondern entsetzlich simplifiziert:

„Dort ist die – an sich – seiende Sonne; schau einfach hin, dann siehst und erkennst Du sie.“

 

Diese beiden Veränderungen innerhalb des traditionellen Denkens fassen wir als Naiven Realismus zusammen:

– Die Seienden nehmen die Form physikalischer Bausteine an, das heißt, sie bestehen in Körpern oder Strahlungen aller Art sowie in deren mikroskopischen Bestandteilen.

– Durch (möglichst) adäquates Abbilden erlangen wir Wissungen von diesen Seienden.

Ich wiederhole nochmals:

Der Naive Realismus darf keinesfalls auf die gesamte Tradition übertragen werden; Antike und Mittelalter waren nicht naiv-realistisch – nur die Moderne ist es. Aber das traditionelle Denken mit seinem Glauben an eine objektive Welt umgreift alle drei Perioden, so daß sein Ende mit dem der Moderne zusammenfällt.

Damit läßt sich die Neuzeit als Übergang sowohl von der Tradition als auch vom Naiven Realismus zur Postmoderne verstehen; das ist ein Paradigmenwechsel in Philosophie und Theologie, dessen Konsequenzen wir wohl noch nicht einmal erahnen können.

 

Innerhalb der Philosophie wurde der Naive Realismus bereits von Kant und dessen unmittelbaren klassischen Nachfolgern – Fichte, Schelling, Hegel – kritisch infragegestellt, sowie später nicht zuletzt von Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein und Alfred North Whitehead immer offensichtlicher ad absurdum geführt. Seit 100 Jahren gilt der Naive Realismus bei den Philosophen weitestgehend als obsolet, und ich kenne gegenwärtig keinen Großen unter ihnen, der (an) irgendeine objektive Welt glaubt.

Außerhalb der Philosophie – nicht zuletzt in den Naturwissenschaften, der Theologie sowie im Glaubensleben und Alltagsdenken – ist das freilich ganz anders. Dort wird der physikalische Kosmos als – scheinbar – offen-sichtliche und selbst-verständliche objektive Welt kaum hinterfragt, da man ja nur hinschauen muß, um ihn  in seiner Wirklichkeit wahrzunehmen.

 

Wer so, naiv-realistisch denkt, braucht natürlich keine Philosophie und staunt nur, wie man sich mit deren „absurden Hirngespinsten“ beschäftigen kann, obwohl doch „in Wirklichkeit alles so einfach und selbstverständlich ist“:

„Was wollen diese Philosophen eigentlich? Sie konstruieren nur sinnlose Schein-Probleme an Stellen, wo es keine tatsächlichen gibt. Wirkliche Schwierigkeiten bereiten die ‚harten Fakten‘ des Alltags sowie der Wissenschaft und Technik. Wozu noch Geisteswissenschaften? Die lösen keine Probleme, sondern erzeugen sie.“

 

Im Sinne von Wittgenstein würde ich antworten:

1. Die Philosophen konstruieren keine Schein-Probleme, sondern versuchen wirkliche Probleme auf-scheinen zu lassen, indem sie angebliche Selbstverständlichkeiten des Alltags und der Wissenschaft infragestellen.

2. Daß die Philosophen keine Probleme lösen ist freilig richtig; das ist die Aufgabe der Wissenschaftler, und die Philosophie ist keine Wissenschaft, sondern eine Therapie, die  „die Probleme wie eine Krankheit behandelt“.

3. Die Philosophie soll die Probleme zum Verschwinden bringen und nicht lösen.

„Die Lösung der Probleme des Lebens merkt man am Verschwinden dieser Probleme.“

„Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat.“

4. „Die Wissenschaft denkt nicht.“ (Martin Heidegger)

Man kann diese „Verleumdung“ sinnvoll verstehen:

Um Probleme oder Rätsel zu lösen ist das Denken wohl auch nötig, aber sicherlich nicht das Entscheidende, denn dafür stehen Paradigmen zur Verfügung, die nur angewandt werden müssen. Das setzt mehr Üben, Lernen und Routine voraus als Denken.

5. Zur „wissenschaftlichen Revolution“ als einem „Paradigmenwechsel“ (Thomas S. Kuhn) gehört dagegen grund-legendes Denken. Das ist aber auch schon der Bereich der Philosophie, weil dadurch die Probleme des alten Paradigmas – nicht gelöst werden, sondern – verschwinden.

6. Das Problem bestand nicht an sich, sondern wurde lediglich durch unser unzureichendes Denkwerkzeug – das alte Paradigma – erzeugt.

7. Als Therapie kann und soll die Philosophie uns helfen zu leben, aber nicht – wie die Tradition häufig meint – ewige Antworten auf die letzten, größten oder allgemeinsten Fragen der Menschheit suchen und endlich klären, worin Sein oder Sinn, das Eine, Wahre, Gute und Schöne  bzw. Gott selbst nun wirklich bestehen.

 

Der physikalische Kosmos merkt nicht, wenn wir ihn erkennen, so daß nur eine einseitige Wirkung existiert, die sich tatsächlich am besten – weil sehr anschaulich – als Abbildung verstehen läßt:

Wir erkennen den physikalischen Kosmos, indem wir ihn in unserer Psyche – dem „Vorgänger“ des Bewußtseins – abbilden.

Dies entspricht dem traditionellen Bild vom Menschen oder Subjekt als einen Individuum, das in der Einheit von Körper und Psyche besteht, wobei ersterer selbst dem physikalischen Kosmos angehört.

Können die Seienden in der Moderne abgebildet werden, bilden sie also Urbilder oder fungieren als solche. Dort befindet sich zum Beispiel das Seiende oder Urbild namen „Sonne“; es ist abbildbar, und durch das Hinschauen erhalten wir ein Abbild von ihr in unserer Psyche.

 

Möglicherweise wundern Sie sich, weshalb ich zwischen der objektiven Welt – der gesamten Tradition – und dem physikalischen Kosmos als ihrem Spezialfall – in der Moderne – unterscheide. Kam Ihnen dieser Gedanke, zeigt sich daran, wie massiv wir uns im Verlauf der letzten vier Jahrhunderte an das Denken der exakten Wissenschaften angepaßt haben.

In vielen Büchern und Artikeln wird gegenwärtig spekuliert, daß wir Menschen möglicherweise gar nicht nur in unserem physikalischen Kosmos als einem Universum leben, sondern in einem Multiversum – in Kosmen gewissermaßen. Das geschieht teilweise auf einem sehr hohen intellektuellen Niveau, etwa im Zusammenhang mit Hugh Everetts „Quantentheorie der vielen Welten“.

Ich meine jedoch etwas völlig anderes und in gewissem Sinne sogar das glatte Gegenteil.

 

Der physikalische Kosmos stellt nur einen winzigen Teil der Welt dar.

Überlegen Sie sich bitte einmal in Ruhe, was Ihnen in Ihrem Leben besonders wichtig ist. Befindet sich darunter – bei Nicht-Physikern – etwas Physikalisches? Vielleicht denken Sie an Liebe und Freundschaft, bestimmte Menschen, Lebensziele und Selbstverwirklichung, Hobbys, Handwerk, Bücher, Kunst, Bildung oder einfach gutes Essen und Trinken.

All das sind alles keine Gegenstände der Physik – und sie können somit in deren Welt, dem Kosmos auch nicht vorkommen. Darin gibt es keine Sprachen oder Gedichte, keine Gemälde oder Bierdeckel, weder Schön- noch Gemeinheit, weder Geld noch Armut, keine Verbrechen oder Fußballspiele, keine Staaten mit Flaggen und Hymnen, keine Bedürfnisse und kein Begehren.

Im physikalischen Kosmos existiert fast nichts; zu ihm kann nur das Wenige gehören, das sich mittels der Physik vollständig beschreiben läßt. Das ist bereits bei Reißzwecken, Sicherheitsnadeln und Büroklammern nicht mehr möglich, weil sie einen Zweck besitzen, dieser aber keine physikalische Kategorie darstellt, das heißt, der Physiker als Physiker nicht verstehen kann, was ein Zweck sein soll.

Es verbleiben somit nur die traditionellen primären Qualitäten Anzahl, Größe, Masse, Form, Ort, Geschwindigkeit usw.

 

AD: „Wieso sollen Reißzwecken, Sicherheitsnadeln und Büroklammern keine physikalischen Gegenstände und somit auch nicht im Kosmos enthalten sein?“

Entschuldigung; mein „nicht“ war falsch; sie befinden sich auch, aber nicht nur im Kosmos.

Reißzwecken, Sicherheitsnadeln und Büroklammern haben eine bestimmte Größe, Form, Masse, Festigkeit sowie weitere Eigenschaften, für die die Physik zuständig zeichnet, und hierdurch gehören diese Gegenstände dem Kosmos an.

Das wollte ich keineswegs bestreiten; aber damit handelt es sich noch nicht um Reißzwecken, Sicherheitsnadeln bzw. Büroklammern, denn das sind sie erst durch ihren jeweils noch hinzukommenden Zweck. Und mit ihm transzendieren sie den Kosmos – denn die Physik kennt keine Zwecke – und reichen in andere Dimensionen der Welt hinein.

Ich korrigiere mich also; sämtliche Dinge, die physikalische Aspekte besitzen, gehören auch dem Kosmos an, gehen aber über ihn hinaus; er ist – anschaulich gesprochen – zu eng für sie.

Unbestreitbar bedeutet unser Rendezvous auch eine Ortsveränderung, aber daß es nur das ist, können hoffentlich auch die dreistesten Physikalisten selbst nicht glauben.

 

Viele Menschen finden in ihrem Leben keinen Sinn und haben damit auch vollkommen Recht, wenn sie ihr Weltbild auf seine physikalischen Komponenten reduziert haben. Darin kann es natürlich keinen Sinn geben, weil er ebenfalls keine physikalische Kategorie darstellt. Auch Physiker finden keinen Sinn im Kosmos; hoffentlich bei ihrer Arbeit, aber die erfolgt nicht im Kosmos, sondern handelt nur von ihm.

Wir können nicht unsere Wohnung schwarz überstreichen und dann klagen, daß die Farben fehlen. Doch; natürlich können wir es – wir tun es ja weitgehend.

 

Nun sollte verständlich sein:

Unsere Welt besitzt nicht nur die vier Dimensionen der physikalischen Raum-Synchronie, sondern potentiell unendlich viele und ist unabsehbar reichhaltig oder vielfältig. Der Kosmos mit seinen armseligen Inhalten nimmt sich daran gemessen entsetzlich provinziell aus. Auch wenn er innerhalb der Raum-Synchronie praktisch grenzenlos ist, bleibt der Kosmos gegenüber dem Reichtum, der Vielfalt und Faszination der Welt nahezu vernachlässigbar.

Die objektive Welt enthält den Kosmos, geht aber in potentiell unendlich vielen Dimensionen darüber hinaus.  Allein das traditionelle Denken im modernen Abendland glaubt, mit der Physik den Nabel oder die Einheit der Welt gefunden zu haben, so daß deren Weltformel angeblich als das letzte noch zu lüftende Rätsel gehandelt und als Endlösung verkauft wird.

Es wäre aber – wenn überhaupt – bestenfalls eine Kosmosformel, die absolut nichts vom Leben enthält.

 

AD: „Aber diese nicht-physikalischen Partial-Welten, die Sie angedeutet haben, spielen doch tatsächlich nur eine untergeordnete Rolle . . .“

Das ist richtig; aber nicht weil es sich objektiv so verhält, sondern weil wir das Weltbild (in) der Moderne und damit unser Denken so einseitig entwickelt haben. Überlegen Sie sich bitte einmal, was wir alles über unseren Kosmos erzählen könnten, und wie rudimentär sich daran gemessen – bei den meisten von uns – unter anderem das musische oder poetische Vokabular ausnimmt, wie beschränkt unsere Partial-Welten beispielsweise des Schönen, Guten, Religiösen und der Gabe oder Stille entwickelt sind.

Bei dem Wort „Krieg“ beispielsweise assoziieren die meisten Menschen heute physikalisch-elektronische Waffen(-Systeme) und deren Abwehr. Aber müßte uns nicht als erstes das Leid der Betroffenen – Menschen, Tiere und vielleicht sogar Pflanzen – in den Sinn kommen?

3.2. Wissungen ohne Wovon oder Referenten

Wir hatten schon mehrfach betont und benutzt, daß Wissungen kein Wovon oder keinen Referenten besitzen.

AD: „Darauf wollte ich Sie schon längst ansprechen:

Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Inwiefern kann „Wissen“ ohne Wovon – Wissen also, das nichts weiß, – Wissen sein?“

 

Natürlich; wer weiß, daß der Klapperstorch die Babys bringt und der Osterhase die Eier, weiß mehr als derjenige, der diese beiden Rollen verwechselt. Zum Beispiel wissen wir doch auch beide, warum der Wolf bei Rotkäppchen so große Zähne hatte und dann in den Teich geplumst ist – alles ganz ohne Referenten – ohne Klapperstorch, Osterhase . . .

Wissungen müssen kein Wovon besitzen, aber stets anschlußfähig sein, das heißt, sich durch weitere Wissungen fortsetzen lassen.

Wir könnten uns zum Beispiel überlegen, warum sich Rotkäppchen und der Wolf im Wald getroffen haben; ich fürchte, das weiß noch niemand und gilt weithin als Zufall. Dann hätten wir durch diese Geschichten-Erweiterung einen solchen aus der Welt geschafft.

 

AD:  „Wollen Sie damit ernstlich andeuten, daß das Erfinden von Geschichten – auch außerhalb einer Märchenwelt – Erklärungen oder Gründe liefert?“

Eine Erklärung muß

– das Fragliche erklären und

– als Erklärung akzeptiert werden.

Wüßten Sie noch ein dritte Forderung?

 

Lösen wir uns vom Märchen; Wissungen sind Wissungen; es gibt kindliche, kulturelle, ästhetische, historische, religiöse, wissenschaftliche usw.; viele von ihnen sind sinnvoll, und alle erfüllen andere Aufgaben. Sämtliche Wissungen sind anschlußfähig und können fortgesetzt oder – ganz deutlich –  weitergesponnen werden; die wissenschaftlichen ebenso wie die übrigen.

Hierin besteht, wenn ich sie recht verstehe, der Grundgedanke von Wilhelm Schapps „Philosophie der Geschichten“. 

Märchen werden durch Märchen, Mythen durch Mythen, Historien durch Historien, Sachverhalte durch Sachverhalte usw. ergänzt. Wissungen bilden unseren Oberbegriff für alle diese Möglichkeiten; bei Schapp treten die Geschichten an seine Stelle.

 

Kommen wir bitte nochmals auf Ihren Einwand zurück; genauer meine ich die Formulierung „Inwiefern kann Wissen, das nichts weiß, Wissen sein?“

Jeder denkende Mensch wird ablehnen; Wissen, das nichts weiß, kann kein Wissen sein. Ich habe nicht den geringsten Grund, das anders zu sehen, und diese Ablehnung widerspricht auch keineswegs meiner Überzeugung, daß Wissungen keine Referenten besitzen, sondern hat mit ihr gar nichts zu tun.

 

Der scheinbar bestehende Widerspruch beruht auf einem Mißverständnis:

Wir  gehen völlig d’accord: Wissen, das nichts weiß, kann kein Wissen sein.

Das ist synonym mit: Wissen, das keine Wissungen weiß, kann kein Wissen sein.

Was Sie „Wissen“ nennen, sind also nicht unsere Wissungen, sondern ist das verbale Wissen, das diese weiß; es gehört zum Leben oder bildet eine Facette daran. Deshalb ist diese Aussage auch zwingend; „ich weiß“ geht nicht ohne ein Etwas. Aber dieses Etwas entspricht unseren Wissungen und ist kein Wovon oder Referent.

 Nach dem verbalen Wissen muß eine Wissung kommen, und diese besitzt – völig unabhängig von Ihrer richtigen Formulierung – meines Erachtens keinen Referenten.

 

Um die Gefahr, solchen schwer aufzufindenden Denkfehlern zu erliegen, zu verringern, benutze ich für das substantivische Wissen (fast) immer das Wort „Wissung“.

Das (verbale) Wissen der Wissungen benötigt keine Referenten. 

 

Wenn Moritz sagen möchte, die Wissung X sei eine Wissung von Y oder besitze den Referenten Y, müßte er uns diese wundersame Verdopplung seiner Wissungen erklären.

Woher nimmt Moritz plötzlich das Wovon bzw. den Referenten Y? Wieso weiß er auch noch Y, obwohl doch allein von der Wissung X die Rede ist? Kennt denn jeder, der X weiß, automatisch gleich noch ein Y? Und – falls „ja“ – warum sollte diese Aneinanderreihung der Wissungen mit Y beendet sein? Wieso führt sie nicht von Y – ganz in diesem Sinne – weiter zu einer Wissung Z und so fort?

Ich verstehe, mit anderen Worten, nicht, was der Referent einer Wissung sein soll.  

 

AD:  „Jetzt stellen Sie sich aber, mit Verlaub gesagt, ziemlich dumm:

Der Eiffellturm befindet sich in Paris, und wir haben hier und jetzt – natürlich keine unmittelbaren Wahrnehmungen, aber immerhin – Wissungen vom Eiffelturm.“ 

 

Ich habe auch ein schönes Beispiel:

Der Teufel befindet sich in der Hölle, und wir haben hier und jetzt – natürlich keine unmittelbaren Wahrnehmungen, aber immerhin – Wissungen vom Teufel.

Mein Satz beweist

– weder daß „es einen Teufel gibt“,

– noch daß die Wissung Teufel einen Referenten besitzt.

Entsprechendes gilt also auch für Ihr Beispiel; daß „es den Eiffelturm gibt“ versteht sich nicht von selbst, und der Wissung Eiffelturm muß ebenfalls kein Referenten zukommen.

Daß „es den Eiffelturm gibt“ und „den Teufel nicht“, bedeutet in unserer Sprache, daß wir jenen als Aktanten in unsere subjektive Welt aufnehmen, aber diesen nicht; mit Referenten hat beides absolut nichts zu tun.

 

Wenn beispielsweise ein Dürstender in der Wüste Wasser sieht, täuscht er sich nicht; er sieht Wasser, und das ist ein unbestreitbarer Aktant. Wüßte er, daß es sich um eine Fata Morgana handelt, würde er kein Wasser sehen, sondern vielleicht im Sonnenlicht glitzernden Sand.

Aus dem Weltbild des Dürstenden folgt, daß man Wasser trinken und damit sein Leben retten kann; also versucht er das wie selbstverständlich.

Gelingt ihm das Trinken nicht, tut sich eine Differenz auf zwischen seinen Vorstellungen und der Eigendynamik dieses Aktanten, die ihn nachträglich belehrt und anhand derer er rückblickend erkennt, daß es sich auch zuvor schon um eine Fata Morgana gehandelt haben muß.

 

Es ist sogar noch viel schlimmer:

Ob die im Nachhinein erkannten „Irrtümer“ tatsächlich Irrtümer waren, zeigt sich immer erst in der (diachronen) Zukunft. Vielleicht kehren wir auch reumütig zu unseren „ersten“ Annahmen zurück – ob es nun Irrtümer waren oder nicht.

Die entscheidende Frage lautet also keineswegs „Wie erkennen wir einen Irrtum?“ 

Sondern vielmehr „Was bedeuten Irrtum bzw. Nicht-Irrtum überhaupt?“, wenn unsere Wissungen in eine offene Zukunft hinein jederzeit wieder durch Differenzen zwischen Vorstellungen und Aktanten korrigiert werden können?

 

AD:  „Ich glaube, das war unnnötig kompliziert; wir können es einfacher erklären:

Sie lehnen jede objektive Welt ab; ohne sie und ihre Seienden können aber auch keine vorgegebenen Wege existieren. Vielmehr ‚entstehen die Wege erst im Gehen‘ (Antonio Machado). Das klingt sehr ungewöhnlich, aber unter anderem beschreibt auch Jorge Luis Borges diese Situation in seinem ‚Garten der Pfade, die  sich verzweigen‘.

Ohne vorgegebene Wege kann ich natürlich weder richtige noch falsche einschlagen, so daß der Begriff des gegenwärtigen Irrtums in der Tat obsolet wird. Erst im Lichte der Zukunft können wir die Frage nach wahr oder unwahr sinnvoll stellen.“ 

 

Wenn ich es recht verstehe, spricht das östliche Denken mit seinem Dào ebenfalls von solchen sich selbst generierenden Wegen oder ihre Wege bahnenden Wegen.

Martin Heidegger prägte dafür den Begriff der Bewëgung; auf den Wegen bewegen wir uns, aber die Wëge bewëgen sich selbst.

Natürlich nicht ausschließlich; (alte) Wege werden wiederholt, Wëge erstmaligen sich oder entstehen erst dadurch, daß wir sie gehen – um dann natürlich auch wiederholt werden zu können.  

 

An etwas Ähnliches dachte wohl auch Einstein, als er schrieb:

„Der intuitive Geist ist ein heiliges Geschenk und der rationale Verstand ein treuer Diener. Wir haben eine Gesellschaft erschaffen, die den Diener ehrt und das Geschenk vergessen hat.“

Der rationale Verstand bewegt sich höchst umsichtig, könnten wir ergänzen, in der ihm vorgegebenen Wirklichkeit, die der intuitive Geist dem rationalen Verstand jedoch erst eröffnet, das heißt, für ihn bewëgt haben muß, damit der Diener sich nun in dieser Wirklichkeit bewegen kann.

Aber der rationale Verstand ahnt häufig nichts von dem intuitiven Geist, der ihm notwendigerweise immer schon vorangegangen ist, oder hält sich sogar selbst für diesen – und macht damit selbstherrlich dessen Gabe zur eigenen objektiven Welt.

 

Auch unser vorangestelltes Zitat von Pablo Picasso findet hier seinen legitimen Platz:

„Ich suche nicht – ich finde.

Suchen, das ist das Ausgehen von alten Beständen und das Finden-Wollen von bereits Bekanntem.

Finden, das ist das völlig Neue. Alle Wege sind offen, und was gefunden wird, ist unbekannt. Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer. Die Ungewißheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen, die sich im Ungeborgenen geborgen wissen, die in der Ungewißheit geführt werden, die sich vom Ziel ziehen lassen und nicht selbst das Ziel bestimmen.“

 

Klaus Hemmerle faßt den grundlegenden Unterschied sehr schön zusammen:

„Unsere Frage heißt also nicht mehr wie im Mittelalter: Wie ist alles?, sondern: Wie geht alles, wie spielt es sich ab und spielt alles zusammen?

Die Frage nach dem Geschehen und in der Konsequenz nach der Geschichte hat die Führung übernommen. Der mittelalterliche Mensch stand in einer gefügten Ordnung, und vor ihm stand das Seiende, das er betrachten konnte, um in dieser Betrachtung sich über es hinaustragen zu lassen ins Ganze und über das Ganze in dessen gewährenden Grund und Sinn.

Wir finden uns, ohne Stand, in der Bewegung, im Vorgang, und nur in dieser Bewegung und in diesem Vorgang erschwingen wir den Zusammenhang, das Ganze. Nicht das Seiende trägt uns zum Sein, sondern im Fortgang, im Geschehen legt Sein sich uns aus, spricht Sein sich uns zu.“

3.3. Urbilder und Abbilder – im logischen Zirkel

Ein Kind sieht zum ersten Mal in seinem Leben den Mond. Der merkt natürlich nichts von seinem Bestaunt-Werden, so daß wir es mit einem völlig einseitigen Verhältnis zu tun haben. Das scheint sich zwar am besten durch Abbilden beschreiben zu lassen – geht aber nicht.

 

AD: „Ich verstehe gar nicht, wie Sie darin ein Problem sehen können. Das Abbilden ist doch auch vollkommen unabhängig vom Naiven Realismus die normalste Sache der Welt; denken wir nur an das Photographieren, Malen und Beschreiben, an Landkarten, technische Zeichnungen oder Veranschaulichungen.“

Ich korrigiere Sie ein klein wenig; das Abbilden ist – nicht auch, sondern – nur „unabhängig vom Naiven Realismus die normalste Sache der Welt“.

 

Außerhalb des Naiven Realismus gehören nämlich sowohl das „Ur-“ als auch das „Abbild“ unserer Psyche an; beim Photographieren können wir beispielsweise das aufgenommene Gesicht unmittelbar mit dem Bild davon vergleichen; beide sind uns gegeben, und wir sehen – lax ausgedrückt – doppelt. Das Original und sein Photo; dem Künstler steht ein Mensch gegenüber, und er malt dessen Porträt.

Deswegen meine Anführungsstriche; mit Ur- bzw. Abbild in unserem philosophischen Sinne haben diese Beispiele auch nicht das Geringste zu tun. Das Photo oder Porträt stellt kein Abbild dar, und das Original bzw. der Mensch ist kein Urbild.

 

Beim Naiven Realismus dagegen liegt in der Psyche stets nur eine Seite vor; nennen wir sie provisorisch „Bild“. Die Kleine in unserem Beispiel nimmt nur einen Mond wahr – das Bild eben – und sieht keineswegs doppelt.

Vielmehr erfinden und behaupten wir im Außerhalb der Psyche ein niemals gesehenes Urbild, um mit seiner Hilfe die Entstehung des Bildes in der Psyche erklären zu können. Diese Konstruktion verwandelt das neutrale Bild in ein Abbild des lediglich behaupteten Urbilds.

 

Oben wollte ich Ihnen plausibel machen, daß Wissungen keine Referenten besitzen. Die Tradition behauptet dagegen, die Wissung X namens Mond-Abbild habe die Wissung Y namens Mond-Urbild zum Referenten.

Das Mond-Bild ist natürlich unbstreitbar; aber

– es stellt kein Abbild dar,

– hinter dem sich ein Urbild befindet, das das Bild erst zu einem Abbild machen würde.

 

AD: „Wir sehen nicht doppelt; das Urbild Mond ist natürlich ‚unsichtbar‘, weil es sich außerhalb der Psyche befindet; aber unsere Vernunft verlangt seine Existenz: Wir könnten dort keinen Mond sehen, wenn er sich nicht dort befände.“

Ihr letzter Satz ist vielleicht sogar tautologisch; jedenfalls 100%-ig zutreffend:

Wir könnten die Mond-Wahrnehmung dort nicht haben, wenn sie sich nicht dort befände.

 

Aber das haben Sie freilich nicht sagen wollen; vielmehr:

Wir könnten die Mond-Wahrnehmung X dort nicht haben, wenn sich der Ur-Mond Y nicht dort befände.

Aber dann bleibt mir Ihre Aussage unverständlich. Sie erfinden einen unsichtbaren Ur-Mond Y im Außerhalb der Psyche, um Ihre Mond-Wahrnehmung X in deren Innerhalb „erklären“ zu können. Ich bezweifle jedoch sehr stark, daß es sich hierbei um eine Erklärung handelt:

1. Gegeben ist eine Mond-Sehung X.

2. Deren Zustandekommen möchten Sie verstehen.

3. Dazu erfinden Sie einen unsichtbaren Ur-Mond Y.

4. Der einzige Hiinweis auf ihn, besteht in unserer Mond-Sehung X.

5. Sie interpretieren letztere als Abbildung X des erfundenen Ur-Monds Y.

 

Kann ein logischer Zirkel perfekter sein?

Sie erklären unsere Mond-Sehung X mittels des Ur-Monds Y, von dem Sie nur durch die Mond-Sehung X wissen:

Von den Urbildern wissen wir allein durch ihre Abbilder.

Die Urbilder machen uns ihre Abbilder verständlich.

→   Es gibt Urbilder.

 

Diese „Logik“ kannten schon die alten Germanen:

Von Donar wissen wir allein durch seinen Donner.

Donar macht uns seinen Donner verständlich.

→   Es gibt Donar.

 

Rein logisch besteht zwischen diesen beiden Zirkelschlüssen auch nicht der geringste Unterschied:

Das Wissen, das sich aus den Abbildern ergibt, macht uns die Abbilder verständlich.

Das Wissen, das sich aus dem Donner ergibt, macht uns den Donner verständlich.

Nicht nur Donar, sondern auch die Urbilder sind meiner tiefsten Überzeugung zufolge pure Erfindungen, mit denen wir uns selbst belügen, solange wir glauben, etwas erklärt zu haben.

 

Es handelt sich bei diesen zwei Beispielen um einen (relativ weit verbreiteten) logischen Fehlschluß, den wir rein formal folgendermaßen darstellen können:

 

Prämisse 1 p → q Regnet es, wird die Straße naß. Existiert das Urbild, wird das Bild verständlich.
Pränisse 2 q Die Straße ist naß. Das Bild wird verständlich.
falsche Konklusion → p Also hat es geregnet Also existiert das Urbild.

Die erste Schlußfolgerung ist offensichtlich falsch, weil zum Beispiel auch Schnee geschmolzen, ein Wasserrohr geplatzt oder der Sprengwagen gefahren sein könnte.

Und da die Logik nicht vom Inhalt abhängt, kann die zweite Konklusion ebenfalls nicht stimmen.

Sowohl Donar als auch die Urbilder stellen Versuche dar, etwas verständlich zu machen; sie mögen vielleicht ihre Zeit und ihr Recht gehabt haben; das kann ich nicht einschätzen. Aber wenn wir ihre Schwachstellen wissen und die traditionellen Schlüsse nicht mehr intellektuell redlich nachvollziehen können, müssen wir nach etwas Konsistenterem Ausschau halten

 

AD: „Ich bin noch nicht ganz einverstanden.

Die Naiven Realisten behaupten ihr Weltbild als ein Bild von der objektiven Realität, und Sie bestreiten das; damit steht es ‚1 : 1‘.“

Nein; das steht es nicht.

Für die Nicht-Übereinstimmung zwischen einer angeblichen objektivem Realität und unserem Bild gibt es praktisch unzählige Möglichkeiten; ich sage also nahezu eine Selbstverständlichkeit, die – wären wir weniger traditionell verbildet – gar nicht der Erwähnung bedürfte.

Die Naiven Realisten halten dagegen etwas ganz Spezielles oder Singuläres für richtig – unser Bild ist nicht irgendein Bild, sondern das einzige Abbild –, so daß nur sie in der Beweispflicht stehen.

Daß gerade Kühe heilig sein sollen, müßte auch begründet und braucht nicht von uns widerlegt zu werden. Es beweist (meines Erachtens) auch niemand, weshalb Flöhe nicht heilig sind.

 

Die Stelle scheint mir wichtig genug zu sein, um sie noch ein wenig auszubauen.

Unsere Vorfahren haben Wege gefunden, Oliven essen zu können; das ist bei dieser Frucht nicht selbstverständlich, sondern eher ein kleines Wunder. Und das, sagen die Mythen, verdanken wir der Göttin Athene, die uns Menschen gelehrt hat, die Oliven entsprechend aufzubereiten.

Wer diese dem traditionellen Denken entsprechende Erklärung für wahr hält „so ist es wirklich“, dem kommt sehr wohl eine Begründungspflicht zu.

Mit dem bloßen Ablehnen dieses Mythos vertreten wir jedoch keine ebenso konkrete gegenteilige Meinung, sondern distanzieren uns lediglich von ihm. Weder bedarf das einer Rechtfertigung, noch bedeutet es, sich um eine andere Erklärung bemühen zu müssen.

 

AD:  „Wir gehen von einer Genese der subjektiven Wissungen aus und würden sagen, die traditionell Denkenden tun auch nichts anderes – weil es gar nicht anders geht.

Sie bestreiten das lediglich und glauben, objektive Seiende abzubilden.

In Wirklichkeit „projizieren“ die Traditionalisten die gegenwärtigen – dem Status quo der Genese entsprechenden – Aktanten fälschlicherweise als Seiende in ein angebliches Außen. Damit wird unser symmetrisches Vergleichen zwischen Vorstellungen und Aktanten zum einseitigen Abbilden der „Urbilder“ – Aktanden – mittels der „Abbilder“ – Vorstellungen.

War das nicht schon Ludwig Feuerbach aufgefallen?“

Ja; sehr schön; aber wir sind konsequenter als er.

Zum einen hatte Feuerbach mit seiner Religionskritik natürlich völlig Recht. Viele Gläubige haben eine Vorstellung von Gott und sind überzeugt, daß es diesen Gott objektiv-real, das heißt, auch außerhalb ihrer Psyche gibt und sie ihn dort – mit Hilfe seiner Offenbarung oder wie auch immer – adäquat erkannt hätten.

Aber das ist natürlich Unsinn, meinte Feuerbach; diese Gläubigen haben ihre Gottes-Vorstellung – nicht von „außen“ nach „innen“ abgebildet, sondern – von „innen“ nach „außen“ „projiziert“

 

Feuerbach hat das zwar völlig richtig durchschaut, jedoch übersehen, daß seine Erkenntnis absolut nichts speziell mit Gott zu tun hat, sondern für sämtliche Seienden oder Urbilder gilt, das heißt, für die gesamte objektive Welt.

Nicht nur Gott, sondern auch alle anderen Seienden – Urknall, Materie, Energie, Evolution, Sonne, Mond und Sterne . . . – müssen „Projektionen“ darstellen, weil sie sich außerhalb unserer Psyche befinden sollen. Dort sind sie nicht zugänglich und können somit auch unmöglich abgebildet werden.

 

Zum anderen hat Feuerbach jedoch übersehen, daß sein Außen gar nicht existiert, so daß auch kein Projizieren möglich ist.

 

Wir korrigieren daher die traditionell-hausbackene, naiv-realistische Annahme:

Die „Abbilder“ sind keine Abbilder, sondern Bilder oder Vorstellungen, (an) die wir subjektiv ganz fest glauben; wir können kaum anders, als sie uns auch außerhalb des Bewußtseins  vorzustellen; „sie müssen sich wirklich dort befinden“.

Und die „Urbilder“ sind keine Urbilder, sondern Aktanten, die sich ebenso im Bewußtsein befinden wir die Vorstellungen, so daß wir absolut kein traditionell-philosophisches Abbilden(t-ph) benötigen und ganz simpel – wie bei jedem normalen Abbilden(n), denn es ist ein normales Abbilden(n) – Aktanten und Vorstellungen miteinander vergleichen können.

 

AD:  „Komisch; plötzlich ist alles ganz normal und wieder sehr einfach . . .; ich weiß gar nicht recht, wie das kommt.“

Wenn Sie unser Gespräch so erlebt haben, wie Ihre Beschreibung vermuten läßt, ist genau das geschehen, was Wittgenstein von der Philosophie erwartet:

Wir haben kein Problem gelöst, sondern das traditionelle Denken der Moderne hat eines erzeugt, indem es – völlig unnötiger- und unsinnigerweise – den Dualismus von objektiver Welt und subjektiver Psyche erfunden hat.

Unsere Therapie bestand in dem Versuch, diesen Dualismus in der Einheit des Bewußtseins aufzulösen, damit das Problem verschwindet. Ich hoffe sehr stark, sie hat nicht nur bei Ihnen, sondern auch bei möglichst vielen weiteren Lesern angeschlagen.

3.3.1. Es gibt kein Abbilden

Für uns existiert keine objektive Welt mit ihren Urbildern, sondern nur eine subjektive mit den eigenen Aktanten.

Der Naive Realismus geht hingegen davon aus, unsere Wahrnehmungen – insbesondere die Sehungen – mittels der entsprechenden Urbilder vernünftig erklären zu können. Wir bestreiten das wegen des logischen Zirkels, der in dieser „Erklärung“ notwendigerweise enthalten ist.

Um einen Schritt weiterzukommen und die eigene Position zu festigen, lassen wir uns aber nochmals auf das angebliche Abbilden ein. Dann bestehen hinsichtlich unserer Wahrnehmungen theoretisch zwei Möglichkeiten; sie könnten selbst die Urbilder oder bereits deren Abbilder sein. 

 

Wenn uns im ersteren Fall die Urbilder selbst in Form der Wahrnehmungen gegeben sind, benötigen wir weder ein Abbilden noch Abbilder; beide sind völlig überflüssig.

Bestehen die Wahrnehmungen dagegen in den Abbildern, liegt das Abbilden bereits hinter ihnen. Wir wissen nichts davon, denn die Wahrnehmungen sind diesbezüglich das Erste, das uns begegnet.

Bei beiden Denkmöglichkeiten – Wahrnehmungen sind Ur- bzw. Abbilder – gibt es also kein Abbilden. Das eine Mal fehlt es gemeinsam mit den Ab- und das andere Mal gemeinsam mit den Urbildern. Das paßt genau; eine „Bildersorte“ fehlt immer, denn wir sehen nie doppelt.

 

Üblicherweise wird argumentiert:

Weil der Naive Realismus das Abbilden erforderlich macht, muß es – irgendwie – vonstatten gehen.

Wir kehren die Logik um:

Weil das Abbilden niemals vorkommt, muß der Naive Tealismus, der es unbedingt benötigt, falsch sein.

 

Daß wir Bilder sehen, scheint unbestreitbar zu sein; warum belassen wir es nicht dabei?

Die Tradition erfindet Urbilder, steht damit vor dem Problem, wie wir diese sehen können und löst es in der Moderne durch Abbilden:

Indem

– erfundene Urbilder

– angeblich abgebildet werden,

sind wir wieder bei dem, was uns von Anbeginn gegeben war – den Bildern; unseren Wissungen 

Das hätten wir einfacher haben können!

 

Oben sollte deutlich werden, daß kein Abbilden existiert.

Nun erkennen wir, daß dies auch nicht erforderlich ist, wenn wir das uns Gegebene – die Bilder –  ernstnehmen und es ganz einfach dabei bewenden lassen würden.

Die Abbildtheorie stellt einen philosophischen Nonsens dar, der an Unlogik kaum zu überbieten ist:

Es gibt keinen Regenbogen, ohne daß wir ihn sehen.

Es gibt keine Festigkeit, ohne daß wir sie fühlen.

Es gibt keine Anzahl, ohne daß wir sie zählen oder berechnen.

Es gibt keine Materie, ohne daß wir sie messen.

Es gibt keinen Geist, ohne daß wir ihn erfahren.

 

AD: „Daß es das Abbilden gar nicht geben soll, will ich nicht glauben.

Wir kennen doch alle aus unserer Schulzeit noch die physikalische Theorie des Sehens, derzufolge beispielsweise der Baum am Straßenrand als Urbild dienen kann. Die Lichtstrahlen, die er reflektiert, werden von unseren Pupillen, die als Sammellinsen fungieren, fokussiert, so daß auf der Netzhaut der Augen ein kopfstehendes, verkleinertes Abbild des urbildlichen Baumes entsteht. Das Funktionieren unserer Brillen, Lupen und Fernrohre beweist doch hinreichend, daß wir es hier tatsächlich mit einem – zumindest nicht völlig falsch beschriebenen – Abbilden zu tun haben.

Die Netzhaut mit ihren Stäbchen und Zäpfchen wirkt auf den Sehnerv, und dieser feuert mit einer Frequenz, die bei Erhöhung der Erregung ansteigt. Die dabei gesandten Signale sind jedoch völlig neutral im Sinne von sinnesunspezifisch; beispielsweise benutzt der Sehnerv exakt den gleichen Code wie der Hörnerv.

Wir verstehen noch nicht, wieso ein und dieselben Impulse einmal zu Bildern und ein andermal zu Tönen – Gerüchen, Gefühlen oder Geschmacksvarianten – werden. Hier besteht zwar eine von den meisten Autoren anerkannte ‚Erklärungslücke‘, die aber meines Erachtens den physikalischen Teil unseres Abbildens überhaupt nicht berührt.“

 

Ich komprimiere Ihren Einwand auf eine Kurzform, mit der wir besser arbeiten können:

„Die physikalische Theorie des Sehens beschreibt sehr gut, wie der Ur-Baum vom Straßenrand auf der Netzhaut abgebildet wird. Den Ur-Baum sehen wir alle, und sein Abbild nimmt der Optiker wahr, der uns in die Augen schaut.“

 

Diese Formulierung ist aber falsch, und wir müssen mindestens vier Korrekturen daran vornehmen. Das ist erneut das Mißverständnis, das uns bereits beim Photographieren oder Porträtieren oben begegnet ist; dieses „Abbilden“ ist nicht unser philosophisches Abbilden.

Die physikalische Theorie des Sehens beschreibt sehr gut, wie die Sehung Baum vom Straßenrand auf die Netzhaut „abgebildet“ wird. Die Sehung Baum haben wir alle, und ihre „Abbildung“ nimmt der Optiker wahr, der uns in die Augen schaut.

 

Unsere Korrekturen sollen verdeutlichen, daß die physikalische Theorie des Sehens das philosophische Abbild-Schein-Problem weder löst noch beseitigt, sondern auch nicht im entferntesten tangiert. Von Urbildern und deren Abbilden kommt im Text überhaupt nichts vor; er kennt lediglich – zwei Arten von – Sehungen, den Baum am Straßenrand und seine „Abbildung“ auf der Netzhaut.

Der Baum am Straßenrand ist kein Ur-Baum, sondern ebenso wie das Netzhaut-Bild „bereits“ eine Sehung – denn andernfalls wüßten wir nichts von ihm.

 

Genau dadurch, daß der Text ein rein physikalischer ist und mit unserem philosophischen Abbild-Schein-Problem nichts zu tun hat, wird er nicht nur sinnvoll und verständlich, sondern kann sogar zum Bau optischer Geräte genutzt werden.

Hier wird nicht erklärt, wie Sehungen zustandekommen, indem angebliche Urbilder zu Sehungen abgebildet werden. Vielmehr zeigt diese Theorie, wie sich – bereits bestehende – Sehungen durch den Raum vom Straßenrand in die Augenhöhle „abbilden“ lassen.

Das kann die Physik sehr gut erklären – weil es aber auch gar nichts mit Philosophie zu tun hat.

 

AD: „Jein; es stimmt doch sehr vieles von dem, was die physikalische Theorie des Sehens zu ihm sagt. Schließen wir beispielsweise die Augen oder unterbricht ein Hindernis unseren Sehstrahl, so sehen wir nichts (mehr); müßten wir daraus nicht folgern, daß diese Theorie das Sehen einigermaßen richtig darstellt?“

Nein; in keiner Weise!

Wenn eine „Theorie des Sehens“ adäquat beschreibt, unter welchen Bedingungen letzteres nicht gelingt, ist sie noch lange keine Theorie des Sehens, sondern lediglich eine seiner notwendigen Voraussetzungen. Sie beziehen sich auf das Nervensystem, die Augen, den Sehstrahl, die Beleuchtung und noch vieles mehr.

Sind nicht alle notwendigen Voraussetzungen erfüllt – und allein von ihnen spricht diese Seh-Voraussetzungs-Theorie –, sehen wir nichts; das ist die Bedeutung von „notwendigen“.

Wir sehen natürlich nicht, wenn unsere Augen geschlossen sind; aber daraus folgt doch absolut nicht, daß wir sehen, weil sie offen sind.

 

AD: „Aber es gibt doch sogar Abbildungsfehler, die uns die Physik wunderbar erklären kann.

Wir sehen beispielsweise das Urbild gerader Stab, wenn es schräg ins Wasser taucht, als gebrochen; unsere Sehung ist dann ein falsches Abbild, über das die Optik uns aufklärt.“

Nein; der gerade Stab ist kein Urbild, sondern entspricht wieder dem obigen Gesicht, das photographiert wird. Wir sehen ihn doch auch, bevor er in das Wasser eintaucht; also muß er sich da bereits in unserer Psyche befinden.

Der „Widerspruch“ – gebrochener contra gerader Stab – besteht also zwischen „Abbild“ und „Urbild“ mit Anführungsstrichen – Stab im Wasser bzw. nicht im Wasser – und stellt somit wieder ein rein physikalisches Problem dar, das mit unseren Überlegungen aber auch gar nichts zu tun hat; das ist kein Abbildungs-, sondern ein bloßer „Abbildungs“-Fehler.

Urbilder befinden sich nicht außerhalb des Wassers, sondern außerhalb der Psyche – und deswegen sind sie unerreichbar.

3.3.2. "Unphilosophisch einfache" Hilfestellung

Meine Kritik am traditionellen Denken in diesem Exkurs, scheint mir persönlich glasklar und evident zu sein. Trotzdem mache ich immer wieder die Erfahrung, daß manche Zuhörer mich mit großen fragenden Augen anschauen und offensichtlich gar nicht verstehen (können), wovon ich überhaupt spreche. Ihnen versuche ich nochmals zu helfen und drücke mich dabei bewußt „unphilosophisch einfach“ aus.

 

Dort ist die Sonne als eine Wahrnehmung; sie ist Ihnen ebenso möglich wie mir.

„Wir müssen nur hinschauen, um sie zu sehen“, ist richtig, verführt aber zu dem falschen Gedanken, daß sich dort an sich, das heißt, völlig unabhängig von unserem Hinschauen noch eine – andere – wahrnehmbare, weil objektiv-reale Sonne befindet.

 

Wer so und damit traditionell denkt, benötigt also zwei SONNEN; zum einen die Wahrnehmung oder Abbildung Sonne, die es ohne unser Wahrnehmen natürlich gar nicht gäbe, und zum anderen die davon unabhängige urbildliche oder an sich seiende Sonne, die auch ohne uns Menschen schiene, dies der Evolutionstheorie zufolge schon vor Jahrmilliarden tat und unsere Wahrnehmung Sonne erst ermöglicht; ohne Sonne keine Sonne.

Blicken wir auf die Sonne an sich (Urbild), so ergibt sich die Sonne für uns (Abbild).

Einerseits scheint das einleuchtend zu sein.

Andererseits sehen wir aber nie doppelt, so daß uns immer nur die Wahrnehmung Sonne gebeben ist. Niemand hat jemals die Sonne gesehen; wir schauen „zu ihr hin“, kommen aber „immer schon zu spät“ für sie, denn es zeigt sich uns „bereits“ die Sonnen-Wahrnehmung.

Somit haben wir insbesondere keinerlei Möglichkeit des Vergleichs, der unsere Sonne tatsächlich als ein (adäquates) Abbild der Sonne ausweisen könnte. 

 

„Wir könnten die Sonne als Wahrnehmung doch gar nicht haben, wenn sie nicht dort wäre“, stellt einen Standard-Einwand gegen meine Ansicht dar. Er wirkt aber nur so überzeugend, weil seine Formulierung das problematische Abbilden überspielt.

Sauber formuliert müßte die Kritik lauten:

Wir könnten die Sonne als Wahrnehmung doch gar nicht haben, wenn die Ur-Sonne nicht dort wäre, und das Abbilden ist der Weg, der von ihr zur Wahrnehmungs-Sonne führt. Jene wurde zwar niemals gesehen, sondern lediglich – als einfachste Erklärung der Sonne – erfunden, aber alle traditionell Denkenden glauben, von ihr zu sprechen.

 

Was soll das sein, diese Sonne?

AD: „Na das dort oben!“

Nein; das ist die Sonne; wäre es die Sonne, könnten wir sie nicht sehen.

Traditionalisten behaupten die Sonne als Wahrnehmung (von) einer ominösen Sonne, obwohl diese nur ausgehend von der Wahrnehmung Sonne erfunden wurde, um letztere zu erklären, aber selbst niemals gesehen werden kann. Diese Sonne ist reines Seemannsgarn, ein philosophisches Glaubensbekenntnis, das sich durch nichts rechtfertigen läßt.

 

Ich kenne Menschen, die Stein und Bein schwören, den Teufel erfahren zu haben. Traditionell benötigen sie dann einen Teufel, um erklären zu können, wie das möglich war. Mir ist die Feststellung wichtig, daß der Glaube an die Sonne keinen Deut vernünftiger ist als der an den Teufel.

Damit bestreite ich Teufels-Erfahrungen ebensowenig wie Sonnen-Wahrnehmungen, in beiden Fällen aber ihre traditionelle Interpretation.

Teufels- sind ebenso möglich wie Sonnen-Erfahrungen, aber die Sonne ist ebenso absurd wie der Teufel.

 

AD:  „Ich würde aus persönlichen Gründen den Teufel gerne aus dem Spiel lassen . . .

Aber Sie werden doch nicht ernstlich bestreiten wollen, daß uns die – Sie würden sagen: ‚Erfindung‘ der – Ur-Sonne gestattet, die Wahrnehmung Sonne wunderbar zu erklären. Bei Ihnen muß die Sonne dagegen ‚vom Himmel gefallen‘ sein.“

Nein; das ist sie natürlich nicht; aber die traditionell Denkenden haben zu erklären, wo ihre Sonne herkommt, denn erst dann können sie damit die Wahrnehmungs-Sonne „wunderbar erklären“.

Die Wahrnehmungs-Sonne entsteht durch die subjektive Genese unserer Wissungen.

Für die Ur-Sonne benötigen Sie dagegen eine Evolution oder traditionelle verstandene Schöpfung bzw. etwas ähnliches.

 

AD: „Ich verstehe Sie leider immer noch nicht.

Wir gehen spazieren und sehen in der Ferne über den Baumspitzen einen Turm; das ist unser Ziel, und in zwei Stunden werden wir es erreicht haben. Während des Weges haben wir höchstens die Sicht auf den Turm, das heißt, ein Abbild von ihm. Angekommen am Ziel erleben wir den wirklichen Turm selbst, können in ihm als dem Urbild hinaufsteigen, unsere Namen einritzen und herunterfallen; bei seinem Abbild geht das alles nicht.“

 

Ich korrigiere in meinem Sinne und versuche dabei, so nahe wir möglich an Ihrem Text zu bleiben:

Wir gehen spazieren und sehen in der Ferne über den Baumspitzen einen Turm-Aktanten; das ist unser Ziel, und in zwei Stunden werden wir es erreicht haben. Während des Weges haben wir die Turm-Vorstellung und ab und zu auch den Turm-Aktanten, das heißt, ein Abbild von ihm. Angekommen am Ziel erleben wir den Turm-Aktanten selbst, können in ihm als dem Urbild hinaufsteigen, unsere Namen einritzen und herunterfallen; bei einer Vorstellung geht das alles nicht.“

 

Der Allerwelts-Satz „Ich nehme einen Turm wahr“ wird im allgemeinen so verstanden, daß dort an sich ein Turm steht und wir ihn wahrnehmen. Dann wäre aber dieser Turm das Wahrgenommene, und indem wir ihn wahrnehmen oder abbilden, gelangen wir zu einer Wahrnehmung von ihm – dem wahrgenommenen, an sich oder unabhängig von uns existierenden Turm.

Die Formulierung „Ich nehme einen Turm wahr“ läßt sich somit fast nur traditionell-falsch – als Verdopplung zu zwei TÜRMEN – verstehen.

AD:  „Das würde bedeuten, daß wir mit nahezu jedem grammatisch sauber formulierten Satz philosophischen Unsinn sagen . . .“

Richtig; und das paßt genau zu den Gedanken Wittgensteins, die wir oben angedeutet hatten; bei ihm heißt das konkret:

Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache.“

 

Wir könnten weiterfragen, wo sich Ihr wahrgenommener Turm befinden soll.

AD: „Auf dem Berg natürlich; wo sonst?“

Nein; diese Antwort ist nicht natürlich, sondern im Sinne der Tradition sogar falsch, weil wir unseren TURM-Disput nun als BERG-Disput fortsetzen müßten:

Es gibt natürlich auch zwei BERGE; den wahrgenommenen Berg und die Wahrnehmung Berg. Der Turm steht auf dem Berg, und beides sind Abbilder; der Turm kann sich dagegen nur auf dem Berg befinden, und beides sind Urbilder.

Sie sollten ahnen, wo das hinführt: Turm auf dem Berg, Berg in der Landschaft, Landschaft auf der Insel, Insel im Meer, . . . – zum Aufbau einer ganzen Hinterwelt.

 

Nehmen wir noch die Verstehungen als Beispiel, weil sie vielleicht einfacher sind; sie benötigen – und es gibt meines Erachtens auch – kein Verstandenes.

Während Sie jetzt lesen, will ich bei Ihnen ganz bestimmte Verstehungen bewirken, und irgendwelche werden sich auch tatsächlich einstellen. Welche das sind, kann ich nicht wissen; und welche Verstehungen ich bei Ihnen beabsichtigt hatte, ahnen Sie nicht; es gibt kein Verstandenes, sondern jeder hat immer nur seine eigenen subjektiven Verstehungen.

Gefallen Ihnen die Ihrigen – weil sie gut in Ihr bisheriges Weltbild passen, originell sind oder weshalb auch immer –, so denken Sie vielleicht, mich (richtig) verstanden zu haben. Aber das ist doch weder von Ihnen noch von mir feststellbar; Sie sind zufrieden; mehr bleibt hierbei nicht zu sagen.

Wenn bei Ihnen dagegen alles durcheinandergeht und Sie unzufrieden sind, glauben Sie vielleicht, mich nicht verstanden zu haben. Das ist natürlich möglich – es könnte aber auch sein, daß Ihre Verstehungen, obwohl sie Ihnen befremdlich vorkommen, exakt dem entsprechen, was ich Ihnen sagen wollte; Sie sollten vielleicht irritiert werden.

Und wenn Sie rückfragen möchten, kommt bei mir natürlich nicht das angeblich von Ihnen Gefragte an, sondern wiederum nur meine Verstehungen; es gibt weder Verstandenes noch Gefragtes.  

3.3.3. Radikaler Konstruktivismus

Unser Ansatz stimmt mit dem Radikalen Konstruktivismus darin überein, daß in beiden Fällen keine objektive Realität existiert; damit hören die Gemeinsamkeiten aber auch schon auf. Es sind vor allem zwei Probleme, die der Radikale Konstruktivismus meines Erachtens nicht lösen kann und wegen derer ich ihn ablehne.

 

Der erste Punkt betrifft die Stellung oder Rolle des Gehirns.

Wenn alles nur eine Konstruktion darstellen würde, hätten wir keinen Konstrukteur, denn dieser kann nicht seiner eigenen Konstruktion angehören; das wäre widersprüchlich. 

Der Radikale Konstruktivismus „löst“ dieses Problem mit sehr viel unsauberem Gerede, indem er – entsprechend der neurophilosophischen „Erkenntnis“ „Ich ist gleich Gehirn“ – letzteres zum Konstrukteur erklärt.

Abgesehen von der fundamentalen Frage, woher seine Vertreter das wissen wollen, wenn alles andere eine bloße Konstruktion ist und auch das Gehirn kein Schild mit der Aufschrift „Ich bin der Konstrukteur“ trägt, entstehen natürlich zahllose weitere Probleme.

Eines davon resultiert ganz simpel daraus, daß es sehr viele Gehirne gibt. Als Konstrukteur benötige ich natürlich nur mein eigenes; sind die fremden Gehirne ebenfalls wirklich oder nur von mir konstruiert? 

Schwierig gestaltet sich offensichtlich auch die Grenzziehung. Wo endet der Konstrukteur, und beginnt die Konstruktion? Wie gehen die beiden ineinander über? Wohin gehören insbesondere das Zentralnervensystem, die Sinnesorgane und die Gliedmaßen?

 

Der Radikale Konstruktivismus ist, mit anderen Worten, nicht radikal genug, weil er das eigene Gehirn ganz traditionell als Seiendes denkt und auch denken muß, um einen Konstrukteur – für alles Restliche, das Konstruierte – zu gewinnen.

Unser Ansatz ist zum einen radikaler; darin spielt das Gehirn keine Sonderrolle, sondern ist lediglich einer der praktisch unendlichen vielen Aktanten unserer subjektiven Welt.

Und zum anderen suchen wir das Subjekt nicht auf der Seite der Wissungen, sondern im Leben; diesbezüglich denkt der Radikale Konstruktivismus noch ganz traditionell.

 

Die zweite Schwierigkeit, die ich und auch seine Vertreter selbst mit dem Radikalen Konstruktivismus haben, besteht darin, daß der Übergang von der angeblichen objektiven Realität zu bloßen Konstruktionen den gewaltigen Unterschied zwischen – in unserer Sprache formuliert –  Aktanten und Vorstellungen nicht einfach ignorieren kann. Vor dem Aktanten „Krokodil im Swimmingpool“ erschrecken wir – mit Recht –, während die entsprechende Vorstellung bestenfalls ein wohliges Gruseln hervorruft.

Im Radikalen Konstruktivismus habe ich – sehr interessiert, aber – leider vergebens nach einer befriedigenden Aufarbeitung dieses Problems gesucht:

Was unterscheidet den Krokodil-Aktanten von der Krokodil-Vorstellung, wenn beide konstruiert sind?

 

AD:  „Unser Ansatz scheint mir in der Tat widerspruchsfrei möglich zu sein, weil wir – anders als der Radikale Konstruktivismus – das Subjekt nicht innerhalb der Wissungen lokalisieren (müssen).

Bei letzteren sprechen Sie nicht von Konstruktionen, sondern sagen, die Wissungen würden geerstmaligt – um dann natürlich wiederholt werden zu können – oder verdanken sich einer Genese.  

All das sind bisher nur Worte; wir benötigen aber einen verständlich erklärenden Inhalt:

Was unterscheidet das Konstruieren so grundlegend vom Erstmaligen oder Generieren, daß wir den Anspruch erheben können, den prinzipiellen Unterschied zwischen Aktanten und Vorstellungen zu durchschauen?“ 

 

Aktanten sind keine bloßen Konstruktionen, denn sie wirken – zwar nicht-objektiv-real, aber immerhin – subjektiv-real.

Das ist keine schwierige oder unsichere Behauptung, sondern eine ganz simple Beschreibung unserer eigenen Welt. Fällt uns ein Stein auf den Fuß, spüren wir dieses Wirken überdeutlich.

Würde ein seiender Stein auf den seienden Fuß fallen, ständen wir vor dem Problem, erklären zu müssen, wie der wirkliche Schmerz in unsere Psyche gelangt – obwohl sich von Stein und Fuß nur die Abbilder darin befinden.  

 

Für uns ändert sich optisch und empfindungsmäßig absolut nichts:

Ein Stein fällt uns auf den Fuß, und wir spüren Schmerzen.

Wir korrigieren ausschließlich die zugehörige Theorie und tuen dies nicht hochspekulativ, sondern gestalten sie  realistischer oder wirklichkeitsnäher als die Tradition:

 

1. Der Dualismus zwischen objektiver Realität und Psyche entfällt.

2. Die beiden werden im eigenen subjektiven Bewußtsein vereint.

3. Damit gibt es weder Seiende oder Urbilder noch Abbilder bzw. Abbilden.

4. Die traditionellen Urbilder werden zu Aktanten, ud die Abbilder zu Vorstellungen.

5. Beide befinden sich im Bewußtsein, so daß wir sie problemlos vergleichen können.

6. Der Aktant Stein fällt auf den Aktant Fuß.

7. Ich hatte gehofft – mir vorgestellt –, er würde daneben fallen . . .

8. Dieses Vergleichen von Aktant und Vorstellung tritt an die Stelle des traditionellen Wahrnehmens oder Abbildens.

9. Dennoch bleiben Stein und Fuß Bilder im wörtlichen Sinne von Sehungen.

10. Wir sehen beide – wie eine Photographie –, bilden sie aber nicht ab, im traditionell-philosophischen Sinn.

 

Das hatte ich oben mit „Realismus“ gemeint:

Die gesamte traditionell-moderne Hinterwelt entfällt; es gibt nur eine Art von Sehen, Hören, Riechen oder ähnlichem – und nicht eine philosophische neben der physikalischen. 

Nichtsdestotrotz beschäftigen wir uns mit Philosophie und nicht Physik, weil unsere Subjekte keine physikalischen Körper sind, sondern dem Leben angehören. Die Philosophie konstruiert keine (unnötigen) Probleme, sondern versucht sie zu beseitigen.

 

AD:  „Ich glaube, das war für viele Leser hilfreich . . .

Das Generieren oder Erstmaligen benötigen wir dennoch, weil die Wissungen im Laufe unseres Leben ja erst entsteen müssen. Als ABC-Schützen gab es für uns beispielsweise weder Demokratie noch Elementarteilchen.

Die Genese tritt damit an die Stelle der Evolution, . . .“

. . . und worin die Schöpfung bestehen könnte, heben wir uns für später auf.

3.4. Die objektive Realität als Hinterwelt

AD: „Das traditionelle Denken setzt den Psyche-Welt-Dualismus voraus, und deswegen können wir – in unserer Kritik – dort auch von Projektionen sprechen.

Die Vertreter der Tradition glauben, die objektive Realität abgebildet zu haben. Wir halten das für unmöglich, kehren den Zusammenhang um – stellen ihn vom Kopf auf die Beine – und betrachten die objektive Realität als eine Projektion der psychischen „Selbstverständlichkeiten“.

Das ist völlig unproblematisch, weil – zwar nichts nach innen abgebildet, aber – alles nach außen projiziert werden kann.“ 

Sehr schön; der Deutlichkeit halber möchte ich lediglich ergänzen:

Der traditionelle Psyche-Welt-Dualismus kann als Basis des Projizierens richtig, und als eine solche des Abbildens falsch verstanden werden.

Wir haben ihn in der Einhet des Bewußtseins überwunden und können dadurch weder projizieren noch abbilden – müssen es zum Glück aber auch nicht.

 

AD:  „Wenn die objektive Realität mit ihren Seienden oder Urbildern nur eine Projektion darstellt, die zudem noch auf einer falschen Voraussetzung beruht – dem Psyche-Welt-Dualismus –, müssen wir sie als eine bloße Hinterwelt verstehen.“ 

Ja; und das vollkommen unabhängig davon, worin diese Seienden angeblich bestehen. Wer an ihrer Stelle die Materie sucht, ist keinen Deut aufgeklärter oder heller als derjenige, der dort den Teufel glaubt; jede objektive Realität ist eine Hinterwelt.

Hierzu gehören also insbesondere die Überzeugungen sowohl der religiösen als auch der wissenschaftsgläubigen Fundamentalisten.

„Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht“ (Dietrich Bonhoeffer), denn er wäre objektiv-real und damit hinterwäldlerisch – freilich ebenso wie eine Materie, die es gibt.

 

AD: „Ich darf also an nichts mit Sicherheit glauben oder von keiner Entität fest überzeugt sein, denn ich würde auf diese Weise hinterwäldlerisch und mich damit von jedem vernünftigen Diskurs verabschieden?“

Nein; das wäre ja furchtbar, würde ich dergleichen – Absurditäten – behaupteten!

Ob Sie etwas und gegebenenfalls was Sie mit 100%-iger Sicherheit glauben, spielt keine Rolle; entscheidend ist allein, daß Sie es als subjektiv- und nicht objetiv-real betrachten.

 

Wir könnten uns beispielsweise todsicher sein, daß es sowohl Materie als auch eine Evolution gibt, Gott mit einem Hofstaat von Engeln und der Teufel nebst Unterteufeln existieren. Es gibt vielleicht gar nichts Widerspruchsfreies, das wir nicht für selbstverständlich halten dürften.

Die Begründung für unseren möglicherweise ganz tiefen Glauben müßte dabei jedoch sinngemäß stets etwa folgendermaßen lauten:

„Aufgrund meines bisherigen Lebens ergibt sich für mich zwingend, daß es sich so verhalten muß; ich kann gar nicht anders denken, will ich nicht unvernünftig sein, mir selbst widersprechen, mich absichtlich dumm stellen oder selbst belügen.

Ich bin keineswegs hinterwäldlerisch, habe den traditionellen Psyche-Welt-Dualismus überwunden, spreche nur von den Überzeugungen in meinem Bewußtsein und beanspruche somit auch keine Wahrheit. Ich will wahrhaftig sein – und sage deswegen ganz ehrlich, wie ich es sehe; mehr ist gar nicht möglich und vermag niemand.

Geht um um unsere subjektive Wahrhaftigkeit und nicht um die objektive Wahrheit, sind wir absolut nicht hinterwäldlerisch, wie „hinterwäldlerisch“ auch immer unsere Überzeugungen sein mögen. Dann sagen wir jedoch nicht „so ist es“; diese Anmaßung der traditionellen Wahrheit entspricht dem Hinterwäldlerischen.

 

AD:  „Und sie entspricht dem Sein-Wollen-wie-Gott?“

Etwa in diese Richtung versuche ich zu denken.

Ohne das traditionelle Denken ist ein solcher Wahrheitsanspruch gar nicht möglich; es bildet eine notwendige Voraussetzung dafür, muß aber nicht zu ihm führen. Menschen können traditionell denken und sich dennoch ganz bescheiden weit entfernt von jeder Wahrheit wähnen.

Wer jedoch den Anspruch erhebt, sie zu besitzen,

– will wie Gott sein,

– ist in Wirklichkeit aber hinterwäldlerisch.

3.4.1. Wissenschaft und Hinterwelt

Warum ver(sch)wende ich so viel Zeit und Mühe darauf, Ihnen etwas wegnehmen zu wollen, was Sie ohnehin niemals erfahren haben bzw. werden? Etwas, was uns prinzipiell nicht begegnen kann, muß doch konsequenzenlos sein – oder nicht?

Anders formuliert:

Obwohl in allen Wissenschaften nur Aktanten und Vorstellungen auftreten (können) und noch niemandem Urbilder begegnet sind, glauben sehr viele Vertreter insbesondere der empirischen Wissenschaften an eine objektive Realität und projizieren somit selbst ihre eigenen Forschungsergebnisse in eine Hinterwelt. Da diese aber in der Forschung ohnehin keine Rolle spielt, müßte es doch völlig gleichgültig sein, ob sie das tun?

Ob die Wissenschaftler selbst eine solche Hinterwelt annehmen oder nicht, mag tatsächlich einerlei sein. Aber von kaum zu überschätzender Bedeutung ist es, ob ihr Umfeld, die Geldgeber und wissenschaftlichen Leiter oder die Gesellschaft (an) die Urbilder glauben.

 

Können wir plausibel machen, daß das Ziel unserer Forschung die neutrale Abbildung der objektiven Realität sei, „so läßt sich letztlich jede Forschung rechtfertigen, weil sie dann voraussetzungslos und somit auch wertfrei ist, weil Wissen uns nur helfen kann oder immer besser ist als Nicht-Wissen. Allein Lügner, Verführer und Scharlatane müssen Angst vor der Wahrheit haben; die Zunahme des Wissens ist purer Fortschritt.“

Und außerdem befinden wir uns als diejenigen, die lediglich Urbilder wiedergeben, in einer beneidenswerten Position: Wie entsetzlich auch immer unsere Ergebnisse sein mögen – „wir sind nicht verantwortlich und finden sie auch einfach nur schrecklich. Beschwert Euch aber bitte an einer anderen Stelle, bei Gott, der Evolution oder wo auch immer, jedenfalls nicht bei uns; wir haben das nicht gemacht, sondern bilden es nur ab. Wir zeigen Euch nur, wie schlimm alles ist; seid uns dankbar“ – und nun können sich wieder die mit Anführungsstrichen versehenen Ausführungen des vorhergehenden Absatzes anschließen.  

 

Die Wirklichkeit von Urbildern zu behaupten oder eine entsprechende Hinterwelt zu erfinden, ist letztlich die Lüge, es gäbe eine Kotrollinstanz für unsere Forschung:

„Würden wir die Urbilder nicht adäquat abbilden oder wären wir nicht auf dem Wege zur Wahrheit, träten Widerstände und Widersprüche auf, hätten wir keine technischen Erfolge und es entstünde ein großes Tohuwabohu. All das geschieht nicht; wir befinden uns also auf einem guten Weg, und laßt uns bitte so weitermachen. Wenn wir etwas Unrechtes tun, wird sich die Natur – der Urbilder – gewiß zu Wort melden.“

 

Deswegen sehe ich in dem traditionellen Denken mit seinem Glauben an die Hinterwelt einen gewichtigen Grund für unsere aktualen Menschheitsprobleme.

Die als Kontrollinstanz behauptete objektive Realität, die dem Forschen eine Richtung vorgeben und es begrenzen oder unseren Eingriffen einen Riegel vorschieben könnte, existiert nicht. Was auch immer geschieht, wir ecken nicht an – weil nichts existiert, das sich uns in den Weg zu stellen vermag – und nutzen dieses Gar-nicht-Anecken-Können weidlich aus; entweder naiv oder berechnend; verantwortungslos ist beides.

Wir mißbrauchen, mit anderen Worten, den weit verbreiteten Glauben an eine objektive Realität, um unseren bisherigen Weg rückblickend als richtig darstellen zu können – es hat nicht geknallt – und in diesem Sinne weitermachen zu dürfen – die Urbilder werden sich melden, sollten wir tatsächlich einmal danebenliegen.

Das werden sie niemals, weil sie gar nicht existieren.

 

So geht unser Fortschritt immer weiter; aber er besitzt kein Ziel (mehr), sondern besteht lediglich in der Überzeugung, daß das Neue stets das Bessere ist, wodurch die Beschleunigung unseres Lebens immer stärker zunimmt.

Das bedeutet jedoch, daß wir die Urbilder – aus den soeben angedeuteten Gründen – immer noch auftischen müssen. Aber glauben können wir sie schon lange nicht mehr; wie sollte sich immer schneller alles andern – wenn im Hintergrund ewige Seiende ständen?

 

AD: „Ohne objektive Realität gibt es aber auch keine Objektivität der Wissenschaften?“

Vorsicht; dieser Begriff ist zweideutig!

Erkenntnistheoretisch haben Sie natürlich Recht; die traditionelle „objektive Wahrheit“ läßt sich nicht halten ohne – den Glauben an – eine Hinterwelt.

 

Die berechtigte Forderung nach der wissenschaftlichen Objektivität ist jedoch eine ganz andere, nämlich rein ethische

Alle Ergebnisse sollten ehrlich zustandekommen, unabhängig von den Wünschen der Forscher und somit nicht manipuliert sein; subjektive Interessen dürften keine Rolle spielen; messen wir, was wir nicht wollten, dann messen wir eben, was wir nicht wollten; schade! Eine solche Objektivität wird stets das Ziel der Forschung bleiben (müssen), hängt jedoch mit unseren Überlegungen bestenfalls am Rande zusammen.

 

AD: „Aber wenn es keine objektive Realität gibt und unsere Überzeugungen somit weder wahr noch unwahr sind, kann es doch auch im Alltag, vor Gericht, bei Unfällen oder wissenschaftlichen Auseinandersetzungen nicht um die Wahrheit gehen.

Warum – und worum – streiten wir dann häufig so erbittert?“ 

Diesen Punkt hatten wir schon mehrfach angesprochen; er betrifft den Unterschied zwischen philosophischem Abbilden und alltäglichem „Abbilden“.

Ich antworte Ihnen einmal mit anderen Worten.

 

Wir gehen mit der Tradition von einem zweistufigen Wahrheitsbegriff aus.

Zum einen gibt es die alltägliche Wahrheit, wozu ihre Beispiele zählen und unser ganz normales „Abbilden“.

Zum anderen ist ihr die philosophische Wahrheit vor- oder übergeordnet.

Die Tradition glaubt, auch hier „abbilden“ – sauber: abbilden – zu können.

Wir bestreiten diese zweite Wahrheit nicht; auch unsere Wissungen sollten natürlich wahr sein. Aber wir erheben zum einen nicht den Anspruch, das kontrollieren und damit über die Wahrheit verfügen zu können. Ihr Gegenpol besteht nicht in einer objektiven Realität; wir wissen absolut nichts von ihm, bestreiten aber keineswegs seine Existenz.

Zum anderen geht es bei der philosophischen Wahrheit auch nicht um ein symmetrisches Vergleichen, denn sie ist uns absolut vorgeordnet, und wir sind von ihren Gnaden.

 

 

  unbekannte Wirklichkeit
unser Ansatz
objektive Reallität traditioneller Ansatz
philosophische Wahrheit  
  Wissungen
 
alltägliche Wahrheit ←—   Vergleichen   —→  
Aktanten Vorstellungen  

Abbildung 3.4.1.-1

 

3.4.2. Wahrheit und Überzeugung

Bei Verzicht auf die Hinterwelt können wir die offensichtliche Tatsache anerkennen, daß Kinder und Erwachsene, Soziahilfeempfänger und Manager, Christen und Muslime sowie um Regen tanzende Hopiindianer oder atheistische Abendländer, psychisch „Kranke“ sowie Nobelpreisträger erfolgreich mit ihren jeweiligen subjektiven Welten leben, von deren Existenz sie überzeugt sind.

Nietzsche wußte das schon lange vor uns und schrieb am Ausgang der Moderne, daß „die wahre Welt zur Fabel geworden ist“. Das führt zu dem postmodernen Pluralismus der Welten, den wir heute alle bereits erleben, der aber erst am Anfang seiner Entfaltung stehen und sämtliche „Bastionen einer objektiven Wahrheit“ hinwegfegen dürfte.

Ob wir die Heraufkunft dieses Pluralismus begrüßen oder bedauern und die damit verbundenen neuen Freiheiten feiern bzw. den verlorenen Gewißheiten nachtrauern, ist völlig belanglos, weil es ohne Katastrophen wie Kriege, Umweltzerstörung, Genmanipulation, Gehirnwäsche, Diktatur usw. kein Zurück in die eindimensionale – Naivität der – Vergangenheit geben wird.

Wir benötigen mit Sicherheit eine Aufklärung über die „Aufklärung“ – zu der hier ein kitzekleiner Baustein beigesteuert werden soll –, können uns aber partout kein Hinter-die-„Aufklärung“-zurück wünschen, wenn wir die subjektive Vernunft und Freiheit als die Grundlagen der Menschenwürde verstehen (wollen). 

 

Wir müssen also Überzeugung und Wahrheit deutlich auseinanderhalten.

Letztere besitzt niemand, weil man sie gar nicht besitzen kann. Behaupten wir in einem Disput, die eigene Überzeugung sei wahr, dann ist das kein – weiteres – Argument für unsere Position, sondern lediglich die unseren Gesprächspartner beleidigende Behauptung, daß seine Überzeugung falsch sein muß, insoweit sie der unsrigen widerspricht.

Krass ausgedrückt bedeutet „Ich habe die Wahrheit“ im Sreitgespräch das Gleiche wie „Sie irren – und irgendwann ist meine Geduld mit Ihnen zu Ende“.

Wer so redet, sehnt sich nicht nach Wahrheit, sondern will Recht haben.

Denn wer die Wahrheit sucht – und das würde ich für mich persönlich gerne unterschreiben –, kann nicht behaupten, sie (bereits) zu haben; entweder . . ., oder . . . Ich bin überzeugt, daß sich das, was wir haben (können), gemessen an der Wahrheit einmal als entsetzlich lächerlich erweisen wird und wir uns dann für diese kleinkarierte „Wahrheit“ schämen werden.

Das sagte beispielsweise Karl Rahner von seiner eigenen Theologie; er stellte sich vor, wie Gott darüber lacht: „Das soll ich sein?“

 

Wir können bestenfalls – und sollten natürlich auch – wahrhaftig sein; das heißt, im Sinne unserer Überzeugungen leben und damit ohne alle diesbezüglichen Wahrheitsansprüche das sagen, was wir wirklich glauben oder denken und auch dementsprechend handeln.

André Gide warnt uns vor allen Menschen, die mit dem Anspruch auftreten, die Wahrheit gefunden zu haben, und empfiehlt uns diejenigen, die nach ihr suchen.

 

In einer frommen Sprache formuliert heißt das meines Erachtens:

Christen, die sich im Besitz der Wahrheit glauben, erwarten vom Reich Gottes lediglich die – lobhudelnde – Bestätigung, daß Sie Recht hatten; das wäre meines Erachtens entsetzlich wenig und grauselig langweilig.

Ich bin dagegen überzeugt, daß wir in unserem ganzen irdischen Leben keine Wahrheit finden können, aber nichtsdestotrotz Suchende bleiben sollen und das Reich Gottes uns mit seiner Wahrheit trotzdem umwerfen wird, zumindest hoffe ich das ganz stark.

Es würde mich fuchtbar enttäuschen, wäre Gott nicht viel mehr und total anderes eingefallen als mir.

 

Daß wußte schon Lessing vor bald 300 Jahren, und weil er mir direkt aus der Seele spricht, zitiere ich ihn ausnahmsweise einmal recht ausführlich:

„Wenn mir in der einen Hand die Wahrheit, in der anderen das Streben nach ihr geboten würde und ich wählen müßte, ich würde das letztere wählen, und des Apostels Aufforderung lautet: Prüfet alles! Ohne Prüfung kann man nicht erfahren, ob der Geist, der in uns spricht, und die Geister, die zu uns reden, aus Gott sind oder nicht. Nur durch redliche von reiner Liebe zur Wahrheit ausgehende Prüfung wird sie allmählich unser Eigentum.

Darum fühlen wir uns zu dem hingezogen, der uns zur Prüfung seiner angeblichen Wahrheit auffordert, und wenden uns von dem ab, der uns seine Wahrheit aufdrängen will. Ein solcher erweckt mit Recht in uns das Vorurteil, daß er selbst nicht an die Wahrheit seiner Lehren glaube.

Denn die Wahrheit kann durch Prüfung nur gewinnen; die Wahrheit besteht in der Prüfung, die Lüge und der Wahn aber verschwinden durch sie. Wer daher die Prüfung vorgeblicher Wahrheiten scheut und verhindern will, ist kein Freund der Wahrheit, sondern ihr Feind.

Kein Mensch auf Erden hat daher Ansprüche auf sogenannte Untrüglichkeit. Wer als unbedingte Autorität gelten will, wird daher verworfen.“

 

Lessing dachte zu seiner Zeit natürlich insbesondere an religiöse „Autoritäten“. Mir ist jedoch sehr wichtig, daß durch die „Aufklärung“ der christliche Absolutismus in einen exakt-wissenschaftlichen umgeschlagen ist und deshalb noch heute von Aufklärung nur sehr bedingt die Rede sein kann.

Sie besteht meines Erachtens darin, daß jegliche Form von objektiver Realität – christliche, wissenschaftliche, esoterische usw. – als Hinterwelt durchschaut wird.

3.4.3. Das moderne Weltbild als Mythos

Wir – das heißt, die erwachsenen und angeblich gesunden Abendländer um die zweite Jahrtausendwende – glauben zumeist, vom physikalischen Kosmos als einer objektiv-wirklichen Realität zu sprechen, während alle anderen Kulturen der Vergangenheit und Gegenwart aus unserer Sicht nur über bloße Weltbilder verfügen. Das sind Vorstellungen in der Psyche, die nur irrtümlich als Abbilder geglaubt werden – wovon aber bei vielen, besonders exotischen Weltbildern partout nicht die Rede sein kann. Unser Weltbild ist dagegen weitestgehend adäquat, und die anderen Varianten stellen bestenfalls seine Vorstufen dar oder sollten eher unter „Mythen“ eingeordnet werden.

Diese heute weit verbreitete Einstellung halte ich jedoch selbst für einen Mythos; es ist derjenige vom Fortschritt als der großen modernen „Metaerzählung“ (Jean-François Lyotard), die natürlich – wie könnte es auch anders sein – direkt zu uns als der Krone der Schöpfung Evolution führt und deshalb nur allzugerne geglaubt wird.

 

Die kosmische Evolutionstheorie ist der „Weltentstehungsmythos des Atomzeitalters“ (Georg Picht).

Letzteres begann mit dem little bang von Hiroshima und Nagasaki, ist aber auch sonst ein Zeitalter der Explosionen; Bevölkerungszahlen, Wissungen, Informationen, Verfügbarkeiten, Fördermengen, Ansprüche, Geschwindigkeiten, Erwartungen, Produktionsraten usw. schnellen plötzlich in die Höhe. Damit einher gehen Zerstörungen beispielsweise von Lebensgrundlagen, Traditionen, Religionen, Werten, Sprachen, Minderheiten, Tieren oder Pflanzen.

Kann es uns überraschen, daß die Menschen einer solchen Zeit glauben, sich einem großen Knall verdanken zu müssen?

Die Urknalltheorie ist natürlich eine physikalische, aber sie wird nicht von einer angeblichen objektiven Realität her verständlich – Physiker sind keine Hinterwäldler –, sondern aus unserer Psyche heraus.

 

Ich bin – gegen den Zeitgeist – fest überzeugt, daß wir keine Ausnahmekultur sind und über subjektive Welten sowie Weltbilder verfügen wie alle anderen Kulturen auch. Sämtliche Varianten haben ihre Vor- und Nachteile; weder sind sie nahezu gleichwertig im Sinne von Paul Feyerabends „anything goes“, noch befinden sich nachweislich wahre Welten bzw. Weltbilder darunter

Vor gut zehn Jahren habe ich mit dem Buch „Ursprüngliche Wirklichkeit“ die Hinführung zu einem solch avantgardistischen, das traditionelle Denken sprengenden Ansatz vorgelegt, die insbesondere wissenschaftsgläubigen Lesern helfen sollte, Michel Henrys „Philosophie des Johannesevangeliums“ besser zu verstehen. Die ersten 100 Seiten davon könnte ich Ihnen heute noch gutens Gewissens empfehlen, den Rest nicht mehr; an seine Stelle tritt das vorliegende Buch.

 

Wir glauben nicht, was richtig ist, sondern was zu glauben wir für richtig halten.

Das ist fast eine Tautologie; alle gehen so vor, die traditionell Denkenden akzeptieren es nur nicht und berichten – gutgläubig – von ihrer Hinterwelt.

Das traditionelle Weltbild verstellt den Blick auf die Wirklichkeit des Lebens, indem es uns eine objektive Realität vorgaukelt. Nichtsdestotrotz glauben wir dieses Weltbild nur allzugerne – und belügen uns damit selbst.

Fünf nachvollziehbare Gründe für diesen Selbstbetrug schauen wir uns kurz an.

 

1. Zunächst möchten wir sehr gerne wissen, „wie es wirklich ist“; postmodern – das heißt nicht-traditionell – läßt sich diese Sehnsucht jedoch nicht erfüllen.

 

2. Des weiteren wünschen wir uns Sicherheit, und diese scheint nicht zuletzt dadurch gewährleistet, daß wir auf möglichst viele Fragen sowohl eindeutige als auch einfache Antworten geben können.

Es gibt sogar eine „Faszination des Primitiven“, die wir beispielsweise bei politischen oder sportlichen Großveranstaltungen mitunter ungeschminkt erleben. Und der Naive Realismus ist gewiß auch keine intellektuelle Meisterleistung . . .

 

3. Wir suchen nach wärmender Gemeinschaft und möchten gerne in ihrem Strom mitschwimmen.

Die Mehrheit denkt aber nicht, und zahlreiche Umfragen zeigen, daß sie das auch gar nicht möchte; zu denken vermag nur der Einzelne – wenn er denn will.

 

4. Viele Wissungen erscheinen uns als alternativlos, so daß wir scheinbar felsenfest von ihnen überzeugt sein müssen. Aber gegen die Annahme, Denknotwendigkeit müsse etwas mit Wahrheit zu tun haben, sprechen zumindest zwei sehr starke Argumente.

Zum einen resultiert die angedeutete „Evidenz“ möglicherweise aus unserer Einseitigkeit, Denkfaulheit, Ignoranz oder mangelnden Phantasie. Wer kreativer ist, intensiver überlegt oder mehr Zeit investiert, findet vielleicht noch ganz andere Antworten.

Zum anderen ist alles Argumentieren, Beweisen oder Widerlegen an unser Weltbild gebunden; Denken heißt, sich innerhalb von ihm geistig zu bewegen, denn kein einziger Gedanke, der nicht bereits explizit zum Weltbild gehört oder sich aus ihm ergibt, ist uns zugänglich.

Sämtliche Schlüsse oder Begründungen tragen also den Vermerk: „im Rahmen meines Weltbilds“, denn sie setzen dieses als unhinterfragbares Nonplusultra voraus. Unser Weltbild legt, anders formuliert, beispielsweise fest, was 100%-ig sicher bzw. absolut unmöglich ist. A muß und B kann nicht sein – in meinem Weltbild; dieses und keine angebliche objektive Realität, liefert die Begründung dafür.

 

5. Unsere Technik bildet die Anwendung der exakten Wissenschaften, und daß wir technisch unglaublich erfolgreich sind, scheint zu beweisen, daß die exakten Wissenschaften die objektive Realität adäquat wiedergeben.

Dem würde ich entgegenhalten, daß andere Kulturen mit ihren – dann natürlich – „falschen“ Weltbildern teilweise sehr lange bestanden; das ägyptische Pharaonentum beispielsweise 3000 Jahre. Unser „richtiges“ modernes Weltbild stellt uns dagegen bereits nach vier Jahrhunderten vor immer größer werdende Probleme.

AD: „Das mag theoretisch stimmen, praktisch ist aber von keiner anderen Kultur jemand zum Mond geflogen.“

Vielleicht wollte es auch keiner!

 

Nicht nur, was man tun, sondern auch was man wollen kann, hängt doch vom Weltbild ab. Andere Kulturen strebten vielleicht nach einem Kontakt mit ihren Göttern oder Ahnen; den haben sie möglicherweise erreicht. Wir können ihn gar nicht wollen, weil das in unserem Weltbild Quatsch ist.

Wenn die Ägypter beispielsweise unsere Sonne als ihren Gott Re verehrt haben, mußte ihnen der Gedanke, hinfliegen zu wollen, einfach als absurd erschienen sein. Kennen Sie einen Gläubigen, der ernstlich in die Transzendenz fliegen möchte? Wo müßte er dann eigentlich starten und in welche Richtung?

Unsere diesbezügliche „Logik“ ist doch völlig verquer:

Alle wollten das, was wir können, haben es aber nicht geschafft – wodurch der Fortschritt zu und durch uns bewiesen wäre; q. e. d.

 

Damit verlängern wir im weiteren die Liste der allgemein bekannten Kränkungen des Menschen duch die moderne Wissenschaft über Galilei, Darwin und Freud hinaus. Die „Aufgeklärten“ unter uns, die stolz auf ihren Verstand sind, müssen enttäuscht sein:

1. Die angebliche objektive Welt ist nur eine projizierte Hinterwelt.

2. Alle Wissungen sind auf das eigene subektive Welt(bild) begrenzt, so daß sie völlig daneben sein könnten.

3. Die Helle des Verstandes erreicht nicht die Wirklichkeit des Lebens, sondern nur das Welt(bild).

3.5. Die Frage nach der Wirklichkeit

Für uns ist die Wirklichkeit das Leben, wir wissen aber nicht, worin letzteres besteht; es gibt keinerlei Wissungen vom Leben.

Wenn wir Recht haben und das Leben tatsächlich die Wirklichkeit bildet, muß es sich jedoch auch so verhalten: Kant zeigte, daß die „Wirklichkeit kein Prädikat“ darstellt und somit nicht gewußt werden kann.

Seine etwas abstrakten Überlegungen lassen wir auf sich beruhen; ich versuche lediglich, Ihnen Kants Begründung ein wenig plausibel zu machen.

 

Krokodile gibt es traditionell; sie haben 1000 Eigenschaften, und eine von ihnen besteht in der Wirklichkeit der Krokodile.

Drachen besitzen ebenfalls 1000 Eigenschaften, aber die Wirklichkeit ist nicht darunter; deswegen existieren sie nicht.

Kant fragt in diesem Zusammenhang, ob 100 Taler, die ich nicht besitze, etwas anderes sind als 100 Taler, die ich habe?

Wenn wir von den Talern reden – nicht von mir –, besteht tatsächlich kein Unterschied. 100 Taler sind 100 Taler; und gerade weil es so ist, kann ich die exakt gleichen 100 Taler sowohl haben als auch nicht haben. Uns ist es kaum noch möglich, die Wirklichkeit – der Krokodile oder Taler – als eine Eigenschaft zu betrachten.

 

Hiermit entfällt auch eine – zwar sehr naive, aber dennoch (oder gerade deswegen) – weit verbreitete Interpretation des „ontologischen Gottesbeweises“ (Anselm von Canterbury):

Ein vollkommener Gott, der existiert, hat mit seiner Wirklichkeit eine positive Eigenschaft mehr, als exakt dieser „vollkommene“ Gott, der nicht existiert; letzterer kann somit auch nicht vollkommen sein. Definieren wir Gott jedoch „als das vollkommenste Wesen, über das hinaus nichts Vollkommeneres gedacht werden kann“ (Anselm), muß die Existenz also zu ihm gehören – ganz gleich, wer oder was Gott auch immer sein mag –, so daß es Gott mit Sicherheit gibt.

 

AD: „Wenn man mit der Tradition glaubt, daß

– Gott ein Seiendes ist,

– bestimmte genau definierte Eigenschaften besitzt und

– die Wirklichkeit eine von ihnen bildet,

finde ich diesen Beweis sehr überzeugend; aber natürlich auch nur dann.

Abgesehen davon vermute ich jedoch, daß die Wirklichkeit doch eine Eigenschaft darstellen muß:

Träume ich von Wasser oder stelle es mir vor, dann ist das Wasser unwirklich; sonst könnten Menschen in der Wüste nicht verdursten; Vorstellen geht ja immer. Wirkliches Wasser ist dagegen solches, das man tatsächlich trinken kann.“

 

Nein; das stimmt nicht; es gibt kein wirkliches und unwirkliches Wasser, sondern nur Wasser.

Beim Trinken handelt es sich nicht um wirkliches Wasser, sondern wirklich um Wasser, das heißt, um den Aktanten Wasser.

Im Traum handelt es sich nicht um unwirkliches Wasser, sondern nicht wirklich um Wasser, das heißt, nur um die Vorstellung Wasser.

AD: „Jetzt werden Sie auch noch so spitzfindig wie Ihr Anselm; ‚es gibt wirklich Wasser, aber kein wirkliches Wasser‘; ich sehe dazwischen, ehrlich gesagt, keinen Unterschied!“

Das ändert sich wahrscheinlich sehr schnell, wenn wir das Wasser durch Arsen ersetzen:

Ich verstehe nicht, was wirkliches bzw. unwirkliches Arsen sein soll; Arsen ist Arsen. Aber ich sehe einen großen Unterschied dazwischen, ob Ihnen jemand wirklich Arsen in das Bier gekippt oder ob er es nicht wirklich getan hat.

 

Fassen wir das Wichtigste an diesen Überlegungen zusammen:

Für die Tradition sind die Seienden wirklich und die Nicht-Seienden unwirklich; das klingt wie selbstverständlich – aber niemand versteht es. Natürlich nicht: Wie sollen wir innerhalb der Hinterwelt vernünftig zwischen wirklich und unwirklich unterscheiden?

Die Seienden gehen bei uns in die Aktanten und die Nicht-Seienden in die Vorstellungen über; beides sind Wissungen. Das ist auch notwendig, denn um sagen zu können, es gäbe die Wissung A wirklich – den Aktanten A – und die Wissung B nicht wirklich – die Vorstellung B –, müssen wir natürlich beide wissen.  

 

AD:  „Die Tradition kann sagen: Es gibt Krokodile – irgendwo in Afrika oder Amerika.

Ein solches „es gibt“ versteht niemand, weil es sich auf das angebliche (Vorhanden-)Sein von Seienden bezieht.

Wir dürfen nur sagen, daß es Krokodile gibt, wenn sie Aktanten, das heißt, hier und jetzt „vohanden“ sind; dann handelt es sich nicht um wirkliche Krokodile, sondern wirklich um Krokodile.

Bei Vorstellungen geht es nicht wirklich um Krokodile; deswegen sind sie überall und immer möglich.“

 

Ihre Bemerkung war für unser Verständnis und Weiterdenken sehr wichtig.

Ich kann beim Schreiben Floskeln wie „es gibt“ oder „existiert“ schwerlich vollständig vermeiden. Das ist jedoch auch gar nicht mehr nötig, wenn wir die Anderung der Bedeutung von solchen Formulierungen beachten:

Der Saturn hat wirklich einen Ring – wenn und nur wenn wir ihn hier und jetzt im Teleskop sehen.

Allein Seiende existieren ewig; Wissungen entstehen und vergehen; deswegen existieren sie nur wirklich, wenn wir sie hier und jetzt als Aktanten erfahren.

3.6. Synchronie und Diachronie

Zwischen Seienden und Aktanten bestehen also zwei ganz wesentliche Unterschiede:

1. Die Seienden gehören in die Hinterwelt, während sich die Aktanten in unserem Bewußtsein befinden.

2. Bei ersteren bedeutet „es gibt X“, daß sich das Seiende X irgendwann irgendwo befindet.

Da die Aktanten jedoch an das Bewußtsein gebunden sind, kann es sie nur in der Gegenwart (genauer: in GG) geben; entweder wir erfahren sie, oder sie existieren nicht.

Damit können wir den Zusammenhang von Synchronie und Diachronie bereits ein wenig verstehen.

 

Die Tradition kennt letztere gar nicht und geht stattdessen von einer ewigen Synchronie aus:

Sie will alles im Sinne des t-Strahls kausal, das heißt, auf der Grundlage des jeweils Früheren erklären.

Das ist natürlich mehr als problematisch, denn woher wollen wir denn das notwendigerweise Immer-Frühere, Immer-Frühere . . . wissen? Man kann Theorien erfinden; die haben aber zum einen nichts mit empirischen oder Erfahrungswissenschaften zu tun, denn dieses Es-war-einmal ist lange vorbei. Zum anderen sind Theorien selbst über gegenwärtige Erfahrungen stets „empirisch unterbestimmt“, das heißt, es gibt stets beliebig viele von ihnen, die allen Erfahrungen gerecht werden. 

Die Annahme, Theorien eindeutig aus Erfahrungen ableiten zu können, ist also in jeder Hinsicht abzulehnen.

 

Wir sagen dagegen, was es gibt oder existiert – die Aktanten –

– zeigt sich uns jeweils in der Gegenwart und

– geht aus der uns absolut unbekannten Vergangenheit hervor.

Natürlich könnten wir mit so viel Spontaneität und Unberechenbarkeit gar nicht leben. Um sie abzumildern, überlegen wir uns Theorien, in denen es letztlich nur um das Später geht:

Wo führen uns diese Aktanten hin? Wie sollten wir uns verhalten und worauf vorbereiten? 

Dieses Später hat natürlich mit der Zukunft ebensowenig zu tun wie das Früher mit der Vergangenheit; beide Modi sind uns vollkommen entzogen.

 

Wir verhalten uns gemäß unserer Erkenntnisse – nicht vom, sondern – des Später, aber es kommt die Zukunft in Form einer anderen Gegenwart, und so ließe sich wiederholen:

„Natürlich könnten wir mit so viel Spontaneität und Unberechenbarkeit gar nicht leben. Um sie abzumildern, überlegen wir uns . . .“

 

Mit anderen Worten zusammengefaßt:

Nicht das Früher führt in einer ewigen Synchronie kausal zum Jetzt, sondern die unbekannte Vergangenheit bringt die Gegenwart hervor.

In ihr überlegen wir immer wieder, wie es weitergehen könnte oder sollte und was möglichst nicht geschehen dürfte; das ist unser Entwurf für das jeweils gegenwärtige Später.

Da alle Subjekte entwerfen und auch die Vergangenheit selbstständig weiterwirkt, beeinflußt unser subjektiver Entwurf die neue Gegenwart nur sehr begrenzt.

 

Unsere Synchronie ist also nicht ewig wie die traditionelle, sondern besitzt nur von recht geringe Reichweite. Sie beginnt im Jetzt der Aktanten und erstreckt sich strahlenförmig in das Früher sowie Später hinein.

Dabei ist letzeres primär; aus dem Früher könnten wir „nur“ für das Später lernen.

 

AD:  „Die Genese unserer Wissungen hat also absolut nichts mit der Synchronie zu tun, sondern bringt diese erst diachron hervor.“

Ja; unsere traditionelle Vorstellung, kleine Kinder wüßten vieles noch nicht und würden es erst Schritt für Schritt lernen, müssen wir also korrigieren:

Der hierbei vorausgesetzte Wissens-Schatz existiert nicht; die Kinder holen keineswegs unsere Wissungen nach, sondern generieren die einer neuen Gegenwart.

Deswegen kann es auch keine ewigen Wahrheiten geben, denn sie würden eine ewige Synchronie voraussetzen und sind somit nur traditionell denkbar.

3.7. Markus Gabriel als Naiver Realist

Dieses Kapitel enthält einen (leicht abgeänderten) Artikel, den ich spontan-verärgert für die „Neue Züricher Zeitung“ geschrieben hatte, um damit einer meines Erachtens grotesken Fehleinschätzung der Aktant-Netzwerk-Theorie durch Markus Gabriel entgegenzutreten. Sollte ich mich darin beleidigend ausdrücken, bitte ich um Entschuldigung – obwohl Markus Gabriel es Bruno Latour gegenüber auch getan hat; ich weiß aber, daß dies keine Rechtfertigung darstellt.

Ich drucke die Rezension hier ab; zum einen in der Hoffnung, daß sie Ihrem Verständnis dient, und zum anderen um den Exkurs passenderweise mit einem gegenwärtig vielzitierten Naiven Realisten abzurunden.

 

Gabriel schrieb in der NZZ vom 26. 3. 2020 unter anderem:

„. . . Doch auch progressive Intellektuelle, die sich Wissenschaftlichkeit auf die Fahnen schreiben, haben sich in den letzten Jahren einem heillosen Relativismus verschrieben. Zu ihren prominentesten Vertretern zählt der französische Soziologe Bruno Latour. Er hat sich sogar zu der absurden These verstiegen, Ramses II. könne nicht an der Tuberkulose verstorben sein, weil der Erreger erst im 19. Jahrhundert entdeckt worden sei. Das ist metaphysische Absurdität, wie der analoge Fall der Corona-Krise zeigt:

Hätten wir keine Virologen eingeschaltet, um Covid-19 zu studieren, hätte die Krankheit sich gemäß Latour nicht verbreitet, weil sie nicht einmal existiert hätte. . .“

 

An dieser Argumentation stimmt absolut nichts; Latour hat völlig Recht, und die „metaphysische Absurdität“ liegt allein bei Gabriel, weil er scheinbar keinerlei Verständnis für eine ihm fremde Sichtweise aufbringt!

Sein „Neuer Realismus“ ist so neu nicht; er kam um 1912 in den USA auf, wurde aber danach – mit Recht – schnell wieder vergessen, weil der Glaube an eine objektive Realität mindestens seit Kant philosophisch unhaltbar geworden ist und unter ernstzunehmenden Fachleuten bereits im 20 Jahrhundert kaum noch ein Rolle spielte.

Wir haben Überzeugungen, denn wir glauben, was zu glauben wir für richtig halten; mehr kann niemand leisten – aber weniger, nämlich Denkfehler begehen und leere Behauptungen aufstellen.

Um zu verdeutlichen, daß dies bei Gabriel der Fall ist, wähle ich ein möglichst einfaches Modell. Wir benötigen dazu nur zwei Personen, Patient sowie Arzt, und erinnern an einen mittelalterlichen Priester.

 

Ersterer fühlt sich miserabel.

„Hätten wir keine Virologen eingeschaltet, um Covid-19 zu studieren, hätte die Krankheit sich gemäß Latour nicht verbreitet, weil sie nicht einmal existiert hätte.“

Ich kann Latour nur beipflichten; was im Weltbild oder Denken gar nicht vorkommt, kann sich natürlich auch nicht verbreiten.

„Divoc breitet sich aus.“

„Was ist das?“

„Das weiß niemand; aber es breitet sich aus.“

 

Latour behauptet doch keineswegs, daß es dem Patienten dann gut gegangen wäre – was Gabriel unausgesprochen vorauszusetzen scheint –; natürlich nicht. Aber niemand kann haben, was keiner kennt. Der Patient würde sich miserabel fühlen; wir wüßten nicht warum, und es begänne möglicherweise ein fieberhaftes Suchen.

Dieses Sich-miserabel-Fühlen hängt nicht vom Weltbild ab, aber sämtliche Erklärungen tun dies. In jedem Weltbild werden andere gegeben, und „Erklärungen“, die wir nicht verstehen oder akzeptieren, sind für uns keine Erklärungen; inexistente natürlich „noch weniger“.

 

Der Arzt hat eine Idee: Covid-19.

Dieser Virus bildet eine Vorstellung in unserem Weltbild, das nur mittels der anderen Vorstellungen erklärt werden kann und mit ihnen in einem integralen Zusammenhang – eben unserem Weltbild – steht. Es ist hinreichend rund, stimmig und widerspruchsfrei; deswegen hält der Arzt es für richtig, die Corona-Theorie zu glauben.     

 

Ich bin einerseits – mit Gabriel – 100%-ig einverstanden und würde mich als Arzt heute ganz bestimmt ebenso verhalten.

Andererseits hat – entgegen Gabriel – Latour Recht, daß wir eine Erklärung natürlich nur nutzen können, wenn sie in unserem Weltbild vorhanden ist, das heißt, wenn wir sie kennen.  

Zwischen diesen beiden Aussagen besteht auch nicht der geringste Widerspruch. Den konstruiert lediglich Gabriel durch seine naive „metaphysische Absurdität“, daß es Tuberkulose-Erreger und Covid-Viren an sich oder objektiv gibt.

 

Nochmals der Deutlichkeit halber:

Ich kann nicht einschätzen, inwieweit unsere Ärzte, Betreuer, Virologen und Politiker richtig handeln, finde aber, daß sie sich sehr viel Mühe geben und versuchen, ihrer Verantwortung gerecht zu werden; ich habe sehr viel Achtung vor ihrem Engagement und insbesondere keinerlei Verbesserungsvorschläge. Es wäre einfach lächerlich, wollte ich mir letzteres anmaßen.

Mir geht es nur sehr gegen den Strich, daß Gabriel die Corona-Krise als Werbung für seinen metaphysischen Aberglauben an eine Hinterwelt mißbraucht, ihn als Wissenschaft darstellt und kritische Denker wie Latour eines „heillosen Relativismus“ bezichtigt, nur weil sie seine Naivität nicht teilen.

 

Im Mittelalter hätte ein Priester angesichts unseres sich miserabel fühlenden Patienten vielleicht von dämonischer Besessenheit gesprochen. Die meisten von uns sind sich heute mit Recht völlig sicher, daß diese Diagnose natürlich nichts mit objektiver Realität zu tun hat; und in unser Weltbild passen bei den meisten auch weder Dämonen noch Besessene.

In unser Weltbild; das war noch im Mittelalter eben ein ganz anderes. Damals erwies sich die Erklärung des Priesters wahrscheinlich als hinreichend rund, stimmig und widerspruchsfrei – wie heute die medizinische Corona-Interpretation.

Aus der dämonischen Besessenheit von damals wurden in der Zwischenzeit zumeist psychische Erkrankungen; was es wirklich ist – die traditionelle Gabriel-Frage nach dem Urbild –, stellt ein Scheinproblem dar. Im Mittelalter befriedigen jene Antworten und in der Moderne diese; ewige Wahrheiten sind uns Menschen nicht zugänglich.  

 

Als Priester hätte ich damals sicherlich auch versucht, den Patienten durch eine Austreibung des Dämons zu heilen. Die meisten Zeitgenossen werden geglaubt haben, daß Patienten wirklich – im Sinne von objektiv-real – besessen seien und Dämonen in ihnen ihr Unwesen treiben würden, obwohl das „nur“ ihrem Weltbild entsprach.

Das ist für uns kaum nachvollziehbar. Aber Gabriel müßte sich schon fragen lassen, ob er nicht auch im Mittelalter, das Denken, das damals – berechtigterweise – en vogue war, als Abbildung „seiner neuen Realität“ verstanden hätte.

Wenn nicht, warum tut er es dann heute?

 

Das  Argument, es gäbe doch offensichtlich einen Fortschritt vom Mittelalter zu uns, denn wir können die Viren unter dem Mikroskop sehen, sticht nicht, denn im Mittelalter hat man die dämonische Besessenheit bei geschultem Blick ebenfalls gesehen. Das gelingt uns heute nicht mehr – so wie im MIttelalter auch keiner Corona sah.

Und da hätten auch die tollsten Mikroskope nicht helfen können. Es gehört zum „Mythos des Gegebenen“ (Wilfrid Sellars), daß objektive Covid-Viren existieren würden, die von uns nur noch einen – und vielleicht sogar den „richtigen“ – Namen bekomen müßten; wie in der Schöpfungsgeschichte. Aber Namen sind völlig inhaltsleer; was ein Covid-Virus ist, läßt sich weder zeigen noch benennen, sondern folgt einzig und allein aus dem jeweiligen Weltbild – sofern es ihn enthält.

Wer Corona oder Tuberkolose für objekiv-real hält, soll uns bitte erklären, warum er dies bei der dämonischen Besessenheit nicht tut.